1. Über den Begriff der Geschichte
1. Über den Begriff der Geschichte
I
Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen
sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe,
der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine
Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch
aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch
sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin,
der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu
dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen.
Gewinnen soll immer die Puppe, die man ´historischen Materialismus´ nennt. Sie
kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren
Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht
darf blicken lassen.
II
»Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths«, sagt
Lotze, »gehört - neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine
Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.« Diese Reflexion führt darauf,
daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert
ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat.
Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet
haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten
geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks
unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit,
welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die
Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung
verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die
Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein
Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern,
die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime
Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf
der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war,
eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit
Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische
Materialist weiß darum.
III
Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu
unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals
ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der
erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der
erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar
geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à lordre du
jour - welcher Tag eben der jüngste ist.
IV
Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von
selbst zufallen.
Hegel, 1807
Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor
Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine
feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf
anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt.
Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in
diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden
immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage
stellen. Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt kraft eines
Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am
Himmel der Geschichte im Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen
Veränderungen muß sich der historische Materialist verstehen.
V
Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf
Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die
Vergangenheit festzuhalten. ´Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen´ - dieses
Wort, das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des
Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus
durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit,
das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint
erkannte.
VI
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ´wie es denn
eigentlich gewesen ist´. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im
Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum,
ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr
dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem
Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe:
sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß
versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der
im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der
Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber
wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon
durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht
sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.
VII
Bedenkt das Dunkel und die große Kälte
In diesem Tale, das von Jammer schallt.
Brecht, Die Dreigroschenoper
Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben,
so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem
Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der
historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung.
Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt,
des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt. Sie
galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit.
Flaubert, der Bekanntschaft mit ihr gemacht hatte, schreibt: »Peu de gens
devineront combien il a fallu être triste pour ressusciter Carthage.« Die Natur
dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich
denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort
lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben
aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den
jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten
genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert
mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute
am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug
mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen
Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er
an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die
er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der
großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer
Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches
der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es
auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern
gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen
von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich
zu bürsten.
VIII
Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ´Ausnahmezustand´,
in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte
kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung
des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere
Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht
nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer
historischen Norm begegnen. - Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir
erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ´noch´ möglich sind, ist kein
philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß
die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.
IX
Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.
Gerhard Scholem, Gruß vom
Angelus
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf
dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen,
worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine
Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das
Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf
Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die
Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom
Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß
der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in
die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum
Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
X
Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies, hatten
die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu machen. Dem Gedankengang,
den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Bestimmung hervorgegangen. Er
beabsichtigt in einem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des
Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an
der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen,
mit denen sie es umgarnt hatten. Die Betrachtung geht davon aus, daß der sture
Fortschrittsglaube dieser Politiker, ihr Vertrauen in ihre ´Massenbasis´ und
schließlich ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat drei
Seiten derselben Sache gewesen sind. Sie sucht einen Begriff davon zu geben, wie
teuer unser gewohntes Denken eine Vorstellung von Geschichte zu stehen kommt,
die jede Komplizität mit der vermeidet, an der diese Politiker weiter
festhalten.
XI
Der Konformismus, dem von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen
ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren
ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es
gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie
die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als
das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein
Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen
Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar. Die alte
protestantische Werkmoral feierte in säkularisierter Gestalt bei den deutschen
Arbeitern ihre Auferstehung. Das Gothaer Programm trägt bereits Spuren dieser
Verwirrung an sich. Es definiert die Arbeit als »die Quelle alles Reichtums und
aller Kultur«. Böses ahnend, entgegnete Marx darauf, daß der Mensch, der kein
anderes Eigentum besitze als seine Arbeitskraft, »der Sklave der andern Menschen
sein muß, die sich zu Eigentümern ... gemacht haben«. Unbeschadet dessen greift
die Konfusion weiter um sich, und bald darauf verkündet Josef Dietzgen: »Arbeit
heißt der Heiland der neueren Zeit . . . In der . . . Verbesserung ... der
Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein
Erlöser vollbracht hat.« Dieser vulgär-marxistische Begriff von dem, was die
Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den
Arbeitern selber anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen können. Er will
nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der
Gesellschaft wahr haben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die
später im Faschismus begegnen werden. Zu diesen gehört ein Begriff der Natur,
der sich auf unheilverkündende Art von dem in den sozialistischen Utopien des
Vormärz abhebt. Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die
Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des
Proletariats gegenüber stellt. Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen
erweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines Fourier
gegeben haben, ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte die
wohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß vier Monde die
irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den Polen zurückziehen, daß
das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst des
Menschen träten. Das alles illustriert eine Arbeit, die, weit entfernt die Natur
auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche
in ihrem Schoße schlummern. Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als
sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, »gratis da
ist«.
XII
Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders,
als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des
Wissens braucht.
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben
Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse
selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse
auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende
führt. Dieses Bewußtsein, das für kurze Zeit im ´Spartacus´ noch einmal zur
Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokratie von jeher anstößig. Im Lauf von
drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Namen eines Blanqui fast auszulöschen,
dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat. Sie gefiel sich darin,
der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen.
Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in
dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an
dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.
XIII
Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk
alle Tage klüger.
Josef Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie
Die sozialdemokratische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem
Fortschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern
einen dogmatischen Anspruch hatte. Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen
der Sozialdemokraten malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst
(nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens, ein
unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit
entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer (als ein
selbsttätig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender). Jedes dieser
Prädikate ist kontrovers, und an jedem könnte die Kritik ansetzen. Sie muß aber,
wenn es hart auf hart kommt, hinter all diese Prädikate zurückgehen und sich auf
etwas richten, was ihnen gemeinsam ist. Die Vorstellung eines Fortschritts des
Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine
homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an
der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung
des Fortschritts überhaupt bilden.
XIV
Ursprung ist das Ziel.
Karl Kraus, Worte in Versen 1
Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene
und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre
das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem
Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand
sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die
Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das
Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung
ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende
Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist
der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.
XV
Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den
revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große
Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender
einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde
genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens
sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie
sind Monumente eines Geschichtsbewusstseins, von dem es in Europa seit hundert
Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint. Noch in der
Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses
Bewusstsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages
gekommen war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von
einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge,
der seine Divination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals:
Qui le croirait! on dit quirrités contre lheure
De nouveaux Josués, au pied de chaque tour,
Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.
XVI
Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit
einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht
verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für
seine Person Geschichte schreibt. Der Historismus stellt das ´ewige´ Bild der
Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig
dasteht. Er überläßt es andern, bei der Hure ´Es war einmal´ im Bordell des
Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das
Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.
XVII
Der Historismus gipfelt von rechtswegen in der Universalgeschichte. Von ihr hebt
die materialistische Geschichtsschreibung sich methodisch vielleicht deutlicher
als von jeder andern ab. Die erstere hat keine theoretische Armatur. Ihr
Verfahren ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und
leere Zeit auszufüllen. Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits
liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die
Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer
von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es
derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der
historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und
allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt
er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt,
einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er
nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der
Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche,
so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht
darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche
der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben. Die nahrhafte
Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des
Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern.
XVIII
»Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens«, sagt ein neuerer
Biologe, »stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der
Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden
dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen
Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.«
Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur
die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der
Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.
- ANHANG -
A
Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten
der Geschichte zu etablieren. Aber kein Tatbestand ist als Ursache eben darum
bereits ein historischer. Er ward das, posthum, durch Begebenheiten, die durch
Jahrtausende von ihm getrennt sein mögen. Der Historiker, der davon ausgeht,
hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen
wie einen Rosenkranz. Er erfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche
mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff
der Gegenwart als der ´Jetztzeit´, in welcher Splitter der messianischen
eingesprengt sind.
B
Sicher wurde die Zeit von den Wahrsagern, die ihr abfragten, was sie in ihrem
Schoße birgt, weder als homogen noch als leer erfahren. Wer sich das vor Augen
hält, kommt vielleicht zu einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene
Zeit ist erfahren worden: nämlich ebenso. Bekanntlich war es den Juden
untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie
dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen
sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft
aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede
Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.
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last update : Thu Jun 17 13:02:47 CEST 2004 Benjamin
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