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Team Bernd Klees
Thema Sozialdarwinismus und Eugenik - gestern und heute - DER GLÄSERNE MENSCH IM BETRIEB ( original )
Status 1988 - grundlegende Ausschnitte
Letzte Bearbeitung 7/2004
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1. Zu diesem Heft
2. Einführung
3. Sozialdarwinismus und Eugenik - gestern und heute
3.1. Zu den ideologischen Grundlagen von Sozialdarwinismus und Eugenik - als bourgeoises Mittel des Klassenkampfs
3.2. Sozialdarwinismus und Eugenik - als bourgeoises Mittel des Klassenkampfs in der Weimarer Zeit
3.3. Die Eugenische Bewegung - Wissenschaftler auf bourgeoiser Seite des Klassenkampfs nach 1900 bis in die Gegenwart
3.4. Die heutigen Argumente der biologischen Deterministen
3.5. Genetische Überwachung im Interesse der Kapitalistenklasse
3.6. Personelle und institutionelle Kontinuitäten eugenischer Ideologieproduktion in der BRD nach dem NS
3.7. ´Wiedergutmachung´: sozioökonomische Kontinuitäten der BRD-Praxis in Nachfolge des NS
3.8. Kontinuität der Eugenik bei Genetikern und Humanbiologen - bis zur Fortpflanzungsmedizin
3.9. Utilitarismus als ethischer Funktionalismus zur sozialen Endlösung der Gegenwart

1. Zu diesem Heft

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Mit dieser Arbeit zur "genetischen Analyse bei Arbeitnehmern und ihren Folgen" wenden wir uns in der nachrichten-reihe erstmals diesem Bereich der Entwicklung und des Vordringens der "neuen Technik" zu. Wir freuen uns, mit Dr. jur. Bernd Klees, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, dem Leser einen kompetenten Wissenschaftler vorstellen zu können. Bernd Klees ist auch als geladener Sachverständiger der Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie" in öffentlichen Anhörungen des federführenden Bundestagsausschusses in Bonn (September 1985 und Februar 1988) aufgetreten.
Beziehern und Freunden von Literatur aus dem Nachrichten-Verlag ist Bernd Klees bereits als Autor von "Arbeitslosigkeit und Recht" (1984), "Das Recht auf Arbeit" (1984) und Mitherausgeber von "Weg vom Fenster - Arbeitslosigkeit uød ihre Folgen" (1986) sowie Verfasser mehrerer Beiträge zu arbeits- und sozialrechtlichen Themen in NACHRICHTEN zur Wirtschafts- und Sozialpolitik bekannt. "Der gläserne Mensch im Betrieb" ist eine gründliche Bestandsaufnahme, wissenschaftliche Einordnung und sozialpolitische Abschätzung des noch jungen Wissenschaftszweiges Gentechnologie zu dem spezifischen Anwendungsgebiet der genetischen Analyse bei Arbeitnehmern.
Der Aufmerksamkeit aller an diesem Thema Interessierten möchten wir auch das vom Autor zusammengestellte umfassende Literaturverzeichnis am Ende dieses Heftes empfehlen. Darüber hinaus verfügt der Autor über einen von ihm erstellten Dokumenteband zum selben Thema, der jedoch in nur sehr kleiner Auflage hergestellt wurde. Diese Dokumentation (den Inhalt siehe Seite 107) kann über den Nachrichten-Verlag zum Preis von 10,- DM (einschl. Versandkosten) abgefordert werden.
Der Verlag im Mai 1988

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2. Einführung

Prolog
"Wir alle träumen den Traum vom Fortschritt, den Traum von der guten Gesellschaft, die euch eine gesunde Gesellschaft ist, ohne Leiden, Schmerz und Not. Unsre Väter der NS-Zeit haben diesen Traum am radikalsten geträumt. Sie haben versucht, mittels geeigneter Sozialarbeit Leiden, Schmerz und Not "auszurotten". Zur Erreichung dieses Ziels haben sie ein dreistufiges Instrumentarium benutzt: Pädagogik, Zwangsarbeit, und wenn beides nicht ausreichte: Medizin... Zu Recht hat Lifton auch noch das Vernichten von Menschengruppen in Auschwitz als eine vom Anfang bis zum Ende medizinische Maßnahme bezeichnet, als therapeutisches Töten ("therapeutic killing")." (Klaus Dörner)
Der Philosoph Hans Jonas erhielt für seine Arbeiten zum "Prinzip Verantwortung" den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1987. Es wurde damit ein Wissenschaftler geehrt, der sich aus ethischen Gründen heraus mehrfach kritisch zu den sich. abzeichnenden, explosionsartig anschwellenden Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie geäußert hat. In Anbetracht der zunehmenden Möglichkeiten der Gendiagnostik über die Gentherapie bis hin zur Klonierung von Menschen plädiert Hans Jonas für ein Recht auf Nichtwissen.
"Die Anrufung eines Rechtes auf Unwissenheit als auf ein Gut ist, soviel ich sehe, neu in ethischer Theorie, die seit je den Mangel an Wissen als einen Defekt im menschlichen Zustand beklagt hat und als Hindernis auf dem Pfade der Tugend, jedenfalls als etwas, das wir nach besten Kräften überwinden sollen. Selbsterkenntnis vor allem wurde seit delphischen Tagen gerühmt als Merkmal eines höheren Lebens, wovon man nur zu wenig und nie zuvie1, ja auch nur genug haben kann. Und da reden wir einem Nichtwissen um sich selbst das Wort? Allerdings wurde Kenntnis der Zukunft, besonders der eigenen, immer stillschweigend ausgenommen, und der Versuch, sie sich durch irgendwelche Mittel zu verschaffen (z. B. Astrologie), wurde verpönt - als eitler Aberglaube von den Aufgeklärten, als Sünde von den Theologen, im letzteren Fall mit Gründen, die auch philosophischen Rang haben (und interessanterweise unabhängig sind von der Frage des Determinismus an sich). Aber von dieser Bestreitung eines Rechtes oder einer Erlaubnis zu wissen, ist immer noch ein Schritt zu der Behauptung eines Rechtes, nicht zu wissen: und diesen Schritt müssen wir jetzt tun angesichts einer völlig neuen, noch hypothetischen Sachlage, die in der Tat die erste Gelegenheit für die Aktivierung eines Rechtes darstellt, das bisher mangels Anwendbarkeit latent geschlummert hatte" (Hans Jonas, 1987, S. 190)
Freilich sollte uns die Preisverleihung nicht den Blick dafür verstellen, daß es im kulturellen Bereich durchaus andere Kräfteverhältnisse gibt als im ökonomischen und politischen. Während letztere, auch international, gleichsam werktags ungezählte Millionen Dollar für die Entwicklung der Gentechnolo-

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gie in Anspruch nehmen, erlauben wir uns sonntags philosophische Reflexionen, die Nachdenklichkeit signalisieren sollen, aber den Gang der Dinge derzeit nicht oder nur unwesentlich beeinflussen können.
Genzentren in München, Berlin, Köln, Heidelberg, Hamburg und die zu einem nationalen Großforschungszentrum ausgebaute Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) legen für diese Entwicklung beredtes Zeugnis ab und dokumentieren zugleich den institutionellen Niederschlag von politischer und ökonomischer Macht (Biotechnologie, 1986). Warnende Stimmen aus der Wissenschaft und dem Geistesleben insgesamt haben demgegenüber kaum Relevanz. Doch muß das nicht so bleiben, wenn die frühzeitig beschriebenen Gefährdungen sich Stück für Stück realisieren (wie etwa im Institut Pasteur im Jahre 1986 bereits möglicherweise geschehen) und die Hoffnungen auf gentechnische Bekämpfung von Krebs und Aids (soweit nicht bereits selbst durch Genmanipulation entstanden) wie Seifenblasen zerplatzen sollten. Die Aneignung und Weiterverbreitung von Wissen auf diesem Gebiet hat für die Entstehung einer kulturellen Gegenbewegung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Wie wir aus der Bibel wissen, kann es durchaus genügen, wenn wir Goliath einen David gegenüberstellen. Die Aufklärungsarbeit nach Tschernobyl wäre dabei ohne die vielfältigen Vorarbeiten kleiner und kleinster Gruppen vor Tschernobyl nicht denkbar gewesen. Sie wird langfristig erhebliche Wirkung haben; auch in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die meisterhaft verdrängt.
Nun geht es bei der anzustrebenden Veränderung nicht nur um (politische und ökonomische) Macht, sondern auch um Denkstrukturen, die zu dem derzeitigen Status quo geführt haben. Dies läßt sich ohne Rückgriff auf die Geschichte, insbesondere die Wissenschaftsgeschichte, kaum bewerkstelligen. Doch sollte man die Kraft des Geistes nicht unterschätzen. Es waren nicht selten Außenseiter ihrer Zeit, die jenseits von herrschenden Schulen im überkommenen Wissenschaftsapparat neue Fragestellungen und Erkenntnisse einbrachten und damit zukünftige Entwicklungen einleiteten und bewußtseinsmäßig vorwegnahmen. Dies zeigt auch ein kursorischer Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Genetik: Die Gentechnologie - eine Kombination von Biologie, Biochemie und Ingenieurwesen - blieb freilich nicht bei der Grundlagenforschung und der Analyse stehen, sondern veränderte Organismen mit "nützlichen Eigenschaften" gezielt und nahm artfremde Übertragungen vor (so etwa beim "bakteriellen" Insulin). Ihr Anwendungsbereich erweitert sich zudem immer mehr. Neben Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren kommt zunehmend auch der Mensch in ihr Visier. Zunächst wird man sich auf die "genetische Analyse" beschränken; doch macht diese nur dann Sinn, wenn ihr auch Entscheidungen folgen, die in der Auswahl, der Ausgrenzung oder ggf. auch der genetischen "Verbesserung" liegen könnten. Damit wäre - die Aussagekräftigkeit der Analyse unterstellt - die wissenschaftliche Grundlage für eine äußerst gefährliche Renaissance sozialdarwinistischen und eugenischen Denkens gelegt.

3. Sozialdarwinismus und Eugenik - gestern und heute

3.1. Zu den ideologischen Grundlagen von Sozialdarwinismus und Eugenik - als bourgeoises Mittel des Klassenkampfs

Daß dieses Denken trotz gegenteiliger Beteuerungen der Humangenetik nicht äußerlich - von der Gesellschaft gleichsam aufgezwungen -‚ sondern ihr zutiefst innerlich war und ist, mögen die später kurz darzustellenden Dokumente aus den dreißiger und sechziger Jahren zeigen. Doch zunächst zu den Grundlagen dieser Denkansätze, die weitaus älter sind, als manche meinen.
Läßt man im Sozialdarwinismus (nur der Tauglichste soll überleben) dem "freien Spiel der Kräfte" Raum (im übertragenen Sinne "freie Marktwirtschaft"), so greift die Eugenik zu "lenkenden Maßnahmen" beim Menschenmaterial (im übertragenen Sinne "angebotsorientierte Wirtschaftspolitik"). Beide Auffassungen stehen in der Tradition von Thomas R. Malthus, die dieser bereits 1798 in seinem Bevölkerungsgesetz (übersetzter Nachdruck München 1977) begründet hatte und sind sich in der grundsätzlichen Ablehnung armenpflegerischer Maßnahmen einig, da damit nur Personen und Personengruppen unterstützt würden, die aus eigener Kraft nicht zum Überleben in der Lage wären (siehe den Beitrag von B. Vögel in Klees/Motz, 1985). Gemeinsam ist ihnen auch die Überzeugung, daß einige Menschen mit "guten" Genen und zahlreiche mit "schlechten" zur Welt kommen. Während die Sozialdarwinisten nur der "Natur" freien Lauf lassen wollen, hat es sich die Eugenik zum Ziel gesetzt, die Zahl der Menschen mit "guten" Genen zu ver-

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mehren (positive Eugenik) und die Zahl derer mit "schlechten" zu verringern (negative Eugenik) (Klees, 1985).
Der Begründer des Sozialdarwinismus ist der englische Soziologe Herbert Spencer (siehe Spencer, 1896). Unter Bezugnahme auf das Malthussche Bevölkerungsgesetz folgert er, daß unter natürlichen Umständen die Individuen, welche unvollkommene Bildungen besitzen, nicht in die Lage kommen, Nachkommen zu erzeugen:
"Und offenbar ist die Wirkung dieses Prozesses derart, daß so viele fortleben und sich fortpflanzen werden, als unter den dann vorhandenen Bedingungen dies vermögen. Wird es schwieriger, die Ansammlung von Einflüssen zu besiegen, so verschwindet eine größere Zahl von Schwächeren früh, wird die Ansammlung von Einflüssen günstiger..., so findet eine Zunahme in der Zahl der Schwächeren, welche überleben und Nachkommen hinterlassen, statt" (Spencer, 1896, S. 175)
Die Auswirkungen des Sozialdarwinismus sind vielfältig und können kaum überschätzt werden (Koch, 1973; Marten, 1983; zu Grundlagentexten siehe auch Altner, 1981).
Freilich finden sich auch bei Charles Darwin selbst in seinem 1871 erschienenen Band über "Die Abstammung des Menschen" entsprechende Passagen und Denkstrukturen, so daß der Begriff Sozialdarwinismus nicht gänzlich zu Unrecht geprägt wurde:
"Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir bauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange wie möglich zu erhalten. Wir können wohl annehmen, daß durch die Impfung Tausende geschützt werden, die sonst wegen ihrer schwachen Widerstandskraft den Blattern zum Opfer fallen würden. Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren kennt, wird daran zweifeln, daß dies äußerst nachteilig für die Rasse ist. Es ist überraschend, wie bald Mangel an Sorgfalt, oder auch übel angebrachte Sorgfalt, zur Degeneration einer domestizierten Rasse führt; ausgenommen im Falle der Menschen selbst wird auch niemand so töricht sein, seinen schlechtesten Tieren die Fortpflanzung zu gestatten." (Darwin, 1982, S. 171)
Bereits 1865 hatte Francis Galton, ein Vetter Darwins, geeignete Maßnahmen zur Steigerung der Fruchtbarkeit der "Tüchtigen" und Eindämmung der "Minderwertigen" gefordert (in "Hereditary talent and character"). 1883 prägte er in seiner Schrift "Inquiries into human faculty and its development" den Begriff "Eugenik" (griechisch: aus guter Abstammung):

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"Die Fortpflanzungshygiene (Eugenik) ist die Wissenschaft, welche sich mit allen Einflüssen beschäftigt, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil zur Entfaltung bringen. . . Aufgrund bestehender sozialer Gruppen und sittlicher Kriterien zielt die Fortpflanzungshygiene ab auf die Wiedererzeugung der besten unter allen Individuen - in jeder von solchen Gruppen, in welchen die charakteristische Betätigung nicht nachweisbar antisozial (wie bei Verbrechern) ist." (Zitiert nach K. Lutz, 1941, S. 388 f.)
Welche Bedeutung selbst die heutige Humangenetik den Ansätzen von Galton beimißt, mag das folgende Zitat von 1981 verdeutlichen:
"Auf diesen Prinzipien fußend, schufen Galton und seine Nachfolger das zweite große Paradigma (nach dem mendelschen, B. K.), auf das die human-genetische Forschung des letzten Jahrhunderts sich gründete: Die Ableitung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten aus einer vergleichenden statistischen Analyse von Merkmalen bei Verwandten. Dieser Ansatz wurde auf besonders fruchtbare Weise ergänzt, als Galton die Analyse von Zwillingen vorschlug als einen Weg, der relative Bedeutung von Erbe und Umwelt bei der Entstehung von Merkmalen zu analysieren. Damit wurde er zum Schöpfer der Zwillingsmethode, die insbesondere bei der Analyse erblicher und umweltbedingter Einflüsse im geistig-seelischen Bereich bis heute ihre Stellung bewahrt hat." (Kapitel 4 - Vogel/Propping, 1981, S. 29)
Freilich wäre es falsch, nur die angelsächsischen Wurzeln dieses Denkens sehen zu wollen, das seit der Jahrhundertwende allmählich allgemein und in Deutschland insbesondere in den zwanziger Jahren herrschend wurde.
Die Rede ist von Friedrich Nietzsche, der sich etwa zur selben Zeit wie Galton in Deutschland als philosophischer Vordenker der Eugenik erweisen sollte. Er erwog, alle Kranken, "Entarteten", "Schwachen" oder "Schlechtweggekommenen" von der Fortpflanzung auszuschließen (negative Eugenik).
"In allen Fällen, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: Bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades, wo andererseits dem Geschlechtstrieb überhaupt ein Veto entgegenzusetzen bloß auf fromme Wünsche hinauslaufen würde (dieser Trieb hat bei derartig Schlechtweggekommenen sogar oft eine widerliche Erregbarkeit), ist die Forderung zu stellen, daß die Zeugung verhindert wird. Die Gesellschaft kennt wenig dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen. Hier genügt nicht nur die Verachtung, die gesellschaftliche Ehrlosigkeitserklärung als Mittel, eine niederträchtige Schwächlichkeit des Charakters im Zaum zu halten: Man dürfte, ohne Rücksicht auf Stand, Rang und Kultur, mit den härtesten Vermögensstrafen, unter Umständen mit dem Verlust der "Freiheit", mit Clausur gegen derartige Verbrechen vorgehn... Der Syphilitiker, der ein Kind macht, gibt die Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab, er schafft einen Einwand gegen [10] das Leben, er ist ein Pessimist der That: Wirklich wird durch ihn der Werth des Lebens aufs Unbestimmte hinverringert" (Nietzsche, 1887, S. 401 f.)
. Es sind auch Ansätze Nietzsches zur positiven Eugenik erkennbar:
"Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!" (Nietzsche - Siehe auch Lilienthal, 1985)

3.2. Sozialdarwinismus und Eugenik - als bourgeoises Mittel des Klassenkampfs in der Weimarer Zeit

Doch bleiben wir zunächst in den zwanziger Jahren. Alfred Grotjahn, Begründer der Sozialmedizin und von 1921 bis 1924 Reichstagsabgeordneter der SPD, benennt in seinen "Leitsätzen zur sozialen und degenerativen Hygiene" jenen Personenkreis, der schon acht Jahre später von der Ausmerzung bedroht sein wird: "..das Heer der Landstreicher, Alkoholiker, Verbrecher und Prostituierten, der Bodensatz der Bevölkerung, den der Volkswirt als Lumpenproletariat bezeichnet. Epileptiker, Geisteskranke und Geistesschwache, Sonderlinge und Krüppel.."
Intelligenzmessungen (IQ-Tests), Asylierungen und (Zwangs-)Sterilisierungen von Schwachsinnigen, Kriminellen, Nichtseßhaften und anderen wurden zu den wichtigsten Waffen der Eugenikbewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (übrigens nicht auf Deutschland beschränkt), die gleichfalls die Rechtfertigung für die Einteilung in "minderwertige" und "höherwertige" Rassen lieferte. Der mörderische Weg zur Euthanasie "Minderwertiger" und zur Judenvernichtung im "Dritten Reich" war damit vorprogrammiert. Vorgedacht war er freilich schon lange. Das Land der Dichter und Denker hatte sich schon Jahrzehnte vor der "Machtergreifung" geistig zu einem der Richter und Henker (Karl Kraus) entwickelt, das durch die unreflektierte Übernahme sozialdarwinistischer und eugenischer Gedankengänge einen radikalen Bruch mit christlicher Ethik und aufklärerischen Humanitätsidealen vorbereitete.
Immer wieder wurde (und wird) dabei von Eugenikern die teilweise oder gänzliche Revidierung sittlicher Anschauungen gefordert. An die Stelle der christlich-individualistischen Moral, die sich an den Schwachen orientiert, sollte (und soll) eine "Entwicklungsethik" (Schallmayer) als Begründung einer Herrenmoral treten. Insoweit wird auf Nietzsche als Vordenker verwiesen, dessen Hauptargument gegen die christliche Ethik deren Orientierung am Prinzip der Gleichheit und ihre Ausrichtung auf die Schwachen darstellte.
"Setzt man die Einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprincip gegen die Selektion. Wenn der Entartete und Kranke (‚der Christ‘) so viel Werth haben soll wie der Gesunde (‚der Heide‘), oder gar noch mehr, nach Pascals Urtheil über Krankheit und Ge- [11] sundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht." (Nietzsche, 1887, S. 470)
Damit ist zugleich das "Grundgesetz" der Eugenik entdeckt, das eine Umwertung der Werte einleitete und in letzter Konsequenz bis zu Auschwitz und Hadamar führte: Doch hatte es mit diesen Überlegungen nicht sein Bewenden.
"Als 1920 der Jurist Binding und der Psychiater Hoche die Forderung nach ‚Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ aufstellten, erhoben sich zwar viele Gegenstimmen, aber die Diskussion blieb ‚sachlich‘. Die Tötung erschien als ein zu weitgehender Schritt auf einem prinzipiell richtigen Weg."
Die Kriterien "unwerten menschlichen Lebens" waren nach Hoche:
  1. der Fremdkörpercharakter der geistig Toten im Gefüge der menschlichen Gesellschaft, das Fehlen irgendwelcher produktiven Leistungen, ein Zustand völliger Hilflosigkeit mit der Notwendigkeit der Versorgung durch Dritte;
  2. sei der innere Zustand durch das Fehlen klarer Vorstellungen, Gefühle oder Willensregungen gekennzeichnet; die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wiederfinden;
  3. da ihnen das Selbstbewußtsein fehle, könnten die geistig Toten keinen subjektiven Anspruch auf Leben erheben.
Die Frage nach dem ungeheuren Kapital, das dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird, sei jetzt besonders dringlich geworden. "Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke." Dabei sei kein Platz für "halbe, Viertels- und Achtelskräfte, für Defektmenschen, minderwertige Elemente, leere Menschenhülsen". Prinzipiell neu waren die Kriterien, die Hoche hier für den "Lebensunwert" aufstellte, nicht. "Minderwertigkeit" war zu einem medizinischen, psychiatrischen, aber auch politischen Begriff geworden, der mangelnde wirtschaftliche Verwertbarkeit und sozialen "Unwert" bezeichnete.

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Die Belastung der schwerringenden Wirtschaft durch die "Minderwertigen" sei enorm. Deutschland habe durch den Frieden von Versailles einen zu kleinen Nahrungsspielraum erhalten; seine Bevölkerung vermehrt sich zur Zeit stärker, als dieser Nahrungsspielraum gestattet. Diese Malthussche Argumentation in Verbindung mit Zwangssterilisations- und Asylierungsforderungen findet ihre extreme Ausprägung in der faschistischen Volk-ohne-Raum-These, die zur Rechtfertigung der Ausrottung "minderwertiger" Rassen und Völker dient.
Wenn es sich hier auch nicht um eine zwangsläufige Entwicklung handelt, so gilt doch entsprechend, was Oskar Hertwig Anfang der zwanziger Jahre zur Wirkung des Sozialdarwinismus feststellte:
"Man glaube doch nicht, daß die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung in ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden" (zitiert nach B. Vögel in Klees/Motz, 1985, S. 214)
. Freilich bedienten sich auch Arbeitgeber der angebotenen Argumentationslinien, um die Opfer der Wirtschaftskrise als die eigentlich Schuldigen zu orten und das kapitalistische Wirtschaftssystem von jeglicher Verantwortung freizusprechen. So hatte beispielsweise im Jahre 1927 der damalige Vorsitzende der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ernst von Borsig, in seiner Rede vor der Gesellschaft der Berliner Freunde der Deutschen Akademie mit dem Thema "Betrachtungen eines Unternehmers zur Sozialpolitik" offen dem Sozialdarwinismus gehuldigt:
"Es kann sein, daß ohne die vom Staat ausgeübte Fürsorge vielleicht 50 000 Menschen zu Grunde gehen, die mit Hilfe dieser Fürsorge mit dem Leben fertig werden. Es kann aber auch sein, daß, wenn diese Fürsorge nicht bestände, vielleicht 4000 bis 5000 andere Menschen ihre Tatkraft und Fähigkeit in solchem Maße entwickeln würden, daß dies - rein wirtschaftlich betrachtet - jenen Ausfall ausgliche, ja für das, Volksganze betrachtet, vielleicht noch wichtiger wäre." (Zitiert nach Klees, 1984 b, S. 78 f mwN)
Schon 1926 ließ "Der Arbeitgeber", die Zeitschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in einem Beitrag ausführen:
"Die Überbevölkerungssymptome, die sich heute zeigen, könnten zum mindesten abgeschwächt werden, wenn die Wirksamkeit des Gesetzes der Auslese durch eine geeignete qualitative Leistungspolitik gesteigert werden würde. Gewiß wären die Härten einer solchen Politik schwer. Die Untüchtigen würden versinken, die ´Über´-Bevölkerung verkümmern. Die qualitative Bevölkerungspolitik kann das Elend der Arbeitslosen für den Augenblick nicht lin- [13] dern. Vielleicht verschärft sie es sogar. Darin liegt aber ein wichtiges, zwangsläufiges Erziehungsmittel, und das Ziel lohnt der härtesten Kämpfe und der größten Anstrengungen.
Es liegt in der höheren Sphäre der geistig durchdrungenen Produktion, in der nur schaffensfreudige, schöpferische, denkende Menschen arbeiten, durchglüht von der Begeisterung für ihr Werk und sicher vor den Gefahren des grausamsten Symptoms der Überbevölkerung, der Arbeitslosigkeit."
(Zitiert nach Klees, 1984 b, S. 78 f mwN)
Der amerikanische Molekularbiologe Jon Beckwith, einer der wenigen, der sich über die gesellschaftlichen Folgen seines Tuns Gedanken macht, hat diese in dem hier interessierenden Zusammenhang in seinem Beitrag "Genetik als soziale Waffe" folgendermaßen niedergelegt:
"Sozialdarwinismus
Zugleich sind Genetik und genetische Theorien in der Vergangenheit immer wieder dazu benutzt worden, menschliches Leiden, soziale Ungerechtigkeiten und andere Formen gesellschaftlicher Unterdrückung zu rechtfertigen. Während Darwin selbst sich um die Frage der Übertragbarkeit seiner Theorien auf das menschliche Verhalten nicht besonders gekümmert hat, haben andere, im Gefolge von Herbert Spencer, behauptet, die meisten Aspekte der menschlichen Sozialbeziehungen seien notwendige Folgen der Evolution. Spencer selbst hat im übrigen den Begriff vom 'Überleben der Tauglichsten' (survival of the fittest) geprägt. Die Sozialdarwinisten bedienten sich der Evolutionstheorie, um gesellschaftliche Machtverhältnisse, rassische Uberlegenheit, Raubbeuterkapitalismus und Imperialismus zu rechtfertigen."
Spencer sprach sich dafür aus, die Armen sich selbst zu überlassen, und war Gegner jeder sozialen Fürsorge:
"Die Armut der Unfähigen, die Bedrängnis, in welche die Unvorsichtigen geraten, der Hunger der Müßigen und die Verdrängung der Schwachen durch die Starken sind Ausdruck einer umfassenden und weitsichtigen Güte. Wir müssen diejenigen falsche Menschenfreunde nennen, die, um gegenwärtiges Elend zu vermindern, nachfolgenden Generationen noch größeres Elend aufbürden."
Spencer wurde bei seinen Besuchen in den Vereinigten Staaten von den Industriellen wie John D. Rockefeller und Andrew Carnegie willkommen geheißen. Und Rockefeller, der von dieser neuen Lehre geradezu entzückt war, predigte daraufhin das Evangelium des Sozialdarwinismus, insbesondere dort, wo es sich mit seinen eigenen Unternehmungen deckte:
"Im Wachsen eines großen Unternehmens ist lediglich ein Überleben der Tauglichsten... Die Rose 'Schönes Amerika' kann nur dann ihre den Betrachter so entzückende Pracht und ihren Duft entfalten, wenn man die er- [14] sten Knospen opfert, die um sie sprießen. Das ist keine böse Neigung im Geschäftsleben, sondern lediglich ein Naturgesetz und ein Gesetz Gottes."
Theodore Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende, rechtfertigte mittels der Sprache des Sozialdarwinismus die zu jener Zeit besonders stark ausgeprägte imperialistische Politik der Vereinigten Staaten...

3.3. Die Eugenische Bewegung - Wissenschaftler auf bourgeoiser Seite des Klassenkampfs nach 1900 bis in die Gegenwart

Die Haltung der Sozialdarwinisten im neunzehnten Jahrhundert lief auf ein laissez-faire hinaus. Die Starken sollten über die Schwachen herrschen, die erfolgreichen Industriellen die Arbeiter ausbeuten, der Natur sollte Lauf gewährt werden. Mit fortschreitender Industrialisierung und der Verbreitung von sozialistischem Gedankengut unter der arbeitenden Bevölkerung entstanden schwere und oft auch heftige Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Industriellen. In den Vereinigten Staaten nahmen diese Konfrontationen gegen Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts so sehr an Schärfe zu, daß die herrschende Klasse eine Revolution befürchtete. Da die Laissez-faire-Haltung allmählich an Boden verlor, hielt man nach anderen Waffen Ausschau, die in diesem Kampf eingesetzt werden konnten. Für diese Aufgabe schien die eugenische Bewegung geeignet, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden war, als Francis Galton den Begriff "Eugenik" prägte...
Naturwissenschaftler (begannen) zu erkennen..., daß... mit Hilfe der Gene nicht nur einfache biologische Merkmale des Menschen zu erklären (waren), sondern auch ein Großteil des menschlichen Sozialverhaltens. Zu den Merkmalen, die auf einzelne Gene zurückgeführt wurden, gehörten Intelligenz, Alkoholismus, Degeneration, kriminelles Verhalten, der Drang zur Seefahrt und Landstreichertum...
Gesellschaftliche Probleme nahmen überhand. Entweder war etwas falsch an der Art, in der ihre Klasse das Land regierte, oder mit all diesen Menschen, die solche Schwierigkeiten heraufbeschworen, war etwas nicht in Ordnung. Die Antwort auf diese Frage schien nahezuliegen. Für die aufkommende Eugenikbewegung wurden Intelligenzmessungen zur wichtigen Waffe...
Schließlich wurde das Gesetz des Staates Indiana aus dem Jahre 1907 Modell für die ersten Sterilisationsprogramme aus Gründen der Eugenik. Damit hatten Wissenschaftler die Grundlagen für das abscheuliche Eugenikprogramm der Nazis gelegt, die sich bis hin zu Genetikern der Vereinigten Staaten und zu prominenten Naturwissenschaftlern in Deutschland zurückverfolgen lassen, die lange vor der ´Machtergreifung´ der Nationalsozialisten im Jahre 1933 tätig waren. Daß die Vereinigten Staaten als Vorläufer ein Beispiel gegeben hatten, verlieh den deutschen Programmen eine gewichtige Legitimierung.

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Die Extreme, bis zu denen die Nazis die Lehre der Eugenik trieben, und deren Scheitern im Zweiten Weltkrieg hatten eine heftige Reaktion gegen Theorien und Programme zur Folge, die gesellschaftliche Probleme und Übereinkünfte auf genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschen zurückführten. Der Begriff Eugenik hatte seine Achtbarkeit eingebüßt, und die Wissenschaftler, die sich mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigten, konzentrierten sich hinfort nahezu ausschließlich darauf, inwieweit Umweltfaktoren das Verhalten von Menschen beeinflussen.
Zu jener Zeit (1950, B. K.) wurde im Anschluß an einen UNESCO-Kongreß folgende Erklärung herausgegeben:
"Wo immer es möglich war, unterschiedliche Umweltfaktoren zu berücksichtigen, haben die Tests bei allen untersuchten Gruppen von Menschen im wesentlichen ähnliche geistige Fähigkeiten ergeben. Kurz gesagt ist die Durchschnittsleistung von Angehörigen aller Volkszugehörigkeiten bei Vorliegen ähnlicher kultureller Gegebenheiten zur Entwicklung ihrer Möglichkeiten in etwa gleich. Die wissenschaftlichen Untersuchungen neuerer Jahre stützen ganz und gar den Anspruch des Konfuzius (551 bis 478 v. Chr.): 'Die Natur des Menschen ist gleich, erst ihre Gewohnheiten führen sie weit auseinander.'
Das uns gegenwärtig zugängliche wissenschaftliche Material rechtfertigt die Schlußfolgerung nicht, ererbte genetisch bedingte Unterschiede zwischen Völkern und Gruppen könnten eine größere Rolle bei der Verursachung abweichender kultureller Leistungen oder von Unterschieden zwischen den Kulturen spielen. Es legt aber die Annahme nahe, daß der Hauptfaktor für die Erklärung solcher Unterschiede in den kulturellen Erfahrungen liegt, die die jeweilige Gruppe in der Vergangenheit gemacht hat."
Damit konnten für die Wissenschaft Eugenik und Rassenunterschiede vorerst kein ernsthafter Forschungsgegenstand mehr sein.

3.4. Die heutigen Argumente der biologischen Deterministen

Allerdings dauerte diese Windstille nur etwa zwanzig Jahre. Mit Beginn der sechziger Jahre war es wieder möglich, an gesellschaftliche Fragestellungen mit biologischen Erklärungen heranzugehen. Als Ergebnis der zu jener Zeit herrschenden gesellschaftlichen Unruhe gewann diese Betrachtungsweise sogar an Wirkung und zog die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Zusammenschlüsse von Schwarzen, von anderen Minderheiten, von Armen ganz allgemein, die Frauenbewegung sowie eine zunehmende politische Radikalisierung führten zu unüberhörbaren Forderungen nach gleichmäßiger Verteilung von Besitz und Macht. Aus angesehenen wissenschaftlichen Einrichtungen kamen Argumente, denen zufolge man diesen Forderungen nicht zur Durchsetzung verhelfen könne, da die Gesellschaftsstruktur, wie wir sie sehen, mit all ihren Ungerechtigkeiten ein natürliches Ergebnis der genetisch

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bedingten Unterschiede zwischen den Menschen und einer allgemeinen genetisch bestimmten Neigung hin zu hierarchisch gegliederten Gesellschaften sei. Diese Wiederbelebung des biologischen Determinismus wurde in den Vereinigten Staaten von Arthur Jensen eingeleitet, einem Erziehungspsychologen von der University of California in Berkeley, der 1969 in der Harvard Educational Review einen Aufsatz veröffentlichte, in dem es um die Frage ging, inwieweit man den IQ und die schulische Leistung zu steigern vermöchte. Zeitungsschlagzeilen verkündeten im ganzen Lande Jensens Behauptung, er habe den Nachweis dafür erbracht, daß Schwarze den Weißen genetisch unterlegen seien. Der Kongreß der Vereinigten Staaten ließ sich in einer Anhörung unter Präsident Nixon Jensens Argumente vortragen und nutzte sie im Rahmen seines Vorgehens zum Abbau pädagogischer Förderprogramme für sozial Benachteiligte und Schwarze. Professor Richard Herrnstein aus Harvard vermochte 1971 ein nahezu ebenso großes Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als er in einem Artikel in Atlantic Monthly erklärte, radikale Forderungen nach Gleichheit ließen sich nicht verwirklichen, da die Zugehörigkeit eines Menschen zu seiner Klasse jeweils genetisch bestimmt sei.
"Zu jener Zeit wurde eine weitere gesellschaftliche Schwierigkeit als biologisch bedingt eingestuft. In den Vereinigten Staaten waren ‚Straßenkriminalität‘ und gesellschaftliche Auflösungserscheinungen wichtige Probleme. Mit einem Schlag tauchte dann die Legende von der männlichen Geschlechtschromosomenanomalie des XYY-Chromosoms auf, der zufolge männliche Säuglinge, die mit einem zusätzlichen Y-Chromosom zur Welt kommen, zu einem kriminellen Dasein verdammt sein sollen. Naturwissenschaftler und Medien brachten die handliche Formel vom ‚Verbrecherchromosom‘ in Umlauf. Es hieß, die Lösung einiger der Probleme unserer Gesellschaft könne darin liegen, daß man ‚alle Feten abtreibt, die das XYY-Chromosom aufweisen‘. Tatsächlich ist es inzwischen auch zu solchen Schwangerschaftsabbrüchen gekommen.
Zuletzt, nämlich 1975, erregte die Veröffentlichung von E. 0. Wilsons (Harvard) ‚Sociobiology: The New Synthesis‘ großes Aufsehen in der Öffentlichkeit. Die Medien verschafften den Behauptungen von Soziobiologen weite Verbreitung, daß folgende soziale Verhaltensmuster weitgehend genetisch bedingt seien: die dominierende Rolle des Mannes gegenüber der Frau sowie seine Überlegenheit bei verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeiten; Hierarchien und Klassen; sowie die Feindseligkeit zwischen verschiedenen Rassen."
Hier läßt sich eine verblüffende Parallele erkennen zwischen zunehmenden Forderungen, herkömmliche gesellschaftliche Verhältnisse in Frage zu stellen und dem Auftreten akademischer Theorien, die diese Verhältnisse als naturgegeben und unvermeidlich rationalisieren. Zwar erweisen sich solche Theorien in allen Fällen als im günstigsten Fall schlecht begründet und schlimmstenfalls betrügerisch, doch überdauern sie eine Weile und schaden häufig denen, die von der Gesellschaft am meisten unterdrückt werden.

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3.5. Genetische Überwachung im Interesse der Kapitalistenklasse

"Das jüngste Beispiel, das diese Parallele im Anfangsstadium erkennen läßt, zeigt, wie Bewegungen zum Schutz der Umwelt und zum Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz immer stärkeren Zulauf finden, man gleichzeitig aber damit beginnt, Menschen auf Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krankheiten zu überwachen. .." (Jon Beckwith, in Herbig, 1981, S. 69ff)
Freilich sind diese gefährlichen Tendenzen nicht auf die USA beschränkt. Eugeniker und Intelligenzforscher schrecken dabei auch nicht vor Fälschungen zurück, wie der Fall Cyril Burt beweist.
"K. V. Müller hatte als eines der wichtigsten Probleme der Begabungssoziologie die Analyse des 'Auf- und Absteigens des Begabungspegels im Laufe der Generationen' bezeichnet. Eine für ihn wenig schwierige Aufgabe, da 'theoretisch die Dinge sehr einfach (liegen)'; und mit seiner bekannten These, daß die sozial relevanten Begabungsunterschiede unserer Zeit und unserer Gesellschaft bei der 'derzeitigen genischen Differenzierung der Menschen' nachweislich vorwiegend erbbedingt seien, bezog sich Müllers unkritische Distanz und wissenschaftlich 'einfache Theorie' besonders auch auf Ergebnisse des einflußreichen englischen Eugenikers und Intelligenztheoretikers Cyril Burt (1883 - 1971), nicht ahnend, daß sich einmal dessen 'beweisende Ergebnisse' der Zwillingsforschung als 'offensichtlich manipuliert' und gefälscht herausstellen könnten, und daß Burt selbst je als 'Schwindler und Datenfälscher' bezeichnet werden würde.

Der 'Fall Cyril Burt' erlangte zunächst kaum breite publizistische Bedeutung, wohl auch deshalb, weil dieser Wissenschaftsskandal nunmehr eine bürgerliche Kontra-Parallele zu Lyssenkos sozialbiologistischen Forschungen darstellt, die - historische Positionen des dialektischen Materialismus Marx' und Engels' durch stalinistische Perversionen verfälschend - im Sinne Lamarcks, die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften 'verifiziert' zu haben glaubte.

Zur Beweisführung hatte Lyssenko - gleichermaßen wie Burt - wissenschaftliche Befunde unterdrückt, offensichtlich Daten gefälscht und eben jene wissenschaftspolitische Auftragsforschung erfüllt, die zur sozioökonomischen und politischen Legitimation der ideologischen Grundlagen des stalinistischen Kommunismus - bei Burt der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft - eine biologisch- naturwissenschaftliche 'Herrschaftsabsicherung' definierte; insofern stellen Lyssenkos Umwelttheorie, als auch Burts Begabungstheorie gleichermaßen sozialdarwinistisch rechtfertigende Herrschaftsideologien dar.

Aber der Fall Cyril Burt erlangte auch deshalb kaum eine kritische Würdigung, weil Burts - falsifizierte - theoretische Prämissen und Forschungsergebnisse von seinen einflußreichen Schülern Eysenck und Jensen übernom- [18] men und in immer neuen Variationen noch vertreten werden, obwohl sich die empirische Grundlage der formulierten Begabungs- und Intelligenztheorie als offensichtlich manipuliert erwiesen hat.

Das sozialnativistische Problem, das zu kennzeichnen wäre, liegt denn auch darin, daß Begabungs- und Intelligenztheorien trotz ihrer wissenschaftlichen Fragwürdigkeit erfolgreich zur Verfolgung konservativ-reaktionärer bildungs-politischer Ziele verwendet werden."
(Matten, 1983, S. 197)
Doch auch heute ist die "Begabungstheorie" wieder im Kommen. Sie findet ihren institutionellen Niederschlag in der "Reformierung" der Schul- und Hochschulpolitik und in der Existenz von Samenbanken.
"Welche Möglichkeiten in puncto Samenspender in den USA inzwischen bestehen, zeigt die Tatsache, daß seit mehreren Jahren schon im kalifornischen Escoudido eine von dem Industriellen Robert K. Graham gegründete Samenbank existiert, in der ursprünglich nur Nobelpreisträger, jetzt auch Männer mit generell hohem Intelligenzquotienten ihren Mannessaft tiefgekühlt deponieren können. Mindestens vier Nobelpreisträger haben laut Graham bereits gespendet. Einer von ihnen, der Physiker William Shockley, hat sich auch öffentlich dazu bekannt. Er erklärte, er sehe es als seine Pflicht an, durch diese aktive Tat den 'genetischen Verfall der Menschheit' aufhalten zu helfen.

Freilich können die Erwartungen gerade hier auch enttäuscht werden, denn ein noch so begabter Elternteil bietet noch keine Gewähr für ebenso begabten Nachwuchs. Dazu gibt es jene hübsche Anekdote von George Bernard Shaw, dem berühmten irischen Dramatiker und Nobelpreisträger, der zu seinen Lebzeiten einmal von der attraktiven amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan um ein Schäferstündchen mit den Worten gebeten worden sei: 'Stellen Sie sich vor, wir hätten einen Knaben mit ihrem Geist und meiner Schönheit!' Worauf Shaw gelächelt habe: 'Und was wäre, Verehrteste, wenn es umgekehrt käme?"
(Löbsack, 1985, S. 16)
Jahrzehntelang haben Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt den Boden für eine Renaissance des Soziobiologismus auch in Deutschland bereitet. Die Politik der "geistig-moralischen Erneuerung" greift begierig auf die zur Verfügung gestellten Argumentationsmuster zurück, um gezielt Sozialabbau zu betreiben und sozialdarwinistische Ansätze in die Sozialpolitik und das Sozialrecht hinein zu verlängern. Beispiele dafür sind etwa der gravierende Leistungsabbau im Arbeitslosenrecht, die Verschärfung der Zumutbarkeit der Arbeit mit ihrer überdeutlichen Tendenz zur Dequalifikation und Maßnahmen im Bereich der Bildungspolitik. Wurde letztere insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren zu Zeiten des Arbeitskräftebedarfs unter dem Stichwort "Chancengleichkeit" ausgebaut, um das latent vorhandene Begabungspotential auch etwa von Arbeiterfamilien nutzen zu können, so wird im Windschatten der Krise zur Absicherung herkömmlicher Privilegien genau umgekehrt verfahren. Nur so kann man etwa

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die in der "Operation '83" verfügte weitgehende Streichung des Schüler-Bafög und die "Umstellung" des Bafög für Studenten auf "Volldarlehen" verstehen. Damit soll die Selbstrekrutierung begüterter Familien für gesellschaftlich relevante Positionen wiederhergestellt werden, da andere bei der gegenwärtigen und sich weiter verschärfenden Arbeitsmarktlage weitgehend abgeschreckt werden.
Freilich blitzen sozialdarwinistische Ansätze auch in anderen Bereichen auf: die Wiederherstellung des dreigliedrigen Schulsystems und die Aufgabe der Gesamtschule und auch der Gesamthochschule; die Diskussion von Politikern wie Genscher, Möllemann und Kohl über "Eliten", die ihren Niederschlag bereits in verschiedenen Hochschulgesetzen bzw. entsprechenden Entwürfen gefunden haben (Elitestudiengänge, Steilkurse u. ä. m.), obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob die politischen Betreiber den geforderten Maßstäben tatsächlich selbst genügen würden. Wer "Eliten" auf der einen Seite fordert - über die ich im übrigen unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen auch mit mir reden lassen würde -‚ tritt denknotwendig auf der anderen Seite für die Anhäufung von "Schrott" ein, der ausgegrenzt werden muß. Daß sich in unserer Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nicht unbedingt die Besten und Leistungsfähigsten, sondern die Brutalsten, Bedenkenlosesten und heillos Opportunistischsten durchsetzen, zeigen zahlreiche Beispiele unserer Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, wie die Namen Globke, Flick, Abs, Vietor, Barzel und Barschel beispielhaft belegen. Hier wäre ein Reinigungsprozeß ganz anderer Art vonnöten. Freilich gibt es verdeckt noch andere Entwicklungslinien in unserer Gesellschaft, die in Richtung Bevölkerungseugenik laufen. Hierbei sind die entscheidenden Triebkräfte nicht genetische "Erkenntnisse", sondern politische Weichenstellungen zur Transformation des demokratischen Rechts- und Sozialstaats in einen autoritären Besitzverteidigungsstaat (Kurt Schumacher) mit eugenischen Zügen.
Wurde etwa der steuerlich zu berücksichtigende Kinderfreibetrag zunächst durch ein einheitliches Kindergeld ersetzt, das zudem zunächst weiter ausgebaut wurde, so stellen wir insbesondere nach der "Wende" in Bonn eine gegenläufige Entwicklung fest. 1975 allgemein eingeführt, löste das Kindergeld für ein Jahrzehnt die Steuerfreibeträge ab, die Steuerpflichtige mit hohem Einkommen zusätzlich privilegierten. Zwischenzeitlich wurden die Kinderfreibeträge von gegenwärtig 2484,- DM pro Kind neben dem - wenn auch z. T. gekürzten - Kindergeld verankert. Damit werden eindeutig Höherverdienende bevorzugt und ökonomisch zum "Kinderkriegen" ermutigt. Ganz anders ist die Lage für Bezieher niedrigerer Einkommen; diese erhalten zwar als "Ausgleich" Zuschläge zum Kindergeld, die aber die Benachteiligung nicht ausgleichen können. Der Wunsch zum Kind dürfte daher verhaltener sein. Noch schlechter stehen freilich Sozialhilfeempfänger da. Sie erhalten zwar Kindergeld, jedoch wird ihnen dieser Betrag von der Sozialhilfe wieder abgezogen. Dies ist ein sozialpolitisch kaum hinnehmbarer Tatbestand, der schwächere Bevölkerungsteile zusätzlich diskriminiert, aus bevölkerungseugenischer Sicht jedoch begrüßt werden dürfte. Besonders betroffen sind ledi-

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ge Mütter und Alleinerziehende. Die "Karrieren" ihrer Kinder sind damit weitgehend auch ökonomisch vorprogrammiert.
Interessant ist des weiteren in diesem Zusammenhang eine Bestimmung des Bundessozialhilfegesetzes, nämlich § 37b (Hilfe zur Familienplanung). Gemeinhin ist bekannt, daß Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen gegenüber Sozialhilfeempfängern privilegiert sind. Eine Ausnahme gibt es freilich bei der "Hilfe zur Familienplanung", auf die ein Rechtsanspruch besteht, hinsichtlich der Antibabypille. Soweit diese nicht aus Krankheitsgründen medizinisch geboten ist, müssen Krankenkassenmitglieder dafür bezahlen, Sozialhilfeempfänger dagegen nicht. Diese "Privilegierung" kann sehr schnell - verdeckt im Wege der Einzelfall"beratung" - ein Einfallstor für eugenische Überlegungen werden, indem man nämlich aus dem Rechtsanspruch in der Praxis eine Verpflichtung macht, die über den stummen ökonomischen Zwang hinausgeht.
Doch es gibt noch bedenklichere Beispiele. So ist bekannt geworden, daß junge, geistig behinderte Frauen ohne oder gegen ihren Willen sterilisiert wurden. Begründet wurde dies von Vertretern der "Lebenshilfe" und Lehrern der Sonderschule damit, daß eine Freizeit mit ihnen ansonsten kaum und die Kontrolle der beständigen Einnahme einer Antibabypille nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand möglich wäre. Dies ist rechtswidrig und steht in einer bedenklichen historischen Tradition (siehe auch Nr. 14.1 der Dokumentation). Gerechtfertigt wird dieses Verhalten mit einer angeblichen "Rechtsunsicherheit" und zynischerweise damit, auch diese Menschen hätten ein Recht auf sexuelle Freizügigkeit. Wie man dies im Zeitalter von Aids so ungeschützt behaupten kann, ist mir nicht ganz einleuchtend. (Der Spiegel, Nr. 41, 8. 10. 1984, S. 54ff. "Heimliches Wirken. Hunderte, möglicherweise Tausende geistig behinderter Mädchen und Frauen werden in der Bundesrepublik sterilisiert.")

3.6. Personelle und institutionelle Kontinuitäten eugenischer Ideologieproduktion in der BRD nach dem NS

Diese Beispiele leiten zu der allgemeinen Frage über, inwieweit sich die BRD aus der unseligen Verstrickung, die zu Auschwitz und Hadamar führte, wirklich gelöst hat und unter den gegebenen Bedingungen auch hat lösen können. Ich will meine Auffassung gleich vorab kundtun: Weder das eine noch das andere ist der Fall. Denn selbst der KZ-Arzt Mengele - von den Amerikanern zunächst festgenommen und dann wieder freigelassen - war nur ein kaltblütiger und konsequenter Vertreter einer mörderischen Wissenschaft, die ihre Größen und ihre Begrifflichkeit unbeschädigt mit in die Bundesrepublik übernehmen konnten. Bei einer zu erwartenden weiteren Verschärfung der Krise werden diese Denkfiguren mit Sicherheit wieder virulent.
Freilich stehen einer erneuerten Eugenikbewegung heute weit sanftere und zugleich weit wirksamere Waffen zur Verfügung: Gentherapie und Genmanipulation, die auf anschmiegsame Weise die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse bis in das Erbgut von Mensch und Natur hinein verlagern können

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und dringend einer grundsätzlichen Kritik bedürfen (Hickel/Klees, 1986). Ein neuer Traum der Herrenrasse oder besser: der Herrengenetiker?
Worauf gründet sich meine Einschätzung?
Dazu ein Blick zurück. Bereits kurze Zeit nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten, nämlich am 14. Juli 1933, wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet. Danach waren Zwangssterilisationen von Schwachsinnigen, Schizophrenen, Manisch-Depressiven, Epileptikern, Blinden, Tauben und Mißgebildeten, bei denen die Behinderung auf einer Vererbung beruhen sollte, zulässig. Hinzu kamen die Alkoholkranken. Die Gesundheitsämter und die rassenhygienischen Institute hatten für die Umsetzung des Gesetzes, die Begutachtungen und die Bestandsaufnahme der Erbkranken zu sorgen. Dies ungeachtet der Tatsache, daß Schizophrenie kaum erblich bedingt sein dürfte.
"Arthur Gütt begründete die Notwendigkeit des Gesetzes in einer Rundfunkrede am 26. 7.: Das Eingreifen des Staates sei notwendig geworden, weil sonst in drei Geschlechterfolgen die wertvolle Bevölkerungsschicht fast völlig verschwunden und nur noch Minderwertige übrig geblieben wären. Man habe auch die wirtschaftliche Seite zu sehen: Für Geistesschwache, Hilfsschüler und Geisteskranke und Asoziale müßten Millionen aufgewendet werden... Man solle auch nicht vergessen, daß Verbrecher, Arbeitsscheue und asoziale Menschen sich nach Meinung einzelner Experten zu 30 bis 50 Prozent aus den Schwachsinnigen und geistig Minderwertigen rekrutierten. Die Unfruchtbarmachung stelle deshalb 'eine Tat der Nächstenliebe' gegenüber folgenden Generationen dar. Die Reinigung des Volkskörpers sei ‚wahrhaft sozialem Mitempfinden‘ entsprungen. . ." (Klees, in Klees/,Motz, 1985, S. 137)
Dies war die "Rechtsgrundlage" für die Zwangssterilisation von mindestens 350.000 Menschen, darunter neben Behinderten vor allem Strafgefangene, Hilfsschüler, Fürsorgeempfänger, Nichtseßhafte und Prostituierte (zu den Veränderungen siehe die Dokumentation Nr. 14.1).
Ebenfalls am 14. Juli 1933 wurde das "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" beschlossen, wenn auch erst am 24. November verkündet. Es könnte "gar kein Zweifel daran bestehen, daß auch die Anlagen zum Verbrechen erblich bedingt sind".
Dem folgten "Euthanasie"-Maßnahmen von "Schwerstbehinderten" und "nutzlosen Essern" sowie die "Vernichtung durch Arbeit" von Asozialen und anderen mehr.
Einer der wichtigsten "Theoretiker" und zugleich eine der schillerndsten Figuren auf dem Gebiet der Rassenhygiene war Otmar Freiherr von Verschuer.

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Zehn Jahre lang - von 1935 bis 1945 - bestand in Frankfurt das Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene, das dieser bis 1942 leitete.
"Nach Abschluß seines Medizinstudiums und klinischer Tätigkeit wurde er 1927 Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie und menschliche Erblehre in Berlin. Hier beschäftigte er sich vorwiegend mit Zwillingsforschungen, die er bis an sein Lebensende weiterführte.

Das Interesse an der Vererbungsforschung ging parallel mit einem ausgeprägt antisozialen und rechtskonservativen Engagement, das ihn die Unfruchtbarmachung 'geistig und sittlich Minderwertiger' fordern ließ. Die Machtübernahme der Nazis begrüßte er freudig, sein Lehrbuch 'Erbpathologie' begann er mit dem Kapitel 'Der Erbarzt im völkischen Staat', in dem er die 'wissenschaftlichen' Erkenntnisse der Erbbiologie 'dem Führer' in die Hand legte und sich ohne Einschränkung zur Verfügung stellte... 1934 übernahm er auf Veranlassung des Reichsinnenministeriums in Berlin-Charlottenburg die Poliklinik für Erb- und Rassenpflege. Nur sechs Monate nach ihrer Gründung erhielt er den Ruf nach Frankfurt.

Das hier von ihm gegründete Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene gehörte nach dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin zur führenden Einrichtung im Deutschen Reich... Das Institut war in jeder Hinsicht opulent ausgestattet. .. Mitarbeiter waren (neben dem Oberarzt Heinrich Schade, B. K.) Hans Grebe und Josef Mengele. Verschuer konnte mit Freude feststellen, daß eine 'begeisterte, strebsame und einsatzbereite junge Mannschaft' hinter ihm und der Rassenhygiene stünde. Er wünschte seinen Mitarbeitern, daß sie sich zu 'späteren Führern der Erbbiologie und Rassenhygiene' entwickelten..

Die eigentlichen Grenzen zwischen nazistischer Propaganda und wissenschaftlicher Tätigkeit waren im Frankfurter Institut fließend...

Wenn man den Lebensweg von Grebe und Mengele während ihrer Frankfurter Zeit verfolgt, dann sind sie in ihren Publikationen und der Beurteilung ihrer Ergebnisse eher zurückhaltend. Grebe bekam nach seiner Habilitation in Frankfurt 1944 den Lehrstuhl für Erbbiologie und Eugenik in Rostock. Nach 1945 ließ er sich als praktischer Arzt in Frankenberg nieder. In den 50er Jahren war er Lehrbeauftragter für Genetik an der Universität Marburg und in den Jahren 1957 - 1961 Präsident des Deutschen Sportärztebundes. 1978 wurde er Präsident der Ärztekommission des Internationalen Amateurboxverbandes...

Auch in den Arbeiten des Dr. Dr. Josef Mengele fehlt der aggressive Ton, der die Publikationen seiner Vorgesetzten Verschuer und Schade auszeichnete ... 1938 trat er in das Frankfurter Institut von Verschuer ein, um nach Kriegsausbruch als Truppenarzt bei der Waffen-SS eingesetzt zu werden. [23] Nachdem er frontdienstuntauglich wurde, kam er nach Berlin und arbeitete als Gastforscher erneut bei Verschuer, der im Jahre 1942 die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie übernommen hatte. Verschuer sprach in dieser Zeit von 'meinem Assistenten Mengele', der am 30. Mai 1943 als Lagerarzt nach Auschwitz versetzt wurde. Auschwitz bot Mengele endlich die Möglichkeit, sich gegenüber seinem Chef Verschuer als echter Rassenhygieniker zu profilieren. Verschuer stellte für Mengele zwei Projektanträge an die Deutsche Forschungsgemeinschaft über 'spezifische Eiweißkörper' und 'Augenfarbe', die bereits im August und September bewilligt wurden.

Mengele war einer derjenigen Ärzte, die die in Auschwitz ankommenden Gefangenen selektierten, das hieß die Arbeitsunfähigen, Mütter und Kinder direkt ins Gas schicken, während die Vernichtung der Arbeitsfähigen vorerst aufgeschoben wurde. Dabei konnte er mehr als 100 Zwillingspaare und ebenso viele Familien von Zwergen und Verkrüppelten für seine 'wissenschaftlichen Untersuchungen' aussondern. Die Menschen wurden vermessen, zum Teil mit Typhus infiziert und beobachtet, getötet und ihr Serum und die 'wissenschaftlich' besonders interessanten Organe an das Verschuersche Institut in Berlin gesandt. Mengele und Verschuer setzten ihre Forschungen nachweislich bis in das Jahr 1945 fort...

Vor 40 Jahren, am 8. Mai 1945, wurden der Rassentheorie und der faschistischen Ideologie zunächst der Boden entzogen... Was geschah mit den Wegbereitern des Rassismus? Mengele wurde nach und nach zum 'Präsentier-Nazi', hinter dem sich die Theoretiker verstecken konnten, unter ihnen Verschuer und Schade.

Verschuer blieb Frankfurt auch nach 1945 verbunden. Noch rechtzeitig, bevor die Russen Berlin erreichten, ließ Verschuer den kompletten Bestand des Kaiser-Wilhelm-Instituts aus Berlin in seinen hessischen Heimatort Solz bei Bebra überführen. Hier lagerte er es nach Angaben seiner Frau in den umgebenden Gasthäusern ein und reinigte es offenbar von allem belastenden Material.

Nachdem er sich so selbst entnazifiziert hatte, nahm er zur Jahreswende 1945/46 Kontakt mit dem Frankfurter Oberbürgermeister auf, um das Berliner KWI für Anthropologie in Frankfurt neu aufzubauen. Skrupellos log Verschuer, daß er vor der 'Analyse eines chemischen Stoffes stünde, der Schutz und Abwehr gegen Tuberkuloseinfektion' verleihen sollte. Bei all dem Elend, der Zerstörung und einer steigenden Tbc-Sterblichkeit ist es verständlich, daß der OB das Angebot annahm und bereit war, Verschuer bereits ab 1. Januar 1946 300 RM ohne Gegenleistung monatlich zu zahlen. Ab 1. Oktober 1946 war eine Erhöhung auf 600 RM vorgesehen. Eine letzte Hürde, die Entnazifizierung, nahm Verschuer, als er durch eine Entscheidung der Spruchkammer als 'Mitläufer' bezeichnet und mit einer Buße von 600 RM belegt wurde. [24] Die zweite gerade begonnene Karriere Verschuers scheiterte jedoch an einem Einspruch des inzwischen neu besetzten KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, in dem eine Kommission von namhaften Wissenschaftlern sich der Berufung Verschuers entgegensetzte. Verschuer wurde als einer der 'gefährlichsten Nazi-Aktivisten des Dritten Reiches' und 'bedenkenloser Opportunist' gekennzeichnet.

Die hessische Staatsregierung konnte sich dieser Argumentation nicht verschließen und entzog Verschuer im Februar 1947 das Recht, lehrend oder forschend tätig zu sein. Die Kennzeichnung Verschuers als 'bedenkenloser Opportunist' sollte sich als nur zu wahr erweisen. Nachdem er einige Zeit Gras über seine Arbeit hatte wachsen lassen, plante er noch zielstrebiger die nächste Karriere. Bereits 1949 konnte er erreichen, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz zu werden. 1951 war er vorerst am Ziel seiner Wünsche. Er wurde auf den Lehrstuhl für Genetik nach Münster berufen. Auch hier ruhte er sich nicht auf seinen Lorbeeren aus und baute das Institut zu einem der größten seiner Art in der Bundesrepublik aus. In Münster stand der Aufbau eines großen Genetikregisters für eine Bevölkerung von 2,2 Millionen im Mittelpunkt seiner Bemühungen. Seine anthropologischen Kollegen dankten es ihm, indem sie Verschuer von 1952 bis 1956 zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie wählten. Verschuer seinerseits förderte auch den 'wissenschaftlichen Nachwuchs'. 1952 holte er sich seinen altbewährten Oberarzt Schade nach Münster, der 1954 den Professorentitel verliehen bekam und 1966 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Genetik nach Düsseldorf folgte. Der Einfluß, den Verschuer auch weiterhin hatte, geht auch daraus hervor, daß er die Lehrstühle für Genetik in Frankfurt und Erlangen mit seinen Mitarbeitern Degenhardt und Koch besetzen konnte.

Die Diktion seiner Arbeiten, die Grundprämissen der rassenhygienischen Anschauungen Verschuers bleiben bis zu seiner Emeritierung 1965 im wesentlichen gleich. Allein eine Änderung findet sich durchgängig: Den Begriff minderwertig setzte Verschuer fortan in Gänsefüßchen. Seine, aktive Rolle in der Rassenhygiene während der Nazizeit verdrängte er: 'Politische Mächte der nationalsozialistischen Ära haben sich den Bestrebungen und unvollendeten Ergebnissen eugenischer Forschung bemächtigt; dadurch ist die Wissenschaft der Eugenik in Deutschland stark zurückgegangen', schrieb er 1960.

In der Tat ließen sich die Begriffe Rassenhygiene und Eugenik nach 1945 offen nur schwer vertreten - ihre Auferstehung feierten und feiern sie jedoch noch heute unter anderen Etiketten. Der Rückgang rassistischer Ideologie war nicht so komplett, wie es nach der letzten Aussage Verschuers erscheinen konnte. Die Zweifel werden um so stärker, wenn wir die Biographie von Prof. Heinrich Schade weiter verfolgen. Schade wurde 1974 in Düsseldorf emeritiert, zog sich jedoch nicht aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und schrieb als Autor solche Werke wie 'Völkerflut und Völkerschwund' (1974), [25] 'Sind Kulturablauf und Volkstod schicksalhaft' (1975) oder 'Völker- und Kulturtod und die Lage in Deutschland' (1982).

Die Jahreszahlen sind korrekt angegeben, der Inhalt könnte auch aus den Jahren nach 1933 stammen: Schade malt das Schreckgespenst eines rapiden Bevölkerungsrückgangs in der Bundesrepublik auf 25 Millionen Einwohner an die Wand. Er befürchtet den Rückgang der Wehrkraft und die Aufnahme von Türken in die Bundeswehr. Er empfiehlt sozial unterschiedliche genetische Beratung und eine vermehrte Schwangerschaftsverhütung der unteren sozialen Schichten. Erbkrankheiten der höheren sozialen Schichten seien wegen des besseren genetischen Materials in Kauf zu nehmen. Schade belebt auch die rein faschistischen Rassenideologien. Für ihn ist die nordische Rasse (die 'Nordiden') alleiniger Träger der abendländischen Kultur! Denkbar erscheint ihm, das 'nordide' Element in den osteuropäischen Völkern zu fördern. Gleichzeitig schließt er aus, daß die Türken in der Geschichte eine kulturelle Blütezeit hervorgebracht haben könnten. Die Integration ausländischer Kinder in deutschen Schulen ist für ihn 'der Versuch zur Zerstörung des deutschen Volkstums'. Bereits heute sei jedes l0. 'Kind ein Ausländer'.

Schade war an zwei Aktionen der letzten Jahre beteiligt. Er gehörte zu den Erstunterzeichnern des neofaschistischen 'Heidelberger Manifestes' vom 17. Juni 1981, in dem die vollständige Rückführung aller Ausländer gefordert und die These 'Deutschland den Deutschen' vertreten wird. Obwohl er seine Unterschrift angeblich zurückzog, betätigte er sich in gleicher Weise auch danach: Erst vor wenigen Wochen wurden viele tausend Exemplare der Broschüre 'Deutschland ohne Deutsche' an Hocbschullehrer verschickt, in denen Schade über 'Genosuizid-Volksselbstmord' schrieb und den Zerfall der deutschen Kultur, des Staates und des 'politischen Europas' voraussagt, sofern die Aussonderung und Abschiebung der Ausländer nicht verwirklicht würde."
(Thomann, 1985)
Den heutigen Verfechtern und Nutznießern der Zwillingsforschung im Anschluß an Francis Galton, Otmar von Verschuer und Josef Mengele seien folgende Überlegungen von Hubert Markl, dem derzeitigen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zur Beachtung anempfohlen, die in der herrschenden Humangenetik durchaus noch nicht Allgemeingut sind:
"An den Wissenschaftler, der über den Menschen selbst forscht, richtet sich hier eine viel ernstere, zwingendere moralische Forderung: nämlich nur solche Methoden der Erkenntnisgewinnung anzuwenden, die 'das fundamentale Grundrecht seines Forschungsobjekts - die Unantastbarkeit' der Würde des Menschen, seiner unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte - voll und peinlich genau respektieren. Daß die Auslegung im konkreten Fall - welche Handlung dieses Recht verletzt, wer Träger solcher Rechte sein kann - nicht immer einfach ist (man denke nur an die sehr aktuellen Fragen der Rechte eines Embryos oder der Verfügungsrechte über Organe Verstorbener oder 'Hirntoter' - gleiches hätte für die Behandlung großhirnlos geborener [26] Kinder - sogenannter Anencephale - zu gelten, die nach herrschendem Verständnis als menschliches 'Ersatzteillager' für Organspenden zur Verfügung stehen sollen, B. K. -) ändert nichts an dem grundsätzlich uneingeschränkten Geltungsanspruch dieser Menschenrechte, so wie die gegebene Rechtsordung sie auslegt, dem sich jeder Forscher zu unterwerfen hat...

Wer diesen Anspruch ernst nimmt, sollte keine Schwierigkeiten haben einzusehen, daß auch in der biologischen, psychologischen oder welch immer Forschung am Menschen unrechtmäßig gewonnene Daten so wenig Verwendung finden und ausgewertet werden dürfen, wie unrechtsmäßig gewonnene Informationen in einem Rechtsfindungsprozeß Eingang finden dürfen. Um es an einem ganz konkreten Beispiel klarzumachen: Anthropologische Daten, die im Nazireich im Zusammenhang mit der Juden-, Zigeuner- oder Homosexuellenverfolgung gewonnen wurden, sollten grundsätzlich nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Verwendung gemacht werden, eine Frage, die sich bis in unsere Tage der Forschungsförderung ganz konkret stellen kann. Wieder sei nicht geleugnet, daß die notwendige Güterabwägung (?‚ B. K.) im konkreten Fall nicht leicht fallen kann, aber im Grundsatz muß unbestritten bleiben: Der Mensch selbst darf nie nur Objekt und Mittel werden: auch nicht der Forschung, auch nicht der Suche nach reiner Erkenntnis."
(Markl, 1986, S. 39 f)
Auf dieser Linie liegt es, daß der Leiter der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde seinen Forschern untersagt hat, weiterhin wissenschaftliche Daten zu verwenden, die ursprünglich in Menschenversuchen in NS-Konzentrationslagern gewonnen wurden (vgl. Frankfurter Rundschau vom 24. März 1988, S. 2 "Keine Daten zum Forschen"), wenn es auch die wissenschaftliche Redlichkeit gebietet festzustellen, daß US-Behörden 30 Jahre lang Menschen als atomare Versuchskaninchen benutzten. Betroffen waren vor allem Obdachlose, Häftlinge, Geisteskranke und alte Menschen. Zurecht wurden diese Maßnahmen als "Experimente wie bei den Nazis" bewertet (Frankfurter Rundschau vom 27. Oktober 1986, S. 1).

Es ist unsere Pflicht nach Auschwitz, auf die Zwillings"forschungen" eines Verschuers und eines Mengeles, die auf Auschwitz beruhen, zu verzichten. Doch darin dürfen sich die von Hubert Markl getroffenen Uberlegungen nicht erschöpfen.

Sollten diese Grundsätze nicht ebenso für unzulässigerweise vorgenommene Aids- und/oder Gentests im Rahmen medizinischer, insbesondere arbeitsmedizinischer Untersuchungen gelten? Denn mit der Abgabe auch nur einiger Milliliter Blut kann schon jetzt - wenn auch noch nicht in vollem Umfange - eine genetische Durchleuchtung der Person bzw. ein Aids-Antikörpertest durchgeführt werden. Wegen der hohen sozialen Gefährlichkeit wären bei Verletzung strafrechtliche Sanktionen zu erwägen, um das Auschwitz-Denken zu eliminieren und aus unserer düsteren Geschicht die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Denn die Verstrickung und Verklammerung der da-

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maligen Täter mit der heutigen Bundesrepublik ist unübersehbar, und in nicht wenigen ihrer zu gesellschaftlichem Ansehen und Einfluß gelangten Schüler leben Denkansätze vergangener Zeiten latent fort.

Ich habe die beiden Karrieren des Herrn Verschuer im "Dritten Reich" und in der Bundesrepublik sowie das Wirken seiner Schüler deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil sie in wichtigen Fragen das "Dritte Reich" in unseliger Weise mit der Bundesrepublik verbinden. Die personelle und wissenschaftliche Kontinuität ist eine Erblast, von der wir dieses Land wohl nie werden gänzlich befreien können. Doch ist Verschuer beileibe kein Einzelfall, denn es soll noch schlimmer kommen. Die Rede ist von Prof. Werner Catel, der wesentlich an der Vorbereitung und Durchführung der Kindereuthanasie bei schweren angeborenen Leiden beteiligt war. Entsprechend einem Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom 18. August 1939 betr. Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene gingen die entsprechenden Meldebögen im Umlaufverfahren an die drei Gutachter Catel, Heinze und Wentzler. Sie entschieden, ohne die Kinder je gesehen zu haben. Ein Plus- oder Minuszeichen bedeuteten Tod oder Lebenlassen. Im Jahre 1941 wird das Alter der in Frage kommenden "Kinder" auf 16 Jahre erhöht; danach werden auch Erwachsene einbezogen. Auch Catel wurde wieder Professor in der Bundesrepublik und bezeichnenderweise Direktor der Universitätskinderklinik Kiel (1954), ohne daß er für seine Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden wäre. Dies grenzt an eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer.

Freilich sind auch auf den ersten Blick unverdächtige Organisationen wie Pro Familia von der personellen Kontinuität betroffen.
"1931 hatte Hans Harmsen, damals Geschäftsführer des Gesamtverbandes der deutschen evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten e. V. eine 'eugenische Neuorientierung unserer Wohlfahrtspflege' gefordert, durch die die Kosten für die Pflege 'Minderwertiger' erheblich gesenkt werden könnten. Beeindruckt von Harmsens Sterilisierungs- und Asylierungsvorschlägen berief der Zentralausschuß der Inneren Mission eine 'Evangelische Fachkonferenz für Eugenik' ein. Diese Konferenz von Treysa bezeichnete die eugenische Sterilisierung als in gewissen Fällen 'religiös-sittlich gerechtfertigt' und betonte 'die sittliche Pflicht zur Sterilisierung aus Nächstenliebe und Verantwortung, die uns nicht nur für die gewordene, sondern auch für die künftige Generation auferlegt ist'. Gekoppelt werden sollte die freiwillige Sterilisierung mit verbesserten Bewahrungsmöglichkeiten, was in der Kombination Zwangssterilisation bedeutete. Hans Harmsen war an der Durchführung des GzVeN (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, B. K.) maßgeblich beteiligt und veröffentlichte eine 'Handreichung' für die evangelischen Anstalten, in deren Vorwort er unter Berufung auf die 'wissenschaftliche' Feststellung 'blödsinnige Eltern erzeugen blödsinnige Kinder' hervorhebt, die Innere Mission habe schon seit Beginn ihrer Arbeit auf staatliche Maßnahmen zur Ausschaltung der Fortpflanzung Erbkranker gedrängt. [28] Weitere bevölkerungspolitische Aktivitäten von Hans Harmsen wurden erst kürzlich bekannt. 1952 hat Harmsen dann die Pro Familia - Deutsche Sektion für Sexualberatung und Familienplanung - mitgegründet und war zehn Jahre lang ihr Präsident. Erst 1984 zwang ihn das Bekanntwerden seiner Vergangenheit zum Rücktritt als Ehrenpräsident. .." ( B. Vögel, in Klees/Motz, 1985, S. 217)
Auch die Lebenshilfe hatte mit Prof. Werner Villinger ein Gründungsmitglied, das immerhin am Erbgesundheitsgericht Zwangssterilisationen zu verantworten hatte und auf der Gutachterliste für die "Euthanasie" von erwachsenen Behinderten zu finden war. So behauptete er 1938 unter anderem, es gäbe "erbliche Arbeitsscheu" (vgl. Rothmaler, 1987).

An der Gründung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) im Nachkriegsdeutschland beteiligte sich Prof. Wilhelm Polligkeit, seit Jahrzehnten eine der Größen der Fürsorge, der 1938 gefordert hatte, die Asozialen "unschädlich zumachen". Auch die berüchtigte Leiterin der "Gesundheits- und Sonderfürsorge" in Hamburg, Dr. Käthe Petersen, die brutal Zwangssterilisierungen durchsetzte, kam in den fünfziger Jahren als Senatsrätin wieder zu Amt und Würden und publizierte im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge zahlreiche Arbeiten. Sie war von 1970 bis 1978 Vorsitzende des Deutschen Vereins und wurde danach einmütig zum Ehrenmitglied ernannt. Sie erhielt das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 15 der Dokumentation).

Die Beispiele im Bereich der Justiz, der Medizin, der Rechtswissenschaft und in vielen anderen, Gebieten ließen sich unschwer fortsetzen. (Müller, 1987; Klee, 1986; Lundgreen, 1985; Sierck/Radtke, 1984; Hirsch, 1960). Der Skandal um die 80.000 verschwundenen Akten des "Berlin Document Center" im Februar 1988 hat also durchaus seine Gründe.

3.7. ´Wiedergutmachung´: sozioökonomische Kontinuitäten der BRD-Praxis in Nachfolge des NS

Doch schlimmer als die personelle Kontinuität ist die inhaltliche Kontinuität, die insbesondere in der bisher nicht erfolgten "Wiedergutmachung" für sozial Verfolgte zum Ausdruck kommt. Dies läßt für die Zukunft Schlimmes erahnen.

Gänzlich verweigert wurde und wird die "Wiedergutmachung" etwa Zwangssterilisierten, "Asozialen" wie Nichtseßhaften und "Zigeunern", Opfern und Geschädigten der "Euthanasie", Zwangsarbeitern und Homosexuellen. Der Bericht der Bundesregierung über Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht sowie über die Lage der Sinti, Roma und verwandter Gruppen vom 31. 10. 1986 (BT-Drucksache 10/6287) führt dazu unter anderem folgendes aus (S. 37, 39):
"Nach geltendem Recht konnten bzw. können Zwangssterilisierte folgende Leistungen erhalten:
  • a) Entschädigung nach dem BEG (Bundesentschädigungsgesetz, B. K.) wenn

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    für die Sterilisation rassische oder andere in Paragraph 1 BEG genannte Verfolgungsgründe ursächlich waren (z. B. bei Sinti und Roma),
  • b) Härteausgleich nach der Sondervorschrift des Paragraph 171 Abs. 4 Nr. 1 BEG, wenn die Sterilisation ohne vorausgegangenes Verfahren nach dem Erbgesundheitsgesetz vorgenommen wurde,
  • c) Schadensersatz nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) in Verbindung mit den allgemeinen Rechtsvorschriften, wenn die Sterilisation zwar aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes, aber unter Verletzung der Vorschriften dieses Gesetzes oder medizinisch fehlerhaft durchgeführt wurde.
  • d) aufgrund einer Entscheidung der Bundesregierung von 1980 auf Antrag eine Zuwendung von 5.000 DM, soweit sie nicht bereits anderweitig Leistungen erhalten haben. Voraussetzung für diese Zuwendung ist nicht, daß der Eingriff zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt hat. Eine Anmeldefrist besteht nicht.
Damit hat die Bundesregierung dem moralischen Aspekt der Zwangssterilisation Rechnung getragen, indem sie unter dem Gesichtspunkt der Genugtuung die Zuwendung auch für die nicht in Geld meßbare Beeinträchtigung der Lebensgestaltung gewährt.

Aufgrund der vorstehenden Regelungen können sämtliche Zwangssterilisierten einen Ausgleich erhalten.

Da die Sterilisation in der Regel nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt hat, erhalten Zwangssterilisierte bis auf wenige Ausnahmen keine Rente für Schäden an Körper oder Gesundheit."
(Paragraph 31 Abs. 1 BEG)
Diese Ausführungen sind an Zynismus kaum zu überbieten. Das "Trostpflaster" der 5.000 DM für Zwangssterilisierte als zureichenden Ausgleich anzusehen, zeugt von einem merkwürdigen Blickwinkel, der die Diskriminierung der Zwangssterilisierten fortschreibt. Klaus Dörner schreibt zu diesen sozial Verfolgten des "Dritten Reiches":
"Und dabei haben sie früher durchaus gesprochen. Während des Dritten Reiches haben die meisten Familien hartnäckig und mutig gegen die Behörden und Gerichte um den Erhalt der Fruchtbarkeit gekämpft. Und nach dem Krieg haben sie wieder gekämpft. Um so bitterer die Erkenntnis, daß sie auch im Nachkriegsdeutschland von den Behörden und Gerichten genauso gnadenlos abgeschmettert wurden - bis in die höchsten Instanzen hinein: Das Erbgesundheitsgesetz - so gilt es noch heute - sei ein ordentliches Gesetz gewesen, kein NS-Unrechtsgesetz; selbst bei einer Fehldiagnose (mehr als 50 Prozent der Fälle) gebe es keine Entschädigung. So konnten Hunderttausende Menschen und Familien keinen Unterschied zwischen den Ärzten, Behörden und Gerichten des Dritten Reichs und der Bundesrepublik feststellen. So [30] wurden sie immer erbitterter, isolierter, sprachloser, hoffnungsloser. Mit Recht bezeichnen sie das Erbgesundheitsgesetz als Mordgesetz: Es hat ihre Familie ermordet. Jetzt im Alter merken sie es besonders, wenn ihre gleichaltrigen Bekannten finanziell oder moralisch vom Kontakt zu ihren Kindern leben, die ihnen verwehrt geblieben sind...

Um aber die Absurdität auf die Spitze zu treiben: Als es bei der Beratung des Bundesentschädigungsgesetzes um die Frage ging, ob das NS-Erbgesundheitsgesetz ein Unrechtsgesetz sei, hat man dieselben Experten aus Psychiatrie, Justiz und Verwaltung danach befragt, die die Zwangssterilisierung während des Dritten Reichs selbst betrieben und befürwortet hatten. Es waren eben die Experten. Hinzu kam, daß die Alliierten kein Interesse daran hatten, das Erbgesundheitsgesetz für ein Unrechtsgesetz zu halten, da einige Staaten der USA zeitweilig ähnliche Gesetze hatten, wobei man freilich vergaß, daß diese nur sehr beschränkt zur Anwendung kamen und sich in der wissenschaftlichen Diskussion bald als Irrwege herausstellten.

Zudem interessierten sich die Alliierten vornehmlich für Verbrechen, die an Nicht-Deutschen begangen worden waren, was erheblich dazu beigetragen hat, daß die NS-Verfolgung von Deutschen, also vor allem die soziale Verfolgung, erfolgreich vergessen werden konnte ...

Ein Beispiel: In Köln hat die dortige 'Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit' damit begonnen, eine Kartei aller Kölner Opfer des Nationalsozialismus zusammenzustellen. Darin finden sich nicht nur die jüdischen, politischen und religiösen Verfolgungsopfer, sondern daneben auch - wohlgemerkt: daneben - der Arbeiter, der wegen 'Bummelei' dem Programm der 'Vernichtung durch Arbeit' zum Opfer gefallen ist, der Alkoholkranke, der Ostarbeiter, die Prostituierte, der geistig Behinderte, der Tuberkulosekranke, der Zigeuner, der 'Rheinland-Bastard', der psychisch kranke Kriminelle, der 'Asoziale', der Kriegsgefangene, das behinderte Kind, die aufsässigen Jugendlichen und der psychisch Kranke, die allesamt den verschiedenen sozialpolitischen Vernichtungsprogrammen der Nazis zum Opfer gefallen sind, weil sie nicht genug 'gemeinschaftsfähig', nicht 'produktiv' leistungsfähig und damit minderwertig waren.

Dabei stellten die Kölner fest, daß es den Nazis gezielt um die Disziplinierung und Vernichtung der randständigen Gruppen und der sozialen Unterschicht gegangen ist. Sie ahnen inzwischen, daß das Programm der Nazis die 'Endlösung der sozialen Frage' gewesen ist, und sie fragen sich zunehmend, welche Interessen dafür gesorgt haben, daß bei der Aufarbeitung der NS-Zeit im Nachkriegsdeutschland dieser Kern des NS-Programms geflissentlich und vielleicht stillschweigend billigend übersehen worden ist."
(Dörner, 1985)
Doch zurück zu dem "Wiedergutmachungsbericht" der Bundesregierung:
"Die Regelungen zugunsten der Opfer von Sterilisation und Euthanasie ste- [31] hen nach der Gesetzeslage in einem ausgewogenen Verhältnis zu den Regelungen für die übrigen Gruppen von Verfolgten, insbesondere für die typischen NS-Verfolgten im Sinne des § 1 BEG. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß jede Entschädigungsregelung das erlittene Unrecht nur unvollkommen auszugleichen vermag, da eine zutiefst menschenverachtende Behandlung mit viel Geld nicht aufgewogen werden kann. Bei einer Änderung des geltenden Rechts bestünde die Gefahr, daß das gesamte System des Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgenrechts beeinträchtigt würde und damit zwangsläufig Ungerechtigkeiten geschaffen würden.

Wenn heute eine Gleichstellung der Opfer von Sterilisation und Euthanasie mit den Verfolgten im Sinne des BEG gefordert wird, darf nicht außer acht gelassen werden, daß die für eine Gleichstellung angeführten Gesichtspunkte bei der Beratung des 1956 verabschiedeten Bundesentschädigungsgesetzes und bei der Beratung des BEG-Schlußgesetzes von 1965 gesehen und geprüft worden sind. Der Gesetzgeber hat auf der Grundlage einer Übereinstimmung aller am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten entschieden, die im BEG vorgesehenen Leistungen den im Paragraph 1 BEG genannten rassisch, religiös oder politisch Verfolgten vorzubehalten...

Eine erhebliche Anzahl von Personen wurde durch rechtsstaatswidrige Maßnahmen geschädigt, die keine Verfolgungsmaßnahmen im Sinne der Paragraph 1 und 2 BEG waren. Hierzu gehören diejenigen Sinti, Roma und Angehörigen verwandter Gruppen, die aus anderen als den in Paragraph 1 BEG genannten Gründen rechtswidrig in Haft genommen worden waren, sowie die Opfer von Sterilisation und Euthanasie...

Darüber hinaus gehören dazu Personen, die aus ‚Sicherheitsgründen‘ ohne ordentliches Gerichtsverfahren und ohne Urteil oder nach Verbüßung einer gerichtlichen Strafe in ein Konzentrationslager oder eine andere Haftstätte verbracht worden sind. Solche Maßnahmen richteten sich z. B. gegen Wilderer, Sittlichkeitsverbrecher, Zuhälter, Landstreicher, Trunksüchtige, Arbeitsscheue, Schwerverbrecher, sog. Asoziale, Unterhaltsverweigerer, Psychopaten, geistig Gestörte und Dirnen. Ebenso waren Homosexuelle hiervon betroffen...

c) Arbeitsscheue, Zuhälter, Dirnen, Trinker, Landstreicher und Asoziale

Gegen diesen Personenkreis wurden während der NS-Herrschaft ebenfalls sog. vorbeugende Maßnahmen getroffen. Damit sollten diese Personen einer geregelten Arbeit zugeführt und gleichzeitig Arbeitskräfte, für die wegen der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt ein Bedarf bestand, gewonnen werden...

Im Jahre 1938 wurden zwei Aktionen gegen sog. Arbeitsscheue durchgeführt und die dabei verhafteten Personen in das Konzentrationslager Buchenwald [32] verbracht. Nach den Feststellungen des Instituts für Zeitgeschichte muß jedoch davon ausgegangen werden, daß die Häftlinge überwiegend im Jahre 1939, im Zuge der Amnestie zu Hitlers 50. Geburtstag, wieder freigelassen wurden...

Geschädigte, die von solchen Maßnahmen betroffen worden waren, konnten ebenfalls Ansprüche nach § 5 AKG geltend machen."
Bis heute - Anfang des Jahres 1988 - hat es die Bundesrepublik Deutschland nicht geschafft, eine zureichende "Wiedergutmachung" für derartig Verfolgte zu ermöglichen. Sie wird wohl auch kaum mehr rechtzeitig zu verabschieden sein, da die "biologische Erledigung" durch Wegsterben der entsprechenden Personengruppen immer näher rückt. Hierauf zielt die herrschende Regierungspolitik durch gezielte Verzögerungstaktik offensichtlich ab. Die von der "christlich-liberalen" ‚ Regierungskoalition beschlossene Aufstockung des Härtefonds auf insgesamt 300 Millionen Mark im November 1987 statt der Errichtung einer Stiftung ist ein unwürdiger Vorgang und zementiert für die genannten Personengruppen die "Entschädigung zweiter Klasse". Freilich kann die durchschimmernde Denkrichtung zudem eine erhebliche Bedeutung für die Lösung zukünftiger sozialer Probleme haben, die auf unser Land zukommen werden. Insoweit haben die mangelnde Aufarbeitung und Verdrängung des Fragenkreises bei der Gründung dieses Gemeindewesens und die jetzige Verweigerungshaltung weitreichende Folgen bis in die Zukunft dieses Gemeinwesens hinein.

Die im Rahmen der Beurteilung der "Wiedergutmachung" zu treffende Feststellung, daß sich die Täter im "Dritten Reich" im Nachkriegsdeutschland in die Reihen der Opfer geschlichen, sich dort selbst verziehen und üppig entschädigt und die tatsächlichen Opfer von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen haben, weist in wichtigen Feldern auf eine personelle und inhaltliche Kontinuität hin, die zumindest moralisch verwerflich ist. Wenn wir diese "Erblast" nicht in angemessener Zeit aufarbeiten sollten, wird uns unsere Vergangenheit gnadenlos einholen, und die Zukunft wird uns für unser Versagen richten.

3.8. Kontinuität der Eugenik bei Genetikern und Humanbiologen - bis zur Fortpflanzungsmedizin

Denn die Renaissance soziobiologischen Denkens breitet sich - wie dargestellt - wieder aus. Die ungebrochene Kontinuität genetisch deterministischen Denkens wird zudem abschließend aus zwei wichtigen Dokumenten deutlich, die wir niemals vergessen sollten. Angesprochen sind hier das "Manifest der Genetiker" aus dem Jahre 1939 und die Dokumentation des berühmt-berüchtigten Ciba-Symposiums Ende. 1962‘ in London zu dem Thema "Man and his Future"

Das "Manifest der Genetiker", korrekt bezeichnet als die "Edinburgh Charter of the Genetic Rights of Man", wurde 1939 von sieben weltbekannten Genetikern, darunter J. B. S. Haldane, J., S. Hwdey und H. J. Muller verfaßt. Darin ist unter anderem zu lesen:

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"Die wichtigsten genetischen Ziele liegen in der Verbesserung derjenigen Charakteristik, die die Gesundheit, den Komplex 'Intelligenz' und die Eigenschaften bestimmen, die Gemeinschaftsgefühl und soziales Verhalten fördern. Man kann mehr tun, als nur genetische Entartung zu verhindern. Das Ziel könnte darin bestehen, das durchschnittliche Niveau der Bevölkerung an jenes der höchstbegabten, jetzt lebenden Individuen heranzuführen... Auf diese Weise könnte es jeder als sein Geburtsrecht ansehen, ein Genie zu sein" (Hickel/Klees, 1986, S. 10 mwN)
Auf dem angesprochenen Ciba-Kongreß führte der Nobelpreisträger F. Crick in der Diskussion zur "Eugenik und Genetik" folgendes aus:
"Ich möchte mich auf eine bestimmte Frage konzentrieren: Haben die Menschen überhaupt das Recht, Kinder zu bekommen? Wie wir von Dr. Pincus hörten, wäre es für die Regierung nicht sehr schwierig, der Nahrung etwas beifügen zu lassen, was den Nachwuchs unterbindet. Außerdem könnte sie - das ist hypothetisch‚ - ein anderes chemisches Mittel bereithalten, das die Wirkung des ersten aufhebt und das nur solche Leute erhalten, deren Fortpflanzung erwünscht ist. Das wäre keineswegs indiskutabel. Gilt allgemein die Ansicht, daß ein Recht auf Kinder besteht? Das wird zwar in der christlichen Ethik als sicher angenommen, aber von der humanistischen Ethik sehe ich nicht ein, wodurch generell ein Recht auf Kinder zu begründen sein soll... Sind die Eltern genetisch belastet, so erhalten sie nur für ein Kind die Genehmigung, unter besonderen Umständen vielleicht für zwei...

Lederberg und ich sind unabhängig auf den Gedanken gekommen..., daß die vielleicht sozial annehmbarste Lösung einfach darin besteht, die Leute, die für die Gemeinschaft besonders erwünscht sind, durch finanzielle Anreize zu veranlassen, mehr Kinder zu bekommen‚(das ist nicht die von Muller vertretene Ansicht). Der einfache Weg dazu liegt in der Besteuerung von Kindern. Für einen guten Liberalen muß das schrecklich klingen, denn es ist das genaue Gegenteil von dem, was er, sein Leben lang gelernt hat. Aber zumindest ist es logisch"
( Jungk/Mundt, 1966, S. 303)
Und H. J. Muller führte dort in seinem Beitrag aus:
"Wahrscheinlich haben etwa 20 Prozent der menschlichen Bevölkerung, wenn nicht mehr, einen durch Mutation in der unmittelbar vorhergehenden Generation enstandenen Fehler mitbekommen, zusätzlich zu der weit größeren Zahl von Fehlern, die aus früheren Generationen vererbt wurden. Wenn das richtig ist, man aber genetische Verschlechterungen vermeiden will, dann dürfen in jeder Generation jene etwa 20 Prozent der Bevölkerung, die schwerer als der Durchschnitt mit genetischen Fehlern belastet sind, entweder nicht bis zur Geschlechtsreife gelangen; wenn sie aber leben, so dürfen sie sich nicht fortpflanzen. Sonst muß die Belastung durch genetische Fehler, die diese Population aufweist, zwangsläufig größer werden. Überdies gibt es neben den Todesfällen, bei deren Ursache mutierte Gene eine kritische Rolle spie- [34] len, immer noch eine große Zahl umweltbedingter Todesfälle. Daher muß die Zahl von Individuen, die 'nicht normal' weiterleben, beträchtlich über 20 Prozent liegen, wenn das genetische Gleichgewicht aufrechterhalten und nur aufrechterhalten werden soll." ( a. a. 0., S. 281f)
Dies dokumentiert ein Denken, das bis in unsere Zeit hinübergerettet wurde und das bei Verschärfung der sozialen Probleme Lösungen ins Auge fassen wird, die viele von uns derzeit nicht für möglich halten werden. Freilich müssen wir diese Denkansätze konsequent bei der Beurteilung der genetischen Analyse berücksichtigen, wenn sie auch zur Zeit mit dem schillernden Begriff der "Hilfe" in die öffentliche Diskussion eingeführt werden.

Denn die genetischen Anlagen werden für immer mehr verantwortlich gemacht. So impliziert die Konzeption des schon zitierten Harvard-Professors Herrnstein, daß bei fortschreitender Technologie in naher Zukunft die Tendenz, arbeitslos zu sein, in den Genen einer Familie so sicher weiterlaufen wird, wie etwa schlechte Zähne es heute schon tun. Den Mechanismus beschreibt er folgendermaßen:

Mit wachsendem Wohlstand werde sich "eine Schicht herausbilden, unfähig, die gängigen Berufe auszuüben, außerstande, beim Wettlauf um Erfolg und Leistung mitzuhalten und aller Wahrscheinlichkeit nach von Eltern in die Welt gesetzt, die ihrerseits schon auf ähnliche Weise versagten". Kann man nach dieser Auffassung die Ursachen von Armut und Arbeitslosigkeit statt in einem gnadenlosen Wirtschaftssystem in den Genen (also den Erbanlagen der Betroffenen) suchen, so wird auf längere Sicht eine medizinische oder biologische Lösung erforderlich sein. Die "soziale Endlösung" kann dann (wieder) in der "wissenschaftlich begründeten" gnadenlosen Ausmerzung derartigen Erbguts liegen.

Unter diesem Aspekt müssen auch die verschiedenen Ansätze für eine genetische Analyse des Menschen untersucht werden, um den Rückfall in die Barbarei zu verhindern. Denn es ist nicht auszuschließen, daß nach einer breiten Anwendung der genetischen Analyse in der Arbeitswelt auch die Sozialhygiene sich dieser verführerischen Ansätze zur "Problembewältigung" bedienen wird, um den zunehmenden "Bodensatz" der Gesellschaft auszumerzen (wie "Asoziale" u. ä. m.).

Wie weit diese Ansätze bereits im November 1969 bei führenden Humangenetikern - etwa dem Verschuer-Schüler Widukind Lenz von der Universität Münster - gediehen waren, ohne daß damals - im Gegensatz zu heute - eine schwere soziale Krise unmittelbar bevorstand, mag folgender Auszug aus dem Podiumsgespräch des Forums philippinum in Marburg zum Thema Ethik und Genetik verdeutlichen:
"Wir sollten uns jetzt noch der Frage der Sterilisation zuwenden. [35] Unter welchen Bedingungen kann man in der humangenetischen Familienberatung Sterilisation empfehlen?

Ritter: Im Rahmen der Familienberatung - also, wenn es sich darum handelt, individuell einer erbkranken Familie zu helfen - ist auch die Sterilisation in besonderen Fällen zu empfehlen. Sterilisation im Interesse der Erbgesundheit künftiger Generationen halte ich nicht für empfehlenswert.

Vogel: Ich stimme Herrn Ritter vollkommen zu. Aufgrund der praktischen Erfahrung in Heidelberg möchte ich ergänzend sagen, daß Fälle, in denen wir nach der Rechtfertigung einer Sterilisation gefragt werden, deutlich seltener geworden sind. In sieben Jahren meiner Tätigkeit in Heidelberg hatte ich nur zwei derartige Fälle zu begutachten. In allen anderen Beratungsfällen kommen die Familien offenbar mit den üblichen Methoden der kontrakonzeptiven Behandlung aus.

Wendt: In Hessen sind Anträge auf Sterilisation aus genetischer Indikation gar nicht selten. Jeder hessische Arzt kann auf einem von mir entworfenen Vordruck einen Antrag auf Genehmigung zur Durchführung einer Sterilisation bei der Landesärztekammer stellen. Die Landesärztekammer beauftragt dann einen der hessischen Humangenetiker mit der Erstellung eines Gutachtens und entscheidet danach, ob eine genetische Indikation durchgeführt werden darf oder nicht. Schätzungsweise werden mindestens 20 solcher Anträge pro Jahr in Hessen gestellt. Leider handelt es sich jedoch in den meisten Fällen nicht um eine genetische, sondern um eine mehr soziale Indikation.

Ein typisches Beispiel ist der Antrag auf Sterilisation für ein leicht schwachsinniges l7jähriges Mädchen aus einer asozialen Familie, das sexuell triebhaft und haltlos, bereits ein uneheliches Kind hat. Eine genetische Indikation im engeren Sinne liegt hier nicht vor. In manchen derartigen Fällen stellt sich dann drängend die Frage, ob nicht aus sozialer oder aus gemischt genetisch-sozialer Indikation sterilisiert werden sollte.

Lenz: Die Trennung von genetischer und sozialer Indikation ist auch deswegen nicht immer einfach, weil es letztlich auch bei Erbleiden auf die sozialen Konsequenzen ankommt. Ich möchte hier auf die leicht Schwachsinnigen hinweisen, die untereinander heiraten, weil sie keine normal intelligenten Partner finden und keine Familie gründen können, in der verantwortlich Kinder gezeugt und aufgezogen werden können. Wir kennen doch in den Randgebieten der großen Städte die Asozialen-Siedlungen. Hier haben viele Mütter schon vor ihrem dreißigsten Lebensjahr sieben oder acht Kinder, obwohl es ihnen wirtschaftlich schlecht geht und sie mit ihren Kräften dekompensiert sind und den Erziehungsproblemen weitgehend hilflos gegenüberstehen. Diese Mütter bekommen ihre Kinder nicht nur, weil sie unfähig zur Empfängnisverhütung sind, sondern auch, weil die Familie praktisch vom Kindergeld lebt. Hier, glaube ich, ist die soziale Indikation zur Sterilisation zugleich auch eine humane und eugenische. [36] Gerade beim leichten Schwachsinn ist die Homogamie, das Gleich-zu-gleich-Finden, so ausgeprägt und die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung des gleichen milden Schwachsinns so groß, daß man hier vielleicht doch das Problem der Sterilisation ansprechen und erwägen sollte. Theoretisch mag es richtig sein, die verschiedenen Indikationen nicht miteinander zu verquicken. Praktisch ist aber die einzig wirksame Hilfe für diese unglücklichen Familien eine Einschränkung der Kinderzahl.

Wendt: Was Herr Lenz gesagt hat, ist praktisch äußerst wichtig. Ich stimme voll mit ihm überein. Hinzufügen könnte man, daß vieles am bedauernswerten Zustand dieser Familien auch umweltbedingt ist. Wenn es gelingt, die Familien aus der unerträglichen Enge der Baracken heraus in eine bessere Umwelt zu bringen, dann ist schon viel getan.

Hubert: Kann man davon ausgehen, daß diese leicht schwachsinnigen Menschen überhaupt den Wunsch nach Sterilisation haben?

Fuhrmann: Diese Familien, machen diesbezüglich große Schwierigkeiten. Sie brauchen die Kinder für ihr Selbstwertgefühl. Auch ist das Kindergeld in diesen Familien oft das einzige regelmäßige Einkommen. Wenn wir an dem entscheidenden Prinzip der Freiwilligkeit festhalten wollen - und das sollte unabdingbar sein -‚ ist gerade bei diesen Familien von der Sterilisation wenig zu erwarten.

Oepen: Ich glaube, daß man mehr von ihnen erwarten kann, wenn die Gesellschaft sich zuerst ihrer Verpflichtung gegenüber den Menschen in sogenannten 'Asozialen'-Siedlungen bewußt wird und diese Verpflichtung in ausreichendem Maße erfüllt. Versuche dazu gibt es an mehreren Stellen in der Bundesrepublik. Ich nenne nur die Bemühungen um den 'Krekel' in Marburg und die Aktion 'Hacketäuer-Kaserne' in Köln. Grenzen dieser einfallsreichen und geduldigen Kleinarbeit freiwilliger Teams ergaben sich weniger aus der genetischen Beschaffenheit der Leute als aus der Unzweckmäßigkeit und Starrheit gesellschaftlicher Institutionen. Trotzdem war es möglich, für nicht wenige 'Asoziale' und mit ihnen Lebensbedingungen zu schaffen, die ihnen eine Zukunfts- und damit auch Familienplanung erst sinnvoll erscheinen lassen. Bevor wir deshalb zur Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit sterilisierender Eingriffe und genetischer Beratung in diesem Milieu Stellung nehmen, sollten wir die Bedingungen eines situationsangepaßten Verhaltens genauer studieren und intensiver fördern.

v. Bracken: Die Frage der kinderreichen 'obdachlosen' Familien ist bisher etwas einseitig vom genetischen Standpunkt aus betrachtet worden. Sie ist aber in erster Linie ein soziales Problem. Die bisherigen Methoden der Sozialarbeit erwiesen sich allerdings als wenig effizient. Mit neuen Methoden scheint man gegenwärtig mehr Erfolg zu haben: Man behandelt die Obdachlosen nicht mehr einfach als Objekt der Sozialarbeit, sondern versucht, sie zu aktivieren. Diese Arbeit hat genetisch große Chancen; das Erbgut der Ob- [37] dachlosen ist wahrscheinlich gar nicht so ungünstig, wie man bisher glaubte. Das zeigen amerikanische Untersuchungen (vgl. v. Bracken, Intelligenzschwache und Umwelt. Jahrbuch für Jugendpsychiatrie, Bd. 10, 1969). Wir sollten zunächst einmal abwarten, was die Sozialarbeit erreicht.

Arnold: Nachdem nun das Problem des Schwachsinns angerührt worden ist, erscheint es notwendig zu sagen, daß wir die umstrittene Fruchtbarkeit schwachsinniger Menschen bremsen wollen. Daß es möglich ist, die Geburtenhäufigkeit sog. Problemfamilien allein durch intensive Hilfe bei der Geburtenregelung, auf ein Fünftel zu vermindern, hat Peberdy (Beitrag in Meade, J. E. u. A. S. Parkes, Biological Aspects of Social Problems. A Symposium held by the Eugenics Soc. in Oct., 1964, Edinburgh and London, Oliver and Boyd, 1965) gezeigt. Zugegeben: Schwachsinn ist nicht nur ein genetisches, sondern auch ein soziales Problem und daher nicht ausschließlich unter genetischen Aspekten zu sehen. Aber auch wenn die Beschränkung der Fruchtbarkeit der sozialen Problemgruppen nur z. T. auf ihre genetische Substanz zielt und der sozialfürsorgerische Effekt, sozial leistungsschwache Eltern von einer Last zu verschonen, die sie nicht zu tragen vermögen, keineswegs dahinter zurücktreten muß, darf sich die Sozialgenetik doch nicht der Aufgabe entziehen, die wissenschaftlichen Grundlagen ‚für diesen Bereich bereitzustellen.

Böckle: Wir können hier die vielschichtige Problematik der asozialen Großfamilie nicht weiter vertiefen. Eines aber ist hier doch wohl deutlich geworden: Wie auch immer man sich im einzelnen in der Praxis zu diesen Fragen stellt, es sollte jede Maßnahme dahin geprüft werden, ob sie im umfassenden Sinne dem Wohl der Menschheit dient.

Lassen Sie mich eine weitere Frage stellen: In der Bundesrepublik ist die Tendenz spürbar, im Bereich der Sterilisation überhaupt auf eine gesetzliche Regelung zu verzichten und es beim gegenwärtigen Rechtsstand zu belassen. Würden Sie einer solchen Tendenz zustimmen?

Becker: Eine Sterilisation aus genetischer Indikation könnte ohne ein Sterilisationsgesetz auskommen. Es fragt sich doch, ob hier überhaupt heute noch ein rechtsleerer Raum besteht, der die Ausfü1lung durch ein Gesetz erfordert. Würden nicht Gutachterstellen bei den Ärztekammern ausreichen?

Schwalm: Das modernste Gesetz auf diesem Gebiet in Europa ist augenblicklich das bereits erwähnte dänische Gesetz über Sterilisation und Kastration vom 3. 6. 1967. Bei diesem Gesetz hat man gegen die Zusammenfassung von Sterilisation und Kastration keine Bedenken gehabt. Dieses Gesetz hält für notwendig, die einzelnen Indikationen, die zulässig sind, erschöpfend aufzuzählen. Es schließt eine Zufälligkeitssterilisation aus. Es behandelt weiter die Frage der Einwilligung. Sie ist besonders bedeutsam, falls bei einem seelisch gestörten Menschen keine Einwilligungsfähigkeit vorhanden ist. [38] Juristisch sind die Probleme in diesem Bereich sehr kompliziert. Sie müssen auch bei uns durch den Gesetzgeber geregelt werden. Eine Gutachterstelle ist wichtig, damit ausgeschlossen wird, daß die Indikation für die Sterilisation nicht leichtfertig oder aufgrund mangelnder Erfahrung mit genetischen Fragen erteilt wird.

Nitsch; Aus der Erfahrung des ärztlichen Alltages möchte ich sagen, daß die Ärzte in der Praxis eine gesetzliche Regelung der Sterilisation dringend wünschen, da sie zur Zeit doch überwiegend das Gefühl haben, ohne ausreichende rechtliche Grundlage zu handeln.

Böckle: Damit dürfte das Wesentliche zum Problem der operativen Sterilisation gesagt sein. Vom sittlichen Standpunkt aus sehe ich überall da, wo die Fähigkeit, gesunde Kinder zu bekommen, in einer Ehe für dauernd als gestört gelten muß, eine operative Sterilisation auf freiwilliger Basis für unbedenklich. Sie hat ganzheitlich gesehen den Charakter einer Therapie. Und das Bewußtsein, daß hier nichts zerstört, sondern positiv geholfen wird, kann insbesondere die Frau auch vor einem Frustrationskomplex bewahren. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ist umstritten. Bedeutende Juristen und Mediziner halten eine Regelung für notwendig, um den gegenwärtigen Unsicherheitszustand zu beheben. Dabei ist der Freiheitsbereich des Individuums durch eine klare Einwilligungsformulierung zu schützen. Darüber hinaus wäre wohl eine Begutachtungsstelle zu begrüßen, um die Ehepaare vor übereilten Entscheidungen zu schützen.

Damit ist der erste Bereich, die Fragen der konservativen Methoden einer Planung, abgeschlossen. Es bleibt die Frage der die Öffentlichkeit tief bewegenden Probleme der Manipulation am genetischen Material. Ich glaube, daß auch hier Punkte zu besprechen sind, die uns weiterführen können. Aus dem Referat von Herrn Schipperges war herauszuhören, daß es ein gewisses gesellschaftliches Wunschdenken gibt, daß daneben aber konkret wissenschaftliche Ziele anvisiert werden. Dürfen wir vielleicht einmal diese zwei Dinge zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen machen: Gesellschaftlicher Wunsch, wissenschaftliches Ziel und wissenschaftliche Möglichkeiten in diesem Bereich.

Vogel: Der gesellschaftliche Wunsch besteht zweifellos darin, die Mittel der Biologie und Genetik zu überfordern und das goldene Zeitalter praktisch auf dem Weg vorwärts über die genetische Manipulation zu erreichen. Dieser Wunsch kommt aus den unreflektiert übernommenen Gedanken einer bestimmten Schule unter den Genetikern. Sie glauben, daß eine rasche Verschlechterung der Erbanlagen und ein Gentod der Menschheit die Folge sein würden, wenn man ohne manipulative Eingriffe die Menschheit genetisch einfach so laufen lassen würde, wie sie von Natur aus läuft.

Böckle: Ich bin nicht so ganz sicher, ob das Ganze nur hungriger Journalismus und Wunschdenken ist oder ob nicht doch faktisch alles, was machbar [39] ist, früher oder später auch einmal verwirklicht wird. Wir sollten daher auch die Gefahren sehen - nicht nur für den Menschen unmittelbar, sondern auch diejenigen, die aus den nicht direkt den Menschen betreffenden Nebenprodukten entstehen."
(Aus: G. Wendt, 1970, S. 137 bis 140)
Doch Ludger Weß weiß von dem 7. Internationalen Kongreß für Humangenetik vom 22. bis 26. 9. 1986 in Westberlin noch Schlimmeres zu berichten:
"Der entschiedenste und radikalste Vorstoß zur technologischen Optimierung der menschlichen Fortpflanzung kam aus der Monash-Universität in Australien, die für ihr kompromißloses Vorantreiben der Reproduktionstechnik bekannt ist.

Helga Kuhse, Abteilungsdirektorin am Zentrum für menschliche Bioethik der Monash-Universität, prophezeite und forderte für die Zukunft die In-Vitro-Fertilisierung (IVF) mit genetischer Qualitätskontrolle für alle Risikopersonen, die sich fortpflanzen möchten. Als Beispiele nennt sie erblichen Bluthochdruck und (therapierbare) Stoffwechselstörungen wie Phenylketonurie.

Die In-Vitro-Fertilisierung würde danach in einem Beratungsgespräch vereinbart, der Frau mehrere Eier entnommen, eingefroren und nach Bedarf befruchtet. Die sich entwickelnde Zygote kann dann nach einigen wenigen Zellteilungen unter dem Mikroskop halbiert werden (sog. Embryosplitting). Beide Hälften können sich in diesem Stadium noch zu einem kompletten Embryo entwickeln. Der eine wäre dann einzufrieren, der andere - im 'verbrauchenden Versuch' - auf genetische Risiken und Qualitäten zu testen. Je nach Ergebnis wird die tiefgefrorene, genetisch identische andere Hälfte dann einer Frau eingesetzt oder vernichtet bzw. für Experimente freigegeben.

Diese Techniken sind in der Tierzucht bereits Routine. Beim Menschen werden Eier und Embryonen bereits seit einiger Zeit routinemäßig eingefroren, aufgetaut und erfolgreich reimplantiert. Auch die hormonelle Abstimmung der Frauen, die sich dieser Prozedur unterziehen, klappt immer besser. Reproduktionsmediziner, die Anfang Oktober von dem englischen Wissenschaftsmagazin 'New Scientist' zu diesem Modell der 'In-Vitro-Selektion' befragt wurden, begrüßten diese Kombination von Humangenetik und Reproduktionsmedizin prinzipiell als wichtige Anwendung; sie sind lediglich skeptisch, ob das Modell schon bald in großem Umfang Routine werden könnte. Der französische Pionier der IVF-Technik, Jacques Testard, allerdings prophezeit, daß IVF schon bald so gut sein werde 'wie die Natur' und glaubt, daß in wenigen Jahrzehnten die Ansicht vorherrschen werde, es sei besser, die Zeugung eines Wunschkindes in der Klinik durchführen zur lassen. Er fürchtet das Heraufziehen von eugenischen Zuchtzielen und hat damit, wie 'Nature' schreibt, 'wissenschaftlichen Selbstmord' begangen."
(Aus: Weß, 1987)

3.9. Utilitarismus als ethischer Funktionalismus zur sozialen Endlösung der Gegenwart

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"Eine neue Ethik
Da die wissenschaftlich-technische Entwicklung der Humanbiologie inzwischen einen völlig neuen Zugriff auf das menschliche Leben ermöglicht, wird es notwendig, erweiterten Handlungsspielraum für eine kommende Sozialtechnik durchzusetzen. In diesem Sinne wurden auch ethische und juristische Aspekte der neuen Technologien thematisiert. Helga Kuhse beschäftigte sich im zweiten Teil ihres Referates mit dem 'moralischen Status' eines Embryos, um daraus allgemeine Prinzipien der Selektion zu entwickeln. Ihre Argumentation, zusammengestellt aus ihrem Referat und ihrem während des Kongresses im ICC verkauften Buches (Helga Kuhse and Peter Singer, Should the baby live? The problem of handicapped children, Oxford 1985) folgt dabei folgender Linie:
  1. Keimzelle, Zygote und früher Embryo sind menschliche Zellen, die lediglich das Potential in sich tragen, menschliches Leben zu entwickeln. Sie dürfen unbegrenzt 'verschwendet', benutzt oder vernichtet werden.
  2. Solange der Embryo keine Nerven und kein Hirn entwickelt hat, also weder Schmerzen noch Angst oder Freude empfinden kann, ist er für medizinische Experimente gegenüber Labortieren mit Schmerz- und Angstempfinden das vom moralischen Standpunkt her bessere Objekt. Die Herstellung von Embryonen exklusiv für Forschungszwecke ist aus diesen Gründen ohne Einschränkung zulässig.
  3. Ältere Embryonen/Feten mit Hirn und Nerven sind - biologisch gesehen - zwar Mitglieder der Art 'Homo sapiens', aber keine durch das gesellschaftliche Tötungsverbot geschützten Personen. Ihnen fehlen noch die Kriterien, die den Menschen vom Tier unterscheiden: Personalität und ein auf die Zukunft gerichtetes Bewußtsein von sich selbst. Gegen schmerzlose Experimente und Tötung gibt es keine moralischen Einwände, denn die Zugehörigkeit zur Spezies allein darf ebensowenig a1leinige Grundlage eines Werturteils sein wie Rassenzugehörigkeit.
  4. Personalität und Selbst-Bewußtsein entwickeln sich erst im ersten Lebensjahr, bei behinderten Kindern (etwa mit Downs-Syndrom) nur rudimentär oder gar nicht. Infantizid und insbesondere die Tötung behinderter Kinder (durch Nahrungs-/Therapieentzug oder Medikamente) ist daher zulässig.
  5. Die Tötung von Kranken, auf die die Kriterien für menschliche Personalität wegen Krankheit, Unfall, Alter dauerhaft nicht mehr zutreffen, ist zulässig.
  6. Die Entscheidungen sind im wesentlichen von Medizinern zu tragen und mit Ethikkommissionen abzustimmen.
  7. -41-

  8. Es gilt, den auf überholter religiöser Grundlage errichteten Begriff der Unverletzlichkeit des Lebens abzulösen durch eine rationale Ethik, die den wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen der modernen Zeit angemessen ist. Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten.
Soweit Helga Kuhse und ihr Kollege Peter Singer.

Es ist keine 50 Jahre her, daß - von Berlin aus - deutsche Mediziner die Vernichtung von 'lebensunwertem Leben' propagandistisch vorbereitet, geplant und durchgeführt haben, und es ist ein unglaublicher Skandal, daß 1986 deutsche medizinische Genetiker eine deutschstämmige Propagandistin der Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' zu einem Humangenetikerkongreß einladen lassen, dieses Konzept kommentarlos änhören und als Ethik für das anbrechende 'goldene Zeitalter der Genetik' ohne Weiteres akzeptieren...

Peter Propping, dem Vorsitzenden des Symposiums, blieb es vorbehalten, die wohl folgenschwerste Theorie psychogenetischer Forschung vorzustellen. Propping versucht eine Beweisführung für die Vererbung komplexer psychischer Eigenschaften des Menschen über eine Analyse der heterozygoten Träger verschiedener Erbkrankheiten. Er behauptet, diese - gesunden - Überträger solcher Krankheiten, die homozygot zu Schwachsinn führen (z. B. PKU, Hyperglycinämie), zeigten signifikant häufiger 'deviantes' Verhalten, geringeren IQ, Schizophrenie, Depressionen, Alkoholismus usw. Der Effekt dieser rezessiven Allele auf die Hirnfunktion sei zwar klein, aber meßbar und finde seinen Niederschlag auch in signifikanten Änderungen der entsprechenden Enzymaktivitäten und Veränderungen in der Hirnstromkurve. Die Theorie ist nicht neu; sie wurde bereits auf dem Bremer Kongreß 'Humangenetik und Gesellschaft' 1980 von Friedrich Vogel der Öffentlichkeit vorgestellt. Vogel sprach auch von Veränderungen von 'Persönlichkeitsmerkmalen wie Aktivität, Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsgenauigkeit unter Streßbedingungen, aber auch intellektuellen Fähigkeiten wie Kurzzeitgedächtnis und räumliches Vorstellungsvermögen'. All dies betreffe die heterozygoten, klinisch gesunden Träger. Vogel rechnete danach vor, daß etwa ein Drittel der Bevölkerung mit einem Gen für eine solche Stoffwechselkrankheit heterozygot belastet sei und daher derartige Mikrosymptome zeige. Man, kann sich leicht ausmalen, welche gesellschaftlichen Folgen das relativ einfach durchzuführende Screening dieser Gene haben wird, wenn sich diese Behauptungen, die statistisch nur sehr zweifelhaft abgesichert sind, durchsetzen. Offenbar versuchen sich die deutschen Humangenetiker in der neuen Definition des 'defekten Drittels' von Alfred Grotjahn aus dem Jahre 1921. Grotjahn definierte damals ein Drittel der Bevölkerung als erblich 'minderwertig' und forderte sozialhygienische und eugenische Sondermaßnahmen, an deren Durchsetzung deutsche Humangenetiker wenig später maßgeblichen Anteil hatten."
(Aus: Weß, 1987)

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Diese äußerst gefährlichen Tendenzen unterstreicht Udo Sierck in seinem Bericht über den Gesundheitstag 1987 in Kassel:
"Konturen neuer Sozialethik
Vor allem der Fortschritt in der Reproduktionstechnologie mit den anvisierten medizinischen Experimenten an nur zu Forschungszwecken hergestellten Embryonen verlangt nach erweiterten Handlungsspielräumen und neuen sozialethischen Grundsätzen. Wie diese aussehen sollten, formulierte auf dem letztjährigen internationalen Humangenetikerkongreß in Westberlin unwidersprochen Dr. Helga Kuhse, Expertin für menschliche Bioethik an der australischen Monash-Universität. Nach ihrer Auffassung entwickeln sich ebenso wie bei älteren Embryonen mit Hirn und Nerven Kriterien, die den Menschen vom Tier unterscheiden, bei geistig behinderten Kranken nur teilweise oder überhaupt nicht. Da dies so sei, müsse bei fehlendem Selbstbewußtsein - analog den Embryonen - auch die Tötung der behinderten Kinder zulässig sein. Dies habe genauso für Kranke zu gelten, die die Anforderungen an die menschliche Existenz nach einem Unfall oder durch hohes Alter nicht länger erfüllen können.

Nach neuen, den wissenschaftlich-technischen Entwicklungen angepaßten ethischen Aussagen verlangt das Gebiet der Organtransplantationen. So wurde erst jetzt publik, daß seit zwei Jahren ein Ärzteteam der Universitätsklinik Münster Nieren von 'todgeweihten' Neugeborenen Patienten im Alter von 4, 9 und 25 Jahren eingepflanzt hat. Dabei ist es auch unter Medizinern umstritten, ob sich, wie es in den bekanntgewordenen Fällen behauptet wird, tatsächlich durch eine Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft eine Anenzephalie (schwere Hirnfehlbildung) feststellen und mit 'nichtlebensfähig' bewerten läßt. Abgesehen von diesen Zweifeln befindet sich die Medizin bei einem Durchschlagen dieses Ansatzes - die Organverpflanzung und der anschließende Tod der Neugeborenen war vor der Geburt beschlossene Sache - auf dem Weg, bestimmtes Leben zum 'Ersatzteillager' zu degradieren.

Inzwischen schon öfter erwähnt wurde die Phantasie des Kieler Bevölkerungspolitikers Hans Wilhelm Jürgens, der zur Finanzierung der Renten und der Kosten im Gesundheitswesen den 'Altenberg' abbauen und den 'Tod zur Disposition stellen' will. Daß es sich hierbei nicht um das rabiate Hirngespinst eines einzelnen handelt, machte 1985 die Fachzeitschrift ‚Medizinrecht‘ deutlich: Der Frage nach dem Sinn und Zweck intensiver medizinischer Behandlungen stellte sie die selektive Formel 'Behandlungskosten pro Tag mal Behandlungsdauer in Tagen mal Lebenserwartung in Jahren' gegenüber. Damit sind den Zweifeln an der notwendigen Versorgung kranker, behinderter oder alter Menschen Tür und Tor geöffnet.

Die praktische und zur Selbstverständlichkeit werdende Umsetzung der skizzierten Selektionsideen setzt voraus, daß ein breites Bewußtsein von der not- [43] wendigen Teilung in 'brauchbare' und in 'nutzlose' Menschen existiert. Den ersten Schritt in diese Richtung bilden Werbefeldzüge für die 'aktive Sterbehilfe', wie sie Julius Hackethal in Szene setzt."
(Sierck, 1987)
Das Kosten-Nutzen-Denken der herrschenden Humangenetik kommt deutlich auch in der Arbeit von Passarge und Rüdiger (1979) zum Ausdruck (siehe des weiteren Sierck/Radtke, 1984).

Auch die optimale computermäßige Speicherung und Nutzung aller ermittelten genetischen Daten wird von führenden deutschen Humangenetikern angestrebt. So fordert etwa Schloot (1984, S. 289f.) u.a. folgendes:
"
  • 5. Das ständig anwachsende Wissen dürfte nur durch eine Computerprogrammierung, Dokumentation etc. erfaßt und optimal ausgewertet bzw. eingesetzt werden können:
    • neue Krankheitsbilder mit genetischer Beteiligung,
    • neue Ergebnisse/Teratogenese inkl. Medikamenteneinfluß, Strahlenbelastung,
    • neue Ergebnisse Mutagenität von Umweltnoxen,
    • neue Ergebnisse Pharmakogenetik/Ökogenetik,
    • neue Therapiemöglichkeiten,
    • neue Diagnosemöglichkeiten, auch pränatal.
    Zentrale Erfassung mit dezentralen, einfachen Anschlußmöglichkeiten mit internationaler Einbindung sind anzustreben.
  • 6. Ein Erfassen personenbezogener, humangenetisch relevanter Daten bei gleichzeitigem Schutz der persönlichen Interessen des einzelnen muß verfahrenstechnisch (Datenbanken) und juristisch ermöglicht werden.,
    Für die Beratung der kommenden Generationen ist dieses eine wichtige Grundlage.. .
"

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last update : Tue Sep 28 22:07:58 CEST 2004 Bernd Klees
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