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Team Christoph Deutschmann
Thema Die Funktion der fiskalpolitischen Eingriffe - Zur Gegentendenz des Fallens der Profitrate ( original )
Status
Letzte Bearbeitung 1973
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V. Die Funktion der fiskalpolitischen Eingriffe
1. Die permanente Rüstungswirtschaft
2. Tendenzieller Fall der Profitrate und Staatseingriffe
a) Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
b) Das Realisierungsproblem
c) Zur Mattick'schen Kritik des Keynesianismus
d) Das Problem der ´Produktivität´ der Staatsausgaben
e) Defizitfinanzierung und Realisierungsproblem
VI. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Anhang: Zum Problem der Wertsenkungen des konstanten Kapitals

V. Die Funktion der fiskalpolitischen Eingriffe

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1. Die permanente Rüstungswirtschaft

Die These, daß die ökonomische Entwicklung der Nachkriegszeit die Keynes/Hansen'sche Stagnationstheorie widerlegt habe, ist heute in der bürgerlichen Nationalökonomie weit verbreitet. Dem "konjunkturtheoretischen" Keynesianismus wird nach wie vor Berechtigung und Aktualität eingeräumt, dagegen wird der "stagnationstheoretische" Keynesianismus als antiquiert betrachtet*V.1 . Die Begründung scheint evident: Die für die Nachkriegszeit befürchtete Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit, der fallenden Profite und schrumpfenden Märkte trat nicht ein. Westeuropa und Japan erlebten seit dem Beginn der fünfziger Jahre eine bis zur Mitte der sechziger Jahre reichende Periode fast ungebrochener Prosperität mit vorher kaum jemals erreichten Wachstumsraten, die nahezu alle Länder erfaßte. Die kurzen "Rezessionen" bestanden lediglich in temporären Rückgängen der Wachstumrate; nur in Belgien und Großbritannien, wo das Wachstum generell etwas geringer war, kam es in einigen Jahren zu geringfügigen Rückgängen des Sozialprodukts. Nicht die Vollbeschäftigung, sondern die Inflation wurde zum Hauptproblem der Wirtschaftspolitik; man versuchte, sie durch eine Umkehrung der von Keynes vorgeschlagenen Anti-Depressionsmaßnahmen und durch Lohnrestriktionen zu bekämpfen, allerdings meist mit wenig Erfolg*V.2 .

Die naheliegendste Erklärung für den Aufschwung in Westeuropa war zunächst der Wiederaufbau. Die ungeheuren materiellen Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, erlaubten eine rapide Expansion von Produkten und Beschäftigung, eine hohe Rate der Kapitalbildung und eine entsprechend beträchtliche Profitrate.

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Der Anteil der Inlandsinvestitionen, gemessen an der Höhe des Bruttosozialprodukts war
"in den fünfziger Jahren beträchtlich höher als zu irgendeiner vergleichbaren Periode in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen westeuropäischen Ländern, für die Unterlagen vorhanden sind." (Shonfield 1968, S. 6)
Um die Mitte der fünfziger Jahre jedoch war der Wiederaufbau in den meisten westeuropäischen Ländern zum größten Teil beendet. Trotzdem trat der erwartete wirtschaftliche Rückschlag nicht ein, im Gegenteil: Um die Wende der fünfziger/sechziger Jahre beschleunigte sich das wirtschaftliche Wachstum erneut. Dieser Aufschwung war offensichtlich nicht mehr allein aus den Kriegsfolgen zu erklären. Shonfield führt eine Reihe weiterer Faktoren an, die nach seiner Ansicht für den unerwarteten Fortgang des Aufschwungs verantwortlich gemacht werden können: Alle diese Faktoren scheinen aber eher Wirkungen als Ursachen des Booms zu sein. Was Shonfield nicht berücksichtigt, ist ein anderes Phänomen, auf das eine Reihe anderer Autoren (Kidron 1970, Vilmar 1965, Vance 1970) aufmerksam gemacht und in den Mittelpunkt ihrer Erklärung des Nachkriegsbooms gestellt haben: In Frankreich und Großbritannien waren die Rüstungsausgaben schon seit Kriegsende auf einem Niveau verblieben, das — gemessen am Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt — unvergleichlich über dem der Vorkriegszeit stand. Sie schwankten in beiden Ländern um 7 — 8 % des Bruttosozialprodukts*V.3 und betrugen in Großbritannien 1962 42 % der Bruttoanlagekapitalbildung*V.4 . Als in der Bundesrepublik um die Mitte der fünfziger Jahre, von 1955 bis 1958 die jährliche Wachstumsrate des Sozialprodukts von 11,8 auf 3,2 % fiel, stiegen die Rüstungsausgaben steil an. Während sie 1955 nur 0,3 % des Bundeshaushalts ausgemacht hatten, betrug ihr Anteil 1959 20,4 %. Ihr Anteil verlief in den folgenden Jahren ungefähr parallel zu der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung: Sie wuchsen mit dem Boom von 1960 und 1964 auf über 30 % des Bundeshaushalts an und als 1965 ihr Anteil zurückging, verringerte sich auch das wirtschaftliche Wachstum und wurde 1967 sogar negativ. Die wachsenden

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Rüstungsausgaben waren überall von einer entsprechenden Expansion des Anteils der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt begleitet. Sie wurden teils durch Steuererhöhungen finanziert*V.5 , teils durch Staatsdefizite. Diese konnten auch eine indirekte Form annehmen, wie z. B. in der BRD, in der der Bundeshaushalt bis 1965 ausgeglichen blieb, die Verschuldung der Gemeinden und Länder aber schon 1964 eine Gesamthöhe von 23 Milliarden DM erreicht hatte*V.6 .

Das gleiche Entwicklungsmuster, nur weit ausgeprägter, findet sich in den USA, die keine Wiederaufbauphase hatten. Die USA sind in den letzten Jahren Objekt einer Reihe von Untersuchungen über die Rüstungswirtschaft*V.7 geworden. Die amerikanische Entwicklung zeigt, wie die an der Oberfläche relativ störungsfreie konjunkturelle Entwicklung der Nachkriegszeit (die Wachstumsraten waren in den USA zwar etwas geringer als in Westeuropa, aber auch hier kam es zu keinen schweren Rezessionen) mit tiefgreifenden strukturellen Wandlungen des kapitalistischen Systems verbunden waren. Der Kern dieser Wandlung war die Entstehung eines "contractual public sector", d. h. eines bedeutenden Teils der Wirtschaft, dessen ökonomische Existenz auf Staatsaufträgen, zum größten Teil Rüstungsaufträgen, basierte. Dieser Sektor war am Ende der dreißiger Jahre entstanden und dehnte sich im Zweiten Weltkrieg beträchtlich aus. Ähnlich wie in Westeuropa ging er nach Kriegsende nur relativ wenig zurück, um dann mit jeder Rezession wieder weiter anzuwachsen. Hatte der Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt in den USA vor 1939 in Friedensjahren niemals über 1,5 % ausgemacht, so betrug er in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durchschnittlich um 10 %. Charakteristisch ist demgegenüber, daß sich der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt (1929 = 10,7 %, 1959 = 10,9 %) gegenüber 1929 so gut wie nicht erhöhte*V.8 . Die Anwendung der "kompensatorischen Finanzpolitik" in den USA hatte keine "wohlfahrtsstaatliche" Tendenz, sondern führte zur Entstehung einer permanenten rüstungswirtschaftlichen Struktur.

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"Immerhin" (1962, S. 36)
, schreibt W. Hofmann,
"ist aber in den USA bei jeder der bisherigen vier Nachkriegsrezessionen das probate Mittel, auf das zurückgegriffen wurde, verstärkte Neuverschuldung der öffentlichen Hand, unter Mehrung vor allem der Rüstungsausgaben gewesen."
Mit der Ausdehnung des durch Rüstungsaufträge finanzierten privaten Sektors einher ging ein rapides relatives Wachstum des direkt durch den Staat kontrollierten öffentlichen Sektors. Beide Prozesse lassen sich an der Entwicklung der amerikanischen Staatsfinanzen ablesen, die im folgenden anhand der Darstellung von Stamm (1969) untersucht werden soll. Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre läßt sich ein rapides Anwachsen des Anteils der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt beobachten. Die Gesamtausgaben der Gebietskörperschaften zeigen noch ausgeprägter das absolute und relative Wachstum des öffentlichen wie öffentlich finanzierten Sektors. Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt betrug Somit ging nahezu ein Drittel des Bruttosozialprodukts durch die Hände des Staates.

Die wachsenden Ausgaben wurden zu einem großen Teil durch Steuererhöhungen, zu einem nicht geringen Prozentsatz aber auch über eine zunehmende Staatsverschuldung finanziert. Das Wachstum der Steuerlast läßt sich an der Entwicklung des Anteils der Steuereinnahmen aller Gebietskörperschaften am Nationaleinkommen ablesen. Er betrug Die Staatsverschuldung erkletterte nach 1930 astronomische Höhen. Die Defizitfinanzierung blieb nicht nur auf die Zeit der Krise in den dreißiger Jahren und den Zweiten Weltkrieg beschränkt, sondern wurde auch in der Nachkriegszeit zur normalen Erscheinung. Der Ausgleich von Staatsdefiziten- und -Überschüssen im Wechsel der konjunkturellen Entwicklung, auf den manche Keynesianer in der Nachkriegszeit noch gehofft hatten, blieb eine Illusion. Das Bekenntnis zum Ausgleich

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der Staatsfinanzen, bis in die dreißiger Jahre selbstverständliche Grundmaxime solider Haushaltspolitik, sank auch im Munde der republikanischen Regierungen zu einer bloßen Floskel herab. Nach 1949 wiesen die amerikanischen Bundesfinanzen lediglich in vier Jahren — 1951, 1956/57 und 1960*V.10 Überschüsse zwischen 1,2 und 3,5 Mrd. Dollar auf; die Defizite in den übrigen Jahren schwankten zwischen 1,8 (1949) und 18,6 (1968) Mrd.*V.11 . Die Bruttoverschuldung des Bundes pro Kopf der Bevölkerung (also alle ausstehenden Wertpapiere des Bundes, die sich in den Händen privater oder anderer öffentlicher Stellen befinden zuzügl. Bürgschaftsverpflichtungen) betrug Diese Steigerung bleibt auch dann außerordentlich, wenn man die zweifellos durch die hohe Staatsverschuldung mit produzierte Inflation mit berücksichtigt. (Zwischen 1946 und 1968 stiegen die Preise für Güter und Dienstleistungen um 58 %).

Das Verharren der Staatsverschuldung auf einem solch hohen Niveau in der Nachkriegszeit fällt besonders in die Augen, wenn man die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit früheren Nachkriegsperioden vergleicht.

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Das Wachstum der Staatsausgaben wirkte sich in den beiden bereits genannten Richtungen aus. Das relative Wachstum des öffentlichen Sektors wie des gesamten nicht profitablen Sektors ist von E. Ginzberg anhand von Daten über die Beschäftigung und über die Anteile am Bruttosozialprodukt dargelegt worden. So wuchs der Anteil der direkt im öffentlichen Sektor Beschäftigten an den gesamten Erwerbspersonen von 6,9 % (1929) auf 15,3 % (1960) und wies damit eine weitaus stärkere relative Steigerungsrate als die privaten Wachstumsbranchen auf. Innerhalb der Beschäftigten des öffentlichen Sektors bilden die Streitkräfte das bei weitem stärkste Kontingent; sie machten 1960 allein 32 % aller Regierungsbeschäftigten aus. Zählt man zu der Beschäftigung im öffentlichen Sektor die indirekt durch die Staatsausgaben bewirkte Beschäftigung in den für den Staat produzierenden Industriezweigen, so ergibt sich ein Gesamtanteil der direkt oder indirekt für den Staat Angestellten von 24,8 % aller Erwerbspersonen.

Die Rüstungsausgaben waren der bei weitem wichtigste Faktor bei der Ausdehnung der öffentlichen Ausgaben. Nach Stamm betrugen die Rüstungsausgaben im engeren Sinne in der Nachkriegszeit zwischen 50 und 60 % der gesamten Bundesausgaben; zählt man die Rüstungsausgaben im weiteren Sinne (also Waffenhilfe für das Ausland, Raumfahrt, Pensionen für Veteranen, Zinszahlungen) hinzu, so ergibt sich seit 1948 ein jährlicher Gesamtanteil der Rüstungsausgaben von nicht weniger als 80 % des Bundeshaushalts. Der gewaltig aufgeblähte Rüstungsetat wurde zur Existenzbasis ganzer Industriezweige, insbesondere Elektronik, Flugzeug- und Schiffbauindustrie. In der Aufstellung der wichtigsten Vertragspartner des Pentagon von Weidenbaum*V.12 fehlt keiner der großen Industriekonzerne der USA. Mandel*V.13 gibt eine Aufschlüsselung nach Industriezweigen. Danach erhielt die Industrie der USA 1957 Rüstungsaufträge im Gesamtwert von 33 Mrd.$. Davon entfielen 7,4 Mrd. auf die Flugzeugindustrie, 4,5 Milliarden auf die Bauindustrie und Beträge zwischen 1 und 2 Milliarden Dollar auf die Raketen-, Schiffbau, Chemie-, Elektronik- und Nahrungsmittelindustrie.

Der für das Pentagon produzierende industrielle Sektor gewann erstrangige Bedeutung für die konjunkturelle Entwicklung in den USA. Vilmar (a.a.O, S. 76) zitiert eine Untersuchung von Melman, nach der

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1964 12 bis 14 Millionen Arbeitsplätze von Rüstungsarbeiten abhingen. Bedeutsam ist hier auch, daß die in der Rüstungsindustrie Beschäftigten sehr stark auf bestimmte Industriezweige — also vor allem die bereits genannten Bereiche Flugzeugindustrie, Schiffbau und Elektroindustrie —, Berufsgruppen (technische Intelligenz) und Regionen (vor allem Kalifornien und New York) konzentriert waren, die dadurch ganz besonders von der Rüstungskonjunktur abhängig wurden. Rüstungsaufträge wurden für einen großen Teil der Investitionsgüterindustrie zu einem Geschäft ersten Ranges, das allgemein als weitaus profitabler und vor allem als stabiler und sicherer als die Produktion ziviler Investitionsgüter galt*V.14 . Indem sie der Preisberechnung für die Rüstungsgüter manipulierte Kostenrechnungen zugrunde legten, war es den Empfängern der Aufträge möglich, weit überdurchschnittliche Profite aus dem Rüstungsgeschäft zu erzielen. Während sich der Preis eines Automobils in der Nachkriegszeit etwa verdreifachte, stieg der Preis eines Panzers auf das Zehn- bis Zwölffache*V.15 . Nach Meinung Crossers können die Überprofite aus dem Rüstungsgeschäft als eine indirekte Subvention für die nebenher laufende und häufig wenig profitable zivile Produktion der betreffenden Konzerne interpretiert werden:
"Es ist nicht zu weit hergeholt, anzunehmen, daß ein großer Teil der Summen, mit denen die Regierung von den Rüstungsfirmen belastet wird, eine Risikoprämie ist, die, wie man erwartet, die Regierung in verschleierter Form an diese Gesellschaften zahlen soll um einen profitablen Fortgang ihres Geschäfts mit zivilen Gütern zu garantieren. Die Vermutung kann kaum von der Hand gewiesen werden, daß die außerordentlich hohe Risikoprämie, mit denen die Regierung bei Rüstungsaufträgen belastet wird, es den großen Rüstungskonzernen möglich macht, ein vergleichsweise mäßiges Niveau bei den Preisen ihrer zivilen Güter aufrechtzuerhalten." (Crosser, a.a.O., S. 31)
Kein Zweifel: Die Nachkriegskonjunktur in den USA war zu einem wesentlichen Teil durch wachsende und zu einem großen Teil kreditfinanzierte Rüstungsausgaben des Staates induziert. Die relative "Prosperität" war eine "gemachte" und durch den staatlichen Eingriff gelenkte Prosperität, die durch wachsende Staatsverschuldung zustande kam:

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"Und es kann nicht verwundern, daß die ,Fiscal Policy', die zunächst antizyklisch arbeiten sollte, unter den Bedingungen fehlender Zyklizität der Konjunktur in der Folgezeit fast ständig nur in einer Richtung, nämlich des tendenziell zunehmenden Haushaltsdefizits gewirkt hat." (Hofmann, a.a.O., S. 34)
Von der bürgerlichen Nationalökonomie weitgehend unbemerkt, hatte sich damit unter der Oberfläche einer scheinbar problemlosen Konjunkturentwicklung eine wichtige Veränderung abgespielt. Die Vorstellung von der "produktiven" und sich finanziell selbst tragenden und akkumulierenden Privatwirtschaft war mehr oder weniger zu einer Fiktion geworden. Die "Privatwirtschaft" hatte sich zu einer staatlich finanzierten und von staatlichen Aufträgen abhängigen Wirtschaft entwickelt*V.16 . Die Akkumulation von Kapital und die Realisierung der Profite beruhte zu einem wesentlichen Teil nicht mehr auf der aus dem privaten Sektor selbst erzeugten Nachfrage, sondern auf Staatsaufträgen. Sie war zu einem immer größeren Teil eine Akkumulation von Waffen. Crosser schätzt, daß heute etwa die Hälfte der jährlichen Nettokapitalbildung in den USA aus Rüstungsgütern besteht; ähnliche Verhältnisse herrschen, wie bereits erwähnt, in Großbritannien. Der wachsenden Bedeutung der Rüstungsproduktion geht ein entsprechender Niedergang der produktiven Kapitalbildung parallel, der besonders deutlich aus der folgenden, von Mattick aufgeführten Tabelle sichtbar wird: Prozentuale Verteilung der Komponenten des Bruttosozialprodukts der USA auf den Höhepunkten der Konjunkturzyklen von 1948 bis 1963 in gegenwärtigen Dollarwerten:

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Die Anwendung der Keynes'schen Politik führte zu einer wachsenden indirekten "Verstaatlichung" der Wirtschaft. Diese konnte neben Staatsaufträgen auch mannigfache andere Formen wie Subventionen, Investitionshilfen, Steuervergünstigungen u. a. annehmen, die oft beträchtliche zusätzliche Summen ausmachten. Alle diese Formen staatlicher Finanzierung der Privatwirtschaft spiegelten das wachsende Bestreben des privaten Kapitals wider, sich über die öffentlichen Haushalte das zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Profitrate erforderliche Geld zu verschaffen, das durch die Marktnachfrage allein nicht mehr garantiert werden konnte. Das fand seinen Niederschlag in den wachsenden Staatsdefiziten. Die Kehrseite dieser Praxis war der Trend zu wachsenden Inflationsraten, der sich in den meisten Ländern seit Anfang der sechziger Jahre bemerkbar machte und auch durch Rezessionen kaum mehr unterbrochen werden konnte.

Die folgenden Kapitel werden der Frage gelten, ob sich aus der Marx'schen Theorie eine systematische Interpretation dieser Entwicklungstendenzen ableiten läßt.

2. Tendenzieller Fall der Profitrate und Staatseingriffe

Der Strukturwandel des kapitalistischen Systems und die Nachkriegsprosperität führten in der marxistischen ökonomischen Diskussion zu großer Unsicherheit und Verwirrung. Die unerwartete Fähigkeit des kapitalistischen Systems zur Anpassung und Selbststabilisierung schien die Marx'sche Analyse der kapitalistischen Entwicklung grundlegend in Frage zu stellen. Die radikalsten Konsequenzen zogen die amerikanischen Vertreter der "angelsächsischen Schule" des Marxismus: Baran/Sweezy und Gillman. Baran/Sweezy sehen den Kern der Wandlung des Kapitalismus in dem Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus, in der Abschaffung des Systems der freien Konkurrenz und seine Ersetzung durch ein System monopolistischer Regulie-

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rung von Preisen, Profiten und Produktionsmengen. Diese Wandlung hat nach ihrer Ansicht die wichtigste Gültigkeitsbedingung der Marx'schen Analyse hinfällig werden lassen. Die marxistische Analyse geht, so Baran/Sweezy, von der Voraussetzung einer Konkurrenzwirtschaft aus. Die Entstehung des Monopolkapitalismus wurde zwar von einigen marxistischen Autoren zur Kenntnis genommen, jedoch nicht "als ein qualitativ neues Element in der kapitalistischen Wirtschaft"*V.17 behandelt.
"Wir halten es für an der Zeit"
, meinen Baran und Sweezy,
"mit dieser Situation aufzuräumen, und zwar rücksichtslos und radikal." (a.a.O., S. 15)
Baran und Sweezy werfen die Arbeitswerttheorie und die aus ihr abgeleiteten Begriffe über Bord. An die Stelle der Kategorie des Mehrwerts setzen sie die des "ökonomischen Surplus". Das von ihnen verwendete begriffliche Konzept hat nichts mehr mit der Marx'schen Theorie gemeinsam, sondern entspricht weitgehend dem Keynes'schen Modell. Diese Revision wird nach Baran/Sweezy durch die neue Qualität der Marktbeherrschung erfordert, die die Monopole ihrer Ansicht nach beweisen und der die auf der Arbeitswertlehre begründete Theorie nicht gerecht werden könne.

Diese neue Qualität der Marktbeherrschung schlägt sich vor allem in dem "Gesetz des steigenden Surplus" nieder, das Baran/Sweezy in Analogie zum Keynes'schen Gesetz des sinkenden "Hangs zum Verbrauch" formulieren. Es löst das Marx'sche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate ab, dem Baran/Sweezy Gültigkeit nur für die Periode des Konkurrenzkapitalismus zugestehen. Entsprechend orientieren sich Baran/Sweezy in ihrer Diagnose des Stagnationsproblems nicht mehr an der Marx'schen Analyse des Falls der Profitrate, sondern an der Keynes/Hansen'schen Stagnationstheorie, die sich in allen ihren wichtigen Elementen in den Ausführungen Baran/Sweezys wiederfindet.

Die Beiträge Baran/Sweezys beherrschten insbesondere in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die marxistische Diskussion. Demgegenüber ist bis heute der Versuch Paul Matticks relativ unbekannt geblieben, auf der Basis der Marx'schen Theorie eine Interpretation der wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen der Nachkriegszeit zu geben.

Matticks Kritik an Baran/Sweezy setzt an dem zentralen Punkt ihrer Erklärung der Stagnationstendenzen des fortgeschrittenen Kapi-

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talismus an: dem Problem der als Folge der monopolistischen Profitmaximierungspolitik gefährdeten Realisierung der Profite. Mattick weist auf eine Inkonsequenz in der Argumentation Baran/Sweezys hin:
"Für Baran/Sweezy jedoch sind kapitalistische Probleme ausschließlich Marktprobleme. Nicht die Produktion, sondern die Realisierung des Surplus ist das aktuelle Dilemma des Kapitalismus. Ein Mangel an effektiver Nachfrage in bezug auf das Produktionspotential führt zu ungenutzten Ressourcen. In diesem Fall wäre die Nachfrage relativ größer, wenn die Produktion weniger effektiv wäre. Da nun der steigende Surplus und die fehlende Nachfrage ein- und dasselbe Phänomen sind, kann das eine nicht als Erklärung für das andere dienen, vielmehr bedarf dieses zweiseitige, doch einzigartige Phänomen selbst der Erklärung. Offenbar würde das Monopolkapital mehr Produkte verkaufen, wenn es könnte. Und es würde dazu in der Lage sein, wenn das Kapital akkumulierte und damit die effektive Nachfrage steigerte. Doch das Kapital expandiert nicht, weil es nicht rentabel wäre. Die Klage über die fehlende Nachfrage ist also in Wirklichkeit eine Klage über unzureichende Rentabilität." (Mattik 1969, S. 41 f.)
Mattick macht hier auf die Unzulänglichkeit der Erklärung der Krise aus fehlender "effektiver Nachfrage" aufmerksam. Die fehlende "effektive Nachfrage" erklärt nichts — sie muß vielmehr ihrerseits erklärt werden. Nach der Theorie Baran/Sweezys ist die fehlende "effektive Nachfrage" ein Resultat der geringen Auslastung der Produktionskapazitäten und der Vermeidung von Erweiterungsinvestitionen, wie sie für das monopolistische Unternehmen charakteristisch sind. Diese erklären sich aber ihrerseits aus der Tatsache, daß die Produktion bei voller Auslastung der Kapazitäten und bei Erweiterung der Produktion nicht mehr rentabel wäre. Die wirkliche Erklärung der Krise — so folgert Mattick — sind somit nicht die übermäßigen, sondern die zu geringen Profite.

Die als Folge der steigenden Arbeitsproduktivität wachsende Gebrauchswertmasse enthält eine relativ sinkende Profitmasse, was eine Einschränkung der Gebrauchswertproduktion erzwingt, um Preise und Profite aufrechtzuerhalten. Für dieses Phänomen geben Baran/ Sweezy keine Erklärung. Diese Schwäche beruht, wie Mattick zeigt, auf der Unzulänglichkeit des "Surplus"begriffs, der in physischen Kategorien definiert ist und die Wertseite der Produktion nicht berücksichtigt. Der wachsende "physische" Überschuß läßt die Tatsache des sinkenden Surpluswertes übersehen. Das Dilemma besteht nicht in den übermäßig wachsenden materiellen Produktionskapazitäten, son-

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dern darin, daß die wachsende Gebrauchswertmasse weniger Mehrwert enthält:
"In Baran/Sweezys Darstellung ist es allein die Produktionskapazität, die eine Einschränkung der Produktion erzwingt. Diese Theorie vernachlässigt den Wertcharakter der kapitalistischen Produktion. Der Surplus wird nicht als Mehrwert, sondern nur als Surplus-Produktion angesehen. Im Kapitalismus erscheint die wachsende Masse von Waren (als Gebrauchwerte) dagegen als Tauschwerte. Da die Masse der Tauschwerte mit der wachsenden Produktivität der Arbeit fällt, erfordert die Kapitalakkumulation eine schneller wachsende Masse von Gebrauchswerten. . . . Darum muß der Tauschwert der Surplus-Produkte, nicht die Produkte selbst, zu dem Wert des Gesamtkapitals in Beziehung gesetzt werden, um den Grad der Rentabilität zu bestimmen. Da sich die kapitalistische Produktionskapazität nicht auf eine bestimmte Warenmenge, sondern auf den Tauschwert dieser Menge bezieht, müßten Baran/ Sweezy ihre Position nicht auf die wachsende Kapazität zur Produktion von Waren, sondern auf die wachsende Kapazität zur Produktion von Tauschwerten beziehen." (Mattik a.a.O., S. 42)
Mattick macht in seiner Analyse des Stagnationsproblems den Versuch, an die ursprüngliche Marx'sche Konzeption anzuknüpfen. Die Basis seiner Argumentation ist das Marx'sche "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate", das im folgenden zunächst erörtert werden soll.

a) Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate

Eine breite Darstellung der Marx'schen Theorie des Falls der Profitrate ist hier nicht beabsichtigt*V.18 . Im folgenden soll nur auf einige Probleme eingegangen werden, die von Kritikern der Marx'schen Argumentation aufgeworfen wurden, aber von Mattick nicht oder nur ungenügend berücksichtigt worden sind. Das gilt vor allem für die Frage der Wertsenkungen des konstanten Kapitals, auf die sich die folgende Erörterung konzentrieren soll.

Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate ergibt sich, wie Marx zeigt, aus der dem Kapital selbst inhärenten Tendenz zur Steigerung des relativen Mehrwerts. Die Steigerung des relativen Mehrwerts hängt davon ab, daß die zur Produktion der notwendigen Le-

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bensmittel pro Arbeiter gesellschaftlich erforderliche Arbeitszeit abnimmt. Sie setzt also Steigerungen der Arbeitsproduktivität voraus, die sich direkt oder indirekt in Wertsenkungen der notwendigen Lebensmittel niederschlagen.

Die Steigerung der Arbeitsproduktivität bedingt aber nach der Marx'schen Argumentation eine Tendenz zum Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Auf den ersten Blick erscheint diese Folgerung wenig einsichtig. Steigerungen der Arbeitsproduktivität finden sowohl im Konsumgüter- wie im Investitionsgütersektor statt. Sie führen nicht zu Wertsenkungen der notwendigen Lebensmittel und — als Folge davon — der Ware Arbeitskraft, sondern auch der Produktionsmittel. Würden sie sich in beiden Sektoren gleichmäßig auswirken, so würde der Wert der Waren überall in gleichbleibender Proportion fallen und die organische Zusammensetzung mitnichten steigen. In der Tat gibt Marx diese Möglichkeit auch zu:
"Abstrakt betrachtet, kann beim Fall des Preises der einzelnen Ware infolge vermehrter Produktivkraft, und daher bei gleichzeitiger Vermehrung der Anzahl dieser wohlfeilen Waren, die Profitrate dieselbe bleiben, z. B. wenn die Vermehrung der Produktivkraft gleichmäßig und gleichzeitig auf alle Bestandteile der Waren wirkte, so daß der Gesamtpreis der Ware in demselben Verhältnis fiele, wie sich die Produktivität der Arbeit vermehrte, und andererseits das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Preisbestandteile der Ware dasselbe bliebe." (Kapital III, S. 239 f.)
Kritiker der Marx'schen Theorie, so M. Blaug*V.19 , haben daraus gefolgert, daß die von Marx behauptete Tendenz zur Steigerung der organischen Zusammensetzung auf der willkürlichen Annahme überproportionaler Produktivitätssteigerungen in der Konsumgüterindustrie beruhe. Sie versuchen demgegenüber nachzuweisen, daß diese Annahme empirisch unbegründet sei und in der Realität eher eine gegenteilige Tendenz zu sog. "kapitalsparenden Innovationen" bestehe.

Wie Marx an anderer Stelle*V.20 gezeigt hat, ist die Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (worunter Marx prinzipiell die Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals versteht*V.21 ) keineswegs von derartigen disproportionalen Produktivitätssteigerun-

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gen abhängig. Um das näher zu erläutern, muß die genaue Bedeutung des Begriffs der organischen Zusammensetzung, wie Marx sie im 23. Kapitel des 1. Bandes darlegt, in Erinnerung gerufen werden. Als "organische Zusammensetzung" bezeichnet Marx hier die
"Wertzusammensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt."
Die technische Zusammensetzung ist nach Marx das
"Verhältnis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel einerseits und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge andererseits" (Kapital I, S. 640)
Für die technische Zusammensetzung als solche läßt sich kein allgemeiner quantitativer Ausdruck finden; sie läßt sich nur grob für einzelne Industriezweige (z. B. die Zahl der von einem Arbeiter bedienten Webstühle) beschreiben. Dennoch lassen sich einige verallgemeinernde Aussagen über den Zusammenhang zwischen technischer Zusammensetzung und Produktivitätssteigerung machen, wie bereits weiter vorne angedeutet wurde. Marx hatte in seiner Analyse der Entwicklung der kapitalistischen Technologie im 13.—15. Kapitel des 1. Bandes gezeigt, daß das Prinzip der Steigerung der Arbeitsproduktivität (die Erhöhung der Produktionsmenge eines bestimmten Gebrauchswerts pro Arbeitsstunde) in der Ersetzung von menschlichen Arbeitsfunktionen durch Maschinenfunktionen besteht. Die einzelnen Funktionen der menschlichen Arbeitskraft — ihre Funktion als Energiequelle, Handhabung der Werkzeugmaschine, die intellektuellen Funktionen der Kontrolle, Koordinierung und Lenkung des Produktionsprozesses — werden schrittweise in der Maschinerie objektiviert. Verbunden damit ist die Zerlegung der Arbeit in immer einfachere Teilprozesse, die in wachsendem Grade durch die Maschine vermittelt werden und sich schließlich ganz in ihr vergegenständlichen. Die wachsende Produktivität der Arbeit beruht so auf der wachsenden Ersetzung "lebendiger" durch "vergegenständlichte" Arbeit. Die "vergegenständlichte" Arbeit besteht in der wachsenden, weil qualitativ immer vielfältigeren und differenzierteren Masse von Gebrauchswerten, die in der Produktionstechnik angewandt werden.

Die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals reflektiert diesen technischen Wandlungsprozeß. Sie wird nicht nur durch Variationen des Werts ihrer Bestandteile, sondern auch durch Veränderungen dieser Bestandteile selbst modifiziert. Von der Seite des Arbeitsprozesses hat es der Arbeiter nicht mit Werten, sondern mit einer bestimmten technischen Ausrüstung zu tun, die die materielle

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Struktur des Arbeitsprozesses und den qualitativen Charakter der Arbeit bestimmt:
"Die Masse Arbeit, die ein Kapital kommandieren kann"
, sagt Marx,
"hängt nicht ab von seinem Wert, sondern von der Masse der Roh- und Hilfsstoffe, der Maschinerie und der Elemente des fixen Kapitals, der Lebensmittel, woraus es zusammengesetzt ist, was immer deren Wert sei." (Kapital III, S. 258)
Überall dort, wo Marx die Tendenz zur Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals erörtert, stellt er diese materielle und technische Seite der Produktion in den Vordergrund. So sagt er im 23. Kapitel des ersten Bandes:
"Abgesehen von Naturbedingungen wie Fruchtbarkeit des Bodens usw. und vom Geschick unabhängiger und isoliert arbeitender Produzenten, das sich jedoch qualitativ mehr in der Güte als quantitativ in der Masse des Machwerks bewährt, drückt sich der gesellschaftliche Produktivgrad der Arbeit aus im relativen Größenumfang der Produktionsmittel, welche ein Arbeiter, während gegebener Zeit, mit derselben Anspannung von Arbeitskraft, in Produkt verwandelt. Die Masse der Produktionsmittel, womit er funktioniert, wächst mit der Produktivität seiner Arbeit." (Kapital I, S. 650)
Das Wachstum der Masse der Produktionsmittel ist das Wachstum der technischen und stofflichen Differenzierung der Ausrüstung, der Produktionsmittel und der Rohstoffe, wie sie mit der Objektivierung menschlicher Arbeitsfunktionen in Maschinenfunktionen verbunden ist. Im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung entstehen im Produktionsgütersektor laufend neue Industriezweige, die qualitativ immer vielfältigere Produkte herstellen (Chemieindustrie, Elektroindustrie, Auto-, Flugzeug-, Elektronikindustrie usw.). Das Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals ist in erster Linie auf diese qualitative Vervielfältigung der Produktionsmittel und ihrer Bestandteile zurückzuführen. Sie findet zwar bis zu einem gewissen Grade auch im Konsumgütersektor statt, konzentriert sich aber in erster Linie auf den Investitionsgütersektor. Das größere Wachstum der "Masse" der Produktionsmittel wird durch die bereits oben angeführten Statistiken (vgl. oben S. 86 Fußnote 40) bestätigt.

Das größere mengenmäßige Wachstum der Produktion der einzelnen Zweige des Produktionsmittelsektors spiegelt sich, wenn auch nicht in gleichem Maße in der Veränderung der Verteilung der Arbeitskräfte auf die beiden Bereiche, wie die Statistiken ebenfalls zeigen. Als Bei-

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spiel sollen im folgenden die Daten Hoffmanns über die Beschäftigten in Industrie und Handwerk in Deutschland aufgeführt werden:

Während sich die Zahl der in den Bereichen Metallerzeugung, Metallverarbeitung und Bau Beschäftigten von 1875 bis 1913 verdreifachte, die in der Chemie Beschäftigten sogar vervierfachte, stieg die Zahl der in der Nahrungsmittelherstellung Beschäftigten lediglich um das Doppelte und stieg die Beschäftigtenzahl in den Bereichen Textil, Bekleidung und Lederverarbeitung lediglich um ca. 25 bzw. 50 %. Ähnliches läßt sich für die BRD in den Jahren 1950 — 1959 feststellen. Das Wachstum der Beschäftigung spiegelt das mengenmäßige Wachstum der Produktion wider, wenn auch nur unterproportional*V.22 .

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Obgleich daher der Wert der einzelnen Elemente des konstanten Kapitals im gleichen Maße fallen mag, wie die Arbeitsproduktivität im Konsumgütersektor steigt, so muß doch infolge der ständigen technischen Revolutionen und der zunehmenden Masse und Differenzierung der im Produktionsprozeß angewandten Gebrauchswerte der Wert des konstanten Kapitals relativ gegenüber dem variablen Kapital zunehmen und mit ihm der Wertumfang der Produktion des Sektors I gegenüber dem des Sektors II. Die einzelnen Elemente des konstanten Kapitals werden im Wert fallen, dieser Wertfall wird aber dadurch aufgewogen, daß zusätzliche und qualitativ neue Produktionselemente hinzukommen.

Das schließt freilich nicht aus, daß es sog. "kapitalsparende Erfindungen" geben kann, d. h. neue technische Verfahren und Ausrüstungen, die weniger vergegenständlichte Arbeit enthalten als die alten Produktionsmittel, die sie ersetzen. Gillman (1969) vertritt die These, daß dieser Typus der "kapitalsparenden Technologie" in der technologischen Entwicklung in den USA seit den 20er Jahren dominant geworden sei. Die Gillman'schen Statistiken sind jedoch mit zu vielen Fehlerquellen behaftet, um als empirischer Beleg der These gelten zu können, daß die von der Marx'schen Akkumulationstheorie ausgesagten Tendenzen der Kapitalakkumulation sich umgekehrt haben*V.23 . Insbesondere sieht Gillman nicht, daß einige der von ihm aufgeführten kapitalsparenden Erfindungen mit bedeutenden Infrastrukturinvestitionen verbunden sind, die jedoch in seiner Rechnung (die nur die verarbeitende Industrie berücksichtigt) nicht erscheinen. Ein Beispiel ist die Ersetzung von Dampfkraft durch elektrische Energie, der Gillman eine Schlüsselrolle für die "neue Technologie" zuspricht. Die Einführung elektrischer Energie mag aus der Perspektive einzelner Unternehmen als "kapitalsparend" erscheinen, jedoch nur deshalb, weil die dazu notwendigen Infrastrukturinvestitionen mit hoher organischer Zusammensetzung (Kraftwerke, Versorgungssysteme usw.) nicht von ihnen selbst, sondern — was der Regelfall war — von der öffentlichen Hand übernommen werden. Ähnliches gilt für die Einführung des Automobils, die ebenfalls umfangreiche Infrastrukturinvesti-

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tionen erfordert (Straßenbau). In der Tat zeigt sich um die von Gillman bezeichnete kritische Periode nach der Jahrhundertwende ein deutlicher Trend zur Erhöhung des Anteils der öffentlichen Investitionen an den Staatsausgaben wie an der gesamten Bruttokapitalbildung, den Gillman nicht berücksichtigt*V.24 .

Die "kapitalsparenden" Investitionen in der Privatindustrie begleitet also eine wachsende Übernahme kapitalintensiver Investitionen durch den Staat, die bei einer Analyse der säkularen Entwicklungstendenzen der Durchschnittsprofitrate und der organischen Zusammensetzung des Kapitals berücksichtigt werden müßte. Ob sich aus einer solchen Untersuchung eine Bestätigung des Marx'schen Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate ohne die zweifellos problematische Umformulierung des Gesetzes, die Gillman vornimmt, gewinnen läßt, kann an dieser Stelle nicht näher geprüft werden und muß einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben. Hier soll zunächst nur die Beweiskraft der empirischen Argumentation Gillmans angezweifelt werden.

Diese wird darüber hinaus durch die von einer Reihe anderer Autoren referierten statistischen Ergebnisse in Frage gestellt. Pesenti hat dazu ausgeführt:
"Meiner Ansicht nach ist die fortdauernde Gültigkeit des Gesetzes durch einige Daten bewiesen. Um den Grad der kapitalistischen Entwicklung über einen Zeitraum hin und durch internationale Vergleiche zu messen und den unterschiedlichen Grad von Arbeitsproduktivität zu verstehen, wird gewöhnlich der pro Arbeiter investierte Kapitalbetrag geschätzt. Die historische Reihe zeigt, ausgedrückt in Wertkategorien (dies gilt sogar noch zwangsläufiger für quantitative Kategorien — Mengen von Energie, Rohstoffen, Maschinengewicht), ein Wachstum der Kapitalmengen pro Arbeiter, d. h. der organischen Zusammensetzung; die geographische Analyse weist nach, daß die fortgeschritteneren Länder größere Mengen investierten Kapitals pro Arbeiter aufweisen. Die Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft, d. h. der Bildung ihres Nettoprodukts, das den im Produktionsprozeß geschaffenen Mehrwert freilich unvollkommen ausdrückt, sinkt allmählich in dem Maße, wie die kapitalistische Produktion sich entwickelt." (Pesenti)*V.25
In die gleiche Richtung weisen die von Steindl und Mattick referierten Daten von Kuznets und von anderen Quellen über das Wachs-

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tum der amerikanischen Wirtschaft. Sie zeigen sowohl für die Zeit bis zur Weltwirtschaftskrise als auch nach dem Zweiten Weltkrieg einen deutlichen Trend zu einem Wachstum der investierten Kapitalmengen pro Arbeiter einerseits und zu einem im Verhältnis zur Bruttokapitalbildung sich verringernden Wachstum der Nettokapitalbildung andererseits. Obgleich diese Analysen und die Unstimmigkeiten, die sich aus ihrem Vergleich mit den Ergebnissen Gillmans ergeben, einer sehr viel weitergehenden Präzisierung und Klärung bedürfen, können sie doch als eine annähernde Bestätigung der Marx'schen Tendenzaussagen gelten.

Die Gillman'sche Argumentation erscheint ferner aus dem Blickwinkel einer theoretischen Diskussion über das Verhältnis kapital- und arbeitssparender Innovationen als problematisch. Gillman — und mit ihm allerdings viele Verteidiger der originären Fassung des Marx'schen Gesetzes — übersehen die außerordentlich komplexen Wechselwirkungen, die beide Innovationstendenzen im gesamtwirtschaftlichen Rahmen haben.

Die Tendenz zur Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals ergibt sich nach Marx aus der Notwendigkeit der Steigerung der Arbeitsproduktivität und des relativen Mehrwerts. Den Zusammenhang zwischen steigender Arbeitsproduktivität und steigender organischer Zusammensetzung leitet Marx aus der Analyse der technologischen Entwicklung ab: Die Entwicklung der Technologie ist die Entfaltung des dem Kapital innewohnenden Drangs, lebendige menschliche Arbeitsfunktionen durch Maschinenfunktionen, durch "vergegenständlichte Arbeit" zu ersetzen.

Auch wenn eine Erfindung unmittelbar als "kapitalsparend" erscheinen mag; im gesamtwirtschaftlichen Rahmen ist sie notwendigerweise auch arbeitssparend, da jede Reduktion von vergegenständlichter Arbeit auf eine Reduktion von lebendiger Arbeit an einer anderen Stelle des gesellschaftlichen Produktionsprozesses zurückgehen muß. Die "Kapitalersparnis" setzt ursächlich stets eine Arbeitsersparnis voraus; der Arbeitsersparnis kommt daher stets Priorität gegenüber der Kapitalersparnis zu und nicht umgekehrt. Die abstrakte Gegenüberstellung von "kapitalsparenden" und "arbeitssparenden" Erfindungen, wie sie von vielen marxistischen Autoren vorgenommen wird, übersieht, daß jede vergegenständlichte Arbeit zeitlich und kausal lebendige Arbeit voraussetzt. Das impliziert zugleich, daß jede arbeitssparende Erfindung zugleich eine kapitalsparende Erfindung sein kann,

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sofern sie innerhalb des Investitionsgütersektors stattfindet. Da hier die Produkte der einen Fertigungsstufe als Elemente des konstanten Kapitals in die Produktion der nächsten eingehen, wirkt sich eine Arbeitsersparnis als "Kapitalersparnis" auf der nächsten Stufe aus.

Da jede Kapitalersparnis mit einer Arbeitsersparnis beginnt, ist die Steigerung der organischen Zusammensetzung stets der ursprüngliche Impuls. Sie impliziert jedoch immer und notwendig eine Gegentendenz gegen den Fall der Profitrate: Entweder in der beschriebenen Weise oder — sofern sie innerhalb der Konsumgüterproduktion stattfindet — in Form einer Steigerung der Mehrwertrate. Trotzdem werden beide Tendenzen von Marx nur als "Gegentendenzen", die die überwiegende Tendenz zum Fall der Profitrate auf die Dauer nicht aufhalten können, behandelt. Das läßt sich nicht allein durch empirische, sondern auch durch theoretische Argumente rechtfertigen.

Sowohl für die Wertsenkung der Elemente des konstanten Kapitals wie für die Steigerung der Mehrwertrate läßt sich demonstrieren, daß sie als Gegentendenz um so schwächer werden, je mehr die primär notwendigerweise durch arbeitssparende Erfindungen induzierte Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (die auch, wie betont, bei kapitalsparenden Innovationen vorausgesetzt werden muß!) anwächst.

Was die Steigerung der Mehrwertrate betrifft, so hatte Marx, wie schon erörtert (vgl. oben S. 105 f.), gezeigt, daß gleiche Produktivitätssteigerungen zu absolut geringeren Zunahmen an Mehrarbeit pro Arbeiter führen. Das Analoge läßt sich, wie im Anhang ausführlicher demonstriert werden soll, für die Wertsenkung des konstanten Kapitals zeigen: Gleiche absolute Wertsenkungen der Elemente des konstanten Kapitals fallen mit steigender Gesamtzusammensetzung als Gegentendenz immer weniger ins Gewicht. Je höher die Gesamtzusammensetzung bereits ist, desto mehr müßte der Wert der Produkte der ersten Stufe sinken, um den von der ersten Stufe ausgehenden Impuls zur Steigerung der organischen Zusammensetzung mindestens zu neutralisieren. Das paradoxe Ergebnis ist also, daß die organische Zusammensetzung der ersten Stufe, je höher die Gesamtzusammensetzung bereits ist, um so schneller steigen müßte, um ein weiteres Steigen der Gesamtzusammensetzung zu verhindern.

Nicht minder widersprüchlich als in seinem Begriff selbst setzt sich das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate in der empirischen Realität des Krisenzyklus durch. Die Einführung arbeitssparender Er-

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findungen in einzelnen Unternehmen führt keineswegs unmittelbar zu einem Fall der Profitrate, im Gegenteil: Solange die neuen Verfahren vereinzelt bleiben und die durchschnittlichen Produktionsbedingungen des betreffenden Industriezweiges nur unwesentlich berühren, bleiben die bestehenden Produktionspreise erhalten. Deshalb sichern die als Folge der Einführung des neuen Verfahrens gesunkenen Produktionskosten (arbeitssparende Erfindungen werden in der Regel nur dann eingeführt, wenn die Ersparnis an Lohnkosten größer ist als die Mehrkosten an konstantem Kapital) den als Pionieren fungierenden Kapitalisten zunächst einen Extraprofit. Der Extraprofit löst einen Investitionsboom aus, in dessen Verlauf die ursprünglich nur vereinzelt angewandten neuen Verfahren sich verallgemeinern und immer mehr die durchschnittliche organische Zusammensetzung bestimmen. In dem Maße, wie das der Fall ist, sinken die Produktionspreise und die Extraprofite werden getilgt. Die Durchschnittsprofitrate sinkt und fällt auf das der neuen Durchschnittszusammensetzung entsprechende Niveau; sie bestimmt nun die neuen Produktionspreise. Erst die notwendig eintretende Verallgemeinerung bringt das allgemeine Gesetz zur Geltung. Vermittelt ist die Durchsetzung des Gesetzes aber durch sein Gegenteil: durch den Extraprofit, der den Konkurrenzmechanismus in Gang setzt und dadurch die Verallgemeinerung empirisch in die Wege leitet. Diese setzt sich somit wahrlich "hinter dem Rücken" der beteiligten Kapitalisten durch. Eben durch das ihnen gemeinsame Streben nach dem Höchstprofit führen sie durch ihre unbewußte gemeinsame Aktion das Gegenteil dessen herbei, was sie intendieren. Marx beschreibt die Wirkung dieses Mechanismus wie folgt:
"Kein Kapitalist wendet eine neue Produktionsweise, sie mag noch so viel produktiver sein oder um noch soviel die Rate des Mehrwerts vermehren, freiwillig an, sobald sie die Profitrate vermindert. Aber jede solche neue Produktionsweise verwohlfeilert die Waren. Er verkauft sie daher ursprünglich über ihrem Produktionspreis, vielleicht unter ihrem Wert. Er steckt die Differenz ein, die zwischen ihren Produktionskosten und dem Marktpreis der übrigen, zu höheren Produktionskosten produzierten Waren besteht. Er kann dies, weil der Durchschnitt der zur Produktion dieser Waren gesellschaftlich erheischten Arbeitszeit größer ist als die mit der neuen Produktionsweise erheischte Arbeitszeit. Seine Produktionsprozedur steht über dem Durchschnitt der gesellschaftlichen. Aber die Konkurrenz verallgemeinert sie und unterwirft sie dem allgemeinen Gesetz. Dann tritt das Sinken der Profitrate ein — vielleicht zuerst in dieser Produktionssphäre, und gleicht sich nachher mit den anderen aus —, das also ganz und gar unabhängig ist vom Willen der Kapitalisten." (Kapital III, S. 275)

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Je mehr die Profitrate sinkt, desto mehr muß das akkumulierte Kapital wachsen, um einem absoluten Fall der Masse des Profits entgegenzuwirken*V.26 . Der akkumulierte Teil des Profits muß sich also fortlaufend ausdehnen, die Produktionskapazitäten ausweiten, die Produktionsmenge ausdehnen, während gegenläufig dazu die Profitrate sinkt. Diese Scherenbewegung bringt zuerst vor allem die kleineren Kapitalien in die Krise. Mit fallender Durchschnittsprofitrate reicht die absolute Größe ihres akkumulierbaren Mehrwerts nicht mehr aus, um die zur Behauptung im Konkurrenzkampf erforderlichen Neuanlagen zu finanzieren, auch wenn sie nicht weniger oder sogar mehr als die Durchschnittsprofitrate erzielen. Die Masse des Profits wird damit zu einem ebenso entscheidenden Faktor wie die Profitrate; denn obwohl die größeren und kleineren Kapitalien die gleiche Profitrate abwerfen mögen, können doch nur noch die größeren Kapitalien wegen der absolut gestiegenen Minimalkosten der Investitionen die Akkumulation fortsetzen und dadurch einen absoluten Fall ihrer Profite verhindern. In der Realität werden die kleineren Kapitalien zwar zunächst versuchen, sich die benötigten Mittel auf dem Kreditwege zu verschaffen, wodurch sie jedoch ihren Bankrott nur um so wirkungsvoller herbeiführen.

So führt die Akkumulation notwendigerweise zu einer wachsenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Die zum Überleben im Konkurrenzkampf erforderliche Minimalgröße wächst ständig.
"Und gleichzeitig wächst die Konzentration, weil jenseits gewisser Grenzen ein großes Kapital mit kleiner Profitrate rascher akkumuliert als ein kleines mit großer." (Kapital III, S. 261)
Die Konzentration bzw. Zentralisation des Kapitals hat die Funktion, die verfügbare Profitmasse in dem für die Aufrechterhaltung der Akkumulation erforderlichen Grad zu steigern. Die Einführung neuer, Kostensenkungen und Extraprofite verheißender Verfahren erfordert mit wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals einen immer größeren Kapitalaufwand, der zunehmend nur noch von den großen Kapitalien getragen werden kann. Darüber hinaus kann sie auch die Profitrate steigern, insofern sie wie häufig in Krisen mit der Übernahme bankrotter und entwerteter Kapitalien verbunden ist. So kommt es in der Krise nahezu regelmäßig zu einer Kette von Zusam-

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menschlüssen und Fusionen. Sie machen die erneute Ausdehnung der Produktion möglich, von der die Überwindung der Krise abhängt. Da jede einzelne Ware eine fortschreitend geringere Wert- und daher auch Mehrwertmasse enthält, kann die gesamte Mehrwertmasse nur durch eine erneute Expansion der Produktion gesteigert werden. Der Stillstand der Akkumulation beruht nicht auf einer Überproduktion von Waren in Relation zu den bestehenden Bedürfnissen, sondern auf einem Mangel an Mehrwert. Die Krise wird daher auch typischerweise nicht durch Beschränkung, sondern durch erneute Ausdehnung der Produktion überwunden.

Die Steigerung der organischen Zusammensetzung ist mit einer Freisetzung von Arbeitskräften verbunden. Obgleich sich diese Freisetzung nicht notwendigerweise in einem absoluten Rückgang der Beschäftigung niederschlagen muß, solange die Akkumulation andauert, verringert sich jedoch das Wachstum der Beschäftigung und wächst die Wahrscheinlichkeit eines absoluten Rückgangs, da mit wachsender organischer Zusammensetzung nicht nur die Erweiterungsinvestitionen, sondern auch die Erneuerungsinvestitionen mit einer geringeren Beschäftigung verbunden sind. So entsteht eine latente industrielle Reservearmee, die in den Krisen manifest wird. Ihre Funktion ist die Verschärfung der Konkurrenz unter den Arbeitern, die in den Krisen eine Senkung der Reallöhne ermöglicht und so als eine temporäre "entgegenwirkende Tendenz" wirksam wird. (Ähnliches gilt für die niedrigen Löhne in Kolonien und imperialistisch beherrschten Ländern, die den Kapitalexport stimulieren.)

So entwickelt sich die Kapitalakkumulation als ein sich selbst perpetuierender Mechanismus, der gerade durch die Mittel, mit denen er Krisen überwindet, die Voraussetzungen für neue, schwerere Krisen schafft. Die Mehrarbeit kann nur gesteigert werden, indem Arbeit überhaupt freigesetzt und überflüssig gemacht wird. Mit der Freisetzung von Arbeit verengt sich aber auch der Spielraum der Mehrarbeit, was zur erneuten Erhöhung der Mehrarbeit zwingt. Irgendwann muß dieser circulus vitiosus seinen logischen Endpunkt erreichen: Nivellierung der Profitrate, Monopolisierung der Märkte, weit fortgeschrittene Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und Entwicklung der Technologie und Arbeitsproduktivität, Massenarbeitslosigkeit. Dieser "Endpunkt" muß nicht im Sinne eines mechanischen Zusammenbruchs gedacht werden, wohl aber als ein Zustand, in dem die Überwindung der Krise nicht mehr mit den erörterten, dem

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Kapital selbst immanenten Mitteln der Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals, der Gegentendenzen gegen den Fall der Profitrate, möglich ist, sondern "externe" Eingriffe erfordert.
"Wir haben es hier nicht mit der Frage zu tun, ob Marx sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung allzusehr auf Präzedenzfälle verließ, oder den Aufstieg eines revolutionären Proletariats zu optimistisch erwartete, oder gar Illusionen zum Opfer fiel — was der Fall zu sein scheint, wenn man die tatsächlichen politischen Bedingungen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert betrachtet. Was uns hier interessiert, ist lediglich die begrenzte Voraussagekraft einer Wertanalyse der Kapitalentwicklung. Marx war sich dieses ,Mangels' bewußt, wie es in seiner Weigerung sich andeutet, das Ende des Kapitalismus in anderen als allgemein historischen Formen vorauszusagen. Doch ist seine Theorie, wie beschränkt sie aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades auch sein mag, die einzige Theorie der Kapitalakkumulation, die durch den tatsächlichen Verlauf der Entwicklung verifiziert wurde. Ob wir die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals oder die sich in der kapitalistischen Krise zeigende Tendenz der fallenden Profitrate betrachten oder die zunehmende Heftigkeit der Krisen, die Erzeugung einer industriellen Reservearmee, das trotz des qua Kapital wachsenden Wohlstandes unverminderte Elend der großen Masse der Weltbevölkerung, die Beseitigung des Wettbewerbs durch den Wettbewerb (die Konzentration, Zentralisation und Monopolisierung von Kapital) — wir müssen das Entwicklungsmuster, das Marx entworfen hat, zur Kenntnis nehmen." (Mattick 1971, S. 110 f.)*V.27
Trotz aller Schwierigkeiten der statistischen Überprüfung und Operationalisierung dürfte die Berechtigung dieser Feststellung Matticks kaum zu bestreiten sein. Für die Marx'sche Theorie lassen sich nicht nur die empirischen Daten der Entwicklung des Kapitalismus anführen, sondern ironischerweise auch das empirische Urteil von Autoren der bürgerlichen Nationalökonomie wie Keynes, oder Schumpeter, die der Marx'schen Theorie ablehnend gegenüberstehen. Nicht der Tatbestand der fallenden Profitrate und der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals ist zwischen Marx und Keynes — wie auch die obige Keynes-Diskussion gezeigt hat — kontrovers, sondern seine theoretische Interpretation. Es sind also gerade empirische Gründe, die die Versuche einer Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus in der Nachkriegszeit auf der Basis der Marx'schen Akkumulationstheorie rechtfertigen.

b) Das Realisierungsproblem

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Die Krise ist, so zeigt Marx, stets eine Krise der Mehrwertproduktion, der Verwertung des Kapitals. Die Begriffe Produktion und Realisierung stehen in der Marx'schen Theorie in innerem Zusammenhang. Für Marx war die Realisierung der Waren ein Moment der kapitalistischen Produktion; Waren werden nur dann und insofern realisiert, als sie direkt oder indirekt als Mittel zur weiteren Produktion von Mehrwert dienen können. Die "effektive Nachfrage" erklärt nach Marx nichts; sie muß vielmehr ihrerseits erklärt werden, und diese Erklärung ist nur aus den Bedingungen der Produktion des Mehrwerts, die in der Werttheorie begrifflich gefaßt sind, möglich. Ist die Produktion des Mehrwerts ausreichend, so ist auch die zur Realisierung des Mehrwerts erforderliche effektive Nachfrage vorhanden, da das Kapital sich selbst diese Nachfrage schafft. Reicht umgekehrt die effektive Nachfrage zur Realisierung des Mehrwerts nicht aus, so kann das nur auf mangelnde Mehrwertproduktion zurückgeführt werden.

Nach Marx kann daher die mangelnde Konsumnachfrage der Arbeiter nicht Ursache der Krise sein; sie selbst geht darauf zurück, daß zu wenige Arbeiter beschäftigt werden und der mangelnde Beschäftigungsstand findet seinerseits seine Erklärung in der zu niedrigen Profitrate, in der zu geringen Auspressung von Mehrarbeit. Die Krise wird typischerweise nicht durch eine Erhöhung der Massenkaufkraft überwunden — charakteristisch für den Zustand der Krise ist vielmehr, wie im übrigen auch eine Fülle statistischer Untersuchungen zeigen, das Anwachsen des Anteils der Arbeitseinkommen am Gesamtprodukt —, sondern durch deren genaues Gegenteil: Durch Reallohnsenkungen und durch Herabdrücken des Lebensstandards der Arbeiter. Die "effektive Nachfrage" ist im Kapitalismus keine Nachfrage nach Gebrauchswerten, sondern eine Nachfrage nach Waren, die wieder in die Mehrwertproduktion eingehen. Die Zirkulation des Kapitals, der Absatz der Waren, ist daher stets eine Funktion der Produktion des Mehrwerts und nicht umgekehrt.

Diese Position scheint zunächst auf eine modifizierte und eingeschränkte Version des Say'schen Postulats hinauszulaufen: Vorbehaltlich einer ausreichenden Verwertung des Kapitals müssen Angebot und Nachfrage sich die Waage halten, da das Kapital sich dann selbst die zur Realisierung der Waren notwendige Nachfrage schafft. Produktion

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und Konsumption stimmen überein, da die Konsumption nur Mittel zur weiteren Produktion von Mehrwert ist.

Marx war jedoch ein entschiedener Kritiker des Say'schen Postulats. Seine Kritik am Say'schen Postulat beschränkte sich nicht auf den im ersten Band gegebenen Hinweis, daß Kauf und Verkauf infolge der Trennung von Ware und Geld auseinanderfallen und damit die Möglichkeit der Krise, der allgemeinen Überproduktion gegeben ist*V.28 . In seiner Kritik an der Akkumulationstheorie Ricardos geht Marx über diese Position hinaus. Die Bedingungen der Krise müssen über die Formbestimmungen von Ware und Geld — in denen sie in der Tat nicht mehr als eine bloße Möglichkeit, als ein bloßer Zufall erscheinen — hinaus verfolgt werden:
"Daher sieht man die enorme Fadaise der Ökonomen, die, nachdem sie das Phänomen der Überproduktion und der Krisen nicht mehr wegräsonnieren konnten, sich damit beruhigen, daß in jenen Formen die Möglichkeit gegeben, daß Krisen eintreten, es also zufällig ist, daß sie nicht eintreten und damit ihr Eintreten selbst als ein bloßer Zufall erscheint.
Die in der Warenzirkulation, weiter in der Geldzirkulation entwickelten Widersprüche — damit Möglichkeiten der Krise — reproduzieren sich von selbst im Kapital, indem in der Tat nur auf der Grundlage des Kapitals entwickelte Warenzirkulation und Geldzirkulation stattfindet. Es handelt sich aber nun darum, die weitere Entwicklung der potentia Krisis — die reale Krisis kann nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, Konkurrenz und Kredit dargestellt werden — zu verfolgen, soweit sie aus den Formbestimmungen des Kapitals hervorgeht, die ihm als Kapital eigentümlich und nicht in seinem bloßen Dasein als Ware und Geld eingeschlossen sind."
(Theorien über den Mehrwert II, S. 513)
Dieses Vorhaben nimmt Marx im II. Band des "Kapitals" in Angriff. In seiner Analyse des Geldkapitalkreislaufs in den ersten Kapiteln des II. Bandes zeigt Marx, wie die Kapitalzirkulation das aus der einfachen Warenzirkulation abgeleitete Say'sche Gesetz in doppelter Weise negiert:

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Die aus dem Verkauf des Warenkapitals resultierende Geldsumme muß größer sein als die Summe des vorgeschossenen Kapitals, andernfalls hätte sich der Mehrwert nicht realisiert und die Produktion könne als kapitalistische Produktion nicht aufrechterhalten bleiben:
"Der Kapitalist wirft weniger Wert in der Form von Geld in die Zirkulation hinein, als er aus ihr herauszieht, weil er mehr Wert in Form von Ware hineinwirft, als er ihr in Form von Ware entzogen hat. Soweit er als bloße Personifikation von Kapital fungiert, als industrieller Kapitalist, ist seine Zufuhr von Warenwert stets größer als seine Nachfrage nach Warenwert. Deckung seiner Zufuhr und seiner Nachfrage in dieser Beziehung wäre gleich Nichtverwertung des Kapitals; es hätte nicht als produktives Kapital fungiert; das produktive Kapital hätte sich in Warenkapital verwandelt, das nicht mit Mehrwert geschwängert; es hätte während des Produktionsprozesses keinen Mehrwert in Warenform aus der Arbeitskraft gezogen, also überhaupt nicht als Kapital fungiert." (Kapital II, S. 120)
Wie ist es den Kapitalisten möglich, ständig mehr Geld aus der Zirkulation herauszuziehen, als sie hineinwerfen? Das Geld, das die Kapitalisten aus ihren Verkäufen realisieren und mit dem Kauf wieder in die Zirkulation werfen, kann offensichtlich nicht die Quelle der Realisierung des Mehrwerts sein, denn eben diese Möglichkeit der Realisierung aus den Verkäufen steht ja zur Debatte. Die Realisierung des Mehrwerts impliziert eine Ausdehnung der Warenzirkulation. Wenn die wachsende Warenmasse realisiert werden soll, muß sich auch die Geldmenge ausdehnen, bzw. die Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes muß zunehmen. Was die Kapitalisten jedoch ausdehnen, ist nicht die Geldmenge, sondern die Warenmenge: um die zusätzlichen Waren absetzen zu können, müssen sie die Geldvermehrung bereits als ein Faktum vorfinden. Wenn die Kapitalisten, soweit sie den Mehrwert realisieren, fortwährend verkaufen, ohne vorher gekauft zu haben, so muß es andererseits Käufer geben, die kaufen, ohne vorher verkauft zu haben. Es muß ein "Loch" in der Zirkulation geben, durch das die zur Realisierung des Mehrwerts erforderliche zusätzliche Geldmenge fortlaufend einströmt.

Wo ist aber dieses Loch zu lokalisieren? Marx wälzte dieses Problem in den letzten Kapiteln des zweiten Bandes über lange Seiten hin und her. Die Lösung, zu der er schließlich Zuflucht suchte, war die Goldproduktion. Dem Goldproduzenten kommen die gesuchten Eigenschaften zu, die aus der Analyse des Realisierungsproblems postuliert werden müssen. Da die von ihm produzierte Ware unmittelbar die Geldware ist, fallen für ihn Kauf und Verkauf in eins. Während die

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übrigen Kapitalisten mehr Geld aus der Zirkulation herausziehen als sie hineinwerfen, wirft daher der Goldproduzent umgekehrt fortwährend mehr Geld in die Zirkulation hinein als er herauszieht. Marx sah selbst die Unzulänglichkeit dieser Erklärung:
"Stellte man sich den Zirkulationsprozeß zwischen den verschiedenen Teilen der jährlichen Reproduktion als in gerader Linie verlaufend vor — was falsch, da er mit wenigen Ausnahmen allzumal aus gegeneinander rückläufigen Bewegungen besteht —, so müßte man mit dem Gold- (resp. Silber-) Produzenten beginnen, der kauft ohne zu verkaufen, und voraussetzen, daß alle anderen an ihn verkaufen. Dann ginge das gesamte jährliche gesellschaftliche Mehrprodukt an ihn über und sämtliche anderen Kapitalisten verteilen pro rata unter sich sein von Natur in Geld existierendes Mehrprodukt, die Naturalvergoldung seines Mehrwerts; denn der Teil des Produkts des Goldproduzenten, der sein fungierendes Kapital zu ersetzen hat, ist schon gebunden und darüber verfügt. Der in Gold produzierte Mehrwert des Goldproduzenten wäre dann der einzige Fonds, aus dem alle übrigen Kapitalisten die Materie für Vergoldung ihres jährlichen Mehrprodukts ziehen. Er müßte also der Wertgröße nach gleich sein dem gesamten gesellschaftlichen Mehrwert, der erst in die Form von Schatz sich verpuppen muß. So abgeschmackt diese Voraussetzungen, so hülfen sie zu weiter nichts, als die Möglichkeit einer allgemeinen gleichzeitigen Schatzbildung zu erklären, womit die Reproduktion selbst, außer auf Seite des Goldproduzenten, um keinen Schritt weiter wäre." (Kapital II, S. 487)
Marx deutet ferner auch die Richtung an, in der die wirkliche Lösung des Problems gesucht werden könnte:
"Es erledigt sich damit auch die abgeschmackte Frage, ob die kapitalistische Produktion in ihrem jetzigen Umfang ohne das Kreditwesen (selbst nur von diesem Standpunkt betrachtet) möglich wäre, d. h. mit bloß metallischer Zirkulation. Es ist dies offenbar nicht der Fall. Sie hätte vielmehr Schranken gefunden an dem Umfang der Edelmetallproduktion. Andererseits muß man sich keine mystischen Vorstellungen machen über die produktive Kraft des Kreditwesens, soweit es Geldkapital zur Verfügung stellt oder flüssig macht. Die weitere Entwicklung hierüber gehört nicht hierher." (Kapital II, S. 247)*V.29

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Es blieb jedoch bei diesen Andeutungen: die "weitere Entwicklung" wurde von Marx nicht mehr ausgeführt, die in den letzten Kapiteln des zweiten Bandes abgebrochene Diskussion des Realisierungsproblems an keiner Stelle wieder aufgenommen.

In der weiteren marxistischen Diskussion war es bemerkenswerterweise nur Rosa Luxemburg (1968), die dieses Problem aufgriff und die Unzulänglichkeit seiner Behandlung bei Marx aufzeigte. Der Versuch Rosa Luxemburgs hatte jedoch keine Wiederaufnahme der Diskussion zur Folge, sondern trug ihr lediglich Anfeindungen der parteioffiziellen sozialdemokratischen Krisentheoretiker — vor allem O. Bauer und G. Eckstein — ein. Nach Bauer und Eckstein wie auch Hilferding*V.30 und Tugan-Baranowsky*V.31 war die Hauptursache der kapitalistischen Krisen die mögliche Disproportionalität der Entwicklung der verschiedenen Produktionszweige; sie glaubten, sich hierbei auf die Marx'sche Analyse des Reproduktionsprozesses am Ende des zweiten Bandes berufen zu können. Da Marx in seinen Reproduktionsschemata von der Geldzirkulation abstrahierte, glaubten die "Disproportionalitätstheoretiker" schließen zu dürfen, daß er die Geldzirkulation nicht als eine selbständige Krisenursache betrachtete. Nach ihrer Ansicht, die sie mit der Marx'schen identifizierten, spielt das Geld auch innerhalb der Kapitalzirkulation keine andere Rolle als die des Zirkulationsmittels. Es ist daher als indifferent für den Reproduktionsprozeß des Kapitals zu behandeln:
"Die Verwertung des gesellschaftlichen Kapitals findet durch die Vermittlung des Geldes statt. Die Waren müssen verkauft werden, um sich in neue Waren zu verwandeln. Aber bei der abstrakten Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals können wir von der Rolle des Geldes in dieser Reproduktion vollkommen absehen. Damit leugnen wir durchaus nicht, daß die Unterbrechungen der Geldzirkulation Störungen im Prozeß der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals hervorrufen. Es ist aber augenblicklich nicht unsere Aufgabe, diese Unterbrechungen zu untersuchen. Insofern das Geld nur eine Vermittlerrolle spielt, werden Produkte mit Produkten gekauft. Von dieser Annahme wollen wir bei der folgenden Analyse ausgehen." (Tugan-Baranowsky, S. 17)
Die Position entsprach in ihrem Kern dem Standpunkt der liberalen bürgerlichen Ökonomie. Deren Grundsatz — das Say'sche Postulat —

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besagte ebenfalls nichts anderes, als daß "Produkte mit Produkten" gekauft werden und daher eine allgemeine Überproduktionskrise, d. h. ein allgemeines Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nicht möglich ist; möglich sind allenfalls partielle Disproportionalitäten, Überangebot an Waren in einem Sektor, dem ein Unterangebot in einem anderen Sektor gegenübersteht. Eben das war auch die prinzipielle Position Bauers, Hilferdings und Tugan-Baranowskys. Sie räumten zwar ein, daß ein allgemeines Ungleichgewicht als Folge von Geldhortungen entstehen könne. Diese Möglichkeit gestand aber auch die liberale Theorie zu, die jedoch ihre Bedeutung für die Erklärung des Umschwungs von der Prosperität zur Depression als sehr gering einschätzte*V.32 . Es waren bemerkenswerterweise nicht nur Tugan-Baranowsky, Bauer und Hilferding, die diese Auffassung von der Rolle des Geldes als bloßem Vermittler innerhalb des Akkumulationsprozesses vertraten, sondern auch Grossmann, der in dieser Hinsicht mit der Kritik Bauers an Rosa Luxemburg völlig übereinstimmte*V.33 . Grossmanns Argumentation gegen Bauer beschränkt sich darauf, die Bauer'schen Reproduktionsschemata fortzurechnen und auf die langfristigen Perspektiven des Falls der Profitrate aufmerksam zu machen. Auch Grossmann bemerkt das Problem der Geldexpansion nicht: Wie Hilferding und Tugan-Baranowsky erklärt er die allgemeine Überproduktionskrise aus der Hortung von Geld, die nach seiner Ansicht eintritt, sobald die Profitrate stark sinkt:
"Die Kaufkraft ist beim Ausbruch in unserem Schema ebenso vorhanden, wie sie bisher während der gesamten Aufstiegsphase vorhanden war. Geht doch Marx von der Voraussetzung aus, daß sie vorhanden ist, und nichts hat uns bisher während unserer Analyse zur Änderung dieser Annahme gezwungen. Die Krise tritt nicht ein, weil von der vorhandenen Kaufkraft kein Gebrauch gemacht wird, weil es sich nicht lohnt, die Produktion zu erweitern, da bei der erweiterten Reproduktion nur so viel Mehrwert zu erzielen ist, wie bei der Produktion im bisherigen Umfang." (Grossmann, a.a.O., S. 291)
Auch bei Mattick, der in seiner Interpretation der Marx'schen Krisentheorie stark von Grossmann beeinflußt ist, findet sich diese Vorstellung, daß die Krise mit Geldhortungen der Kapitalisten verbunden sei. Daraus entstehen bei ihm, wie sich weiter unten noch genauer

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zeigen wird, Unklarheiten über die Wirkungsweise des Staatseingriffs und über die Bedeutung der Defizitfinanzierung.

Die Analyse des Realisierungsproblems von Rosa Luxemburg zeigt die Richtung, in der die Lösung des Problems gesucht werden muß. Sie zeigt, daß das Eintreten der allgemeinen Überproduktionskrise keineswegs davon abhängt, daß Geld der Zirkulation entzogen und gehortet wird. Im Gegenteil: Auch wenn sämtliche aus Verkäufen realisierten Gelder sogleich wieder in die Zirkulation geworfen werden, kann die Überproduktion eintreten; sie muß eintreten, wenn darüber hinaus keine Expansion des Geldvolumens stattfindet. Solange das Geldvolumen konstant bleibt, kann der Mehrwert nicht realisiert werden, denn der gleichbleibenden Geldmenge stünde dann eine wachsende Warenmenge gegenüber, die im Maß ihres Wachstums entweder nicht realisiert werden könnte oder im Preis fallen müßte. Die Kapitalakkumulation bedingt (da die Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes nur beschränkt wachsen kann) eine Expansion des Geldvolumens, die andere Formbestimmungen voraussetzt als die des Zirkulationsmittels. Das wird — so lautet der Einwand Rosa Luxemburgs — von den "Disproportionalitätstheoretikern" übersehen, deren Konstruktionen auf eine Übertragung der Verhältnisse der einfachen Warenzirkulation auf die Kapitalakkumulation hinauslaufen.

Nach wie vor bleibt jedoch das Problem der Lokalisierung der Quelle der Geldexpansion. Wie bereits gesagt, kommt die Nachfrage der Kapitalisten als diese Quelle nicht in Betracht, denn die Kapitalisten expandieren nicht die Geldmenge, sondern das Warenangebot, und müssen die Geldvermehrung bereits vorfinden, um das in den Waren enthaltene Mehrwertquantum realisieren zu können. Aus dem bloßen Austausch zwischen den Kapitalisten kann kein zusätzliches Geld resultieren, offensichtlich noch viel weniger aus dem Austausch zwischen Kapitalist und Arbeiter. Das Problem scheint innerhalb eines geschlossenen kapitalistischen Systems nicht lösbar, wie Rosa Luxemburg folgerte. Als einzig mögliche Lösung bleibt das Phänomen des Imperialismus. Indem das Kapital in seinem fortlaufenden territorialen Expansionsprozeß das vorkapitalistische Milieu, in dem es aufwächst, zerstört und dadurch neue Märkte erobert, schafft es sich "exogen" die zur Realisierung des Mehrwerts erforderliche zusätzliche Nachfrage, die es "endogen" nicht hervorbringen kann.

So einseitig und anfechtbar diese von Rosa Luxemburg vorgeschlagene Lösung sein mag, so sehr muß ihr im Hinblick auf ihre Problem-

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Stellung Recht gegeben werden. Rosa Luxemburg (neben ihrem Schüler Sternberg) bleibt das Verdienst, als einzige der marxistischen Autoren das Realisierungsproblem klar erkannt und definiert zu haben*V.34 . Es waren nicht marxistische Autoren, sondern die bürgerliche Nationalökonomie, die das Problem aufgriff und seine Implikationen für den Krisenzyklus analysierte. Die bürgerliche Wachstumstheorie fand in dem zusätzlichen Kredit die "endogene" Quelle der Geldvermehrung, die die Realisierung der Profite ermöglicht. Stellvertretend für diese Argumentation soll im folgenden die Krisentheorie von G. Kroll (1958, S. 291 f.) referiert werden, in der die entscheidenden Positionen besonders klar und prägnant zusammengefaßt sind.

Kern der Kroll'schen Theorie ist der Nachweis der These, daß "eine Wirtschaft, deren Nachfrage im Kreislauf nur von den Kostenzahlungen der Betriebe bei synchronisiert gedachter Produktion abhängt, (sich) nicht im Gleichgewicht, sondern in einem permanenten Schrumpfungsprozeß (befindet)". Kroll setzt voraus, daß außer der Selbstfinanzierung der Unternehmen keine zusätzlichen Geldquellen — also kein Außenhandel mit der Möglichkeit von Exportüberschüssen, keine Giralgeldschöpfung und keine staatlichen Haushaltsdefizite, keine zusätzlichen Goldfunde — existieren. In diesem Fall bestünde die gesamte effektive Nachfrage aus den Kostenzahlungen der Unternehmen. Diese bestehen ihrerseits zum einen in den Ausgaben für Löhne und Gehälter, andererseits in den Ausgaben für Investitionen, Rohmaterial und Hilfsmaterialien usw. Von besonderer Bedeutung sind die Investitionen, die eine längere Bauzeit erfordern: ihre konjunkturelle Wirkung besteht darin, daß sie nachfragewirksam sind, ohne sogleich auch angebotswirksam zu sein. M. a. W.: Sie haben einen "Einkommenseffekt", aber nicht sogleich auch einen "Kapazitätseffekt". Geht man von den oben gemachten Annahmen aus, so kann nur diese zeitliche Verzögerung des "Kapazitätseffekts" das unmittelbare Manifestwerden der Krise verhindern. Sobald aber die Investi-

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tionen fertiggestellt sind, sinkt nicht nur die Nachfrage (da die während der Bauphase anfallenden Kostenzahlungen eingestellt werden), sondern findet zugleich auch eine überproportionale Angebotserhöhung statt. Denn die mit den neuen Anlagen produzierten Waren, die jetzt auf den Markt gelangen, enthalten nicht nur die Produktionskosten, sondern darüber hinaus den jetzt zu realisierenden Profit. Da aber keine Geldvermehrung stattgefunden hat, können die Profite nicht realisiert werden: es kommt zu einer "automatischen Deflation", d. h. die Waren bleiben, insofern das Angebot die ursprünglichen Kostenzahlungen übersteigt, entweder unabsetzbar oder sinken im Preis. Das Nachfragedefizit zieht aber Produktionseinschränkungen nach sich, die wiederum eine Verstärkung des Nachfragedefizits und der deflationären Tendenzen nach sich ziehen, und so kommt es zu einem sich selbst verstärkenden krisenhaften Schrumpfungsprozeß.

Anders ausgedrückt: "Die moderne Wirtschaft hat nur die Chance, zu wachsen oder zu schrumpfen", sie hat "nicht die Chance, im Zustand eines stabilen Gleichgewichts zu verharren"*V.35 , da die Realisierung des Profits und nicht der Austausch der Waren zu ihren Produktionskosten ihre Gleichgewichtsbedingung bildet. Das Wachstum setzt aber eine Expansion des Geldvolumens voraus. Die Hauptrolle dieser Expansion ist nach Kroll der zusätzliche Kredit (der somit als ein notwendiges Moment der erweiterten Reproduktion begriffen werden muß). Rosa Luxemburg hatte in ihrer Analyse das Kreditsystem nicht berücksichtigt und daher die entscheidende endogene Quelle der Geldexpansion übersehen. Prinzipiell kann das Kreditsystem in doppelter Weise zu einer Vermehrung des Geldumlaufs beitragen: Mit Hilfe des Kreditsystems kann einerseits die Zirkulationsgeschwindigkeit des bereits vorhandenen Geldes gesteigert und dadurch bei gleichbleibendem Geldvolumen eine Vermehrung der Warenumsätze ermöglicht werden. Die Vertreter der modernen Kreditschöpfungslehre (Macleod, Hahn, Schumpeter u. a.) haben jedoch gezeigt, daß sich die Tätigkeit der Banken nicht in dieser Funktion der bloßen Vermittlung bereits zirkulierender Gelder erschöpft:
"Der Umfang der Kreditgewährung ist keineswegs durch den empfangenen Kredit beschränkt, sondern die Banken sind in der Lage, über die ihnen zufließenden Gelder hinaus, dem erfahrungsgemäßen Reserveverhältnis entsprechend, ein Mehrfaches der deponierten Beträge in Form von Gutschriften [170] zu schaffen. Diese Guthaben, über die durch Scheck oder Überweisung verfügt werden kann, sind Umlaufmittel, die in ökonomischem Betracht Geld sind, weil sie als Geld fungieren. Zwischen ihnen und den Banknoten besteht kein Unterschied." (Wagner 1966, S. 149)
Beide Mechanismen, die Beschleunigung der Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes wie die Vermehrung des Geldvolumens, sind in ihrer Funktion für die Vermehrung der Warenumsätze äquivalent. Auf ihre genauere Darstellung und Abgrenzung kann im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden. Eine präzise Darstellung des Mechanismus der multiplen Giralgeldschöpfung gibt E. Schneider*V.36 . Die entscheidende Schlußfolgerung, die Kroll aus der Rolle des zusätzlichen Kredits für die Realisierung der Profite zieht, lautet: Die Selbstfinanzierung der Unternehmen allein kann niemals ausreichen, um die Kapitalakkumulation von der monetären Seite her in Gang zu halten. Das richtet Kroll auch als zentralen Einwand gegen die Keynes'sche Theorie: eine ex-ante Gleichheit von "Ersparnis" und "Investition" kann innerhalb eines kapitalistischen Systems niemals Gleichgewichtsbedingung sein, wie Keynes behauptete, denn sie unterstellt einen stationären Zustand, den es im Kapitalismus nicht geben kann:
"Die Behauptung, daß die Übereinstimmung von Sparen und Investieren eine Bedingung des Gleichgewichts sei, erweist sich somit als gründlich verkehrt, sie ist vielmehr eine der wesentlichen Voraussetzungen einer schweren Gleichgewichtsstörung. In einer schrumpfenden bzw. bei Unterbeschäftigung stagnierenden Wirtschaft vermag das Sparvolumen niemals auszureichen, um Investitionen in Gang zu bringen, die groß genug wären, um die Wirtschaft zu einem Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung zu führen. Zur Wiederherstellung des Gleichgewichts bedarf es vielmehr Investitionen, die mit zusätzlichem Kredit finanziert werden." (Kroll, a.a.O., S. 344)
Umgekehrt: Nicht erst das "Horten", sondern ein gewisser Rückgang der Geldexpansion, der mit zusätzlichem Kredit finanzierten Investitionen reicht bereits völlig hin, um die Depression auszulösen. Dieser Rückgang muß aber, je mehr die Profitrate fällt (wofür Kroll allerdings auch keine anderen als subjektive Erklärungen findet) und sich dem Zinssatz annähert, von einem bestimmten Punkt an zwangsläufig eintreten. Der Rückgang der Kreditexpansion wird in der Regel allerdings nicht geradlinig erfolgen: gerade weil die Profitrate zurückgeht, wird die Kreditexpansion zunächst zunehmen, weil, wie bereits

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erwähnt, insbesondere die kleinen Kapitalien die zur Aufrechterhaltung der Akkumulation nötigen Neuinvestitionen wegen der zurückgehenden Profite zunehmend mit Leihgeld finanzieren müssen*V.37 . Das führt aber zu steigenden Zinssätzen, was früher oder später bei gleichzeitig weiter fallender Profitrate die Prosperität abschnüren muß. Dieser Punkt tritt also möglicherweise ein, lange bevor die Profitmasse absolut zurückgeht, nämlich dann, wenn die zurückgehende Profitrate sich dem Zinssatz nähert.

Der Rückgang der Kreditexpansion ist kein "autonomer" und von der bloßen Willkür der Banken abhängiger Vorgang (wie die monetären Konjunkturtheoretiker wie Hawtrey und in jüngster Zeit Friedman behaupten), sondern faktisch ein bloßes Symptom der fallenden Profitrate. Die Profitrate fällt nicht, weil die Kreditexpansion infolge der steigenden Zinssätze zurückgeht, sondern der Rückgang der Kreditexpansion ist seinerseits ein Reflex der fallenden Profitrate. Die Bewegungen des Geldvolumens und der Wertproduktion verlaufen allerdings nicht völlig synchron. Bei einem stärkeren und länger anhaltenden Fall der Profitrate tendiert das Geldvolumen zu einem stärkeren relativen Rückgang als die Wertproduktion, wodurch der Fall der Profitrate in ein Realisierungsproblem transformiert wird. Obwohl nach wie vor Mehrwert produziert wird, kann er doch nicht realisiert werden. Der als solcher nicht wahrnehmbare Zustand der "Überakkumulation" wird dadurch in das empirische Phänomen der Absatzstockung transformiert. Umgekehrt tendiert das Geldvolumen in der Prosperitätsphase zu einem stärkeren Wachstum als die Wertproduktion und löst dadurch inflationäre Tendenzen aus. Die Bewegungen des Geldvolumens werden in beiden Fällen durch die der Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes verstärkt bzw. kompensiert*V.38 .

Die zentrale Rolle des zusätzlichen Kredits schließt keineswegs aus, daß auch die außenwirtschaftlichen Transaktionen als Quelle der Vermehrung des Geldumlaufs fungieren können (was die These Rosa Luxemburgs war). Exportüberschüsse und Auslandsanleihen, sofern sie aus zusätzlicher Geldschöpfung finanziert werden und zu einer Vermehrung des Exports führen, tragen ebenso wie die durch zusätzlichen

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Kredit finanzierte Expansion der Binnennachfrage dazu bei, das in der Kapitalzirkulation latent enthaltene Nachfragedefizit zu reduzieren; das Umgekehrte gilt für Importüberschüsse. Insbesondere in Krisenperioden war die von Keynes so bezeichnete "beggar-my-neighbour"-Politik, d. h. der Versuch durch Abwertungen, Schutzzölle usw. einen Ausfuhrüberschuß zu erzielen, stets ein wichtiges Mittel der kapitalistischen Länder, die eigenen Realisierungsbedingungen des Mehrwerts auf Kosten des Nachbarn zu verbessern. Diese Politik resultierte daraus, daß infolge der gesunkenen Profitrate auf dem Binnenmarkt keine genügende Expansion des Geldvolumens mehr stattfand, so daß diese Expansion nur noch auf den Außenmärkten, über eine Verschärfung der imperialistischen Konkurrenz, gesucht werden konnte. Allerdings können Exportüberschüsse nur temporär aufrechterhalten bleiben; sie müssen früher oder später durch Wareneinfuhren oder Kapitalexport wieder ausgeglichen werden.

Was geschieht, wenn die Profitrate so stark sinkt, daß weder die Kreditexpansion auf den Binnenmärkten, noch die "beggaring-my-neighbour"-Politik eine Wendung bringen kann? In einer solchen Situation würde es nicht nur zu einem Stillstand der Akkumulation, sondern zu einem ständigen, sich selbst verstärkenden Schrumpfungsprozeß kommen. Als Folge der gesunkenen Mehrwertproduktion wäre auch die Realisierung des Mehrwerts nicht mehr möglich; das Geldvolumen würde sich nicht nur nicht mehr ausdehnen, sondern als Folge der Bankrotte selbst zurückgehen; die Zirkulationsgeschwindigkeit würde sich immer mehr verlangsamen. In dem Fall einer solchen, weit fortgeschrittenen Depression kann, wie Kroll meint, nur noch der fiskalpolitische Eingriff des Staates eine Wendung bringen. Die staatliche Defizitfinanzierung tritt an die Stelle der privaten Expansion des Kredits. Sie verhindert eine weitere Schrumpfung der Produktion und verbessert mit "künstlichen" Mitteln die Bedingungen der Realisierung der Profite.

c) Zur Mattick'schen Kritik des Keynesianismus

Nach der These Matticks ist die staatliche Defizitfinanzierung eine Reaktion auf den Niedergang der Kapitalverwertung und das fortschreitende Sinken der Profitrate. Die fallende Profitrate führt zu einem Sinken der Akkumulationsrate, die ihrerseits einen Rückgang der Marktnachfrage und der Beschäftigung nach sich zieht. Die Weltwirt-

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schaftskrise, die zur Entstehung der "mixed economy" führte, sowie die Fortexistenz dieser "mixed economy" nach dem Zweiten Weltkrieg signalisieren eine fortgeschrittene Stufe der kapitalistischen Entwicklung, auf der das vorher nur periodisch auftretende Krisenproblem permanent geworden ist. In dieser Situation besteht die Funktion des staatlichen Eingriffs darin, durch zusätzliche Staatsaufträge den Auswirkungen der zurückgehenden Selbstverwertung des Kapitals entgegenzuwirken und Produktion und Beschäftigung zu steigern. Dadurch können die der Krisentendenz zugrundeliegenden Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktion nicht aufgehoben, wohl aber ihr Zutagetreten, wie Mattick formuliert, "aufgeschoben" werden. Sie machen sich jedoch indirekt in der Notwendigkeit zunehmender Staatseingriffe weiter bemerkbar; die Grenzen des "Aufschiebens" ergeben sich aus den Grenzen des Wachstums der Staatseingriffe:
"Interventionen in den Wirtschaftsablauf wurden den kapitalistischen Regierungen durch nicht unter ihrer Kontrolle stehende Umstände aufgezwungen. Diese Interventionen weisen nicht auf eine reformatorische Tendenz des Kapitalismus hin. Sie enthüllen, daß es dem System immer schwerer fällt, die kapitalistischen Probleme mit streng kapitalistischen Mitteln zu lösen. In einer konsistenten kapitalistischen Ideologie bedeutet die ,neue Wirtschaftspolitik' nicht Erfolg, sondern Versagen. Sicherlich können staatliche Eingriffe eine Krise aufschieben oder mildern; aber die Notwendigkeit solcher Eingriffe zeugt von der Schwere der Krisenlage." (Mattick, a.a.O., S. 144 f.)
"Ungeachtet der langen Dauer relativer ´Prosperität' in den industriell fortgeschrittenen Ländern gibt es keinen Grund für die Annahme, daß die inneren Widersprüche der Kapitalproduktion durch staatliche Eingriffe in die Wirtschaft überwunden worden sind. Diese Eingriffe weisen selbst auf die Fortdauer der Krise hin, und das Anwachsen der staatlich induzierten Produk tion ist ein sicheres Zeichen für den fortwährenden Niedergang der Privatwirtschaft." (Mattick, a.a.O., S. 164 f.)
Die Argumentation Matticks zu diesen Fragen soll im folgenden einer genaueren Analyse unterzogen werden. Bei der Beantwortung der ersten Frage geht Mattick von der Grossmann'schen Interpretation der Marx'schen Krisentheorie aus. Die

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Krise entsteht aus der (auch in der vorangegangenen Darstellung des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate erläuterten) Scherenbewegung von Profitrate und Akkumulationsrate: Von ihr allein kann eine Überwindung der Krise erwartet werden:
"Im Kapitalismus hängt die Prosperität von einer beschleunigten Kapitalbildung ab, die allein die Marktnachfrage schaffen kann, welche ausreicht, um die produktiven Ressourcen zu nutzen." (Mattick, a.a.O., S. 160)
Eine Beschleunigung der Akkumulation wird jedoch durch den fiskalpolitischen Eingriff des Staates gerade nicht bewirkt, wie Mattick selbst betont. Ebensowenig führt der staatliche Eingriff zu einer Vermehrung der dem privaten Kapital verfügbaren Profitmasse. Im Gegenteil: Da die durch den Staat angeeigneten Produkte und Ressourcen aus dem Reproduktionsprozeß des Kapitals herausfallen, verringert sich der Anteil an dem gesamten Produktionspotential, der dem Kapital für die Zwecke der Akkumulation zur Verfügung steht; die Akkumulation wird relativ zum Gesamtkapital verlangsamt. Darüber hinaus müssen die zusätzlichen Staatsausgaben nach der Annahme Matticks aus dem privaten Mehrwert finanziert werden. Dadurch wird der für die Akkumulation ohnehin bereits zu geringe Mehrwert weiter reduziert. Auf dem Umweg über die Staatsausgaben fließt das abgezogene Geld zwar wiederum in den privaten Sektor zurück, jedoch nur zum Teil als Profit, da auch die Kosten für Löhne und Produktionsmittel der staatlich induzierten Produktion aus ihm finanziert werden müssen.

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Die Wirkung der Staatseingriffe beschränkt sich also auf zweierlei:
  1. Die "physische Produktion" wird vermehrt.
  2. Die Wertproduktion wird nicht vermehrt; es wird lediglich ein Teil des im privaten Sektor vorhandenen Mehrwerts in den staatlichen Sektor und von diesem wiederum zurück in den privaten transferiert, wobei eine Umverteilung des Mehrwerts zugunsten der in staatlichem Auftrag produzierenden Kapitalien stattfindet.
Es gilt also:
"Wie hoch immer die Profitraten sein mögen, je mehr vom gesellschaftlichen Gesamtkapital in nicht-profitabler Produktion beschäftigt ist, desto geringer ist der Gesamtprofit des Gesamtkapitals. Wenn der Gesamtprofit auch keinesfalls ohne staatliche Aufwendungen größer wäre, kann er doch nicht durch diese gesteigert werden. Von der größeren — sowohl profitablen als auch nichtprofitablen — Gesamtproduktion fällt nun ein Teil sozusagen in die Konsumsphäre und ein entsprechend kleinerer Teil kann als zusätzliches profitbringendes Kapital kapitalisiert werden." (Mattick, a.a.O., S. 171)
Vor dem staatlichen Eingriff war die Verwertung des Kapitals bereits ohne die Belastung durch einen zusätzlichen unproduktiven Sektor unzureichend. Mattick gibt auf diese Frage die folgende Antwort:
"Die Regierung steigert die ,effektive' Nachfrage durch Käufe von der Privatindustrie, die entweder durch Steuergelder oder durch Anleihen auf dem Kapitalmarkt finanziert werden. Insoweit sie ihre Ausgaben mit Steuergeldern bestreitet, transferiert sie nur Geld, das im privaten Sektor "gemacht" wurde, in den öffentlichen Sektor, was den Charakter der Produktion verändern mag, aber sie nicht notwendigerweise erweitert. Mit Hilfe von Anleihen und Defizitfinanzierung kann die Produktion jedoch erweitert werden. Kapital existiert entweder in ,liquider' Form, d. h. als Geld oder in ,fixer' Form, d. h. als Mittel und Material der Produktion. Das von der Regierung geliehene Geld setzt produktive Ressourcen in Tätigkeit. Diese befinden sich in privater Hand, müssen also, um als Kapital fungieren zu können, reproduziert und erweitert werden. Abschreibungen und Profite, die sich aus der vertraglichen Produktion für die Regierung ergeben, werden — da nicht auf dem Markt realisierbar — mit dem von der Regierung geliehenen Geld realisiert'." (Mattick, a.a.O., S. 163)
"Es ist offensichtlich, daß durch öffentliche Arbeiten und Produktion für Verschwendung Maschinerie, Materialien und Arbeitskräfte genutzt werden [176] können. Die Produktion wird generell gesteigert, da die Initiative der Regierung zusätzliche Märkte für alle Kapitale schafft, die an der Produktion von Gütern beteiligt sind, die in die staatlich induzierte Produktion eingehen, einschließlich der Konsumgüter für die in ihr beschäftigten Arbeiter." (Mattick, a.a.O., S. 165 f.)
Mit anderen Worten: Die Funktion der fiskalpolitischen Eingriffe besteht darin, die "effektive Nachfrage" zu steigern. Das geschieht einerseits dadurch, daß die Regierung durch zusätzliche Steuererhebungen brachliegendes, überschüssiges Geldkapital aus dem privaten Sektor abschöpft und damit zusätzliche Staatsaufträge finanziert. Dadurch wird dieses Geldkapital nachfragewirksam, obwohl es nicht mehr als Kapital fungieren, d. h. akkumuliert, in produktives Kapital rückverwandelt werden kann. Darüber hinaus wird durch die verschiedenen Techniken der Defizitfinanzierung zusätzliches Geld geschaffen, das ebenfalls in Form weiterer Staatsaufträge nachfragewirksam wird. Diese Eingriffe führen dazu, daß stilliegende Produktionsmittel, Produkte und Arbeitskräfte wieder in Funktion treten, ohne als Kapital zu wirken, d. h. Profit und Mehrwert zu produzieren. Die als Kapital nicht mehr realisierbaren Produktionsfaktoren werden über Staatsaufträge dennoch "realisiert". Sie schaffen jedoch keinen zusätzlichen Profit, sondern Gebrauchswerte, die zum überwiegenden Teil aus dem Reproduktionsprozeß des Kapitals ausscheiden und Verschwendungscharakter haben. So werden wohl "Produktion und Beschäftigung" gesteigert, nicht aber die Profitabilität des Kapitals, die sogar eher vermindert wird.
"... Aus praktischen Gründen ist das Wirtschaftssystem also ein "gemischtes", selbst wenn staatlich induzierte Produktion zum Gesamtprofit der gesellschafttlichen Gesamtproduktion nichts hinzufügen, sondern nur etwas davon abziehen kann." (Mattick, a.a.O., letzte Hervorhebung von mir. C. D., S. 186)
Diese Argumentation bleibt in zweierlei Hinsicht unklar.
  1. Erstens: Wie kann infolge der Staatseingriffe die "effektive Nachfrage" steigen, ohne daß zugleich auch der "Gesamtprofit der gesellschaftlichen Gesamtproduktion" steigt?
  2. Zweitens: Wenn der "Gesamtprofit der gesellschaftlichen Gesamtproduktion" tatsächlich nicht steigen sollte: Wie läßt sich dann der entscheidende Beitrag zur "Rettung des Kapitalismus" in der Nachkriegszeit erklären, den Mattick ohne Zweifel dem "gemischten Wirtschaftssystem" zuschreibt?*V.39
Mattick bleibt die

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Antwort auf die Frage schuldig, wie der fiskalpolitische Eingriff im Rahmen nach wie vor kapitalistischer Produktionsverhältnisse Die wirtschaftliche Expansion der Nachkriegszeit aus dem bloßen Wachstum von Produktion und Beschäftigung zu erklären hieße den Kapitalismus als ein System zu betrachten, in dem "nicht länger der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert herrscht", wie Mattick an anderer Stelle mit Recht bemerkt. Eine solche These würde implizieren, daß ein Fortschritt der Produktivkräfte und des Lebensstandards trotz und gerade wegen der sinkenden Profitabilität des Kapitals möglich ist: Die Entwicklung der Produktivkräfte hätte sich dank der Keynes'schen Politik aus den Schranken des Kapitals emanzipiert. Mattick will mit seiner Argumentation aber gerade das Umgekehrte nachweisen: Er will zeigen, daß die "staatlich induzierte Produktion" sich im Rahmen und auf der Basis einer vom Tauschwert beherrschten Produktion entwickelt, innerhalb dieser eine lediglich subsidiäre Funktion erfüllt und an deren Grenzen gebunden bleibt. Es gelingt ihm jedoch nicht, diese subsidiäre Funktion einsichtig zu machen.

Mattick sieht sich deshalb gezwungen, seine ursprüngliche Behauptung — daß der fiskalpolitische Eingriff nicht zu einer Profitsteigerung führen könne — stillschweigend zurückzunehmen. Diese Rücknahme tritt in mehreren Versionen auf. Einerseits führt er unvermittelt und in völliger Umkehr seiner vorherigen Argumentation eine Theorie der überschüssigen Profite ein, die unerwartete Ähnlichkeit mit der Theorie Baran/Sweezys und Keynes' zeigt. Die Verwertung des Kapitals, so heißt es nunmehr, reiche nicht nur aus, um die Akkumulation des verbliebenen privaten Sektors, sondern darüber hinaus einen zusätzlichen parasitären staatlichen Sektor zu tragen. "Dieser Produktionstyp", so führt er über die staatlich induzierte Produktion aus,
"ist nicht nur nicht profitabel, er wird auch durch denjenigen Teil der gesellschaftlichen Gesamtproduktion möglich gemacht, der noch genügend profitabel ist und genug Steuern erbringt, um die staatlich induzierte Produktion auszudehnen. Mit sinkender Profitabilität wird es immer schwieriger, die Produktion auf diese Weise auszudehnen." (Mattick, a.a.O., S. 173)

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Wie der private Sektor die staatlich induzierte Produktion tragen und finanzieren kann, nachdem die Profit- und Akkumulationsrate vorher sogar zu niedrig war, um diesen selbst zu tragen: Darauf gibt Mattick keine Antwort. Nachdem er zunächst die Ausdehnung der staatlich induzierten Produktion als Folge der Krise hingestellt hatte, so wird sie nunmehr deren Ursache. Der Versuch Matticks, aus diesen beiden unvereinbaren Thesen einen "circulus vitiosus" des gemischten Wirtschaftssystems zu konstruieren, kann nicht überzeugen.

Andererseits sucht Mattick Zuflucht zu der These, daß die Defizitfinanzierung trotz ihres prinzipiell unproduktiven Charakters zu einer Steigerung der Profite und zu einer Beschleunigung der Akkumulation beitragen könne. In der Passage, wo Mattick den Keynes'schen Multiplikatoreffekt diskutiert, heißt es zunächst:
"Mit der Annahme, daß die Gesamtsumme der folgenden Einkommenssteigerungen größer ist als der Gesamtbetrag des deficit-spending, erzeugt der Begriff des Multiplikators die Illusion, daß irgendein gegebener Betrag zusätzlichen Einkommens sich durch bloßes Wandern von einer Einkommensgruppe zur anderen multiplizieren kann." (Mattick, a.a.O., S. 170 f.)
Wenig später führt Mattick aber aus:
"Obwohl die Defizitfinanzierung der nichtprofitablen Produktion nur die wirtschaftliche Aktivität des Gesamtkapitals steigert, beeinflußt sie die Profitabilität solcher Einzelkapitale, die an der staatlich induzierten Produktion teilnehmen, und erlaubt die Akkumulation zinstragender Forderungen an den Staat. Das kann ein geschäftliches Klima schaffen, das der Wiederaufnahme privater Kapitalinvestitionen günstiger ist. ... Da die Defizitfinanzierung die Arbeitslosigkeit vermindert und die Produktion steigert, kann sie unter besonderen Bedingungen eine Beschleunigung der privaten Investitionen herbeiführen. Wenn dies der Fall sein sollte, würde das Gesamteinkommen um mehr als das vergrößert, was durch deficit spending verursacht ist; doch wäre diese ´Multiplikation' eine direkte Folge der zusätzlichen profitablen Produktion, nicht der anfänglichen Ausgabe." (Mattick, a.a.O., S. 170 f.)
Mattick gibt also keine klare Antwort auf die Frage, ob die Defizitfinanzierung zu zusätzlicher profitabler Produktion führt und somit ein Multiplikatoreffekt existiert oder nicht. Seine theoretische Argumentation führt ihn zunächst dahin, multiplikative Wirkungen defizitär finanzierter Staatsausgaben zu bestreiten. Nunmehr argumentiert Mattick, daß ein solcher Multiplikatoreffekt unter nicht näher präzisierten "besonderen Bedingungen" dennoch existieren könne. Seine Unsicherheit drückt sich in den subjektivistischen Formulierungen aus, die Mattick an dieser Stelle verwendet. Allerdings wird diese

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Unklarheit in dem folgenden Kapitel aufgehellt, in dem Mattick den Zusammenhang zwischen Defizitfinanzierung und Inflation untersucht. Mattick vertritt hier die These, daß die Defizitfinanzierung notwendigerweise Inflation zur Folge haben müsse. Er nimmt damit mit der liberalen Ökonomie Partei gegen die Keynes'sche Position:
"Es wird allgemein angenommen, daß Staatsausgaben bei Vollbeschäftigung inflationäre Wirkungen haben, weil sie die Geldmenge im Verhältnis zur Menge produzierter Waren steigern. Es heißt, daß dies unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit und ungenutzten Ressourcen nicht der Fall ist, weil Staatsausgaben dann die unzureichende Nachfrage erweitern, ohne auf das Angebot Druck auszuüben. Unter solchen Bedingungen müßten die Staatsausgaben nicht inflationär wirken. Da kompensatorische Ausgaben jedoch bei Vollbeschäftigung nicht notwendig sind, brauchen wir den ersten Fall nicht berücksichtigen. Im zweiten Fall beruht die Argumentation offensichtlich auf einem falschen Verständnis der kapitalistischen Wirtschaftsweise." (Mattick, a.a.O., S. 197)
Kurz gefaßt lautet die Mattick'sche Argumentation folgendermaßen: Finanziert die Regierung in der Depression zusätzliche Staatsausgaben durch Steuern, so schöpft sie "brachliegendes" Geldkapital ab und transformiert es in "effektive Nachfrage". Dadurch wird die effektive Nachfrage der vorhandenen Produktion angepaßt, diese jedoch nicht erweitert. Über die Defizitfinanzierung wird jedoch zusätzliches Geld geschaffen, das im Gegensatz zu Steuern nicht bereits produzierten und realisierten Mehrwert verkörpert. Indem der Staat das zusätzliche Geld in die Zirkulation wirft, wird die Nachfrage über das im privaten Sektor erzeugte Geldkapital hinaus gesteigert und dadurch zusätzliche Produktion induziert. Weil es sich dabei jedoch überwiegend um Verschwendungsproduktion handelt, die nicht als Tauschwert auf dem Markt wiedererscheint, steht der durch Defizitfinanzierung geschaffenenen zusätzlichen Nachfrage wohl eine zusätzliche physische Produktion, nicht aber ein vermehrtes Angebot gegenüber: Die Defizitfinanzierung muß also zur Inflation führen.

Die Inflation wirkt sich jedoch in zweierlei Hinsicht positiv auf die Kapitalakkumulation aus. Sie führt erstens zu einer Senkung der Reallöhne, verbessert dadurch die Ausbeutungsrate und damit die Verwertungsbedingungen des Kapitals. Zweitens erzeugt sie bei den in staatlichem Auftrag funktionierenden Kapitalien Scheinprofite, die die Illusion einer neuen "Prosperität" hervorrufen:
"Die Preise werden also erhöht, um die üblichen Profite zu sichern, und die Preissteigerung macht zusätzliches Geld notwendig. Ohne dieses zusätzliche [180] Geld würde der Fall der durchschnittlichen Profitrate, der aus dem Anwachsen der staatlich induzierten Produktion folgt, zu einem weiteren Rückgang der privaten Kapitalproduktion führen; er würde somit in einem gewissen und möglicherweise entscheidenden Maße die durch staatlich induzierte Nachfrage gesteigerte Wirtschaftstätigkeit wieder herabsetzen. Durch kontinuierliche Steigerung der Geldzufuhr muß also ein kontinuierlicher Preisanstieg ermöglicht werden. Nicht der Druck einer gesteigerten Nachfrage auf ein durch staatlich induzierte Produktion verursachtes Angebot führt zur Inflation. Vielmehr ist Inflation ein Mittel, um den nicht-profitablen Charakter der staatlich induzierten Produktion seine partielle Kompensation in höheren Preisen finden zu lassen." (Mattick, a.a.O., S. 197)
Das Erfolgsgeheimnis des Keynesianismus, so wie Mattick es schließlich definiert, lautet also: Inflation. Die "Profite", die die staatlich induzierte Produktion ermöglicht, entstehen aus Preissteigerungen und diese werden ihrerseits durch die Defizitfinanzierung ermöglicht. Sie können nur bei einem kontinuierlichen Fortgang der Defizitfinanzierung und der säkularen Inflation aufrechterhalten werden.

Diese Theorie von dem notwendig inflationären Charakter der in der staatlich induzierten Produktion erzielten Profite ist wenig überzeugend und dürfte kaum ausreichen, um die relative Kontinuität des wirtschaftlichen Wachstums in der Nachkriegszeit zu erklären. Die "säkulare Inflation" ist eine Tatsache; sie hätte jedoch, würde die These Matticks zutreffen, weitaus früher sehr viel größere Ausmaße annehmen müssen als es faktisch der Fall war. Die Schwäche der Mattick'schen Argumentation ist auf ihre sachlich falschen Voraussetzungen zurückzuführen: auf die implizierte statische Theorie der Geldzirkulation, die Mattick von Grossmann übernommen hat.

Die These von dem notwendig inflationären Charakter der staatlichen Defizitfinanzierung übersieht, daß das Ausbleiben kreditfinanzierter Staatsaufträge bei gleichzeitig fehlender oder unzureichender privater Kreditexpansion — was in der Depression der Fall ist — keine Stabilität des Preisniveaus, sondern Deflation zur Folge haben würde. Diese Deflation würde selbst dann eintreten, wenn der gesamte, aus Verkäufen realisierte Mehrwert in produktives Kapital rückverwandelt würde. Die Akkumulation setzt also keineswegs nur bei "wachsender Bevölkerung, wachsender Produktion und Produktivität", wie Mattick formuliert (a.a.O., S. 333), sondern jederzeit und unter allen Umständen eine kontinuierliche Expansion des Geldvolumens voraus, die unter "normalen" Bedingungen durch den Mechanismus der privaten Kreditexpansion zustandekommt, infolge des sich

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durchsetzenden säkularen Falls der Profitrate jedoch immer mehr durch die staatliche Defizitfinanzierung übernommen werden muß. Diese "schafft" dadurch zwar keinen Mehrwert, wohl aber ermöglicht sie seine "Realisierung", ohne notwendigerweise inflationär zu sein. Allerdings wird der Versuch, mit fiskalpolitischen Mitteln bei weiter abnehmender Rate der Kapitalverwertung ein gegebenes Niveau der Profitrate zu stabilisieren, zunehmend inflationäre Konsequenzen haben. Das sind die Kernthesen der im folgenden vorgeschlagenen Präzisierung der Mattick'schen Erklärung der Funktion der fiskalpolitischen Eingriffe.

d) Das Problem der ´Produktivität´ der Staatsausgaben

"Wenn sie ihr Geld durch die Aufträge des Staates zurückbekommen, versorgen die Kapitalisten dafür den Staat mit einer äquivalenten Menge von Produkten. Diese Produktmenge »expropriiert« der Staat. Ihr Umfang bestimmt das Maß, zu dem die Produktion nicht mehr Kapitalproduktion ist; das Anwachsen der Produktion mittels Besteuerung zeigt den Niedergang des Kapitalismus als profitbestimmtem privatwirtschaftlichen System an." (Mattick, a.a.O.)
Diese These Matticks von dem nichtkapitalistischen Charakter der durch Staatsausgaben finanzierten Produktion wurde bisher stillschweigend als gültig unterstellt. Sie ist jedoch innerhalb der marxistischen Diskussion umstritten. Bei dieser Kontroverse geht es um die Frage, ob der Marx'sche Begriff der "produktiven Arbeit" auch auf die in Staatsauftrag produzierenden Kapitalien angewandt werden muß, ob also die staatlich induzierte Produktion nicht nur als "physische Produktion", sondern als Teil des Gesamtkapitals zu betrachten ist. Eine Reihe von marxistischen Autoren — zuletzt Mandel in seinem Buch "Der Spätkapitalismus" — glauben, diese Frage mit dem Hinweis auf die Gemeinsamkeiten der staatlich induzierten und der privaten Produktion beantworten zu können: Wie das private beschäftigt das in staatlichem Auftrag produzierende Kapital Lohnarbeiter mit dem Ziel, aus dem Verkauf der produzierten Waren einen Profit realisieren zu können. Mandel folgert daraus, daß die Kategorie der "produktiven", d. h. Mehrwert produzierenden Arbeit auch auf die staatlich induzierte Produktion angewandt werden müsse:
"... Wenn nun diese 60 000 allmählich in der Abteilung III angelegt werden (d. h. in der staatlich induzierten "Verschwendungsproduktion" C. D.) und selbst den Durchschnittsprofit von 33 % erzielen (d. h. so viele Arbeiter in Bewegung setzen, daß die Mehrwertmasse mit 20.000 erhöht wird), so [182] findet, vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen, eine Wirtschaftsexpansion statt. Das totale angelegte Kapital hat sich vergrößert. Die produzierte Mehrwertmenge ist angewachsen. Die Beschäftigung ist gestiegen. Das Nationaleinkommen ist höher als zuvor." (Mandel 1972, S. 273 f.)
Bei dieser Auffassung glaubt Mandel, sich auf die Marx'schen Definitionen der "produktiven" und "unproduktiven" Arbeit berufen zu können. In seiner Auseinandersetzung mit A. Smith hatte Marx definiert:
"Produktive Arbeit im Sinn der kapitalistischen Produktion ist die Lohnarbeit, die im Austausch gegen den variablen Teil des Kapitals (den in Salair ausgelegten Teil des Kapitals) nicht nur diesen Teil des Kapitals reproduziert (oder den Wert ihres eigenen Arbeitsvermögens), sondern außerdem Mehrwert für den Kapitalisten produziert. Nur dadurch wird Ware oder Geld in Kapital verwandelt, als Kapital produziert. Nur die Lohnarbeit ist produktiv, die Kapital produziert." (Theorien über den Mehrwert I, S. 122)
Präzisierend betont Marx im folgenden die Indifferenz des produktiven Charakters der Arbeit gegenüber ihrem materiellen Gebrauchswert: Auch Dienstleistungen sind produktiv, sofern sie im Auftrag eines Kapitalisten verrichtet werden*V.40 . Die gleiche Konsequenz muß nach Mandel auch für die staatliche Verschwendungsproduktion gezogen werden:
"Für Marx ist die abstrakte Arbeit wertschaffend, d. h. die Arbeit, die, unabhängig vom spezifischen Gebrauchswert, den sie erzeugt, als Teil des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens eine Ware produziert, welche auf dem Markt ein Äquivalent findet, d. h. ein gesellschaftliches Bedürfnis erfüllt. Ob dieses ein Bedürfnis der Arbeiter oder der Kapitalisten, des Staates oder nichtkapitalistischer Produzenten ist, bleibt vom Standpunkt der Wertbildung vollkommen gleichgültig." (Mandel, a.a.O., S. 276)*V.41

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Mandel übersieht freilich, daß diese Argumentation nur aus der Perspektive des einzelnen Kapitals als überzeugend erscheinen kann. Vom Gesamtkapital aus betrachtet besteht die charakteristische Differenz der staatlich induzierten gegenüber der privaten Produktion jedoch darin, daß ihre Erzeugnisse nicht mehr erneut als Elemente des konstanten oder variablen Kapitals in die Produktion eingehen. Die Produkte der Abteilung III in Mandels Schema scheiden im Unterschied zu denen der beiden anderen Abteilungen aus dem Reproduktionsprozeß des Gesamtkapitals aus und werden unproduktiv konsumiert. Ihr "Wert" wird nicht in einem neuen Produktionsprozeß erhalten und weiter verwertet; er wird nicht realisiert, sondern in dieser unproduktiven Konsumption vernichtet. Er kann deshalb nicht in die Geldform rücktransformiert und folglich nicht aus sich selbst reproduziert werden. Er ist somit nur aus dem von anderen Kapitalien geschaffenen Wert reproduzierbar. Wie Mandel selbst bemerkt:
"D. h. der Wert der in Abteilung III produzierten Waren muß vollständig durch Abzüge des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts und des gesamtgesellschaftlichen Arbeitslohnes bestritten werden." (ebda.)
Wie verträgt sich diese Feststellung, daß der Wert der in Abteilung III produzierten Waren aus dem gesamtgesellschaftlichen Mehrwert bestritten werden muß mit der Behauptung, daß in dieser Abteilung selbst Wert und Mehrwert produziert werden? Wäre dies tatsächlich der Fall, so könnte die Produktion der Abteilung III ebensowenig als ein "Abzug" von der gesellschaftlichen Wertsumme gelten wie die der Abteilungen II und I. Offensichtlich liegt hier ein Irrtum Mandels vor: Indem er fälschlicherweise den an den Staat transferierten Teil des Mehrwerts der Sektoren I und II doppelt zählt — als Mehrwert dieses Sektors und als Erlös der Empfänger der Staatsaufträge —, gelangt er zu der Vorstellung, der Sektor III könne als wertbildend und produktiv betrachtet werden.

Gesellschaftlich betrachtet ist der produktive Charakter der Arbeit keineswegs indifferent gegenüber ihrem Gebrauchswert. Aus der Perspektive des einzelnen Produzenten der Abteilung III mag es scheinen, als "realisiere" sich der Wert ihrer Waren, als sei die von ihnen beschäftigte Arbeit produktive Arbeit. Dessenungeachtet bedeutet die Rüstungsproduktion für das Kapital als Ganzes nicht minder Unkosten als die Dienstleistung für den individuellen Kapitalisten: die "Profite" der Kapitalisten der Abteilung III resultieren nicht aus der von ihnen be-

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schäftigten Lohnarbeit, sondern werden aus den Profiten anderer Kapitalien finanziert. Wie Waren werden die Produkte der Rüstungsindustrie von Lohnarbeitern produziert, die über die für ihren Unterhalt gesellschaftlich notwendige Arbeit hinaus Mehrarbeit leisten. Die spezifische stoffliche Bestimmtheit ihrer Arbeit schließt jedoch aus, daß ihre Arbeit als Bestandteil des gesellschaftlichen Kapitals realisiert werden kann und dadurch zur gesellschaftlichen Wert- und Mehrwertproduktion beiträgt.

"Produktive Arbeit" ist, wie Marx betonte, Arbeit, die nicht allein Tauschwerte, sondern Kapital produziert. Der von ihr produzierte Wert ist kein Fixum, sondern gewinnt seine Bestimmung darin, daß er zu einem Moment des Prozesses der Kapitalverwertung wird. Dieser Prozeß schließt den ständigen Kreislauf der verschiedenen "Metamorphosen" des Werts: Geldkapital, produktives Kapital, Warenkapital ein, in denen der Wert sich als Kapital realisiert. Obwohl zwischen gebrauchswert- und tauschwertproduzierender Arbeit eine substantielle Differenz besteht, ist dennoch dieser Formwandel des Werts an bestimmte stoffliche Eigenschaften der Produkte geknüpft. Um sich als Kapital realisieren zu können, muß die Arbeit sich auch stofflich als Glied der Gesamtarbeit realisieren, d. h. sie muß im materiellen Sinne reproduktiv sein. Arbeitsprodukte, die nicht als Elemente eines neuen Produktionsprozesses (der menschlichen oder sachlichen Produktionsfaktoren) fungieren können wie Waffen oder Luxusgüter, fallen stofflich aus dem System der Gesamtarbeit heraus und können deshalb auch nicht als Kapital fungieren. Produktive Arbeit kann deshalb — aus der Perspektive des Gesamtkapitals betrachtet — nur reproduktive Arbeit sein*V.42 .

Aus dieser gesellschaftlichen Perspektive muß auch das Problem der "Produktivität" der staatlichen Infrastrukturinvestitionen und Staatsunternehmen betrachtet werden, die im materiellen Sinne reproduktiv sind, ohne profitabel zu sein. Die Funktion dieser Investitionen muß im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Durchschnittsprofitrate analysiert werden. In der vorangegangenen Diskussion des Problems der Wert-Preis-Transformation war bereits darauf hingewiesen worden, daß die Ausgleichung der individuellen Profitraten zu einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate zu einer Verzerrung der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit in Rela-

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tion zu der durch die kapitalistische Bedarfsstruktur (der Produktion von Mehrwert) gegebenen Notwendigkeiten führt. Aus den Produktionszweigen mit hoher organischer Zusammensetzung fließen Kapital und Arbeitskräftte ab und strömen in die höhere Profite versprechenden Produktionszweige mit unterdurchschnittlicher organischer Zusammensetzung. In den erstgenannten Produktionszweigen wird damit faktisch weniger, in den letztgenannten mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verwendet, was seinen Niederschlag in entsprechenden Abweichungstendenzen der Preise von den Werten findet. Der Abfluß von Kapital und Arbeitskräften aus Produktionssphären mit hohem Anteil von konstantem Kapital, insbesondere bei Infrastrukturinvestitionen, aber auch bei bestimmten Abteilungen der Schwerindustrie, kann solche Ausmaße annehmen, daß fühlbare Disproportionalitäten in der Produktionsstruktur eintreten. Daraus ergibt sich die Funktion der Verstaatlichung der betreffenden Produktionssphären.

Die Verstaatlichung bewirkt zweierlei: Die Verstaatlichung kann also unter die der fallenden Tendenz der Durchschnittsprofitrate entgegenwirkenden Faktoren gezählt werden. Je mehr sich diese Tendenz durchsetzt, desto mehr Produktionssphären fallen in den "kritischen" Bereich hoher organischer Zusammensetzung und werden reif für die Verstaatlichung (was nicht ausschließt, daß diese in einzelnen Fällen wieder rückgängig gemacht werden kann). Der Druck, den die wachsende Last des fixen Kapitals

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auf die Durchschnittsprofitrate ausübt, kann dadurch vorübergehend abgemildert werden.

Im Unterschied zu den Dienstleistungen und dem Rüstungssektor erfüllt ein großer Teil der in dem verstaatlichten Sektor aufgewendeten Arbeit im materiellen Sinne reproduktive Funktionen. Vom Standpunkt der Verwertung ist sie jedoch nicht produktiv; sie stellt für das private Kapital notwendige Leistungen und Produkte als Gebrauchswerte bereit, die in der Rechnung des privaten Sektors lediglich als Unkosten (bzw. in der Form von Steuern, mit denen die staatlichen Leistungen bezahlt werden müssen) auftreten. Der größte Teil des verstaatlichten Sektors bildet im materiellen Sinne einen Teil des gesellschaftlichen fixen Kapitals, jedoch nicht im wertmäßigen. Die für die Infrastruktur aufzubringenden Kosten bilden jedoch notwendige und für die Aufrechterhaltung der materiellen Reproduktion des Kapitals unentbehrliche Aufwendungen, die ohne die Existenz des staatlichen Sektors unmittelbar als Kosten für konstantes Kapital erscheinen würden. Die maximale Ausbeutung der im staatlichen Sektor beschäftigten Arbeitskraft senkt diese Kosten und trägt dadurch zwar nicht direkt, wohl aber indirekt zu einer Steigerung der Profit- und Akkumulationsrate des privaten Sektors bei. Die qualitative Differenz, die auf den ersten Blick zwischen dem auf den Profit gerichteten privaten und auf den Gebrauchswert gerichteten staatlichen Sektor besteht, täuscht über die lediglich funktionelle Stellung des letzteren innerhalb des kapitalistischen Gesamtsystems hinweg.

e) Defizitfinanzierung und Realisierungsproblem

Gleichgültig, ob die Staatsausgaben aus Steuern oder Defiziten finanziert werden: Mattick zufolge repräsentieren die vom Staat verausgabten Gelder stets einen Teil des vorher im privaten Sektor produzierten und realisierten Mehrwerts. Mit der Defizitfinanzierung kann zwar darüber hinaus zusätzliches Geld geschaffen werden, allein ändert sich dadurch nur der monetäre Ausdruck der schon vorhandenen Wertsumme.
"Die Kosten der staatlich induzierten Produktion und die Profite, die den privatkapitalistischen Zulieferern zufließen, werden aus Steuern oder geliehenem Geld bezahlt, d. h. aus Fonds, die aus dem kapitalistischen Privatsektor stammen. . . ." (Mattick, a.a.O., S. 129)

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"Die staatlich induzierte Investition fällt nicht vom Himmel, sondern repräsentiert Warenwerte in Geldform, die für andere Waren ausgetauscht werden sollen. Wenn die Regierung eine Milliarde Dollar ausgibt, so ist dieser Betrag entweder in Form von Steuern gesammelt oder auf dem Kapitalmarkt geliehen worden. In jedem Fall stellt er das Äquivalent schon vorher produzierter Warenwerte dar." (Mattick, a.a.O., S. 170)
Diese Argumentation übersieht den qualitativen Unterschied, der zwischen der Finanzierung der Staatsausgaben durch Steuern und durch Kreditaufnahme besteht. Die Waren, auf die sich die staatliche Nachfrage richtet, repräsentieren stets potentiellen, in Warenkapital verkörperten Mehrwert des privaten Sektors. Das ist jedoch bei den vom Staat verausgabten Geldsummen keineswegs notwendigerweise der Fall. Hier besteht vielmehr ein entscheidender Unterschied zwischen Steuern und Anleihen: Nur bei Steuern handelt es sich um einen Abzug von den "Fonds, die aus dem kapitalistischen Privatsektor entstammen", d. h. von dem bereits realisierten Mehrwert des privaten Sektors. Das Geld, das auf dem Wege der Defizitfinanzierung in die Wirtschaft fließt, repräsentiert jedoch (vorausgesetzt, die Staatsverschuldung wird nicht über den privaten Kapitalmarkt finanziert) keineswegs bereits realisierten Mehrwert, sondern stellt Kreditgeld dar, das durch Geldschöpfung der Banken oder des Staates entstehen kann. Dieses Geld ist nicht wie Steuern durch vorangegangene Verkäufe der Kapitalisten vermittelt, sondern tritt neu in die Zirkulation ein. Es repräsentiert also keineswegs "Warenwerte in Geldform, die gegen andere Waren ausgetauscht werden sollen", sondern stellt neugeschaffenes Geld dar, das dazu dienen soll, den in Warenform vorhandenen, aber kapitalistisch nicht mehr realisierbaren Mehrwert dennoch zu "realisieren".

Das Geldkapital ist die ursprüngliche Form, in der das industrielle Kapital in die Zirkulation eintritt. Im Gegensatz dazu betritt der Mehrwert originär in der Form des Warenkapitals die Zirkulation. Um ihn zu realisieren muß folglich eine Geldsumme in der Zirkulation vorhanden sein, die die Größe des ursprünglich vorgeschossenen Geldkapitals übersteigt. Ein Teil dieses Geldes muß also neu und zusätzlich in die Zirkulation gelangt sein. Das kann (von der Möglichkeit zusätzlicher Goldproduktion abgesehen) nur auf dem Wege der Kreditgeldschöpfung geschehen. Dieses zusätzliche Geld braucht, soweit es als Zirkulationsmittel fungiert, selbst keinen Wert zu verkörpern. Es dient lediglich dazu, den in Warenform vorhandenen neugeschaffenen

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Mehrwert zu realisieren, d. h. seine Transformation in produktives Kapital zu vermitteln. Unter den Bedingungen der Prosperität findet die zur Zirkulation des Mehrwerts erforderliche Kreditgeldschöpfung "spontan" statt. Bei hohen Profitraten beschränkt sich das private Kapital nicht darauf, den bereits realisierten Mehrwert zu akkumulieren, sondern nimmt kurz- und langfristige Kredite in Anspruch, um zusätzliche Neuanlagen zu finanzieren. Um diesen Tatbestand zu bezeichnen, soll im folgenden der Begriff der "potenzierten Akkumulation" eingeführt werden.

Die potenzierte Akkumulation sichert die zur Realisierung (d. h. seiner Umwandlung in produktives Kapital) erforderliche Expansion der Nachfrage und damit zugleich der Geldmenge bzw. der Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes. Durch die Realisation des Mehrwerts verwandelt sich das neu in die Zirkulation gelangende Geld fortlaufend in zusätzliches produktives Kapital, das neben die bereits vorhandenen und akkumulierenden Kapitalien tritt. Das in der Kapitalzirkulation jederzeit implizierte Realisierungsproblem wird auf diese Weise latent gehalten und so kann der Eindruck von der Wirksamkeit des Say'schen Gesetzes entstehen. Der Fall der Durchschnittsprofitrate läßt die Fremdfinanzierung (obwohl er sie auf dem Höhepunkt des Booms zunächst stimuliert) notwendigerweise zurückgehen. Mit weiterem Sinken der Profitrate wird der Zusammenhang zwischen Produktion und Realisierung des Mehrwerts schließlich zerschnitten: Wenn die durch neue Investitionen zu erzielende Profitrate nicht oder nur unwesentlich höher ist als der Zinssatz, so findet die zur Realisierung des Mehrwerts nötige Expansion der Nachfrage nicht (oder nicht mehr ausreichend) statt.

Wenn in einer solchen Situation der Staat durch zusätzliche kreditfinanzierte Ausgaben eingreift, so ist er keineswegs genötigt, den in Geldform vorhandenen Mehrwert des privaten Sektors an sich zu ziehen, wie Mattick offenbar annimmt. Mit dem neugeschaffenen Geld eignet er sich vielmehr in Warenform vorhandenen, jedoch kapitalistisch nicht mehr realisierbaren und daher nur potentiellen Mehrwert an, um ihn unproduktiv zu konsumieren. Nur in diesem Sinne kann von einer "Enteignung" des privaten Kapitals gesprochen werden.

Gleichzeitig wirft der Staat das zur Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation notwendige zusätzliche Geld in die Zirkulation. Das setzt entsprechende Finanzierungsformen der Staatsverschuldung voraus (also keine Finanzierung über den privaten Kapitalmarkt, wo das

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Risiko besteht, daß das Geldkapital der privaten Akkumulation entzogen wird). Eine solche staatliche oder staatlich induzierte Geldschöpfung ist keineswegs notwendigerweise inflationär. Der Staat übernimmt nur die Funktion eines Trägers der für die Kapitalakkumulation stets unabdingbaren Kreditgeldexpansion, die unter Prosperitätsbedingungen automatisch durch das private Kapital selbst wahrgenommen wird. Die defizitär finanzierten staatlichen Investitionen treten also gleichsam an die Stelle der durch zusätzlichen Kredit finanzierten privaten Investitionen. Die potenzierte Akkumulation wird auf die durch staatliches Geld garantierte "einfache Akkumulation" der vorhandenen Kapitalien reduziert.

Während die privat induzierte Geldexpansion lediglich der passive Reflex der Kapitalverwertung ist und das zusätzlich geschaffene Geld als bloßes monetäres Vehikel der Transformation des Mehrwerts in produktives Kapital fungiert, ist die staatlich induzierte Geldschöpfung vom Profitziel unabhängig, und kann deshalb gerade bei unzureichender Kapitalverwertung expandieren. Die durch den Staat angeeigneten Produkte werden mit wenigen Ausnahmen nicht in produktives Kapital rückverwandelt und fallen aus dem Kreislauf des industriellen Kapitals heraus. Diese "Enteignung" des privaten Kapitals ist eine Enteignung von Waren, nicht von Geld; ihre Funktion besteht gerade darin, das zur Aufrechterhaltung der Akkumulation notwendige zusätzliche Geld in die Zirkulation einzuschleusen. Nur zur Finanzierung der Zinsen auf die Staatsschuld (und im Fall ihrer definitiven Rückzahlung), die nur aus den Steuereinnahmen erfolgen kann, muß der Staat auf die im Privatbesitz befindlichen Gelder zurückgreifen, wodurch diese jedoch nur innerhalb des privaten Sektors umverteilt werden.

Für die Staatsschuld sollen keine kommerziellen Kriterien mehr gelten, sondern gesamtwirtschaftliche. Ein Ausgleich des Budgets soll nicht mehr als unabdingbares und oberstes Prinzip der staatlichen Haushaltsführung gelten, sondern diese soll sich an den Erfordernissen des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" orientieren. Der Sinn der keynesianischen "Revolution" der Finanzpolitik ist also: Die kategorische Forderung nach einem Ausgleich des Budgets ist unrealistisch, da sie kurz- wie langfristig eine untragbare Belastung der Akkumulationsfähigkeit des privaten Kapitals implizieren würde. Ein Trend zu wachsender Staatsverschuldung muß im Interesse des "Überlebens" der Marktwirtschaft in Kauf genommen werden. Das Prinzip des

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Budgetausgleichs wird aufgegeben, um die Unabhängigkeit der staatlichen Nachfrage von den von der privaten Mehrwertproduktion abhängigen Steuereinnahmen herzustellen. Das übersieht Mattick, wenn er auf der These insistiert, daß alle Staatsausgaben aus dem privaten Mehrwert finanziert werden müssen.

Der soeben skizzierte Mechanismus des fiskalpolitischen Eingriffs kann deutlicher und genauer anhand eines Modells dargestellt werden. Dazu soll eine abgewandelte Fassung der Marx'schen Reproduktionsschemata dienen, die nicht nur die Austauschbeziehungen zwischen den beiden Sektoren der gesellschaftlichen Produktion in allgemeiner Weise nachzeichnet, sondern außerdem die verschiedenen Formwandlungen des Werts berücksichtigt. Denn nur aufgrund einer solchen Betrachtungsweise gerät das im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Problem der Geldzirkulation und der Realisierung des Mehrwerts überhaupt in den Griff der Analyse*V.43 .

Das gesellschaftliche Gesamtkapital liegt ebenso wie das in den beiden Abteilungen der Produktion angelegte Kapital in jedem Augenblick nicht nur in Form des Warenkapitals — wie es die Marx'schen Reproduktionsschemata darstellen —, sondern in drei Formen vor: Geldkapital, Warenkapital und produktives Kapital. In dynamischer Betrachtung gehen ferner diese Elemente des Kapitals ununterbrochen von jeder dieser Formen in die andere über. Dieser Sachverhalt soll in der folgenden Darstellung des Reproduktionsprozesses des Gesamtkapitals berücksichtigt werden.

Das Konstruktionsprinzip der modifizierten Reproduktionsschemata ist folgendes: Gegeben ist ein beliebiges gesellschaftliches Gesamtkapital in einer gegebenen Produktionsperiode, das sich in die Abteilungen I und II untergliedert. Das Kapital in diesen beiden Abteilungen existiert in drei Formen: Warenkapital — wobei die Größe des Warenkapitals = der Summe der in der betreffenden Produktionsperiode getätigten Verkäufe plus dem Gesamtwert eventuell unverkäuflich bleibender Warenvorräte ist; Geldkapital — wobei die Größe des Geldkapitals = der Summe der in der betreffenden Periode getätigten

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Käufe ist; und schließlich der Form des produktiven Kapitals. (W = Warenkapital, G = Geldkapital, P = produktives Kapital).

Für beide Abteilungen wird eine gleiche durchschnittliche Wertzusammensetzung des Kapitals angenommen (c : v : m) (W), die sich im folgenden Zahlenbeispiel wie 2:1:1 verhalten soll. Die Mehrwertrate beträgt also 100 %. Das Geldkapital wird ebenfalls in einer bestimmten durchschnittlichen Proportion für den Ankauf von produktivem Kapital vorgeschossen bzw. als Revenue verausgabt (c : v : r) (G). Diese Proportion beträgt in dem vorliegenden Beispiel 2,5:1,25:0,25. Der Mehrwert wird also zu 75 % akkumuliert, wobei sich der akkumulierte Mehrwert analog der organischen Zusammensetzung des Kapitals wie 2:1 auf konstantes und variables Kapital verteilt. Das Wachstum der organischen Zusammensetzung wird also in den folgenden Schemata, die nur kurzfristige Perioden betrachten, ausgeklammert. Innerhalb jeder Produktionsperiode tauscht sich das in beiden Abteilungen vorhandene Geldkapital gegen das Warenkapital in beiden Abteilungen aus, während das im Produktionsprozeß befindliche Kapital diesen durchläuft (was mit [P] angedeutet wird) und in der jeweils folgenden Periode in der Form des Warenkapitals vorliegt. Dabei soll eine Gleichheit der Umschlagszeiten aller Kapitalien angenommen werden. Schema der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals:

Die Kapitaliengruppe 1. ist diejenige Gruppe in Abt. I, die in der Periode t1 — t2 als Verkäufer auftritt, die Kapitaliengruppe 2. diejenige der Abteilung II, die in der gleichen Periode als Käufer auftritt. Analoges gilt für die Kapitalgruppe 3. und 4. Die Kapitalgruppen 5. und 6. sind diejenigen Gruppen beider Abteilungen, die während der Periode t1 — t2 den Produktionsprozeß durchlaufen. (Dabei wird sich nicht nur das gesellschaftliche Gesamtkapital, sondern zugleich auch

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jedes individuelle Kapital in jedem der drei Stadien gleichzeitig befinden.)

Als Ausgangspunkt wird ein Gleichgewichtszustand unterstellt, in dem Angebot und Nachfrage, die beide Abteilungen untereinander und innerhalb ihrer selbst ausüben, sich decken. In Periode t1 — t2 fragen die Kapitalgruppen 2 und 4 gemeinsam 2000 an konstantem Kapital nach, während 1 2000 an konstantem Kapital auf den Markt wirft. Ebenso geht von 2 und 4 gemeinsam eine Nachfrage nach Konsumgütern in Höhe von 1200 aus, während 3 Konsumgüter im Wert von 1200 anbietet. Nachdem alle Transaktionen vollzogen sind, haben sich die Kapitalmetamorphosen in Periode t2 — t3 um eine Stufe weiter verschoben. Die Kapitaliengruppe 1 tritt jetzt als Käufer auf und fragt 1250 an Produktionsmitteln und 625 + 125 an Lebensmitteln (variables Kapital + Revenue) nach. Kapitalgruppe 2 befindet sich im Stadium des Produktionsprozesses, während Kapitalgruppe 3 ebenfalls als Käufer auftritt und 750 an Produktionsmitteln und 375 (v) + 75 (r) an Konsumgütern nachfragt. Kapitalgruppe 4 befindet sich jetzt im Stadium des Produktionsprozesses. Die Kapitalgruppen 5 und 6 betreten als Verkäufer von Konsumgütern in Höhe von 1200 und Produktionsmitteln den Markt und befriedigen damit die Nachfrage von 1 und 3.

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In der Periode t3—t4 tritt, wenn alle Annahmen beibehalten werden, trotz vollständiger Reinvestition bzw. Verausgabung des Mehrwerts von 5 und 6 das bereits analysierte Realisierungsproblem auf. In Abteilung I herrscht ein Nachfragemangel von 500, in Abteilung II von 300, der dem Gesamtumfang des neu produzierten Mehrwerts der Kapitalgruppen 2 und 4 abzüglich der vorher unproduktiv von ihnen verausgabten Revenue entspricht. Dieses Nachfragedefizit kann nur überwunden werden, wenn ein zusätzliches Geldkapital in die Zirkulation tritt und die sonst unverkäuflich bleibenden Waren in produktives Kapital verwandelt, bzw. die Zirkulationsgeschwindigkeit der Kapitalien 5 und 6 sich beschleunigt, so daß die betreffenden Kapitalien in dieser Periode mehr kaufen als sie in der vorangegangenen Periode verkauft haben. Das kann nur dann geschehen, wenn die Profitrate ausreicht, um über die Akkumulation des realisierten Mehrwerts hinaus zusätzliche kreditfinanzierte Investitionen zu erlauben. Die Akkumulation ist dann nicht nur erweiterte Reproduktion, sondern potenzierte Akkumulation. Wird dieser Fall zunächst als gegeben angenommen, so können die neu in die Zirkulation tretenden Geldkapitalien mit den Ziffern 7 und 8 gekennzeichnet werden. Aufgrund der stattgefundenen Vermehrung der Geldmenge bzw. Beschleunigung der Zirkulationsgeschwindigkeit kann dann die Akkumulation in der Periode t4—t5 störungsfrei fortgehen. Erst in der folgenden Periode t5—t6 träte — da jetzt der neuproduzierte Wert der Kapitalgruppen 7 und 8 auf den Markt gelangt — das Realisierungsproblem erneut auf und würde eine weitere Expansion des Geldvolumens erforderlich machen.

Nun soll der Fall betrachtet werden, daß die in der Periode t3—t4 gegebene Höhe der Profitrate nicht ausreicht, um die zur Realisierung des Mehrwerts erforderliche Expansion des Geldvolumens zu induzieren. In diesem Fall würde das auftretende Nachfragedefizit zu einem sich selbst verstärkenden Schrumpfungsprozeß führen. Denn wenn der Mehrwert von 2 und 4 in der Periode t3—t4 nicht realisiert werden kann, so kann in der folgenden Periode auch der Mehrwert von 1 und 2 nicht realisiert werden. Als Folge davon würde auch das bestehende Niveau der Investitionen nicht aufrechterhalten usw. usw.

An dieser Stelle kann nunmehr die Rolle der Staatsverschuldung diskutiert werden. Nimmt man an, daß sich die Summe der Revenuezahlungen in den Perioden t1—t3 mit den Steuerzahlungen deckt, so war der Staatshaushalt in diesen Perioden ausgeglichen. Der Staat

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nahm insgesamt 400 an Steuern ein und zahlte sie (wie hier der Einfachheit halber angenommen werden soll) in Form von Löhnen und Gehältern aus, die ihrerseits vollständig für Konsumgüter ausgegeben wurden. Eine Fortsetzung dieser Politik des ausgeglichenen Budgets in der folgenden Periode würde nicht nur die Rezession nicht verhindern, sondern darüber hinaus in der Periode t4—t5 wegen der Verminderung der Investitionen zu einem Rückgang der Steuereinnahmen führen.

Dieser Entwicklung kann jedoch durch eine Verschuldung des Staates in der Periode t3—t4 entgegengewirkt werden. Es sei der extreme Fall angenommen, daß der Staat defizitäre Ausgaben in Höhe des gesamten Überangebots an Waren tätigt. Der Staat würde dann zusätzliche Konsumgüternachfrage in Höhe von 300 und darüber hinaus eine Nachfrage nach Produktionsmitteln in Höhe von 500 ausüben, so daß das Gesamtdefizit 800 beträgt.

Dieser Eingriff hätte eine doppelte Wirkung: Einerseits geht ein Teil des Mehrwert verkörpernden Warenkapitals 2 und 4 in die Hände des Staates über. Diese Waren, teils Produktions- teils Lebensmittel, werden dort unproduktiv konsumiert und treten aus dem Reproduktionsprozeß des Kapitals aus. Der produzierte Mehrwert der Kapitalien 2 und 4 (genauer: Der Mehrwert abzüglich der vorher ausgegebenen Revenue) wird so scheinbar realisiert, in Wirklichkeit jedoch — kapitalistisch betrachtet — vernichtet. Das Wachstum des Kapitals in den folgenden Perioden wird sich infolgedessen verlangsamen. Die potenzierte Akkumulation wird auf die einfache reduziert. Gleichwohl hat diese Kapitalvernichtung eine stimulierende Wirkung auf die übrigen Kapitalien, insofern sie das zur Aufrechterhaltung ihrer Akkumulation nötige zusätzliche Geld in die Zirkulation einschleust. Die durch die staatliche Defizitfinanzierung induzierte Expansion des Geldvolumens reicht aus, um in den Perioden t4—t6 den Mehrwert der Kapitalgruppen 1 und 3 sowie 5 und 6 zu realisieren. Erst in der Periode t6—t7 würde das Nachfragedefizit erneut auftauchen und eine erneute Verschuldung des Staates erforderlich machen.

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Anhand der vorliegenden Schemata kann ferner das Ausmaß einer "neutralen", d. h. weder inflationären noch deflationären staatlichen Geldschöpfung näher bestimmt werden. Diese "neutrale" zusätzliche Geldmenge ist keineswegs mit dem Gesamtquantum des neuproduzierten Mehrwerts identisch, sondern macht lediglich einen Bruchteil davon aus. Sie beträgt in der Periode t3—t4 800, d. h. ist gleich dem in dieser Periode in Warenform auf den Markt gebrachten Mehrwert abzüglich der von den gleichen Kapitalien in der Periode t1—t2 gezahlten Revenue, die nicht in der Form eines Warenangebots auf dem Markt wiedererscheint und deshalb das Nachfragedefizit verkleinert. Diese zusätzliche Geldmenge reicht nicht nur aus, um den überschüssigen Teil des Mehrwerts in dieser Periode zirkulieren zu lassen, sondern zugleich die entsprechenden Mehrwertanteile in Höhe von jeweils 800 in den beiden folgenden Perioden. Der "Multiplikator" der zusätzlichen Staatsausgabe in Periode t3 * t4 beträgt also 3. Die "neutrale" zusätzliche Geldmenge ist somit:
der Summe des in einer bestimmten Anzahl von Perioden in Form von Warenkapital auf den Markt gelangenden Mehrwerts, Sigma r = der Summe der von den gleichen Kapitalien vorher gezahlten Revenuen, u = die Zahl der Umläufe des zusätzlich geschaffenen Geldes, die hier mit der Zahl der Perioden zusammenfällt.

Diese Analyse weist den Ausweg aus dem von Mattick nicht gelösten Problem, wie die realisierten Profite trotz und gerade wegen der wachsenden "Verschwendungsproduktion" zunehmen können. Obwohl keine reale Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals stattgefunden hat — das unterscheidet die Defizitfinanzierung von

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den Gegentendenzen gegen den Fall der Profitrate —, ermöglicht die Defitzitfinanzierung eine Fortsetzung der Akkumulation auf einem niedrigeren Niveau der Profitrate, auf dem die "Selbstfinanzierung" der Akkumulation nicht mehr möglich bzw. gefährdet ist*V.44 . Statt durch die private Kreditexpansion muß die Akkumulation durch die staatliche Defizitfinanzierung in Gang gehalten werden. Die Wirkung der Defizitfinanzierung besteht so darin, die Akkumulation um eine Potenz "zurückzuschrauben". Anstatt zusätzlicher Kapitalien entsteht neben den vorhandenen Kapitalien ein wachsender unproduktiver Sektor. Er garantiert die Geldexpansion, die für das "Funktionieren" des verbliebenen privaten Sektors unabdingbar ist. Diese staatlich garantierte Geldexpansion macht die von Keynes empfohlene "Euthanasie des Rentiers" überflüssig. Aufgrund der durch Staatsintervention gesicherten Realisierung der Profite erscheint die Profitrate höher als in früheren Depressionsperioden, das Wachstum und die Prosperität stabiler und dauerhafter — trotz zunehmender Verschwendungsproduktion. Die "Achillesferse" des Laissez-faire-Kapitalismus, die Abhängigkeit von der schwankenden privaten Kreditexpansion, ist beseitigt.

Das Wachstum der Produktion wäre zweifellos bei einer produktiven Realisierung der Waren größer. Es muß jedoch betont werden, daß die zunehmende Verschwendungsproduktion nicht Ursache, sondern Folge des verringerten Wachstums ist. Der Staat bewirkt nicht das Sinken der Profit- und Akkumulationsrate, sondern reagiert auf diese. Er "realisiert" mit seinen Aufträgen das "überakkumulierte", nicht mehr verwertbare Kapital, das andernfalls in Form von Überkapazitäten und unabsetzbaren Warenbeständen brachliegen und der Entwertung und Vernichtung anheimfallen würde. Insofern muß der von Mandel und Baran/Sweezy vertretenen These Recht gegeben werden, daß die Staatsausgaben "nicht zu Lasten dessen, was sonst den Kapitalgesellschaften und Individuen für ihre privaten Zwecke zur

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Verfügung gestanden hätte"
*V.45 gehen. Unrecht hat Mandel jedoch dort, wo er behauptet, daß die Defizitfinanzierung eine zusätzliche "Mehrwertproduktion" und "Kapitalverwertung" in der Rüstungsindustrie ermögliche: die Notwendigkeit des staatlichen Eingreifens beweist gerade im Gegenteil, daß die betreffenden Waren und Produktionsanlagen als Kapital nicht mehr verwertet werden können. Trotz der scheinbaren "Profitabilität" der Rüstungsindustrie wird der in ihren Produkten potentiell enthaltene Wert nicht erhalten und realisiert, sondern vernichtet. Die staatlich induzierte Produktion ist ein "systemfremdes", wenn auch ein unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Falls der Profitrate vorübergehend funktionales Element der kapitalistischen Produktion.

Die vorangegangene Analyse wirft ferner Licht auf das Problem des "Multiplikatoreffektes" von Staatsausgaben, auf das Mattick keine klare Antwort gefunden hatte. Dieser Multiplikatoreffekt existiert insofern, als durch eine mit Hilfe kreditfinanzierter Staatsausgaben induzierte Geldexpansion die noch latent vorhandenen "Wachstumskräfte" des privaten Kapitals aktualisiert werden können. Er setzt voraus, daß der private Sektor trotz gesunkener Profitrate noch genügend Mehrwert produziert, um dessen Realisation und Akkumulation möglich und lohnend erscheinen zu lassen, wenn auch nur mit den Krücken der staatlichen Defizitfinanzierung. Ist dies der Fall, so kann das zusätzliche Einkommen höher sein als die anfängliche Ausgabe. Es wäre jedoch verfehlt, hier auf einen Kausalzusammenhang zu schließen: Die zusätzlichen Staatsausgaben "schaffen" das zusätzliche Einkommen nicht, sondern wirken nur als Initialzündung für das im privaten Sektor noch vorhandene Wachstumspotential. Die "Multiplikatorwirkung" von Staatsausgaben hängt von dem noch vorhandenen Verwertungsgrad des privaten Kapitals ab.

Das durch den Staat in die Zirkulation geworfene Geld trägt, indem es weiter umläuft, dazu bei, einen Teil der Waren, die sonst nicht absetzbar gewesen wären, zu realisieren. Da es innerhalb der Kapitalzirkulation nur die Alternative Wachstum oder Schrumpfung gibt, bedeutet die Realisierung der Mehrwert verkörpernden Waren die Aufrechterhaltung des für das Kapital lebensnotwendigen Wachstums. Mit dem Wachstum aber bleiben die gleichen Tendenzen in Kraft, die den staatlichen Eingriff heraufbeschworen haben: die Steigerung der

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organischen Zusammensetzung des Kapitals, der langfristige Fall der Profitrate wirken weiter fort. So trägt die staatliche Defizitfinanzierung dazu bei, die Basis ihrer eigenen Wirksamkeit — die Verwertung des Kapitals — fortlaufend weiter zu unterhöhlen. Mehrwert kann nur dort realisiert werden, wo er vorher produziert worden ist. Sinkt aber die Rate des neuproduzierten Mehrwerts weiter, so wird der Versuch, ein gegebenes Niveau der Profitrate mit fiskalpolitischen Mitteln zu stabilisieren, zunehmend nur noch inflationäre Tendenzen auslösen. Noch weniger wird der Versuch Erfolg haben, das Defizit aus den durch es selbst "geschaffenen" zusätzlichen Steuereinnahmen zu decken, wie es einige Keynesianer für möglich hielten*V.46 . Die Defizitfinanzierung verhindert lediglich einen weiteren Rückgang der Steuereinnahmen; sie kann aber keinesfalls ein Wachstum des Einkommens und der Steuereinnahmen induzieren, das zur Tilgung des Defizits ausreichen würde.
"Gleichgültig, was man von dem Keynes'schen ,Multiplikator' als einem Instrument für die präzise Messung von Produktions- und Konsumniveaus denken mag, die Idee, die Keynes bewog, den Terminus zu entwickeln, kann durchaus akzeptiert werden; und der durch den Multiplikator unterstellte Schneeballeffekt, wie er sich in hohen Produktions- und Beschäftigungsniveaus während Perioden hoher Rüstungsaufträge darstellt, kann zugegeben werden. Allerdings darf der Schneeballeffekt einer Reduktion von Produktion und Beschäftigung im Gefolge einer umfassenderen Unterbrechung von Rüstungsgroßaufträgen ebensowenig unterschätzt werden." (Crosser, a.a.O., S. 130)
Ebenso wie zuschüssiges Geld — unter der Voraussetzung einer ausreichenden Profitabilität des Kapitals — mehrmals die Hände wechselt und daher das Gesamteinkommen um mehr als die ursprünglich zugeschossene Summe steigt, vermindert sich das Gesamteinkommen bei einer Tilgung der Staatsschuld um mehr als die der Zirkulation

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entzogene Summe. Unabhängig davon, ob die Tilgung durch Reduktion der Ausgaben bei gleichbleibenden Steuern oder durch Erhöhung der Steuern bei gleichbleibenden Ausgaben erreicht werden soll: sie setzt voraus, daß der Staat mehr ausgibt als er einnimmt und damit der Zirkulation Geld entzieht. Die zurückfließenden Tilgungen erhöhen zwar die Reserven der ausleihenden Banken. Das Dilemma, das zu dem staatlichen Eingriff geführt hatte, bestand aber darin, daß das private Kapital von eben diesen Reserven keinen Gebrauch machte. Da die Defizitfinanzierung nicht die Bedingungen der Produktion, sondern nur die der Realisierung des Mehrwerts verbessert, ist nicht zu erwarten, daß sich an diesem Dilemma etwas geändert hätte. Eine Tilgung der Staatsschuld würde daher die Wiederkehr der Depression heraufbeschwören.

Die Defizitfinanzierung kann das Zutagetreten der Krisentendenzen zunächst verhindern, jedoch nicht die Entwicklungsgesetze der Kapitalakkumulation aufheben, die auf eine fortschreitende Erosion der Profitabilität des Kapitals hinwirken. Deshalb kann die Staatsschuld nicht nur nicht getilgt werden; auch bei einer vorübergehenden Rückkehr zu einer Politik des ausgeglichenen Budgets werden das Sinken der Profite und die daraus folgenden Gefahren für Wachstum und Beschäftigung den Staat schließlich zwingen, seine Ausgaben stärker als das Gesamteinkommen auszudehnen. Diese Ausdehnung der Staatsausgaben trifft aber auf ein sich immer weiter verringerndes reales Wachstum der privaten Mehrwertproduktion. Die Konsequenzen des Versuchs, den Auswirkungen des tendenziellen Falls der Profitrate mit fiskalpolitischen Mitteln zu begegnen, werden also sein: Wachsende Tendenz der Staatsverschuldung, zunehmende "Verstaatlichung" der Wirtschaft durch das überproportionale Wachstum der Staatsausgaben, zunehmende Inflationsraten. Darüber hinaus werden sich mit zunehmender Anwendung der Keynes'schen Politik ihre Erfolgschancen abschwächen: Wo kein Mehrwert mehr vorhanden ist, der "realisiert" werden könnte, wird eine Ausdehnung der Staatsausgaben nicht zu einer Profitsteigerung, sondern zur Inflation führen. Tatsächlich ist dieses Phänomen der "Stagflation" in wachsendem Ausmaß seit Anfang der sechziger Jahre in vielen westlichen Ländern aufgetreten. Es zeigte sich, daß die Ausdehnung der Staatsausgaben in der Rezession immer weniger zu der erwarteten Steigerung von Produktion und Beschäftigung führte, sondern zu Preissteigerungen, die trotz beträchtlicher unausgelasteter Kapazitäten fortdauerten.

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Die wachsenden Preissteigerungen und die zunehmenden Schwierigkeiten, den Staatsanteil am Sozialprodukt trotz überproportionaler Ausgabensteigerungen zu erhöhen, machen die Grenzen der Keynes'schen Politik heute immer deutlicher. Eine "antizyklische" Finanzpolitik im genauen Sinne existiert heute in kaum einem der westlichen Länder mehr; vielmehr ist die permanente Defizitfinanzierung, die Staatsverschuldung auch während der Prosperität, zur typischen Praxis geworden*V.47 . Darin drückt sich der wachsende Drang des privaten Kapitals nach der Staatskasse aus, die eine Kompensation für die Schwäche der Marktnachfrage bieten soll.

Der Mattick'schen Analyse muß also in ihren Konsequenzen im Hinblick auf die Perspektiven des "gemischten Wirtschaftssystems" zugestimmt werden. Eine dauerhafte "Rettung des Kapitalismus" mit Hilfe der Keynes'schen Politik muß als wenig wahrscheinlich gelten. Denn die gleichen strukturellen Tendenzen der Kapitalakkumulation, die dem "laissez-faire" Kapitalismus ein Ende bereiteten und den Staatseingriff heraufbeschworen, wirken gerade mit seiner Hilfe auch in dem "gemischten Wirtschaftssystem" fort. Ihren Auswirkungen kann zwar über eine längere Zeit hinweg mit Hilfe der Ausdehnung der Staatsintervention begegnet werden. Aber dieser Prozeß hat zutiefst widersprüchlichen Charakter: Der Staatseingriff erhält die kapitalistische Produktion von der monetären Seite her, indem er ihr unter dem Mantel der Defizitfinanzierung ihre reale Basis entzieht.

Der Spielraum der keynesianischen Anti-Depressionspolitik wird sich mit der weiter fortschreitenden Erosion der privaten Kapitalverwertung fortlaufend verkleinern, wofür die wachsenden Inflationsraten ein Symptom sind. Früher oder später muß der Zeitpunkt kommen, zu dem die weitere Ausdehnung des öffentlichen und öffentlich finanzierten Sektors mit der Kontrolle des privaten Kapitals über die Produktion unvereinbar wird:
"Wenn diese Grenze erreicht ist, müssen Defizitfinanzierung und staatlich induzierte Produktion als Maßnahmen gegen die sozialen Folgen einer sinkenden Akkumulationsrate zu einem Ende kommen. Die keynesianische Lösung wird sich als eine Scheinlösung enthüllen, die zwar den widersprüchlichen Verlauf der Kapitalakkumulation, wie er von Marx vorausgesagt wurde, aufschieben, aber nicht verhindern kann. [201] . .. Die staatlich induzierte Produktion ist also durch Grenzen der privaten Profitproduktion selbst begrenzt. Weiterreichende Eingriffe in die Wirtschaft setzen Regierungen voraus, die willens und fähig sind, die gesellschaftliche Herrschaft des Privatkapitals zu zerstören und über die gesamte Wirtschaft Kontrolle auszuüben." (Mattick, a.a.O., S. 175)*V.48
Die einzige Alternative zu solchen "weiterreichenden Eingriffen" wäre eine Rückkehr zu den "bewährten" vorkeynesianischen Methoden der Krisenüberwindung: Steigerung der Ausbeutungsrate durch Arbeitslosigkeit und Reallohnsenkung. Ein solcher Weg hätte allerdings weitreichende politische Implikationen: Er würde das Ende der Rolle der Sozialdemokratie bedeuten, die diese unter den Bedingungen der Vollbeschäftigung während der Nachkriegszeit spielen konnte. So erweisen sich die Grenzen des "gemischten Wirtschaftssystems" zugleich als die Grenzen des "linken" Keynesianismus.

Nachdem in dem vorangegangenen Abschnitt die Funktion und die allgemeinen Perspektiven der keynesianischen Eingriffe in die Wirtschaft skizziert wurden, soll in dem folgenden Nachtrag noch das Problem der qualitativen Natur der Staatsausgaben, der Art der Produkte, die durch den Staat gekauft werden sollen, kurz behandelt werden. Dieses ignoriert zu haben, betrachtet Crosser als einen der zentralen Mängel der Keynes'schen Theorie, den er auf ihre monetäre Beschränktheit zurückführt:
"Keynes bleibt in seinem weithin gerühmten Buch "Die Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" ein reiner Monetarist. Das Ausgeben von Geld, gleichgültig ob von seiten der Regierung oder eines privaten Individuums, wird als ein Allheilmittel gegen die Krankheit der Unterproduktion und Unterbeschäftigung angeboten. Die Frage, welche Art der Produktion und Beschäftigung gefördert werden müssen, bleibt in der Keynes'schen Analyse unbeantwortet. Die Frage, ob der Geldstrom zur Stimulierung der Wirtschaft in die Produktion ziviler oder militärischer Güter fließen muß, geht nicht in die von Keynes angebotene analytische Konstruktion ein; noch beschäftigt sich Keynes mit dem Problem, ob das Geld für arbeitsintensive oder kapitalintensive Industrien ausgegeben werden muß. Keynes' theoretische Position kann deshalb zur Rechtfertigung jeder Art von Geldausgabe, die direkt oder indirekt zu Zwecken der Stimulierung von Produktion und Beschäftigung ge- [202] schieht, herangezogen werden. Diejenigen, die Regierungsausgaben für öffentliche Arbeiten als solche vorziehen, können Keynes zu ihren Gunsten zitieren, ebenso wie jene es können, die auf die größere ökonomische Effektivität von Regierungsausgaben für die Rüstungsproduktion hinweisen." (Crosser, a.a.O., S. 36)
In der Tat wird die Frage nach dem Verwendungszweck der Staatsausgaben von Keynes selbst und vielen seiner Anhänger als mehr oder weniger unproblematisch betrachtet. Insbesondere die "linken" Keynesianer hielten es für selbstverständlich, daß die zusätzlichen Staatsausgaben, da sie nun einmal stattfinden müßten, auch allerlei nützlichen Zwecken zugeführt werden könnten. Strachey und auch Hansen, Beveridge und L. Klein dachten an Arbeitslosenhilfe, Stadtsanierungen, Meliorationen, Bau von Schulen, Straßen und Krankenhäusern und sonstige gemeinnützigen öffentlichen Arbeiten. Diese Projekte schienen zugleich die Möglichkeit einer indirekten Einkommensredistribution zu eröffnen: sie erhöhen das Angebot "nicht kaufbarer Güter" und verbessern so den realen Lebensstandard der Bevölkerung, auch wenn sich die Kaufkraft ihres Geldeinkommens nicht verbessert.

Den praktischen Test für diese Empfehlungen lieferte die Konjunkturpolitik in Großbritannien und den USA Anfang der Dreißiger Jahre bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. In Großbritannien wurde das "Deficitspending" hauptsächlich von den Kommunen getragen, die die zusätzlichen Gelder vor allem im Wohnungsbau investierten. Darüber hinaus wurden die Einkommensteuer gesenkt und die Gehälter der Staatsbediensteten und die Arbeitslosenunterstützung erhöht. In den USA startete die Regierung Roosevelt im Rahmen der "New-Deal-Politik" ein umfangreiches Arbeitsbeschaffungsprogramm, sowie massive Hilfsmaßnahmen und Subventionen für die Landwirtschaft, für die Arbeitslosen und den Mittelstand. Der Schwerpunkt des Arbeitsbeschaffungsprogramms lag auf zivilen öffentlichen Arbeiten wie Straßenbau, Bau von Schulen, Kraftwerken und Eindämmung der Bodenerosion. Die bekannteste dieser Maßnahmen war das Projekt der Rekultivierung des durch Bodenerosion und Überschwemmungen verwüsteten Tenesseetals.

In beiden Ländern war der Erfolg nicht überwältigend. Zwar gelang es im Laufe der Zeit, die Produktion in den meisten Bereichen wieder auf den Stand von 1929 zu heben, den Konsum anzuregen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die Vollbeschäftigung wurde jedoch

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bei weitem nicht erreicht; die Profite der Privatindustrie blieben niedrig und die privaten Investitionen gingen nur wenig über die Ersatzinvestitionen hinaus. Der "Konjunkturaufschwung" der Jahre 1933 - 37 war nicht von der Privatindustrie, sondern in erster Linie von den massiven Staatsausgaben getragen und brach — wie die Krise von 1937 - 38, die von den USA auch auf die anderen Länder übergriff, zeigte — mit jeder Reduktion der Staatsausgaben sofort in sich zusammen. Gemessen an den insgesamt vorhandenen produktiven Kapazitäten blieb die Produktion weit hinter dem Möglichen zurück. Die Überwindung der Krise von 1937 - 38 und schließlich die volle Nutzung der Ressourcen wurde erst im Gefolge der "Rüstungskonjunktur" erreicht, die mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges einsetzte. Diese Erfahrung hatte sich vorher schon mit der Aufrüstung in Deutschland bestätigt; sie bestätigte sich erneut nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das (wie schon dargelegt) keineswegs zu einem Ende der Rüstungswirtschaft führte. Welche Gründe gibt es für diesen eigentümlichen Erfolg der Rüstungswirtschaft und die relative Erfolgslosigkeit ziviler Investitionsprogramme, die eine so zentrale Rolle in den konjunkturpolitischen Empfehlungen des linken Keynesianismus spielen? Wenn auch hier keineswegs eine erschöpfende Antwort auf diese Frage gegeben werden kann, so sollen doch noch einige Überlegungen dazu angestellt werden.

Bei den meisten Autoren herrscht heute Übereinstimmung darüber, daß Staatsausgaben zur Steigerung der Masseneinkommen (wie z. B. zusätzliche Sozialleistungen und Arbeitslosenunterstützung) keinen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Stagnation leisten können. Diese Auffassung hatte, wie oben dargelegt, bereits Hansen vertreten. Denn ihr expansiver Effekt versickert innerhalb des ohnehin relativ weniger von der Krise betroffenen Konsumgüterbereichs; darüber hinaus führen sie zu einer Umverteilung des Gesamteinkommens zugunsten der Lohnabhängigen, was die Profite und damit die "Investitionsneigung" beeinträchtigt.

Strittig sind vielmehr die Möglichkeiten ziviler öffentlicher Investitionen. Insbesondere der linken Sozialdemokratie nahestehende Autoren*V.49 haben immer wieder die Möglichkeiten einer Umorientierung der staatlichen Finanzpolitik auf zivile Infastrukturinvestitionen propagiert, die durch "kollektiven politischen Druck" erreicht werden

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könne. Die Antwort auf dieses Problem hängt davon ab, wieweit es gelingt, strukturelle und nicht nur ideologisch-politische Hindernisse für eine Konzentration der öffentlichen Finanzpolitik auf zivile Ziele nachzuweisen.

Die These, die hier vertreten werden soll, lautet: Der Optimismus vieler Vertreter des linken Keynesianismus im Hinblick auf die Möglichkeiten einer "nützlichen" Orientierung der staatlichen Finanzpolitik übersieht, daß die kompensatorische Finanzpolitik den gegebenen Proportionen der kapitalistischen Produktionsstruktur gerecht werden muß. Er übersieht vor allem die entscheidende Rolle, die der Investitiongsgütersektor in der wirtschaftlichen Struktur und konjunkturellen Entwicklung der dominierenden kapitalistischen Industrieländer spielt. Die Krisen- und Stagnationstendenzen sind vor allem Stagnationstendenzen des Investitionsgütersektors, in dem sie sich, wie die oben im Zusammenhang mit der Hansen'schen Stagnationstheorie referierten Daten von Kuznets zeigen, weitaus stärker als im Konsumgütersektor niederschlagen. Diese dominierende Stellung des Investitionsgütersektors ist kein zufälliges empirisches Faktum, sondern ein notwendiges Resultat der säkularen Dynamik der Kapitalakkumulation, deren wichtigstes Merkmal die wachsende Bedeutung des fixen Kapitals ist. Die Auswirkungen, die zusätzliche Staatsausgaben auf Produktion und Beschäftigung haben, müssen also auf das engste davon abhängen, wieweit sie einen expansiven Impuls auf den stagnierenden Investitionsgütersektor ausüben.

Dieses Kriterium wird aber von den gewöhnlich von den Repräsentanten des linken Keynesianismus vorgeschlagenen Projekten nur sehr unzureichend erfüllt. Die Hansen'sche Kritik an dem "New-Deal" geht an der Tatsache vorbei, daß die Finanzpolitik der Regierung Roosevelts faktisch keineswegs nur auf Konsumstimulierung ausgerichtet war, sondern daneben umfangreiche Summen für zivile öffentliche Investitionsprojekte ausgab. So hatte allein die "Public Works Administration" bis 1936 Projekte im Gesamtwert von 2,5 Mrd. Dollar verwirklicht. Aber diese Ausgaben kamen nur einem relativ kleinen Teil des gesamten Investitionsgütersektors, vor allem der Bauindustrie, zugute, konnten jedoch für wesentliche Teile der metallerzeugenden und metallverarbeitenden Industrie keine ausreichende Auslastung der Kapazitäten sichern. So blieb ihr wichtigster Effekt die Konsumsteigerung:

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"Es sei daran erinnert, daß alle Versuche während der zehn Jahre der Roosevelt-Ära, Produktion und Beschäftigung in den Grundindustrien über die Finanzierung öffentlicher Arbeiten zu steigern, nicht im geringsten den Umfang der Umsätze dieser Industrien berührten, abgesehen davon, daß die mit den Programmen betrauten Beschäftigten und Unternehmer mit effektiver Kaufkraft ausgestattet wurden. Die Kaufkraft dieser mit den öffentlichen Arbeiten Beschäftigten wurde meist für den Ankauf nicht dauerhafter Konsumgüter verwendet, ein unwesentlicher Sektor, was sowohl das hohe Niveau von Produktion und Beschäftigung als auch den hohen Lebensstandard in den Vereinigten Staaten betrifft." (Crosser, a.a.O., S. 35)
Ein besonders "neuralgischer Punkt" war, worauf Averitt hinweist, die Metallerzeugung, die unter besonders heftigen konjunkturellen Schwankungen litt. So wurde es in der Nachkriegszeit eine Aufgabe des Staates, für diesen Industriezweig eine ausreichende "effektive Nachfrage" zu sichern, was unter dem Titel einer "Lagerbildung strategischer Materialien" geschah. Die Rüstungsausgaben wurden in der Nachkriegszeit zur Basis der Prosperität der metallerzeugenden Industrie:
"In short"
, sagt Averitt,
"to encourage perpetual prosperity the gouvernment should act as an economic center to the primary metals industry." (Averitt, a.a.O., S. 196)
Ob zivile Investitionsprojekte einen Ausgleich für das umfangreiche und kontinuierliche, nahezu alle Bereiche des Investitionsgütersektors einbeziehende Nachfrage bieten können, die Rüstungsaufträge schaffen, muß als zweifelhaft gelten. Eine Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion, wie sie von Vilmar diskutiert wird, wäre technisch gesehen zweifellos möglich. Sie wäre aber, wie die Vilmar'sche Darstellung der verschiedenen Pläne für eine Produktionsumstellung selbst zeigt, mit gravierenden Veränderungen der Produktionsstruktur, umfangreichen staatlichen Eingriffen in die Souveränität der Privatindustrie und einem Maß an staatlicher Planung und Kontrolle verbunden, das im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse kaum denkbar erscheint. Sie durch bloßen "politischen Druck" ohne eine prinzipielle Veränderung der Eigentumsverhältnisse und der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erreichen zu wollen, wie es den Repräsentanten der linken Sozialdemokratie vorschwebt, muß wohl als eine Illusion bezeichnet werden.

Rüstungsausgaben stellen eine Lösung des Problems dar, wie der infolge des säkularen Rückgangs der Profit- und Akkumulationsrate

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chronisch stagnierenden Investitionsgüterindustrie dennoch eine ausreichende "effektive Nachfrage" gesichert werden kann. Das Hindernis für eine "nützliche" Verwendung ihrer Produktionskapazitäten ist nicht das technische Problem der Produktionsumstellung, sondern die Notwendigkeit und Priorität des Profitziels. Solange diesem durch Rüstungsaufträge Genüge getan werden kann, besteht aus der Sicht des privaten Kapitals keinerlei Notwendigkeit für eine Produktionsumstellung. So erfüllt die Rüstungsproduktion die Funktion einer "Ersatzakkumulation", die der Investitionsgüterindustrie eine Kompensation für die nicht mehr ausreichend stattfindende produktive Akkumulation bietet. Der "kreislaufexterne" Sektor der Rüstungsproduktion ermöglicht in Verbindung mit der Staatsverschuldung eine weitere "Prosperität" des Investitionsgütersektors, die seine kapitalistische Fortführung gestattet. Der für die Aufstiegsphase des Kapitalismus konstitutive Trend zu einem relativ zum Konsumgütersektor schnelleren Wachstum setzt sich weiter fort — aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß die Akkumulation von fixem Kapital immer mehr zu einer Akkumulation von Waffen wird (vgl. W. Hofmann, a.a.O., S. 546 f.). Hinzu kommt, daß Rüstungsausgaben optimal alle weiteren Kriterien erfüllen, die für eine wirksame kompensatorische Finanzpolitik gelten. Sie schaffen im Gegensatz zu zivilen Investitionsprojekten nicht nur ausreichende Nachfrage für gerade die "kritischen" Bereiche der Investitionsgüterindustrie (Elektronik, Flugzeug- und Schwerindustrie, Schiffbau usw.), sondern erfüllen darüber hinaus das Erfordernis der Angebotsneutralität. Rüstungsprojekte konkurrieren nicht mit der Privatindustrie und haben nicht den unerwünschten "Kapazitätseffekt", den die Produktion ziviler Investitionsgüter haben würde. Sie ermöglichen die Auslastung der Kapazitäten, einen hohen Beschäftigungsstand und hohe Profite für die Investitionsgüterindustrie, ohne gleichzeitig das Angebot an Investitionsgütern und den Bestand an fixem Kapital weiter zu vermehren. Sie leisten so einen entscheidenden Beitrag dazu, das in der Kapitalzirkulation enthaltene latente Nachfragedefizit, das oben analysiert wurde*V.50 , zu reduzieren. In dieser Hinsicht bieten Rüstungsausgaben auch einen wichtigen "Vorteil" gegenüber reproduktiven öffentlichen Investitionen, die in Form kaufbarer Leistungen auf dem Markt wiedererschei-

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nen und damit dem Markt einen Teil der zusätzlichen Nachfrage wieder entziehen, die sie selbst geschaffen haben.

Damit zusammen hängt schließlich noch eine weitere Eigenschaft von Rüstungsaufträgen: Sie ermöglichen ihren Empfängern die Festsetzung von hohen Profitspannen, die sich nicht sogleich für andere Kapitalien in Form von Kostensteigerungen bemerkbar machen. Innerhalb des reproduktiven Bereichs der Wirtschaft ist die Gesamtmasse des Profits gegeben: sie kann nicht insgesamt erhöht, sondern nur zwischen den Kapitalien anders verteilt werden. Würde ein Teil des Kapitals die Preise und damit seine Profite willkürlich erhöhen, so würden sich die Kosten für die Käufer der betreffenden Produkte in gleichem Maße erhöhen und daher die Profite verringern. Die Gesamtmasse des Profits kann auf diese Weise nicht vermehrt werden. Anders bei der Rüstungsproduktion, die aus dem reproduktiven Bereich herausfällt und einen separaten Sektor der Wirtschaft bildet. Die Produzenten von Waffen sind in der Lage, gegenüber dem staatlichen Auftraggeber Preise festzusetzen, die eine weit überdurchschnittliche Profitspanne enthalten. Sofern diese Extraprofite aus Steuern finanziert werden, bedeuten sie ebenfalls nur eine Umverteilung des Gesamtprofits: was die Rüstungsindustrie als zusätzlichen Profit erhält, geht an anderer Stelle in Form erhöhter Steuerbelastung verloren. Aber wie gesehen, werden die Staatsausgaben nicht nur aus Steuern, sondern darüber hinaus aus Krediten finanziert — und die Defizitfinanzierung hat eine langfristig absolut und relativ steigende Tendenz. Sie macht die in der Rüstungsindustrie erzielten "Extraprofite" möglich, ohne gleichzeitig die Steuerbelastung zu vergrößern, und subventioniert damit zugleich nebenher die laufende zivile Produktion der betreffenden Konzerne. Allerdings haben diese "Extraprofite" eine inflationäre Tendenz, die um so mehr wirksam wird, je mehr die reale Durchschnittsprofitrate sinkt. Sie müssen deshalb früher oder später zu Kostensteigerungen führen. Insoweit ist die von Mattick vertretene These von dem inflationären Charakter der in der staatlich induzierten Produktion erzielten Profite gerechtfertigt.

VI. Zusammenfassende Schlußbemerkungen

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Eine philosophische Erörterung über das "Verhältnis von Politik und Ökonomie" wurde in der vorliegenden Arbeit mit Absicht vermieden. Vielmehr wurde der Versuch gemacht, die Entstehung der "kompensatorischen Finanzpolitik" aus ihren realen historischen Rahmenbedingungen heraus zu erklären und zu interpretieren. Wegweisend hierfür war der Mattick'sche Versuch einer marxistischen Kritik des Keynesianismus. Die vorliegende Arbeit gelangt in allen zentralen Fragen der historischen Funktion und der Zukunftsperspektiven des Keynesianismus zu im wesentlichen gleichen Konsequenzen wie Mattick. Allerdings zeigte sich, daß in der Begründung der Mattick'schen Position eine Reihe wichtiger theoretischer Vermittlungsschritte vor allem hinsichtlich der monetären Seite der Kapitalakkumulation fehlen, was sich in ihren inneren Widersprüchen und Inkonsequenzen niederschlägt. Im Vorangegangenen wurde versucht, diese Vermittlungen zu entwickeln und empirisch nachprüfbare Hypothesen über die Funktionsweise der keynesianischen Finanzpolitik zu formulieren, die weitere empirische und theoretische Untersuchungen vorbereiten und erleichtern könnten.

Eine wichtige Konsequenz aus der vorangegangenen Analyse ist, daß zur Erklärung der Genesis und Funktion der Staatseingriffe auf genuin politische Momente nicht zurückgegriffen werden muß. Es ist kein spezifisch politisches "Konfliktvermeidungsinteresse", das den Staatseingriff heraufbeschwört — so lautet die hier vertretene These — sondern es waren die Strukturveränderungen der Kapitalakkumulation selbst, die den Staatseingriff zu einer ökonomischen Notwendigkeit im Interesse der Erhaltung des Profitsystems machten. Nicht die politische Bedrohung des kapitalistischen Systems durch die infolge des verhängnisvollen Zusammenspiels von Stalinismus und Sozialdemokratie gelähmte Arbeiterbewegung, sondern der objektive Zusammenbruch und die Funktionsunfähigkeit des "Laissez-faire"-Systems führten zur "keynesianischen Revolution". Nicht die Ökonomie wurde "politisiert", sondern die Politik wurde "ökonomisiert". Die ökonomischen Strukturveränderungen allein erlauben eine zureichende Ableitung der Genesis, Funktion und Dynamik der Staatsintervention.

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Hinter der fortwährenden Ausdehnung der Staatseingriffe steht kein bewußter politischer Wille, sondern die objektive Dynamik der Kapitalakkumulation. Das soll hier noch einmal mit den treffenden Formulierungen W. Hofmanns unterstrichen werden:
"Und wem angesichts dieses Verhältnisses etwa vor einer ,Selbstsozialisierung' des Wirtschaftssystems bangt, sollte nicht verkennen, daß die öffentliche Hand nicht kraft eigener Zielsetzung, sondern um der privatwirtschaftlichen Ordnung selbst willen in den ökonomischen Prozeß eintritt; sie ist herbeigerufen, ökonomischer ,Liberalismus' auf der einen Seite und "Interventionismus" auf der anderen haben in der praktischen Wirtschaftspolitik längst aufgehört, Bekenntnisse zu sein, an denen die Geister sich scheiden. Im Zeichen des angewandten Keynesianismus haben die verschiedenen Richtungen und ordnungspolitischen Konzeptionen von einst sich treffen und mit ihrem Gegner von ehedem ihren Frieden machen können. ... So hat die elementare Selbstgefährdung, welche das Wirtschaftssystem aus sich selbst heraus erzeugt hat, dazu beigetragen, die unechten Gegensätze von einst zu bereinigen und die widerstreitenden Parteien zusammenzuführen." (Hofmann, a.a.O., S. 38)
Wenn aber diese These zutrifft, so besteht kein Anlaß für eine prinzipielle Revision der Marx'schen Staatstheorie, seiner Auffassung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie und den daraus folgenden praktischen Konsequenzen. Eine revolutionäre Theorie und Politik der Arbeiterbewegung bleibt auf der Tagesordnung und bleibt der einzige denkbare Garant gegen neue historische Katastrophen.

Die vielfache Teilhabe reformistischer Parteien an der Regierungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg erschien diesen selbst als der erste Schritt zu einer bewußten politischen Umformung des kapitalistischen Systems. Die Erfahrungen mit der Praxis sozialdemokratischer Regierungen haben jedoch immer wieder gezeigt, daß auch das infolge der "keynesianischen Revolution" veränderte Verhältnis zwischen Staat und Privatwirtschaft keine Möglichkeiten für eine "demokratische" Umgestaltung des Kapitalismus bietet. Keine der sozialdemokratischen Regierungen kam den von ihren "linken" Theoretikern proklamierten Hauptzielen einer fühlbaren Verringerung der Ungleichheit der Einkommensverteilung und einem Abbau der permanenten Rüstungswirtschaft nennenswert näher. Vielmehr war es gerade die Sozialdemokratie, der häufig die besondere Rolle zufiel, die infolge der Vollbeschäftigung gestärkte gewerkschaftliche Machtposition der Arbeiterschaft zurückzudrängen und zu neutralisieren. Weil sich durch die "keynesianische Revolution" an der grundsätzlich funktionellen Stellung des Staates gegenüber der Privatwirtschaft nichts geändert hat,

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muß eine "Doppelstrategie", die demokratische Reformen aufgrund von Aktivitäten innerhalb der politischen Institutionen anstrebt, nach wie vor als illusorisch gelten.

Die Kontrolle des Reformismus über die Gewerkschaften bildet einen der tragenden Pfeiler des "gemischten Wirtschaftssystems", zugleich aber einen seiner am wenigsten gesicherten. In der Diskrepanz zwischen der Ideologie und faktischen Funktion des linken Keynesianismus liegt ein zentraler latenter und vielfach schon aktuell gewordener Konfliktherd der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Erfolg des gegenwärtig von den reformistischen Parteien und Gewerkschaftsführungen durchgeführten Balanceaktes zwischen ihrer ökonomischen Disziplinierungsfunktion und der Notwendigkeit, auf die Interessen der Massen Rücksicht zu nehmen, ist an den Erfolg der Keynes'schen "Vollbeschäftigungs"-Politik geknüpft. Je mehr aber die Grenzen dieser Politik sichtbar werden, desto größer werden die Chancen für eine Wiederbelebung des revolutionären Marxismus innerhalb der Arbeiterbewegung.

Anhang: Zum Problem der Wertsenkungen des konstanten Kapitals

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Im folgenden sollen die Wechselwirkungen zwischen kapital- und arbeitssparenden Erfindungen anhand eines zweistufigen Modells untersucht werden. Diese Untersuchung soll eine Antwort auf die Frage ermöglichen, wieweit die Tendenz zur Steigerung der organischen Zusammensetzung des Gesamtkapitals durch "kapitalsparende" Erfindungen kompensiert werden kann. Hierbei soll davon ausgegangen werden, daß eine "Kapitalersparnis" auf einer bestimmten Produktionsstufe nur aufgrund einer Ersparnis an lebendiger Arbeit, einer "arbeitssparenden" Erfindung auf einer vorangegangenen Produktionsstufe Zustandekommen kann.

Das folgende Modell erfaßt zwei Produktionsstufen. Die Produktionsstufe 1 gliedert sich in zwei Sektoren. Der erste Sektor, der im folgenden mit F bezeichnet werden soll, produziert die materiellen Elemente des fixen Kapitals, der zweite (im folgenden mit R bezeichnet) produziert Roh- und Hilfsstoffe. Die Produkte beider Sektoren gehen als Elemente des konstanten Kapitals in die Stufe 2 ein, die das Rohmaterial mit Hilfe der von F gelieferten Maschinen weiter verarbeiten, wobei die Produktion der Stufe 1 stets voll in die der Stufe 2 eingeht. Die Wertzusammensetzung der Produktion des Sektors F sei:

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*V.1
So W. Fellner, Was bleibt gültig? in: W. Weber (Hrsg.), Konjunktur- und Beschäftigungstheorie, Köln-Berlin 1967.

*V.2
In der BRD konnte die Bundesregierung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre sogar beträchtliche Haushaltsüberschüsse ansammeln, ohne daß dahinter allerdings eine bewußte finanzpolitische Konzeption im Keynes'schen Sinne stand.

*V.3
Vilmar (1965 S. 36).

*V.4
Kidron a.a.O. S. 59.

*V.5
"Incomes in Postwar Europe" a.a.O. Kap. 6 S. 3: Der Anteil der gesamten Steuereinnahmen des Staates am Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1953 und 1964 in den westeuropäischen Ländern um durchschnittlich 4 %.

*V.6
Vilmar a.a.O. S. 103.

*V.7
M. D. Reagan (1963), P. K. Crosser (I960), E. Ginzberg (1965), M. Weidenbaum (1969), S. Melman (1968), R. T. Averitt (1970).

*V.8
Nach K. Boulding, zitiert bei: V. Vilmar, 1973 S. 163. Vgl. auch: G. Kolko, Besitz und Macht, Frankfurt 1967.

*V.9
Zieht man von den Gesamtausgaben die darin enthaltenen Transferzahlungen an private Haushalte ab, so bleibt eine Summe von Käufen von Gütern und Dienstleistungen des Staates, die 25 % des Bruttosozialprodukts ausmacht.

*V.10
Shonfield macht überdies das Streben der Eisenhower-Regierung nach Budgetüberschüssen in den Jahren 1958 bis 1960 für die Rezession 1961 verantwortlich.

*V.11
1971 betrug das Defizit 22 Mrd. Dollar, 1972 wuchs es auf nicht weniger als 38 Mrd. Dollar an.

*V.12
Weidenbaum in M. Reagan (Hrsg.), Politics, Economics and the General Weifare, Glenview Illinois 1965.

*V.13
E. Mandel (1968 S. 550).

*V.14
Vilmar a.a.O. S. 302, Crosser a.a.O. S. 30.

*V.15
Crosser S. 29. Vgl. auch die Aufstellung der Preisindizes für Investitionsgüter und Konsumgüter bei Hofmann a.a.O. S. 50.

*V.16
"It should be realized that the very existence of the United States as a technologically advanced capitalist country is dependent upon the annual rate of net capital formation as embodied in the rate of annual industrial expansion. If that rate is realized through the use of tax money, it can be asserted that the concept of private enterprise has undergone a basic transformation. Private enterprise has become, in its most significant phase — the phase of capital formation — a state-financed enterprise, and thus represents a blatant example of State capitalist experience " (Crosser a.a.O. S. 27/28).

*V.17
Baran/Sweezy, (1967).

*V.18
Vgl. hierzu die Darstellungen von Mattick, sowie Rudi Schmiede, Zentrale Probleme der Marx'schen Akkumulations- und Krisentheorie, Frankfurt 1973 und W. Semmler "Kapitalakkumulation, Lohnbewegung und Staatseingriffe" in: "Probleme des Klassenkampfes" Febr. 1972.

*V.19
M. Blaug, "Technical Change and Marxian Economics" in: "Kyklos" Vol. XIII Jg. 1960.

*V.20
Marx, Theorien über den Mehrwert, III a.a.O. S. 356 ff.

*V.21
Marx, Das Kapital, a.a.O. S. 641.

*V.22
Hier ergibt sich eine Bestätigung der Marx'schen These, daß "mit der wachsenden Produktivität der Arbeit nicht nur der Umfang der von ihr vernutzten Produktionsmittel steigt, sondern deren Wert, verglichen mit ihrem Umfang, sinkt. Ihr Wert steigt absolut, aber nicht proportionell mit ihrem Umfang" (Kap. 23 Bd. I S. 651).

*V.23
Schmiede, a.a.O. S. 145 f.

*V.24
Vgl. hierzu: Steindl 1952 S. 161 und Hansen 1941, darin: "The Changing Character of Government Expenditures".

*V.25
A. Pesenti, "Der tendenzielle Fall der Profitrate" in: "Kapitalismus und Krise" hrsg. von C. Rolshausen 1970 S. 52, ferner Mattick Frankfurt 1971 S. 96 f. und Steindl a.a.O. S. 155 f.

*V.26
Hierzu vgl. H. Grossmann (1970 S. 117 f.).

*V.27
Dazu zusammenfassend K. Rothschild (1966 S. 157 f.).

*V.28
Kapital I. S. 127.

*V.29
Marx spielt hier offenbar auf die Kreditschöpfungslehre MacLeods an, die er verwarf. Darin klingt das Pathos der klassischen gegen die merkantilistische Ökonomie an, die nachdrücklich den Standpunkt der Produktion gegen die monetäre Illusion vertrat. Die Marx'sche Kredittheorie und ihr Verhältnis zur klassischen Ökonomie sowie der Zusammenhang zwischen Kredittheorie und Realisierungsproblem bedürfte einer sehr viel genaueren Auseinandersetzung, als es im Rahmen dieser Arbeit möglich ist.

*V.30
Hilferding (1968 S. 326 f.).

*V.31
M. v. Tugan-Baranowsky (1902) — Die Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und den "Disproportionalitätstheoretikern" kann im folgenden nur sehr verkürzt und fragmentarisch wiedergegeben werden.

*V.32
Vgl. hierzu die Darstellung von A. Hahn, "Die Grundirrtümer von Lord Keynes' General Theory of Employment, Interest and Money" in: Ordo 1949.

*V.33
Grossmann, a.a.O., S. 105.

*V.34
Es dürfte klar sein, daß die Subsumierung Rosa Luxemburgs unter die Schule der "Unterkonsumptionstheoretiker", wie sie von vielen marxistischen Autoren und auch von Schmiede (S. 202) vorgenommen wird, nicht korrekt ist. Das Realisierungsproblem ist bei Rosa Luxemburg ein absolutes; es ist in der Kapitalzirkulation als solcher angelegt und hat mit dem Umfang der Konsumnachfrage und dem Verhältnis der beiden Produktionsabteilungen nichts zu tun. Rosa Luxemburg wäre daher auch nie auf den Gedanken gekommen, Lohnerhöhungen als Mittel zur Überwindung der Krise zu empfehlen.

*V.35
a.a.O., S. 323.

*V.36
E. Schneider, Einführung in die Wirtschaftstheorie III, Tübingen 1952 S. 24 f., vgl. auch die ausführliche Diskussion bei V. F. Wagner.

*V.37
Vgl. dazu Grossmann, S. 226 f.

*V.38
Eine ausführliche empirische Untersuchung der Entwicklung des Geldvolumens liegt in den Studien von G. Friedman und A. Schwanz vor. Zusammenfassend: M. Friedman, Die optimale Geldmenge und andere Essays, München 1970.

*V.39
"Das gemischte Wirtschaftssystem ist in allen kapitalistischen Ländern verwirklicht — mit oder ohne Vollbeschäftigung. In einigen hat es nicht nur ausgedehnte Depressionen verhindert, sondern auch eine nie gekannte Prosperität geschaffen, die es den Wohlsituierten erlaubt, von einer ´Gesellschaft des Überflusses' zu sprechen." (a.a.O. S. 342).

*V.40
Marx a.a.O. S. 129.

*V.41
Der eklektizistische Charakter der Mandel'schen Argumentation zeigt sich darin, daß hundert Seiten später die gegenteilige Behauptung aufgestellt wird: "Wenn also von der Funktion her Lohnarbeit unproduktiv bleibt, wenn sie sogar ein notwendiges Moment der Reproduktion darstellt, so dürfte dies ebenfalls auf Arbeiten, die keine direkte Rolle im Reproduktionsprozeß spielen, zutreffen. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Austausch von persönlichen Dienstleistungen gegen Revenuen, insofern er nicht zur Produktion von Waren führt, nun plötzlich deshalb produktiv werden sollte, weil er als kapitalistisches Geschäft organisiert und mit Lohnarbeit vollzogen wird." (a.a.O. S. 369).

*V.42
Neben Mattick wird diese These auch von R. Schmiede (a.a.O) und von J. Morris aufgestellt.

*V.43
Hierin bestand der entscheidende Irrtum der "Disproportionalitätstheoretiker" (Hilferding, Tugan-Baranowsky usw.), die anhand der Marx´schen Reproduktionsschemata das Nicht-Vorhandensein des Realisierungsproblems nachweisen zu können glaubten. Dieser "Nachweis" war aber nur deshalb möglich, weil die Geldzirkulation und damit auch das Realisierungsproblem von vornherein aus der Analyse ausgeklammert war.

*V.44
Dieser Tendenz zur abnehmenden "Selbstfinanzierung" des gesamtwirtschaftlichen Akkumulationsprozesses entspricht die von vielen Autoren — (so unter anderen Gillman, Prosperität in der Krise, S. 74 f.) — dokumentierte Tendenz zur zunehmenden Selbstfinanzierung der großen Kapitalgesellschaften, ihrer Abneigung gegen die Finanzierung ihrer Investitionen durch Kreditaufnahme. Daraus erklärt sich die zunehmende Unabhängigkeit dieser Gesellschaften von den Banken und ihre Immunität gegenüber den Maßnahmen der Geld- und Kreditpolitik.

*V.45
Baran/Sweezy a.a.O. S. 147.

*V.46
Vgl. dazu L. Klein.

*V.47
Vgl. dazu den instruktiven Artikel von H. C. Wallich, "Hohe Defizite im US-Staatshaushalt" in der "FAZ", 4. 9. 72.

*V.48
Die Zukunft des Keynesianismus wird keineswegs nur von marxistischen Autoren pessimistisch beurteilt. Auch manche Autoren der akademischen Nationalökonomie sind sich der mit der Ausdehnung der Staatstätigkeit verbundenen Gefahren bewußt (vgl. dazu K. Littmann, 1957 S. 167).

*V.49
F. Vilmar, W. Möller, Sozialistische Friedenspolitik für Europa, Reinbek 1972.

*V.50
Hierzu auch Kroll über die Funktion der Rüstungsausgaben, a.a.O. S. 352 f.




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