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Team Gerhard Pasternack
Thema Georg Lukács - Späte Ästhetik und Literaturtheorie ( Original )
Status Hauptteil - 1985, 1986 - 2. ergänzte Auflage
Letzte Bearbeitung 05/2004
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1. SYSTEMATISCH-HISTORISCHE EXPLIKATION DER MIMESIS
1.1. Entwicklungsphasen der mimetischen Reproduktion
1.1.1. Grundlagen der mimetischen Reproduktion
1.1.2. Differenzierung der mimetischen Reproduktion Loslösung der ästhetischen Mimesis
1.2. Explikationsebenen der mimetischen Reproduktion
1.2.1. Prinzipielle Einheit des Ästhetischen und radikale Historizität
1.2.1.1. Regulativa, Primitiva und Formativa der Konstitution der ästhetischen Werkwelt
1.2.1.2. Klassifikation ästhetischer Prinzipien
1.2.2. Struktur und Funktion
1.2.2.1. Funktionswandel der Kategorien
1.2.2.2. Das homogene Medium
1.2.2.3. Evokation des ästhetischen Sinns
1.2.3. Primitiva und Formativa
1.3. Funktionen der ästhetischen mimetischen Reproduktionn
1.3.1. Physiologisch-psychologische Grundlage des ästhetischen Verhaltens
1.3.2. Stadien des Rezeptionsprozesses
1.3.3. Soziale Funktionen des Ästhetischen

1. SYSTEMATISCH-HISTORISCHE EXPLIKATION DER MIMESIS

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Die begriffssystematischen Explikationen und die Skizzierung der gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entwicklungsprozesse bilden in der Argumentation von Lukács ein (implizites) Modell der mimetischen Reproduktion, *143 auch wenn die Darstellungsweise von Lukács nicht auf Schematisierungen abzielt, im Gegenteil, seine philosophische Analyse oftmals durch referierende und narrative Ausführungen einen unsystematischen Anschein erweckt.
Das systematisch-historische Verfahren erfordert allerdings, daß gleichzeitig mit der systematischen Entfaltung von Begriffszusammenhängen die Skizzierung gattungsgeschichtlicher und soziohistorischer Prozesse einhergeht. Nur aus Gründen der vereinfachenden Übersicht lassen sich in der Rekonstruktion der mimetischen Reproduktion Phasen und Ebenen voneinander trennen.
Im folgenden soll aus Gründen der Übersichtlichkeit, und über Lukács‘ eigene Darstellung hinausgehend, unterschieden werden.

1.1. Entwicklungsphasen der mimetischen Reproduktion

Die systematisch-historische Rekonstruktion der Mimesis hat die philosophische Analyse der Widerspiegelung zur Voraussetzung, weil die Mimesis per definitionem eine in Praxis umgesetzte Widerspiegelung ist. Die erkenntnistheoretische Analyse muß dabei von den Wirklichkeitsmodellen ausgehen, wie sie im Alltagsdenken, in Wissenschaft und Kunst als Aneignungsformen " ein und derselben Wirklichkeit " vorliegen. Ausgangspunkt ist für die Analyse nicht ein ontisches Substrat, sondern der Wirklichkeitsbegriff wird immer schon in Relation zu den verschiedenen Aneignungsformen im Alltagsleben und Alltagsdenken, in Kunst und Wissenschaft eingeführt, d.h. als Wirklichkeitsmodell.
Lukács setzt deshalb nicht bei grundlegenden ontologischen

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Untersuchungen an, sondern beginnt mit der Analyse des Alltagsdenkens, des Alltagslebens und der Alltagswirklichkeit. Die mimetische Reproduktion soll in ihrer elementarsten Form, aber auf ihrer " entwickeltsten Stufe " kategorial expliziert und historisch rekonstruiert werden. Die Analyse muß von der vollentwickelten gegenwärtigen Alltagswirklichkeit ausgehen. Die begriffssystematischen Explikationen werden dabei methodisch reduziert auf Bestimmungen der Subjekt-Objekt-Relation, die gattungsgeschichtlichen, soziohistorischen, religions- und kunstgeschichtlichen Rekonstruktionen werden methodisch auf Skizzierungen und " kursorische Analysen " beschränkt, die im Rahmen der historisch-materialistischen Grundtheorien durchgeführt werden. *144 Die ÄSTHETIK selbst enthält keine ausführlichen Darstellungen dieser Grundtheorien, z.B. der Ontologie, Erkenntnistheorie, Historik und Politischen Ökonomie; sie setzt diese voraus. Von diesem Ansatzpunkt her ist sicherzustellen, daß die Konstitution des Ästhetischen nicht von vorgängigen Bereichsausgrenzungen oder von apriorischen " Seelenvermögen " abhängig gemacht wird.
Die philosophische Analyse der Alltagswirklichkeit, des Alltagslebens und des Alltagsdenkens *145 kann sich wegen der fehlenden Vorarbeiten nicht an einer Theorie des Alltags orientieren; sie kann aber wegen der Komplexität und Disparatheit der Phänomenologie des Alltags nicht bei den " unendlich vielfältigen Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen (Ehe, Liebe, Familie, Freundschaft etc.) " oder bei den " verschiedenen Formen der Nebenbeschäftigung, Vergnügung etc. " ansetzen, schon gar nicht bei solchen Phänomenen des Alltags wie Mode etc. *146
Die Schwierigkeiten sind aber nicht nur durch die Disparatheit der Phänomene des Alltagslebens begründet, sondern in dem " flüchtigen " Charakter, in der mangelnden Fixiertheit vieler Objektivationen der mimetischen Reproduktion in diesem Bereich.

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1.1.1. Grundlagen der mimetischen Reproduktion

Auch eine bloß kursorische Analyse des Alltagslebens muß daher als kategoriale Analyse durchgeführt werden: Sie setzt bei den Grundformen der menschlichen Lebensweise, bei Arbeit und Sprache an, die in der Alltagswirklichkeit als elementarstem Wirklichkeitsmodell bereits den Charakter von Objektivationen haben. *147 Von der Klärung der kategorialen Bestimmungen aus kann die Analyse den gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Prozeß des Gewordenseins rekonstruieren und die Herausbildung unterschiedlicher Formen der mimetischen Reproduktion beschreiben.
Die kursorische Analyse beschränkt sich deshalb nicht etwa auf ausschnittweise Deskriptionen der Phänomenologie des Alltags, im Gegenteil, sie hat begriffssystematisch und historisch den Konstitutionsprozeß für die Objektivationen anhand der konstitutiven Leistungen von Arbeit und Sprache zu klären, und sie führt zu begriffssystematischen Differenzierungen von Merkmalskomplexen, die gleichzeitig entwicklungslogische Rekonstruktionen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses darstellen. Arbeit und Sprache dienen zur kategorialen Explikation und zur soziohistorischen Konkretisation der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Relation.
Entscheidend für die konstitutive Leistung ist der teleologische Aspekt des " fundamentalen Faktors " Arbeit. Das Resultat des Arbeitsprozesses muß schon bei Beginn desselben in der Vorstellung " ideell vorhanden " sein; darin unterscheidet sich dieser Konstitutionsprozeß von " tierartig instinktiver Arbeit " , wie Lukács im Anschluß an Marx erläutert.
Für die Subjekt-Objekt-Problematik ist dabei ausschlaggebend, daß mit der Konstitution von Objektivationen auch die Entwicklung des Subjekts fortschreitet: Mit der Entwicklung von der tierartig instinktiven Arbeit zu menschlicher Arbeit erfolgt auch die von Marx so charakterisierte " Menschwerdung des Menschen " *148 . Denn Lukács kommt es darauf an, aus der zentralen Tätigkeit des Menschen, der Produktion und

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Reproduktion des eigenen wirklichen Lebens, die Grundlagen und die Antriebe für sämtliche Lebensäußerungen der Menschen zu begreifen, *149 d.h. auch für das Ästhetische. Und dieser " Stoffwechsel mit der Natur " bildet die Grundlage für alle " menschlichen Beziehungen zur Natur " , den praktischen wie auch den theoretischen oder emotionalen (II, 621).
Als weiteren zentralen Merkmalskomplex der Arbeit innerhalb des Alltagslebens arbeitet Lukács den besonderen strukturellen Status der Objektivationen heraus. Die Objektivationen der Arbeitsprozesse des Alltagslebens haben eine " veränderliche Wesensart " , sie sind nur schwach fixierte Gebilde im Unterschied zu der starken Fixiertheit der Objektivationen z.B. in Wissenschaft und Kunst.
Die Sprache, deren Entstehung sprachphilosophisch begründet wird im Anschluß an Marx " aus den Bedürfnissen der Arbeit " *150 ist ein " kompliziertes Vermittlungssystem " zwischen Subjekt und Objekt, zu dem sich das Subjekt aber unmittelbar verhält. Dennoch geht die Sprache über die bloße Unmittelbarkeit hinaus und zeigt einen Vorgang der Vermittlung und Verallgemeinerung, wie an der Sprachgeschichte abzulesen ist. Beide Funktionen werden von Lukács hervorgehoben: Die Sprache erschließt unmittelbar die Innen- und Außenwelt dem Menschen; die Sprache des Alltagslebens macht aber oftmals die Rezeption der Innen- und Außenwelt der Menschen unmöglich oder erschwert sie zumindest (I, 60). Auch diese Funktion der Sprache ist entwicklungslogisch bedeutsam, weil der Mensch neben der Unmittelbarkeit der Alltagssprache eine zweite Unmittelbarkeit entwickeln kann, die speziell für das Ästhetische von Bedeutung sein wird. *151
Die gleiche entwicklungslogische Tendenz läßt sich auch für die " zwei Pole des Alltagslebens " nachweisen, die Lukács als doppelte Schranke charakterisiert: Die Verschwommenheit und die Erstarrung (I, 61). Denn sowohl in der sich gattungsgeschichtlich entwickelnden theoretisch-wissenschaftlichen Sprache als auch in der ästhetischliterarischen läßt sich ein Prozeß verfolgen, der zur Überwindung dieser strukturellen Bestimmungen führt. *152

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Als grundlegende kategoriale und entwicklungslogisch folgenreiche Bestimmungen nicht der Phänomenologie des Alltagslebens, sondern der Konstitution der Objektivationen der Alltagswirklichkeit lassen sich folgende fundamentale Merkmale herausstellen, die die spezifische Ausformung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses innerhalb des Alltagsdenkens charakterisieren bzw. grundlegende Operationen der Konstitutionsprozesse benennen:
  1. Teleologie der Konstitutionsprozesse;
  2. Anthropomorphismus der Modellierung der Alltagswirklichkeit;
  3. Unmittelbarkeit und Spontaneität des Alltagsdenkens im Zusammenwirken von Theorie und Praxis;
  4. Verschwommenheit und Erstarrung als die " zwei Pole des Alltagslebens " und Alltagsdenkens;
  5. Schwache Fixierung der Objektivationen des Alltagslebens und Alltagsdenkens.
Das grundlegende kategoriale Explikat für die Subjekt-Objekt-Relation der Wirklichkeitsmodelle des Alltagsdenkens ist die anthropomorphisierende Beziehung, die nicht als personifizierende Bestimmung, sondern als unmittelbare Beziehung von Subjekt und Objekt zu interpretieren ist. *153
Die kategorialen Bestimmungen sind gewordene im Prozeß der gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entwicklungen. Lukács setzt explizit beim Alltagsleben im Kapitalismus ein, um von der " entwickeltsten Stufe " her die soziohistorisch vorausliegenden Ausformungen rekonstruieren zu können. Die Kenntnis der ökonomischen und politischen Prozesse der " Erscheinungsweisen des kapitalistischen Alltags " (I,66) ermöglicht Einsichten in die Richtung der gesamten historischen Entwicklung (I, 67). Die Weiterentwicklung des Alltagsdenkens als gattungsgeschichtliche " Höherentwicklung " (I, 74) setzt " denkerische Verhaltensarten " voraus, die " qualitativ über den Horizont des Alltagsdenkens hinausgehen " :
  1. Differenzierungen der Objektivationen zu " entwickelten und ausgebauten Objektivationen " , wie sie in der Wissenschaft, aber auch in der Kunst vorliegen;
  2. Spezialisierung des Mediums der Objektivationen, durch die alle die betreffenden Objektivationen produktiv wie rezeptiv realisiert werden können (I, 72);
  3. Entwicklung intentionierter Objekti-

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    vationen‘ die mittels spezifizierter Strukturierungen und Konzentrierungen trotz der Spezialisierung den " Menschen ganz " zum Ausdruck bringen können, in, Unterschied zur unstrukturierten, unkonzentrierten Ausdrucks- und Handlungsform des ganzen Menschen des Alltags.
Denn im Alltagsleben ist das Selbstbewußtsein ebenso auf die unmittelbare Praxis bezogen wie das Bewußtsein über die Außenwelt. Während das Bewußtsein über die Objektwelt sich im wissenschaftlichen Bereich verselbständigt und von den unmittelbaren Praxiserfordernissen ablöst, entsteht im ästhetischen Bereich " ein allmähliches sich-Ablösen des Selbstbewußtseins von der Alltagspraxist " . *155 Im Bereich der ästhetischen mimetischen Reproduktion wird es daher möglich, die implizit in " Stoffwechsel mit der Natur " vorhandene Beziehung eines jeden Individuums zur Menschengattung und zu ihrer Entwicklung explizit zu entfalten (I, 236). Die ästhetische mimetische Reproduktion kann daher zur Konstituierung des Selbstbewußtseins der Gattung fortschreiten (I, 698). Das Ästhetische ist die adäquateste Form für die Äußerung des Selbstbewußtseins der Gattung (I, 605, I, 614 ff), und die ästhetische Subjektivität ist immer auch Selbstbewußtsein der Gattung. Dieser entwicklungslogische Prozeß innerhalb der Gattungsgeschichte erweist sich kategorial als eine wesentliche Differenzierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses und soziohistorisch als eine " Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen " .
Begriffssystematisch ist daher zu unterscheiden zwischen Anthropomorphisierung und Desanthropomorphisierung innerhalb des Konstitutionsprozesses.
  1. Anthropomorphisierung bedeutet nicht einfach im engeren Sinn Personifizierung, sondern, speziell die Subjekt-Objekt-Relation betreffend, eine unmittelbare Verknüpfung von Subjekt und Objekt; wie sie im Alltagsleben vorliegt und keine Loslösung vom Subjektivismus des Alltagsdenkens *156 ermöglicht.
  2. Desanthropomorphisierung bezieht sich sowohl auf das Objekt als auch auf das Subjekt innerhalb einer differenzierten,

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    d.h. nicht mehr unmittelbaren Subjekt-Objekt-Relation. Gekennzeichnet ist diese Beziehung durch Theoretizität und Methodizität (I, 145 f.; I, 193). D.h. Wirklichkeitserfassung ist nicht unmittelbar, sondern einerseits von Theorien abhängig, andererseits durch methodische Verfahren vermittelt. *157 Der Objektbereich konstituiert sich als ein An-sich; im Subjektbereich werden die anthropomorphen " Entstellungen der Objektivität " durch die subjektiven Anschauungen. Vorstellungen und Begriffsbildungen kontrolliert und eliminiert.
Das gattungsgeschichtliche und soziohistorische Gewordensein dieser kategorialen Differenzierungen skizziert Lukács in einem kursorischen Durchgang von der Antike bis zur Gegenwart von der ersten Trennung der Wissenschaft vom Alltagsdenken, über erneute Anthropomorphisierungstendenzen bis zum Prozeß der vollständigen Desanthropomorphisierung in der Neuzeit mit den Beginn der Renaissance. *158 Dabei geht er vor allem auf die ökonomischen Bedingungen, auf die materielle Basis für diese schrankenlose Entwicklung der Wissenschaft ein (I, 197). *159
Als Ergebnis des langwierigen gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entwicklungsprozesses *160 ist einerseits die Trennung von wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken festzuhalten, auf der andern Seite aber auch die Loslösung und Differenzierung zwischen Wissenschaft und Kunst: Kategorial als Differenzierung, als theoretisch unüberbrückbare Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst (I, 205 f.), historisch als Auflösung der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst wie sie bis in das Renaissancezeitalter zu verfolgen ist.
Die Unterscheidungen zwischen Alltagsdenken, Wissenschaft und Kunst werden in Lukács Argumentationsgang durch Ausdifferenzierung von Merkmalskomplexen nach und nach begrifflich festgelegt. Der Übersicht halber sollen die wichtigsten Merkmalskomplexe für die drei Bereiche tabellarisch aufgelistet werden.

1.1.2. Differenzierung der mimetischen Reproduktion Loslösung der ästhetischen Mimesis

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In der philosophischen Analyse expliziert Lukács zunächst in begrifflich allgemeiner Form den Differenzierungsprozeß der mimetischen Reproduktion, denn die Ausdifferenzierung der ästhetischen mimetischen Reproduktion setzt andere Differenzierungen voraus. Es ist eine jahrtausendelange Entwicklung nötig, bis sich eine besondere " Sphäre der menschlichen Tätigkeit konstituiert " (I, 207). Dabei darf nicht übersehen werden, daß fortlaufend auch Rückwirkungen von differenzierten mimetischen Formen in Wissenschaft und Kunst auf die Alltagspraxis, deren Wahrnehmungsgewohnheiten und Handlungsorientierungen innerhalb der Kontingenzbewältigung stattfinden, so daß der Ablösungsprozeß aus dem Alltagsdenken über lange Zeiten unauffällig vor sich gehen kann, auch wenn die Differenzierung kategorial eindeutig ist.
Einen wichtigen Unterschied in der Differenzierung von Wissenschaft und Kunst hebt Lukács hervor: Die Kunst löst sich langsamer ab (I, 207). Das hat materielle Gründe. Während die Wissenschaft in der Reproduktion der materiellen Existenz eine Funktion hat, ist die Kunst nicht eingebunden in die Bewältigung des materiellen Alltagslebens; ferner ist eine bestimmte Höhe der Technik Voraussetzung für mimetische Reproduktionsprozesse, die sich vom Alltagsleben lösen. Entscheidend ist ein gattungsgeschichtliches Argument: Die Entwicklung der fünf Sinne in den Arbeitsprozessen. Hierbei handelt es sich nicht um rein anthropologische Entwicklungen, sondern um eine gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung der menschlichen Sinne und Denktätigkeiten (I, 221). d.h. um eine " Arbeitsteilung der Sinne durch Arbeit " *161 Diese gattungsgeschichtliche Entwicklung der Wahrnehmungs- und Denktätigkeiten erfolgt in Wissenschaft und Kunst nicht gleichförmig, auch wenn, geschichtlich gesehen, die wissenschaftlichen mimetischen Reproduktionen mit den ästhetischen lange Zeit verbunden sind. *162 Die ästhetische mimetische Reproduktion folgt nicht den Rationalitätskriterien, wie sie sich in

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der Wissenschaft entwickeln, und sie bildet in jahrtausendelanger Entwicklung eine Wahrheitsforderung heraus, die sich von den “Maßstäben“ der wissenschaftlichen Wahrheit befreit (I, 217).
Kategoriale Grundlage dieser Ausdifferenzierung ist das spezifische Subjekt-Objekt-Verhältnis, das der ästhetischen mimetischen Reproduktion zugrundeliegt: es ist eine anthropomorphisierende Relation im Unterschied zur desanthropomorphisierenden der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Auch wenn gattungsgeschichtlich und soziohistorisch ein langwieriger Entwicklungsprozeß anzusetzen ist, in dem über lange Zeiträume parallele Entwicklungen möglich sind, ist kategorial von einer strikten Trennung der Reproduktionsbereiche der Wissenschaft auf der einen Seite und des Alltagsdenkens, der Magie und Religion und der Kunst auf der andern Seite auszugehen aufgrund der grundlegenden Differenzen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Die kategoriale Trennung zwischen Desanthropomorphisierung und Anthropomorphisierung ist eindeutig: schwieriger läßt sich die Untergliederung der anthropomorphisierenden Reproduktionsverfahren kategorial aufweisen (I, 222), wie noch zu zeigen sein wird. Die Komplexität dieses Entwicklungsprozesses in seiner gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Disparatheit kann kategorial nur erfaßt werden, wenn die philosophische Analyse bei den " dünnsten Abstrakta " , und d.h. der Subjekt-Objekt-Relation der mimetischen Reproduktion einsetzt. Von hier aus kann die philosophische Analyse die grundlegenden Unterschiede der Genesis herausarbeiten selbst dort, wo im historisch konkreten Entwicklungsprozeß parallele Entwicklungen, Überschneidungen und Annäherungen festzustellen sind. Kategorial sind eindeutig die Subjekt-Objekt-Relationen zu unterscheiden:
Die desanthropomorphisierende Reproduktion ist definiert durch die strikte Subjekt-Objekt-Trennung, die methodologisch konsequent zur Theorie-Empirie-Distinktion führt und zu methodischen Erkenntnisprozeduren, die die Unmittelbarkeit und die Grenzen der Sinneserfahrung aufheben und intersubjektive Kontrollverfahren ermöglichen, d.h. die " Selbstkon-

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trolle sozusagen automatisieren "
(I, 146). Die anthropomorphierende mimetische Reproduktion dagegen ist definiert durch die fortdauernde Verknüpfung von Subjekt und Objekt, wobei allerdings zwischen Objekt und Methode der Anthropomorphisierung unterschieden werden muß (I, 215).
Die ästhetisch mimetische Reproduktion ist nun gegenüber dem Alltagsdenken, der Magie und Religion insbesondere dadurch gekennzeichnet. daß die spezifisch ästhetische Gegenständlichkeit durch das " unaufhebbare Ineinander von Subjektivität und Objektivität " bestimmt ist: unaufhebbar in theoretisch strenger Bedeutung, so daß der Bereich des Ästhetischen auch im Rahmen der materialistischen Grundtheorien (Ontologie, Erkenntnistheorie) als der Bereich expliziert werden muß, in dem einzig kein Objekt ohne Subjekt existieren kann: " Was in jedem anderen Gebiet des menschlichen Lebens ein philosophischer Idealismus wäre, nämlich daß kein Objekt ohne Subjekt existieren könne, ist im Ästhetischen ein Wesenszug seiner spezifischen Gegenständlichkeit " (I, 293). *163
Das unaufhebbare Ineinander dieser Relation setzt mit der gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entstehung des spezifisch ästhetischen Objektbereichs auch die Entstehung der spezifisch ästhetischen Subjektivität voraus (I, 229), da die Konstitution des Ästhetischen von beiden Relaten abhängig ist. Denn Gegenstand der ästhetischen mimetischen Reproduktion ist letzthin in abstraktester Form der " Stoffwechsel mit der Natur " , nicht etwa die Natur " an sich " . Dieser " Stoffwechsel " ist aber als Relation definiert und bezieht einerseits als Objektbereich die Gesamtheit der gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Erscheinungen ein, andererseits umfaßt er nicht nur das historisch vereinzelte Individuum. sondern " die Beziehung des Individuums zur Menschengattung " (I, 236).
Auf der abstraktesten Ebene läßt sich die gattungsgeschichtliche und soziohistorische Herausbildung der ästhetischen mimetischen Reproduktion deshalb als Entwicklung des ästhetischen Prinzips charakterisieren, das diese Form der mimetischen Reproduktion grundsätzlich von anderen mimetischen Operationen abgrenzt.

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Zweierlei hebt Lukács dabei in Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition hervor: Das ästhetische Prinzip ist ein Ergebnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, es ist Resultat eines Entwicklungsprozesses, kein ursprüngliches Vermögen der Menschheit (I, 229), *164 und dieses Prinzip begründet die Einheit des Ästhetischen auf der abstraktesten Explikationsebene trotz der Vielfalt realer Ursprünge der Kunst und der Verschiedenheit in der Entstehung der Kunstgattungen und Kunstarten in der konkreten soziohistorischen und kunstgeschichtlichen Entwicklung. Die Universalität des ästhetischen Prinzips ist mit der historischen Verschiedenheit in der Genesis der Kunst und in der Phänomenologie der Kunst zu vereinbaren (I, 234 f.). In Lukács‘ philosophischer Analyse wird daher die Begründung der soziohistorischen Phasen der Entwicklung der mimetischen Reproduktion überlagert von der Explikation der kategorialen Bestimmungen der Konstitution des Ästhetischen auf der Ebene der " dünnsten Abstrakta " . Diese Analyse erfordert einen komplexen systematischen und historischen Argumentationszusammenhang, und Lukács verwendet daher zur Explikation implizit ein Phasen- und ein Ebenenmodell.
Im Rückgriff auf die Kategorie der Arbeit, die konstitutiv ist für alle mimetischen Reproduktionen des Menschen (ein " Vehikel zur Menschwerdung des Menschen " ) und die in ihren beiden Dimensionen als " allgemeine Arbeit " . d.h. als " Prozeß zwischen Mensch und Natur " *165 und als historisch besondere Arbeitsform zu verstehen ist, hat Lukács die theoretische Grundlage, um die " prinzipielle Einheit des Ästhetischen " (I, 222) in seiner Universalität und in seinem historischen Gewordensein zu begründen.
In seinem Explikationsmodell, das mehrere Ebenen umfaßt, versucht Lukács deshalb, die prinzipiellen Bedingungen der Konstitution des Ästhetischen von den besonderen Bedingungen der Kunstgattungen und Kunstarten und den " spezifischen Regeln der Komposition von Werkindividualitäten " zu trennen. Zunächst aber ist die Ausdifferenzierung der ästhetisch mimetischen Reproduktion aus der Gesamtklasse der anthropomorphi-

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sierenden Reproduktion systematisch und historisch zu leisten. Die Gesamtklasse der anthropomorphisierenden Reproduktion umfaßt ja nicht nur das Alltagsdenken als elementarste Form, sondern auch Magie und Religion neben der Kunst. Für die interne Differenzierung der anthropomorphisierenden Reproduktion sind deshalb andere Kriterien erforderlich als für die Unterscheidung zwischen Desanthropomorphisierung und Anthropomorphisierung.
Die Entstehung der ästhetischen Mimesis oder evokativen Mimesis als ein Prozeß der Loslösung aus der allgemeinen mimetischen Reproduktion, wie sie im Alltagsleben vorliegt und die speziell als eine Trennung von der magischen Mimesis in Erscheinung tritt, ist einerseits unter den gattungsgeschichtlich langfristigen („jahrtausendelangen“) Entwicklungen zu sehen, andererseits erweist sich die kategoriale Ausdifferenzierung als ein “Sprung“ (I, 386). Die Mimesiskonzeption von Lukács hat beide Problemstellungen zu ihrem Inhalt: Den gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Zusammenhang aller mimetischen Reproduktionsformen und die kategoriale Differenzierung, die trotz langfristiger gemeinsamer Entwicklungslinien dennoch zu einer begriffssystematisch strengen Unterscheidung führt.
So ist die gattungsgeschichtliche und soziohistorische Entwicklung nicht als eine einfache Abfolge unterschiedlicher mimetischer Reproduktionsformen zu denken: Von der elementaren Mimesis des Alltagslebens zur wissenschaftlich-theoretischen Mimesis, von der magischen Mimesis zur evokativen Mimesis der Kunst. Vielmehr ist von Gemeinsamkeiten der Entwicklung auszugehen und von dem Nebeneinander der unterschiedlichen mimetischen Reproduktionen, die dennoch begriffsscharf voneinander abzugrenzen sind, sofern ein bestimmter Entwicklungsstand gattungsgeschichtlich und soziohistorisch erreicht ist.
Die Mimesiskonzeption ist, auch wenn die Erkenntnistheorie als Grundlage für die begriffs-systematischen Expllkationen dient, nicht auf abstrakte Abbild- oder Widerspiegelungsverhältnisse zu reduzieren. *166 Sie ist bestimmt durch den Mime-

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sisbegriff als Umsetzung der “Widerspiegelung eines Phänomens der Wirklichkeit in die eigene Praxis“ (I, 352). und das heißt, daß die Mimesis als Operation definiert ist. die strukturierte Wirklichkeitsmodelle zum Resultat hat (Bilder der objektiven Wirklichkeit). *167 Die gattungsgeschichtliche und soziohistorische Entwicklung dieser mimetischen Reproduktion setzt für die Weiterentwicklung der Operationen wie für die Differenzierung der Resultate Veränderungen der soziohistorischen ökonomischen " Bedürfnisse " , der instrumentellen und medialen " Techniken " , *168 aber auch der psychophysischen und intentionalen Bewusstseinsprozesse voraus. Die Disparatheit der Entwicklungsbedingungen, die eine Vielzahl von einzelwissenschaftlichen Forschungen erfordert, kann nicht allein auf der Grundlage der Erkenntnistheorie expliziert werden. Die philosophische Analyse muß sich daher darauf beschränken, den Entstehungsprozeß der ästhetischen Mimesis durch begriffssystematische Differenzierungen und komplexe Merkmalsbestimmungen systematisch-historisch zu entfalten; sie liefert damit keinen Ersatz für die theoretische und empirische Einzelforschung.
Für diese begriffssystematische Explikation der mimetischen Reproduktion in ihrer elementarsten Form kann sich Lukács auf wenige Merkmale beschränken:
  1. Mimesisoperationen erfolgen unter Selektionsprozessen;
  2. Mimesisoperationen der elementaren Form des Alltagsdenkens unterliegen Erprobungen durch Praxis;
  3. Mimesisoperationen, die von praktischen Zielsetzungen des Menschen geleitet sind und zum Beherrschen der Umwelt führen sollen, zeigen bereits Differenzierungen von zufälligen und verallgemeinerungsfähigen Merkmalen (I, 357 ff).
Mit Hilfe einer so eingegrenzten Klasse von Merkmalskomplexen kann Lukács Differenzierungen der mimetischen Reproduktionen vornehmen. Die Differenzierung der anthropomorphisierenden mimetischen Reproduktion darf in der vorliegenden Reihenfolge nicht als einfache gattungsgeschichtliche, soziohistorische Abfolge gelesen werden, sondern als begriffssystematischer Explikationsprozeß: Elementare Mimesis, magische Mimesis, evokative Mimesis, theoretische Mimesis überlagern entste-

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hungsgeschichtlich einander.
Die elementaren Erfahrungen und Erkenntnisse des Alltagslebens weisen einen Doppelcharakter auf: Sie sind einerseits auf Detailgenauigkeit angelegt, andererseits aber unterliegen sie in starkem Maße Selektionsvorgängen, die von den jeweiligen praktischen Erfordernissen des Alltagslebens bestimmt sind (I, 369). Für die Erkenntnis als Mittel der Handlungsorientierung und Kontingenzbewältigung sind sowohl der Erfahrungsgehalt des Alltagslebens als auch die Mitteilung der Erfahrungsresultate wichtig. Mit der Mitteilungsabsicht ergibt sich die Notwendigkeit mimetischer Operationen und entwickeln sich die Mittel zur mimetischen Reproduktion. Es ist daher festzuhalten. daß selbst die elementarste Form der mimetischen Reproduktion (die unmittelbare Nachahmung als mimetische Gebärde) durch drei Merkmalskomplexe für mimetische Operationen und mimetische Resultate gekennzeichnet ist:
  1. Selektionen, die in der Praxis sich konventionell eingespielt haben aufgrund der Tatsache, daß sie " sich im Verkehr der Menschen untereinander am besten bewährt haben " (I, 369).
  2. Dualität von eindeutigem Sinn und evokativer Aura. *169 Neben der Eindeutigkeit von Gesten und Gebärden gehört die Evokation von Empfindungen durch Gebärde und Handlungen zum Alltegsleben (I, 370).
  3. Analogieverfahren der elementaren Mimesis sind als spontan wahrgenommene Zusammenhänge und daraus entstandene Schlüsse anzusehen.
Diese allgemeinen Merkmalskomplexe lassen eine Vielzahl weiterer Bestimmungen zu und ermöglichen die Beschreibung von Entwicklungen innerhalb der elementaren mimetischen Reproduktion. Denn die Selektionsverfahren unterliegen wechselnden Bedürfnissen des Alltagslebens und sich verändernden historischen Anforderungen. Die, historisch gesehen, in der Praxis von subjektiven Zielsetzungen bestimmte Auswahl kann die " echte Erforschung der objektiven Wirklichkeit herbeiführen " (I, 376) und unter veränderten soziohistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen wesentliche theoretische Bestimmungen betreffen, die auf frühen Entwicklungs-

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stufen dem theoretisch-wissenschaftlichen Denken ( " Kontemplation " ) nur nicht zugänglich waren. Auf diese Weise enthält die elementare Mimesis des Alltagslebens eine " Tendenz zur Entwickelbarkeit " , die in zwei Richtungen gehen kann und nicht als einliniger Prozeß zu denken ist: In Richtung auf Wissenschaft, wenn die Selektionsoperationen nicht auf das zufällig Partikulare gerichtet sind, sondern allgemeine (gesetzesartige) Bestimmungen erfassen. Die angelegte Eindeutigkeit des Sinns wird systematisch weiterentwickelt, und die Analogieverfahren der Unmittelbarkeit des Alltagslebens werden durch " andere logische Formen " verdrängt. Die " Höherentwicklung der Mimesis " kann aber auch in Richtung auf die Kunst erfolgen, die ebenfalls " über die Unmittelbarkeit der einfachen Wahrnehmung hinausgeht " (I, 373).
Durch die begriffssystematische Merkmalsanalyse begründet Lukács keine Entwicklungsgesetze des soziohistorischen Prozesses; er expliziert lediglich die Bestimmungen des Alltagslebens, die gattungsgeschichtlich und soziohistorisch primitive Formen der mimetischen Reproduktion darstellen, die aber bereits in sich selbst eine " Tendenz zur Entwickelbarkeit " tragen und für andere Formen der mimetischen Operationen als Ausgangspunkt zu nehmen sind.
Die philosophische Genesis des Ästhetischen (I, 381), die den Loslösungsprozeß der ästhetischen Mimesis aus anderen Formen der mimetischen Reproduktion systematisch und historisch zu explizieren hat, steht in bezug auf das Verhältnis von Kunst und Religion bzw. Magie vor zwei zentralen Problemen: Sie muß erstens erklären, warum das Ästhetische für einen soziohistorisch langen Zeitraum fast unablösbar mit dem Magischen verbunden war, und sie muß zweitens eine Erklärung dafür liefern, daß die so lange verbundenen magischen und ästhetischen Reproduktionsformen dennoch in divergierenden, jeweils eigenen Voraussetzungen fundiert sind, die schließlich " zu einer endgültigen Trennung von Kunst und Magie führen " (I, 381). *170 Der anthropomorphisierende Charakter der Reproduktion ist dem Magischen und Ästhetischen gemeinsam und daraus folgend die " Tendenz zur Evokation " (I, 377), die dadurch charakterisiert

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ist, daß mimetische Strukturierungen nur ein Teil der " Mitteilung " sind und der Rezeptive den Gesamtsinn der Reproduktion aufgrund seines eigenen " Gefühls " und seiner eigenen " Gedanken " konstituiert. Die Differenzierung der anthropomorphisierenden Subjekt-Objekt-Beziehung, die ja die naive Identifikation von Subjekt- und Objektwelt umfaßt (I, 382), geht aus unterschiedlichen Möglichkeiten der Suspendierung der Objektwelt, d.h. des " Lebens " hervor. Sowohl Magie *171 als auch Kunst haben diese Möglichkeit der Suspendierung, aber entwickeln sie zu unterschiedlichen Formen. Denn die Magie stellt einen Bruch mit der Kontinui-tät des Alltagslebens durch Ekstase und Askese her. Es handelt sich dabei um eine temporäre Suspension der Beziehung zum " Leben " . Ekstase und Askese sind nicht mehr Momente der " normalen Kontinuität des Alltagslebens " (I, 391 ff.). Obwohl Ekstase und Askese keinen grundsätzlichen Bruch mit der mimetischen Reproduktion des Alltagslebens darstellen, sondern nur als ein " Ausweiten und Intensivieren " von Lukács charakterisiert werden (I, 379), führt die temporäre Suspension der alltagspraktischen Objektbeziehungen doch dazu, Magie und Religion aus dem einheitlichen und unmittelbaren Lebenszusammenhang herauszuheben. Diese Suspension des einheitlichen und unmittelbaren Lebenszusammenhangs ist erstes begriffssystematisches Explikat für die Herauslösung der Kunst aus der Magie (I, 380); denn die ästhetische mimetische Reproduktion führt nicht nur zu einer temporären Suspension, sondern zu einer strukturellen Suspension aufgrund der Fixationen im Objektbereich, der stark fixierten Objektivationen, der strukturierten Resultate der Werkproduktion. *172 Magie und Religion schreiben den mimetischen Reproduktionen eine objektive Realität zu und beziehen sie somit in den gesamten Lebens- und Wirklichkeitszusammenhang ein, auch wenn sie nur temporär im Zustand von Ekstase und Askese als Wirklichkeit erfahren werden. Die Kunst hingegen führt aufgrund der strukturellen Suspension des unmittelbaren Lebenszusammenhangs zur Selbstreflexivität ihrer mimetischen Reproduktionen: Das Abbild der Wirklichkeit wird als Abbild aufgefaßt und nicht als Realität. Begrifflich hebt Lukács diesen Unterschied durch Merkmalskom-

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plexe hervor: Die Kunst ist im Unterschied zur Magie durch " Diesseitigkeit " und durch die strukturelle und mediale Fixation der Objektivation, durch die Abrundung zum " abgeschlossenen Werk " (I, 384) bestimmt. Das Differenzmerkmal des abgerundeten und abgeschlossenen Werks ist ein begriffssystematisches Explikat und bezieht sich in Lukács ÄSTHETIK eindeutig auf die systematische Abgrenzung gegenüber den bloß temporären Suspensionen in Magie und Religion. Es zielt auf die stark fixierten Objektivationen der Kunst, ein Merkmal ‚ das die Kunst partiell mit der Wissenschaft gemeinsam hat, *173 und das die strukturelle Suspension des einheitlichen und unmittelbaren Lebens zur Folge hat.
In der späten ÄSTHETIK ist der Begriff des " geschlossenen Werks " , des " abgerundeten Werks " nicht aus der Phänomenologie der Kunst abgeleitet oder gar aus einer speziellen Kunstepoche abstraktiv gewonnen. Diese Differenz im theoretischen Status kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden; *174 es handelt sich um ein allgemeinstes Merkmal der Konstitution des Ästhetischen, um ein Prinzip, das sich gattungsgeschichtlich und soziohistorisch in der mimetischen Reproduktion herausgebildet hat und den Loslösungsprozeß sowie die Abgrenzung des Ästhetischen kennzeichnet.
Nicht weniger wichtig ist die zweite begriffssystematische Explikation des Ablösungsprozesses des Ästhetischen aus dem Magischen. Lukács geht davon aus, daß gattungsgeschichtlich und soziohistorisch sich dieser Ablösungsprozeß nicht aus irgendeinem ursprünglichen ästhetischen Vermögen entwickelt, sondern " von außen " , aufgrund der Bedürfnisse der Magie (I, 438), die auf evokative Wirkung angewiesen ist, d.h. auf das Hervorrufen von " Realität " durch die Gefühle und Gedanken der Subjekte der ekstatischen oder asketischen Prozesse. Sobald diese Evokation als ein bewußtes Herbeiführen durch (formale) Mittel der mimetischen Reproduktion erfolgt, d.h. als bewußtes “Leiten der Evokation‘ in mimetischen Gebilden (I, 409), entstehen spontan die " wichtigsten Aufbaukategorien " , die kompositorischen Regeln und die Funktionen der " ästhetischen Sphäre " (I, 426). Die Elemente der mimetischen Repro-

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duktion und ihre Kombination werden nun auf Evokation angelegt (I, 410). Auch im Alltagsleben gibt es gestische und symbolische Äußerungen mit evokativer Wirkung, wie bereits dargestellt; aber hier bilden sie " nur ein Element der Gesamtmitteilung " (I, 412). Das bewußte Leiten der Evokation zielt auf die Konstitution einer " Realität " , genau genommen auf den evokativen Eindruck einer Wirklichkeit auf seiten des Rezeptiven. Dieser evokative Eindruck kann entstehen, wenn die Strukturierung der mimetischen Gebilde, d.h. ihre Elemente und Kombinationen (I, 410) einem leitenden Prinzip untergeordnet sind (I, 425). *175 Die kompositorische Strukturierung der mimetischen Reproduktion (der evokativ mimetischen Gebilde) führt zur spezifisch ästhetischen Reproduktion der Wirklichkeit (I, 414). Die kompositorisch intentionierte Evokation als bewußtes Leiten des Rezeptiven hat ihre Wirkung darin, daß der evokative Eindruck einer Wirklichkeit, die Konstitution einer " Realität " nicht als abstrakt Allgemeines, nicht " durch gedankliche Analyse der Begebenheiten gewonnen wird " (I, 421), sondern unmittelbar zur Wahrnehmung und zum " Gefühltwerden " steht. Der evokative Eindruck einer Wirklichkeit liefert zwar nicht eine (vollständige) Phänomenologie der Wirklichkeit in ihrer Partikularität, sondern eine " Realität " , die verallgemeinerbar ist, aber trotz dieser Universalisierung an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden bleibt. Theoretisch wird Lukács diese Wirkung durch die Kategorie der Besonderheit explizieren. *176
Das heißt, die Loslösung des Ästhetischen aus dem Magischen und dem Alltagsleben setzt Strukturierungsoperationen voraus, die allgemeinste Konstituenten des Ästhetischen betreffen und auf " mimetische Gebilde " als geschlossene Systeme zielen. *177
Die ästhetische mimetische Reproduktion als Konstituierung von Wirklichkeitsmodellen, als " evokativer Eindruck einer Wirklichkeit " , wie Lukács erläutert, muß sich bei der Modellierung an der elementaren Wirklichkeitserfahrung oder, wie Lukács sagt, an " der Wirklichkeit " orientieren,

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sie " wahrheitsgetreu " abbilden, und erreicht gerade in dieser Versinnfälligung ein " Maximum der evokativen Kraft " (I, 433). Ohne die Ausrichtung der Wirklichkeitsmodelle an der Wirklichkeit *178 kann der evokative Eindruck einer Wirklichkeit nicht erreicht werden, zumindest nicht ein Maximum an evokativer Kraft erzielen. Die evokative Mimesis ist daher als eine fundamentale, allgemeinste Konstitutionsbedingung auf den " Realismus " angewiesen: " Fundamentale Tatsache jeder Kunst " ist die " unlösbare Zusammengehörigkeit der evokativen Mimesis mit dem künstlerischen Realismus " (I, 469). Es ist deutlich, daß es sich bei dem ästhetiktheoretischen Terminus " Realismus " , im Unterschied zu den äquivoken stilistischen und epochengeschichtlichen Begriffen, um ein fundamentales Prinzip handelt, das die Relation von Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsmodellierung kennzeichnet und auf die Bedingungen der mimetischen Reproduktion abzielt, die den " evokativen Eindruck einer Wirklichkeit " auf seiten des Rezeptiven hervorrufen.
Die kategoriale Explikation des Loslösungsprozesses der ästhetischen mimetischen Reproduktion aus Alltagsleben und Magie systematisiert nur die allgemeinsten Voraussetzungen der Konstitution des Ästhetischen, allerdings die fundamentalsten, die trotz der soziohistorischen und soziokulturellen Entwicklung zum " Pluralismus der Kunst " die prinzipielle Einheit des Ästhetischen sichern und die Eigenart des Ästhetischen begründen:
  1. Die strukturelle Suspendierung des einheitlichen und unmittelbaren Lebenszusammenhangs: Entpragmatisierung als Prinzip.
  2. Die konstitutive Abgeschlossenheit der Werkwelt mit Intention auf Ganzheit: Prinzip der Totalität.
  3. Die Relationierung der mimetischen Reproduktion mit der Wirklichkeitserfahrung in der Konstruktion mimetischer Gebilde und der Evokation des Wirklichkeitseindrucks: Realismus als Prinzip.
  4. Die partikuläre Universalisierbarkeit des " sinnlich Sinnfälligen " : Besonderheit als Prinzip.
  5. Die Entpartikularisierung der Subjektivität zum Selbstbewußtsein der Gattung.
Die historische Skizzierung dieses Loslösungsprozesses ist nach Lukács‘ eigenen Feststellungen generell beschränkt durch die rudimentären Kenntnisse der Anfänge der gattungsgeschicht-

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lichen und prähistorischen Entwicklung (I, 412). Die ästhetische mimetische Reproduktion steht nicht am Anfang der Menschheitsentwicklung, sie setzt bereits eine bestimmte Entwicklungsstufe der Technik voraus (I, 324). Am Beispiel der Höhlenmalerei der Altsteinzeit läßt sich Lukács zufolge die Entstehung hoher Kunst aus magischen Bedürfnissen nachweisen. Die Werke sind nicht entstanden, um visuelle Evokationen im Zuschauer hervorzurufen; sie sind schwer zugänglich und fast unsichtbar (I, 449 ff.). *179
Die kulturgeschichtlichen, religions- und kunstgeschichtlichen Skizzen verfolgen nicht historisierende Ziele, sondern sind Teile des systematisch-historischen Verfahrens, das von den abstrakten Begriffsbestimmungen zu den Konkreta des historischen Gewordenseins aufsteigt. Leitend bleibt dabei allerdings in der Auswahl und Nachzeichnung einzelner Phänomene der kulturgeschichtlichen, religionsgeschichtlichen und kunstgeschichtlichen Entwicklung *180 die Konstitution einer " Realität " , die Schaffung von Wirklichkeitsmodellen innerhalb der ästhetischen mimetischen Operationen. d.h. die " weltschaffende Mimesis " . Der soziohistorische, kulturgeschichtliche Prozeß wird daher konsequent als " Weg zur Welthaltigkeit der Kunst " nachgezeichnet (I, 442). Die Ausbildung einer " Welt " im ästhetischen Sinn ist nach Lukács ein langer Prozeß, *181 bei dem die objektive soziohistorische Entwicklung nicht parallel gehen muß mit der Entwicklung des ästhetischen Bewußtseins, die als eine eigene Entwicklungsgeschichte der fünf Sinne zu deuten ist.
Für die Konstituierung des Weltcharakters in der ästhetischen mimetischen Reproduktion sind zwei Punkte der Entwicklung wichtig und folgenreich: Die Loslösung der ästhetischen Gebilde von körperlichen Aktivitäten und die Entfernung von der unmittelbaren Wahrnehmung und ihren überwiegend physiologischen Determinanten (I, 446 f.). Das ermöglicht die Loslösung aus den Bestimmungen der Magie; Lukács spricht von einer Tendenz zur Säkularisierung der Magie (I, 452) und vom Obergang zum Weltschaffen der Kunst. Das setzt aber auch allgemeine soziohistorische Entwicklungen voraus, so vor allem das " Heraus-

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treten aus den Naturschranken "
, das zur " Dominanz der aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß stammenden Bestimmungen " über die biologischen Bestimmungen führt (I, 469), und die Differenzierung der Bedürfnisse des Alltagslebens und der lebenspraktischen Erfordernisse. Denn die vorwärtstreibende Kraft sieht Lukács in der Beziehung zum Alltagsleben (I, 471). Das betrifft die zunehmende gedankliche und praktische Raumbeherrschung im praktischen Leben, aber auch die einsetzende Trennung von Gesellschaft und Individuum (I, 476). Auf seiten des Subjekts betrifft das die Weiterentwicklung der Formen der Beobachtung, Wahrnehmung und der Strukturierung (des Ordnens, Inbeziehungsetzens der Fakten und ihrer Relationen (I, 492).
Auf dem Hintergrund der soziohistorischen Entwicklung zeichnet Lukács die " welthistorische Linie " oder die allgemeinen " Gesetze der Kunstentwicklung " nach: *182
  1. Die Jäger der Altsteinzeit entwickeln eine weltlose Mimesis. Hierbei handelt es sich allerdings um einen einzigartigen Ausnahmefall, um eine hohe Kultur auf niedriger Stufe der ökonomisch-sozialen Entwicklung (I, 461). Das erklärt die von Lukács so bezeichnete " Paradoxie " der Höhlenmalerei. *183
  2. Die primitiven Bauernvölker bilden die weltlose Ornamentik aus. Dies als ein Ergebnis ihrer Produktionsstufe (I, 495) *184
  3. Die neolithische Gesellschaft entwickelt die " weltschaffende Mimesis " . Die " urbane Revolution " führt dazu, daß die " urwüchsige Gesellschaft " sich auflöst und die Widersprüchlichkeit zwischen Gesellschaft und den sie bildenden Individuen in Erscheinung tritt und in der ästhetischen mimetischen Reproduktion aufgenommen wird, eine Entwicklung, die allerdings erst in der griechischen Antike an ihr Ende gelangt. *185
Mit der Skizzierung der ökonomischen, soziohistorischen und kulturgeschichtlichen Entwicklungslinie der " weltschaffenden Mimesis " , und Lukács‘ philosophische Analyse beansprucht hierin nicht mehr als eine Skizze zu sein, hat er die " reale Basis " der Entwicklung der ästhetischen mimetischen Reproduktion historisch aufgezeigt und begriffssystematisch als Konstituierung einer " Welt " expliziert, genauer, als Erzeu-

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gung des evokativen Eindrucks einer Wirklichkeit ( " Realität " ) aufgrund der " Komposition " im mimetischen Gebilde (I, 425). In der systematisch-historischen Genesis konkretisiert sich die kategoriale Analyse der Konstitution von " Werkwelten " durch die historische Rekonstruktion der " Welthaltigkeit " der Kunst, ein Vorgang, der kennzeichnend ist für das " Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten " .

1.2. Explikationsebenen der mimetischen Reproduktion

Die systematisch-historische Genesis als Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten wählt Lukács im Anschluß an Marx‘ methodologische Hinweise, um in seiner philosophischen Analyse nicht in abstrakte Generalisierungen zufälliger Partikularitäten der Kunstphänomenologie zurückzufallen. Die " Einheit des Ästhetischen " kann, obgleich Ergebnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung (I, 234), nicht aus der Kontingenz und Partikularität der Kunst abgeleitet werden. Lukács greift denn auch bei aller Anerkennung der radikalen Historizität der Kunst *186 und bei strikter Ablehnung aller apriorischen und metaphysischen Begründungen für die Konstitution des Ästhetischen in seiner Explikation der " Eigenart des Ästhetischen " auf das philosophisch traditionelle Konstrukt von " Prinzipien " zurück. Allerdings nicht im Rahmen substantialistischer Begründungen, sondern gattungsgeschichtlicher und soziohistorischer Entwicklungstheorien. Prinzipien sind selbst gewordene fundamentale Regulativa, allerdings solche mit gattungsgeschichtlich großer Stabilität, die nicht den kunstgeschichtlichen, epochen- und stilgeschichtlichen Wandlungen der Produktion und Rezeption in der ästhetischen Sphäre unterliegen. Als gewordene sind die Prinzipien allgemeinste gattungsgeschichtliche Konventionen der mimetischen Reproduktion.
Lukács begründet das historische Gewordensein des ästhetischen Prinzips und die gleichzeitige Einheit des Ästhetischen trotz der Vielfalt der realen Ursprünge der Kunst nicht einfach auf einer geschichtsspekulativen oder nur historischen

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Ebene, sondern auf der methodologisch-systematischen Ebene, die durch das Zusammenwirken der abstrakten Begriffsexplikationen und der konkreten historischen Exemplifizierungen bestimmt ist, d.h. durch das " Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten " . Auf dieser Ebene wird es möglich, die prinzipiellen und kontingenten Bedingungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion theoretisch konsistent zu entfalten: Allgemeine Regulativa der Strukturierungsoperationen, die als Restriktionen in bezug auf die Raum-, Zeit-, Objekt- und Prozeßstrukturen der ästhetischen " Werkwelten " fungieren und auf diese Weise zu spezifischen Schemata der mimetischen Reproduktion führen, haben in Bezug auf die kunstgeschichtlich konkreten mimetischen Gebilde den Status von Prinzipien, auch wenn sie als Resultate eines jahrtausendelangen Prozesses nur gattungsgeschichtliche Konventionen der ästhetischen Mimesis sind und keineswegs auf irgendwelche ursprünglichen Vermögen der Menschheit zurückgeführt werden dürfen.
Die Anerkennung der Prinzipien als " Resultate " (I, 233) eines gattungsgeschichtlichen Prozesses, als " Ergebnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der Menschheit " (I, 229), schließt nicht aus, daß diese langfristig entstandenen konventionellen Schemata relativ zu den kurzfristigen soziohistorisch und kunstgeschichtlich kontingenten mimetischen Reproduktionen den Status von Prinzipien haben und die Funktion von Restriktionen für spezifische Raum-Zeit-Gebilde, d.h. " Werkwelten " . Für eine Ästhetik, die kunstgeschichtliche und gattungsgeschichtliche Bestimmungen der mimetischen Reproduktion in einer einheitlichen " historisch-systematischen " Konzeption, aber auf unterschiedlichen Explikationsebenen begriffssystematisch entfaltet, schließen Prinzip und Kontingenz einander nicht aus. *187
Aber auch auf der Allgemeinheitsstufe der philosophischen Ästhetik beschränkt sich die syste-matisch-historische Genesis des Ästhetischen nicht auf die Herausarbeitung solcher allgemeinster Prinzipien, sondern zielt auf die konstitutiven allgemeinen Bestimmungen der ästhetischen Wirklichkeitsmodelle, der " Werkindividualitäten " Dazu müssen weitere Kon-

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stituenten der ästhetischen mimetischen Reproduktion begriffssystematisch geklärt werden: Die Primitiva der Werkkonstitution und darüber hinaus die gesamten " formalen Widerspiegelungsformen " , die die medialen Manifestationen und soziohistorischen und soziokulturellen Elaborationen der Kunstphänomenologie umfassen, die im folgenden als Formativa bezeichnet werden. Lukács‘ begriffssystematische und historische Analysen folgen einem impliziten Ebenenmodell der Explikation: *188
  1. Ästhetische Prinzipien als fundamentale Regulativa der mimetischen Reproduktion,
  2. Primitiva der Konstitution von Werkwelten oder Werkindividualitäten,
  3. Formativa des kompositorischen und formalen Aufbaus der Kunstwerke.

1.2.1. Prinzipielle Einheit des Ästhetischen und radikale Historizität

Kernpunkt der Argumentationen auf den unterschiedlichen Explikationsebenen ist das Nebeneinander oder Obereinander von unterschiedlichen Entwicklungsprozessen und Konstitutionsbedingungen der mimetischen Reproduktion. Universalität, " Gemeinsamkeit " und historische Variabilität des Ästhetischen müssen in eins begründet werden (I, 234). Lukács läßt keinen Zweifel daran, daß das Ästhetische nichts Ursprüngliches oder Apriorisches ist, und setzt sich in diesem Zusammenhang zunächst mit den Argumenten der Ästhetiktradition auseinander (I, 64 ff.). Diese Einsicht verleitet Lukács aber nicht dazu, das Ästhetische von einem besonderen Punkt der gesellschaftlichen und kunsthistorischen Entwicklung aus zu begründen, wie dies für die Moderne Ritter und Adorno oder Bürger versuchen. *189
Lukács unterscheidet vielmehr zwischen unterschiedlichen Entwicklungsebenen und Konstitutionsbedingungen: Einerseits ist eine jahrtausendelange Entwicklung nötig, bis überhaupt eine besondere " Sphäre der menschlichen Tätigkeit " sich herausbildet (I, 207). Das Ästhetische als eine eigene Sphäre der menschlichen Tätigkeit, als eine besondere Möglichkeit der Handlungsorientierung und Kontingenzbewältigung, ist somit

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das Ergebnis einer langen gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entwicklung der Menschheit (I, 229). Andererseits ist die Entstehungsgeschichte und sind die " Entstehungsquellen " der Kunst, der Kunstgattungen und Kunstarten historisch verschieden; " eine Vielzahl realer Ursprünge " (I, 233). Lukács bringt in seiner Argumentation gattungsgeschichtliche und soziohistorisch langfristige Konstitutionsbedingungen und historische Entstehungsquellen zusammen in eine theoretisch einheitliche Konzeption: Die Theorie der mimetischen Reproduktion. Gattungsgeschichtlich stützt er sich hierbei auf die Theorie der Arbeit: Arbeit als Vehikel der Menschwerdung des Menschen (I, 226) und die Hypothese über die Herausbildung und Entwicklung der menschlichen Perzeptivität, die Bildung der fünf Sinne (I, 227). *190 Auf dieser theoretischen Grundlage entwickelt er Konstitutionsbedingungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion von gattungsgeschichtlich und soziohistorisch großer Stabilität innerhalb eines langfristigen Entwicklungsganges. In Anlehnung an die traditionelle Terminologie und in der durch Marx und Engels vorgenommenen Umdeutung *191 nennt er die Restriktionsbedingungen der mimetischen Operationen Prinzipien. Neben diesen fundamentalen Restriktionsbedingungen ist die " historische Verschiedenheit " der Konstituenten innerhalb der mimetischen Reproduktion und ihrer " realen Ursprünge " zu beachten (I, 234). Die ästhetische mimetische Reproduktion als eine besondere " Sphäre der Tätigkeit " ist dabei abhängig von zwei unterschiedlichen Klassen von Konstituenten, die die Mimesis als Strukturierungsoperation und als Strukturierungsresultat ( " Gebilde " ) betreffen:
Von den prämedialen Primitiva und den medialen Formativa. *192 Daß bei Lukács nur von einem impliziten Explikationsmodell gesprochen werden kann, hängt allgemein mit den Besonderheiten seiner Darstellungsweise zusammen. Einerseits greift Lukács auf die traditionelle Begrifflichkeit zurück und muß sie im Rahmen der historisch-materialistischen Grundtheorien neu definieren. *193 Andererseits führt er neue Begriffe im Zusammenhang der begriffssystematischen Explikationen ein, um z.B. das Subjekt-Objekt-Verhältnis differenzierter analysieren zu

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können, so die Begriffe anthropomorphisieren und desanthropomorphisieren.
Gleichzeitig mit der begriffssystematischen Analyse der " dünnsten Abstrakta " liefert er eine historische Analyse der gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Entwicklungsprozesse und verfährt hierbei kursorisch charakterisierend und narrativ.
Es empfiehlt sich daher, aus dieser komplexen, durch häufige kursorische Beschreibungen und historische Charakterisierungen scheinbar ausladenden Darstellungsart die stringente systematische Argumentation im Sinne eines Explikationsmodells zu rekonstruieren.

1.2.1.1. Regulativa, Primitiva und Formativa der Konstitution der ästhetischen Werkwelt

Die Operationen und Strukturen der ästhetischen mimetischen Reproduktion lassen sich auf mehreren Ebenen anordnen:
  1. Fundamentale Prinzipien als Regulativa der mimetischen Reproduktion. *194
    Auf der fundamentalsten Ebene wird die Subjekt-Objekt-Relation auf rein erkenntnistheoretischer Grundlage kategorial analysiert. Auf dieser Ebene können nur die abstraktesten Voraussetzungen der mimetischen Operationen geklärt werden, die für die Wirklichkeitsmodelle in der Sphäre des Ästhetischen ausschlaggebend sind. Sie betreffen das spezifische Subjekt-Objekt-Verhältnis in diesem Bereich: " Die Wechselbeziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität " (I, 229), das unabdingbare Ineinander von Subjektivität und Objektivität in der ästhetischen Setzung, so daß in dieser Sphäre " kein Objekt ohne Subjekt existieren " kann, und die Kategorien einem Funktionswandel unterliegen.
    Diese rein erkenntnistheoretisch explizierten Voraussetzungen sind als kategoriale Explikate der Subjekt-Objekt-Relation in der ästhetischen mimetischen Reproduktion, d.h. als allgemeinste Bestimmungen bzw. " dünnste Abstrakta " auf der Explikationsebene der Prinzipien zu situieren. Sie sind nur er-

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    kenntnistheoretische Voraussetzungen für die Konstitution von " Werkwelten " und für die Evokation des Wirklichkeitseindrucks, d.h. von Wirklichkeitsmodellen in der Sphäre des Ästhetischen oder von " Wirklichkeit " , die Lukács selbst in Anführungszeichen setzt (II, 312). Sie definieren aber den theoretischen Status dieser Klasse von Wirklichkeitsmodellen und grenzen sie damit gegen andere Modelle der wissenschaftlichen, alltagspraktischen und religiösen mimetischen Reproduktion ab. Sie bestimmen gleichzeitig die spezifische Subjekt-Objekt-Relation der Evokation, das " Leiten des Rezeptiven " und grenzen die evokative Mimesis von der elementaren Mimesis, der magischen Mimesis oder wissenschaftlich-theoretischen Mimesis ab.
    Lukács insistiert in seiner philosophischen Analyse darauf, daß es sich bei diesen Prinzipien um fundamentale Regulativa der Strukturierungsoperationen, oder der " Tätigkeit " der mimetischen Reproduktion, nicht aber um Muster der Wahrnehmung und des Denkens handelt: Sie fungieren als strukturelle Restriktionen der möglichen mimetischen Reproduktionen und grenzen so die Raum-, Zeit-, Objekt- und Prozeßstrukturen der ästhetischen " Welten " (Werkwelten) von alltagspraktischen oder theoretisch-wissenschaftlichen Wirklichkeitsmodellen ab. Sie regulieren die Suspendierung des unmittelbaren Lebenszusammenhangs, die Intention auf Ganzheit, das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit oder die Beziehung zwischen " Bewußtsein über... " und " Selbstbewußtsein von... " . Lukács läßt bewußt Fragen der physiologischen und psychologischen Einzelforschung offen, *195 ebenso spezielle Probleme der prähistorischen Forschung.
    Entscheidend ist, daß es sich um gattungsgeschichtlich so tief liegende Regulativa der " Tätigkeit " , der in Praxis umgesetzten Erkenntnis handelt, daß die Prinzipien zwar grundlegende Bestimmungen der Subjekt-Objekt-Relation sind, die aber in der soziokulturellen Entwicklung dennoch Variabilität in der Konstitution ästhetischer Wirklichkeitsmodelle bzw. " Werkwelten " zulassen. In der Darstellung der " Menschwerdung des Menschen " stützt sich Lukács zwar auf ontologische, polit-ökonomische Grundtheorien, expliziert aber kategorial die Prinzipien auf

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    erkenntnistheoretischer Grundlage. Der Allgemeinheitsgrad dieser Explikation sichert zwar die Zusammenfassung der unterschiedlichen " Tätigkeitssphären " des Menschen, er erlaubt aber nicht, die historische Rekonstruktion der realen Basis bis zur einzelwissenschaftlichen Detailanalyse fortzuführen. Ihrem theoretischen Status nach handelt es sich bei den ästhetischen Prinzipien um gattungsgeschichtliche Konventionen der " Aneignung der Wirklichkeit " mittels spezieller Wirklichkeitsmodelle. Diese gattungsgeschichtlichen Konventionen haben sich in jahrtausendelangen Prozessen herausgebildet und sind streng von den sozialen und kulturellen, stil- und epochengeschichtlichen Konventionen zu unterscheiden. Der Status der gattungsgeschichtlichen Konvention läßt die Möglichkeit der Weiterentwicklung über lange Zeiträume zu unter gattungsgeschichtlichen und soziokulturellen Einflüssen.
    Mit den Regulativa der Subjekt-Objekt-Relation, den ästhetischen Prinzipien, erreicht Lukács In seiner philosophischen Analyse noch nicht die Ebene der Restriktionen der Raum-, Zeit-, Objekt-und Prozeßstrukturen der spezifischen Wirklichkeitsmodelle der ästhetischen Sphäre, d.h. der " Werkwelten " . Deshalb führt er weitere fundamentale Bestimmungen der Konstitution des Ästhetischen bzw. der ästhetischen mimetischen Reproduktion ein.

  2. Primitiva als prämediale Schemata der ästhetischen mimetischen Reproduktion
    Es handelt sich hierbei nicht mehr um allgemeinste erkenntnistheoretische Voraussetzungen der mimetischen Operationen, sondern um prämediale Schemata der Wirklichkeitsmodellierung in der Sphäre des Ästhetischen. *196 Auf dieser Explikationsebene analysiert Lukács die Bestimmungen, die für die Konstitution der Werkwelten in der mimetischen Reproduktion wichtig sind, die aber noch nicht vom " Pluralismus der Kunst " und d.h. noch nicht von der Mannigfaltigkeit der medialen Manifestationen abhängen. Das ästhetische Prinzip der Suspendierung des unmittelbaren Lebenszusammenhangs, das Prinzip der intensiven Totalität, muß auch als " gestaltete Totalität " expliziert werden; *197 das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelheit ist

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    nicht nur als ontologisch-logische Kategorie der Besonderheit zu explizieren, sondern auch als eine grundlegende Relation innerhalb der Konstruktion von Wirklichkeitsmodellen der ästhetischen mimetischen Reproduktion. Hierbei handelt es sich noch nicht um die mediale Manifestation oder gar um die formale Ausgestaltung der Werkindividualitäten, sondern um grundlegende Relationen in der Konstitution der Werkwelten: " Geschlossenheit " als Autoreflexivität, Typik oder Realistik werden deshalb von Lukács als prämediale Primitiva systematisch-historisch analysiert, wie noch zu zeigen sein wird.
    Es handelt sich um fundamentale Schemata der mimetischen Reproduktion, die ihrem Status nach ebenfalls als gattungsgeschichtliche Konventionen und sehr stabile Muster der Wirklichkeitsmodellierung anzusehen sind. Sie liegen der soziohistorischen und kulturellen Variabilität in der ästhetischen Sphäre voraus; und sie liegen auch den mannigfaltigen " Widerspiegelungsformen " voraus, die Lukács auf einer weiteren Explikationsebene behandelt.

  3. Formativa als mediale Manifestationen und soziokulturelle Elaboration der Werkindividualität
    Lukács grenzt seine philosophische Analyse von den Zielsetzungen und Methoden der kunsthistorischen Forschung ab. Dennoch erfordert das Verfahren des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten die Einbeziehung der Kunstphänomenologie in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen; allerdings muß sich Lukács hierbei auf skizzierende Beschreibungen beschränken, weil es lediglich um die Konkretisierung abstrakter Begriffsbestimmungen geht, nicht um Werkanalysen oder kunstgeschichtliche Systematisierungen.
    Die Beziehung aber zwischen der " mimetischen-realistischen Tendenz " und den formalen Widerspiegelungsformen, wie Lukács sagt (I, 506), ist Gegenstand der philosophischen Analyse und wird auf der Ebene der Formativa expliziert. Dabei behandelt Lukács nur in allgemeinster Form Probleme der Unterordnung von Elementen der Komposition unter ein " leitendes Prinzip " oder Strukturbestimmungen der mimetischen Gebilde, die auf Evoka-

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    tion angelegt sind (I, 410), nicht aber stilistische oder formale Manifestationen. Es ist aber festzuhalten, daß Lukács sich in seinem Argumentationsgang mit den Erläuterungen zu den medialen " Elementen und Kombinationen " auf einer weiteren (impliziten) Explikationsebene bewegt. Er argumentiert nicht mehr auf der Ebene der Operationen der mimetischen Reproduktion oder der Schemata der Werkwelten, sondern auf der Ebene von Strukturen der Werkindividualitäten. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß, unabhängig vom Entwicklungsstand der disziplinären Kunstwissenschaften und ihren Modellbildungen, z.B. den Textmodellen, das von Lukács in der ÄSTHETIK implizit verwendete Ebenenmodell nicht als generatives Modell der Texterzeugung mißzuverstehen ist, sondern als Modell für eine begriffssystematische und historische Explikation.
    Die Grenze liegt auch hier im hohen Allgemeinheitsgrad der philosophischen Analyse: Der Zusammenhang von ästhetischen Regulativen, prämedialen Schemata und medialen Konstituenten der mimetischen Reproduktion wird nicht von seiten der Werkstruktur analysiert, sondern von seiten der Voraussetzungen der Konstitution des Ästhetischen. Nur so kann die Mimesiskonzeption genügende theoretische Tiefe erreichen, um die gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Bedingungen theoretisch zu erfassen und begriffssystematisch zu entfalten. Die Ausarbeitung von Modellen der spezifischen medialen Konstitution ästhetischer Werke ist Aufgabe der Literaturtheorie, der Musiktheorie oder einer Theorie der Bildkomposition.

1.2.1.2. Klassifikation ästhetischer Prinzipien

Lukács entwickelt kein generatives Modell der Konstitution des Ästhetischen. Er geht von einem mimetischen Werkbegriff aus, nicht von einem texttheoretischen *198 und geht bei der Bestimmung der Konstituenten merkmalsanalysierend und klassifizierend vor. Dabei fördert die systematisch-historische Genesis der ästhetischen mimetischen Reproduktion Fundamentale der Konstitutionsprozesse zutage, die zugleich die Grundlage für die Abgrenzung von anderen mimetischen Reproduktionen

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bilden, dem Alltagsdenken, der Religion, der Wissenschaft.
  1. Prinzip der Entpragmatisierung
    Eine fundamentale Voraussetzung, die unterhalb jeder sozio-historischen Entwicklung und kunstgeschichtlichen Formung oder stilgeschichtlichen Manifestation liegt, ist die strukturelle " Suspension der direkten Beziehung zum Leben " (I, 392), die auch den " Zuschauer und Zuhörer aus dem Fluß des Alltagslebens heraushebt " (I, 393). Denn nur so wird es möglich, Realität in Anführungsstrichen (I, 425) als evokativen Eindruck einer Wirklichkeit zu erzeugen, d.h. Werkwelten. Von dieser Wirklichkeit der Kunstwerke aus ist keinerlei Praxis möglich, gibt es keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der " normalen Kontinuität des Alltagslebens " (I, 391). *199 Die Sinnkonstitution der ästhetischen Werkwelt ist bedeutungsholistisch, d.h. nur über die Gesamtheit der Elemente und ihre Kombinationen kann eine Korrespondenz zum Außerästhetischen hergestellt werden. Diese Suspension des einheitlichen und unmittelbaren Lebens ist gattungsgeschichtlich entstanden und in der temporären Suspension der Magie bereits angelegt. Entscheidend ist der gattungsgeschichtliche Status dieser Restriktionsbedingung, die die Raum-, Zeit- und Dingstruktur der Werkwelten bestimmen und einen unmittelbaren Übergang von der Werkwelt zur pragmatischen Alltagswelt verhindern.
    Viel Verwirrung entsteht über den Zusammenhang von Entpragmatisierung und Autonomie, wenn der theoretische Unterschied zwischen dem gattungsgeschichtlichen Fundamental und dem soziohistorischen Funktionsmodus außer acht gelassen wird. Die für die Autonomieästhetik bezeichnende Trennung von Kunst und Leben hängt mit den fundamentalen Konstitutionsbedingungen ästhetisch mimetischer Reproduktion zusammen, ist aber in der besonderen soziohistorischen und kunstgeschichtlichen Ausformung selbstverständlich nicht identisch mit dem ästhetischen Prinzip. Die fundamentale Konstitutionsbedingung ist von der " gesellschaftlichen Funktionsbestimmung des Ästhetischen " , wie sie bereits von Schiller formuliert wird, zu unterscheiden. *200 Die Autonomie der Kunst wird eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, die einen historischen

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    Prozeß bezeichnet, der gesellschaftlich bedingt ist. *201 Der Begriff der Autonomie der Kunst wird soziologisch oder gesellschaftstheoretisch expliziert als " Freisetzung " der Kunst von gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen; es handelt sich um den gesellschaftlichen " Status, den die Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt " . *202 Diese gesellschaftstheoretische Betrachtungsweise, die sich an Habermas‘ Bestimmung und seine Rahmentheorie anlehnt, *203 stellt eine Verkürzung der ästhetiktheoretischen Diskussion über die gattungsgeschichtliche Dimension der Genesis der Kunst dar.
    Die philosophische Ästhetik von Lukács kann sich auf die bloß soziohistorische Bestimmung nicht beschränken, obwohl sie keinen Zweifel an dem Gewordensein auch der ästhetischen Prinzipien aufkommen läßt. Es geht aber nicht um ein gesellschaftliches Normensystem, sondern um Konstitutionsbedingungen. Für Bürger handelt es sich um das gesellschaftliche Normensystem " Institution Kunst " , das " nach dem Prinzip der Autonomie funktioniert " . Die sozialgeschichtlich und kunsthistorisch zu definierende " ideologische Kategorie " der Autonomie ist gesellschaftstheoretisch zu rekonstruieren, und sie betrifft die durchgängige " Spannung " innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zwischen " institutionalisiertem Rahmen (Freisetzung der Kunst von gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen) und möglichen politischen Gehalten der Einzelwerke " *204 . Dies Spannungsverhältnis ist kunstgeschichtlich in der Moderne, Avantgarde und Neoavantgarde zu verfolgen und zeigt sich in der Resistenz der Werkkategorie und in der Restauration des Differenzierungsarguments. *205
    Für Lukács ist das ästhetische Prinzip der Entpragmatisierung oder der Suspension der unmittelbaren Lebenspraxis ein Konstitutionsfundamental, das sich sowohl auf die Konstitution der Werkwelten und die Strukturierung der Werkindividualitäten auswirkt als auch auf die Funktion und Wirkung von Kunst und das gattungsgeschichtlich so tief liegt, daß es " Tatsache jeder Kunst " ist. *206
    Die Entpragmatisierung als Suspension des unmittelbaren Le-

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    benszusammenhangs und als Einführung der Evokation in den Wirkungszusammenhang ist aber auch nicht als utopische Funktion des Kunstwerks zu interpretieren. Die Utopie-Konzeption innerhalb der kunsttheoretischen Betrachtung hat auch die Entpragmatisierung zur Voraussetzung. Die Kunst steht in einem negativen Verhältnis zur " Pragmatik erfahrungsbezogener Handlungsanweisungen " *207 Besonders im Kontext der Kritischen Theorie ist das Utopische am Kunstwerk immer als wesentlich angesehen worden, und zwar als " Vorschein " einer Form des gesellschaftlichen Lebens, die, als Entsprechung der ästhetischen Synthesis, nur als " Verweisung " zu interpretieren ist, d.h. nicht als unmittelbar Vorhandenes: Das Kunstwerk als apparition. *208
    Auch wenn das Utopische am Kunstwerk im Anschluß an die einschränkenden Bemerkungen von Habermas über die Funktion der ästhetischen Rationalität nach dem " Zerfall " der Vernunft in der Moderne in die wissenschaftlich-technische, praktisch-moralische und ästhetische nur als Überwindung der Sprachlosigkeit oder als kommunikative Transparenz interpretiert wird, *209 ist daran festzuhalten, daß sich politisch-gesellschaftliche Utopien nicht in Konzeptionen ästhetischer Theorie explizieren lassen. *210 Lukács versteht die Funktion der Kunst konsequenterweise nicht als utopisch: *211 Die Kunst kann durch ihre evokative Wirksamkeit und die Schaffung des Selbstbewußtseins der Gattung praktisches Handeln initiieren, sie liefert aber kein Paradigma für Handlungsanweisungen in Richtung einer Aufhebung der Widersprüche oder auch nur in Richtung der Überwindung der Sprachlosigkeit. Kunst als Bestandteil des realen gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Prozesses schafft mit der Konstitution des ästhetischen Sinns durch Strukturierung von Werkwelten und durch Evokation von " Realität " die Verwandlung des ganzen Menschen in den “Menschen ganz“ und kann das An-sich zum " Selbstbewußtsein der Gattung machen " . *212 Damit werden Bewußtseinsprozesse ausgelöst, die zu realem Handeln führen können; damit werden keine Versöhnungsansprüche der idealistischen Ästhetik, aber auch nicht der " Vorschein " einer nicht-verdinglichten Rationalität anti-

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    zipiert, sondern reale Prozesse der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung eingeleitet, allerdings nur initiiert; denn die Rezeption der " Realität " eines Kunstwerks verwandelt nicht die Wirklichkeit selbst, ist nicht Teil der wirklichen Praxis, des unmittelbaren Lebenszusammenhangs.
    Die Loslösung aus dem einheitlichen unmittelbaren Lebenszusammenhang zielt bei Lukács auch nicht auf die Eingrenzung der philosophischen Analyse auf Strukturbestimmungen, d.h. auf die " strukturelle Abgeschlossenheit " . Struktur und Funktion werden bei Lukács in einem einheitlichen theoretisch«en Konzept expliziert. Auf der erkenntnistheoretischen Explikationsbasis wird das Subjekt-Objekt-Verhältnis in allgemeinster Form für die ästhetische mimetische Reproduktion als ein " unabdingbares Ineinander von Subjektivität und Objektivität " erläutert, im ästhetiktheoretischen Begriffskontext als " Zusammentreffen von objektiver Immanenz des Kunstwerks und subjektiver Immanenz des ästhetischen Verhaltens " . Das bedeutet, daß der Prozeß der Konstitution der ästhetischen " Realität " von Strukturbestimmungen, die das " Leiten des Rezeptiven " bedingen, ebenso abhängt wie von dem " evokativen Eindruck einer Wirklichkeit " auf seiten des Rezeptiven. Entscheidend bleibt für die besondere " Sphäre des Ästhetischen " , daß die Gegenständlichkeit nicht ohne Subjektivität zustandekommt, ja daß dieser Bereich insgesamt der einzige ist, in dem " kein Objekt ohne Subjekt existieren " kann.
    Im Konstitutionsprozeß, oder produktionstheoretisch gesprochen, in der Komposition der " Werkindividualitäten " , ist die Wirkungsfunktion immer schon angelegt als " Leiten des Rezeptiven " , wie noch zu zeigen sein wird. Die Abgeschlossenheit der Werkindividualität *213 als Konstitutionsbedingung des ästhetischen Sinns ist Voraussetzung auch für die durch evokative Wirkung erzeugte " Realität " des Kunstwerks, die gerade durch diese Suspension des unmittelbaren Lebenszusammenhangs die Möglichkeit allgemeiner, wenngleich " sinnlichsinnfälliger " Bedeutungen schafft und auf diese Weise Funktionen für das Gattungsbewußtsein hat: Im individuellen

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    Bewußtsein wird " uno actu " das Selbstbewußtsein der Gattung und " das gegebene historische Entwicklungsstadium der Menschheit " erlebbar (I, 661 f.). *214 Die Wandlung der Subjektivität im Ästhetischen zielt auf die Aufhebung der Partikularitäten des Alltagslebens. Die ästhetische mimetische Reproduktion schafft objektivierte Gebilde, die das Subjekt befähigen, " in sich das bloß Partikulare abzustreifen und in sich selbst das Gattungsmäßige " als das organisierende Zentrum der Beziehung zur Welt, zur Geschichte erlebbar zu machen (I, 583). Ästhetische Subjektivität wird von Lukács daher als " Selbstbewußtsein der Gattung " charakterisiert (I, 598). *215 Das Ästhetische wird zur adäquatesten Form für die Äußerung des Selbstbewußtseins der Menschheit (I, 614). *216
    Die Leitungsfunktionen der strukturell abgeschlossenen Werkindividualitäten sind:
    • Das Pathos der Evokation, die Universalisierbarkeit der evokativen mimetischen Reproduktionen,
    • die Schaffung des Selbstbewußtseins der Gattung,
    • die defetischisierende Funktion der Kunst als Auflösung der Schemata des Alltagsdenkens,
    • die Katharsis als Evokation des " menschlichen Lebenskerns " (I, 812),
    • die Hinwendung vom ganzen Menschen zum " Menschen ganz " .

    Auf diese Funktionsbestimmungen soll an späterer Stelle eingegangen werden.

  2. Prinzip der Totalität
    Im Anschluß an Hegel expliziert Lukács die Abgeschlossenheit der Werkindividualität bzw. die " geschlossene Immanenz der Werkwelt " als konkrete Totalität. *217 Die " Welt " in der ästhetischen mimetischen Reproduktion ist bedingt durch das " untrennbare Ineinander von Subjektivität und Objektivität " und hat sowohl auf seiten der Produktion als auch auf seiten der Rezeption Voraussetzungen. Die monadische " Welt " des jeweiligen Kunstwerks (II, 315) kann die extensive Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit nie erreichen, aber als fixierte Objektivation, d.h. durch ein stark fixiertes " mimetisches Gebilde " wird ein Wirklichkeitseindruck evoziert, der die unmittelbar gegebene Wirklichkeit " an Intensität übertreffen " kann. *218 Der monadische Charakter der Werkwelt bedeutet für

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    den Rezeptiven, daß kein Vergleich zwischen Details der evozierten " Realität " und der unmittelbaren Wirklichkeit möglich ist.
    Die ästhetische Setzung ist ja dadurch gekennzeichnet, daß bei Aufrechterhaltung der Einzelheit gleichzeitig eine Erhöhung ins Allgemeine bewirkt wird (II, 303), so daß das Werk ein Füruns in der Form eines Ansich ist (II, 312): Ein Gebilde, das mit seiner sinnlich-sinnfälligen Individualität allgemeine Bedeutung evoziert (II, 305). Merkmale der intensiven Totalität sind somit einerseits werkstrukturell, andererseits rezeptiv und betreffen die Evokation als " emphatisches Wirken " der ästhetischen Mimesis (II, 309):
    • Die Endgültigkeit des abgeschlossenen Werks;
    • der pluralistische Charakter des Ästhetischen, d.h. die " monadische ‘Welt‘ des jeweiligen Werks " ;
    • die Besonderheit als zentrale Kategorie, in der die Doppelheit von individueller Gestalt und allgemeiner Bedeutung zusammenfällt;
    • die intensive Unendlichkeit des Werks als evokativer Eindruck der Wirklichkeit;
    • die Subjektabhängigkeit der Konstitution des Wirklichkeitseindrucks, die jede Überprüfung seiner Wirklichkeitstreue ausschließt (II, 312).
    Hierbei handelt es sich um die Konstitution des ästhetischen Sinns durch " Evokation einer intensiven Totalität " . *219 Der evokative Wirklichkeitseindruck ist von den Werkstrukturierungen, der " Komposition " abhängig, d.h. er ist nur möglich, wenn die Elemente und Kombinationen der mimetischen Gebilde " auf Evokation angelegt sind " (I, 410).
    Dies ist theoretisch zu unterscheiden von Bubners Konzeption einer bewußtseinstheoretischen Begründung des Ästhetischen, *220 die ihren Ausgangspunkt bei der ästhetischen Erfahrung nimmt und den Zusammenhang von Allgemeinem und Einzelheit transzendentalphilosophisch als " Suggestion der Totalität " bestimmt. Bei Bubner liegt ein einfacher Rekurs auf die Reflexionsfähigkeit des Subjekts vor. Die Suggestion, d. h. " die Vermutung, daß die Details mehr sind als nur Details " , treibt " das Auslegungsverhalten, das Bedürfnis, den Sinn zu erfassen " . Dieses Auslegungsverhalten ist auf die

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    Reflexion zurückzuführen: Nur im Rahmen eines Reflexionsverhältnisses kann sich etwas anders darstellen als es selbst ist, sofern die Relation der Andersheit darin enthalten ist. Die Suche nach dieser Relation zur Allgemeinheit ist Kennzeichen der Reflexion und nach Bubner auch der Ursprung der ästhetischen Erfahrung. *221 Es handelt sich um einen " Totalitätscharakter der Kunstanschauung " , die durch eine Analyse der ästhetischen Erfahrung zu bestimmen ist. In der ästhetischen Erfahrung entsteht die " Suggestion der Totalität " ; sie ist nicht die Evokation einer Wirklichkeit als abgeschlossene Immanenz einer Werkwelt.
    Auch Adorno, der in seiner Analyse der modernen Musik explizit nicht von einer " frei von außen, aus vorgeordneten philosophischen Zusammenhängen herangebrachten Ästhetik " ausgehen will, sondern die " Implikationen von Verfahren und Werken an den Elementen " selbst aufweisen möchte, *222 kommt ohne die philosophische Kategorie der " Einheit " nicht aus, selbst dort, wo auf der Ebene der kompositorischen Manifestation die Kunst " auf dem Äußersten von Unstimmigkeit und Dissonantem besteht " , *223 eine Einheit, die nicht als Formbegriff mißzuverstehen ist, *224 sondern eine " Einheit, welche das Ganze organisiert " . Adorno verlagert die synthetische Einheit in das kohärente Gebilde, das auf nichts Äußeres verweist und wie ein sich selbst bewegender Prozeß sich selbst organisieren kann, dadurch eine Sinngestalt konstituierend, die sich gegen die Zweckrationalität verschließt, aber gerade in dieser Integralität ihr Gesellschaftliches begründet. *225 Adorno sieht die Abgrenzung des ästhetischen Bereichs in der vollendeten Zweckferne, das Ästhetische wird das Andere der Empirie und damit ihr gesellschaftliches Korrektiv. *226
    Adorno sucht dieses grundlegende organisierende Prinzip der Totalität unmittelbar als kompositorische Werkeinheit, in der Moderne als technische Integralität, *227 im Unterschied zur traditionellen Integralität des Sinns, und reduziert es so auf ein technisches Konstruktionsprinzip, hierin Lukács‘ Konzeption unterlegen. Denn Lukács begründet die Konstitution des ästhetischen Sinns, die Evokation des Wirklichkeitseindrucks

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    zwar auch durch die besondere Strukturierung des mimetischen Gebildes, die aber auf dem Weg des Leitens des Rezeptiven als abgeschlossene " Welt " des Kunstwerks sich erst in der subjektabhängigen Sinnkonstitution des Rezeptiven bildet. Nicht durch die leicht mystifizierende Benjaminsche Formulierung von der " Dialektik im Stillstand " innerhalb der Objektivationen selbst ist Totalität als konstitutive Voraussetzung der mimetischen Reproduktion begrifflich zu bestimmen, sondern durch die Kategorie des Fürsichseins.
    Lukács entfaltet die logisch-kategoriale Analyse, die begriffssystematische Explikation, im Anschluß an Hegels ‘Logik‘, speziell im Rückgriff auf Hegels Kategorie des Fürsichseins (II, 315) *228 Das Fürsichsein ist Moment der Qualität; die Funktion dieser Kategorie ist die Selbständigkeit. Alle kategorialen Merkmale des Fürsichseins sind nach Lukács definierende Momente des Kunstwerks als einer " gestalteten Totalität " :
    • Abgeschlossenheit des Werks (monadische " Welt " );
    • intensive Unendlichkeit als durch den evokativen Eindruck der Wirklichkeit erzeugte " Realität " des Kunstwerks;
    • Subjektabhängigkeit der ästhetischen Konstitution (Konstitution des ästhetischen Sinns);
    • Universalisierung des Selbstbewußtseins, als Gattungsbewußtsein; Universalität und Ubiquität (II, 324 ff.).

  3. Realismus als fundamentale Tatsache jeder Kunst:
    Die ästhetische mimetische Reproduktion als " Umsetzung " der Widerspiegelung in die Praxis basiert theoretisch auf den Grundbestimmungen der Erkenntnistheorie. Die materialistische Erkenntnistheorie geht von dem ontologischen Primat des unabhängig vom Bewußtsein existierenden Seins aus, auch wenn dieses Sein ohne Bewußtseinsoperationen weder apperzipiert werden kann, noch über dieses ontologische Substrat irgendeine sprachliche und begriffliche Festlegung erfolgen kann. Lukács konzediert, daß der Erkenntnisprozeß gegenwärtig noch keineswegs in allen Einzelheiten erforscht ist; und er expliziert in seiner philosophischen Analyse das allgemeine Subjekt-Objekt-Verhältnis unter Zurückweisung aller einzelwissenschaftlichen physiologischen Fragestellungen. *229
    Der entscheidende Schritt über die bloß erkenntnistheoretische

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    Allgemeinheit hinaus liegt in der Umsetzung in die Praxis, die die mimetische Reproduktion als " Tätigkeit " zur Strukturierung von Werken und zum Leiten des Rezeptionsprozesses bestimmt und damit auch handlungstheoretisch begründbar macht. *230 Die ästhetische mimetische Reproduktion zeigt nun in der philosophischen Explikation eine Subjekt-Objekt-Beziehung, wie sie in keiner anderen Reproduktionsform nachweisbar ist: Das untrennbare Ineinander von Subjektivität und Objektivität, das zu einer Objektivität führt, die ohne Subjektivität nicht konstituiert und perzipiert werden kann. Der Wirklichkeitseindruck der evokativen Mimesis, d.h. der ästhetischen mimetischen Reproduktion, ist ein Wirklichkeitsmodell, das als Wirklichkeitskonstrukt und als Wirklichkeitsinterpretament theoretisch begründet ist. Denn in der ästhetischen Setzung wird die vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit zugleich als Produkt des Menschen In einer " gestalteten Totalität " fixiert. Konstitution und Determination der " Realität " der Kunstwerke müssen gleichermaßen theoretisch erfaßt werden. In der ästhetischen Setzung ist das " ansich " und das " an und für sich " bis zur Ununterscheidbarkeit aneinandergerückt (II, 300). Die ästhetische Setzung enthält, " infolge ihrer Bezogenheit auf das Menschliche, infolge ihrer evokativen Intention schon im Ansich selbst ein solches Moment, das sich auf den Menschen richtet " , d.h. das Ansich impliziert bereits " Elemente des Füruns " (II, 302).
    Die in der Werkstrukturierung durch evokative Wirksamkeit konstituierte " Realität " ist dennoch durch das Ansich der Wirklichkeit determiniert, Konstitution und Determination fallen nicht auseinander. Ohne das Ansich im dargestellten Objekt wäre das durch die Evokation wachgerufene Selbstbewußtsein nur ein rein subjektivistisches, ohne Beziehung zum. Prozeß der Menschheitsentwicklung außerhalb des eigenen subjektiven Bewußtseins. Das Wirklichkeitsmodell der ästhetischen mimetlschen Reproduktion ist auch als Konstrukt der ästhetischen Setzung immer ein Interpretament des Ansich der Wirklichkelt. *231
    Dies macht eine Auseinandersetzung mit der Konzeption der

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    Intertextualität erforderlich. Die Konstitution des Ästhetischen ist immer mimetische Reproduktion von " Etwas " ; auch wenn dieses in seinem ontologischen Status weder prämedial noch vorbegrifflich bestimmt sein kann und erst im Konstruktionsprozeß der mimetischen Reproduktion Gegenstand des Bewußtseins wird, als Wirklichkeitsmodell. Trotz des konstruktivistischen Anteils der Mimesisoperationen ist dieser theoretische Bezug zu einem " Etwas " Voraussetzung der Mimesiskonzeption, und das schon in der antiken Theorie der Mimesis. *232 Die Konstitution des ästhetischen Sinns ist nicht als reine intertextuelle Beziehung zu denken, als " die bloß semiotische Verfaßtheit des Textes " . Diese im Anschluß an Derrida und Kristeva übernommene Konzeption der rein rhetorischen imitatio *233 als Intertextualität übersieht, daß auch in der Intertextualität semantische Referenzbeziehungen nicht gänzlich aufgehoben werden können: Die These, daß ein reiner Verweisungszusammenhang von Zeichen bestehe, kann einen äußersten semantischen Bezugspunkt " in der Sache " , der auch im intertextuellen Verweisungskontext hervorgerufen werden soll, nicht aufheben. Semantiktheoretisch müßte selbst über mehrere intertextuelle Stufen an irgendeiner Stelle eine Verbindung von " pure linguistic information and empirical information " erfolgen, die z.B. in sogenannten " core facts " auszumachen ist, die Identifizierungen in der sprachlichen Kommunikation überhaupt erst sicherstellen, wie Putnam aufgezeigt hat. *234
    Die Konstitution der " Realität " der Werkwelten als evokativer Eindruck von Wirklicheit setzt die Determination dieses Wirklichkeitseindrucks durch einen Bezugspunkt " in der Sachek " nicht außer Kraft, sofern sich ein ästhetischer Sinn überhaupt konstituieren soll. Dieses Zusammenwirken von Konstitution und Determination in der ästhetischen mimetischen Reproduktion ist bei Lukács weder auf naive Abbildrelationen noch auf bloß intertextuelle Relationen zu reduzieren, sondern ist das begriffliche Explikat für die Charakterisierung der besonderen Subjekt-Objekt-Relation, " die Untrennbarkeit von Subjektivität und Objektivität in der Ästhetik " (I, 564).

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    Der spezifische Realismus der Kunstsphäre ist nicht sprach-philosophisch hinreichend zu reformulieren, z.B. durch die realistische Semantiktheorie, speziell die kausale Theorie der Referenz, die Putnam im Anschluß an Kripkes kausale Theorie der Namen entwickelt. Denn das Problem des Wirklichkeitsbezugs sprachlicher Ausdrücke überhaupt scheint zwar dem Problem der ästhetischen Bedeutung vorgelagert, ist aber eingegrenzt auf die Bedeutung von Termen: Die meisten Termini, nicht nur die Namen werden in der realistischen Konzeption als starre Designatoren aufgefaßt; Merkmale der Bedeutungseinheiten müssen über Verifikationsverfahren mit dem außersprachlichen " Etwas " in Beziehung gesetzt werden. Referenz ist hierbei eine Tatsachenrelation, nicht nur eine intentionale Relation. Das von Lukács herausgearbeitete Problem ist aber der Wirklichkeitsbezug des gesamten Bedeutungssystems der Werkwelten.
    In nichtrealistischer sprachanalytischer Umschreibung heißt das Problem: Der Wirklichkeitsbezug der Werkwelten ist nicht über Identifikationsregeln für singuläre Terme möglich, obwohl nur die singulären Terme einen direkten Wirklichkeitsbezug herzustellen erlauben (auf dem Umweg über raumzeitliche Identifizierungen), da generelle Termini nur einen indirekten Wirklichkeitsbezug über das Erlernen von Verwendungsregeln ermöglichen. Denn die Konstitution der " mimetischen Gebilde " unter dem ästhetischen Prinzip der Suspension des unmittelbaren Wirklichkeitsbezugs führt dazu, daß überhaupt nicht Details der Werkwelten mit Details der Wirklichkeit in Beziehung zu setzen sind, sondern immer nur " das Ganze des Werks mit dem Ganzen der Wirklichkeit ". *235
    Aber auch der Bedeutungsholismus Davidsonscher Prägung, der die Bedeutungen von Termen nur im Zusammenhang von Sätzen und damit im Zusammenhang ganzer Symbolsysteme ohne Korrespondenz zu Außersprachlichem expliziert, ermöglicht keine semantiktheoretische Explikation der Beziehung der " in sich abgeschlossenen Totalität " der Werkwelt als " gestalteter Totalität " zur Totalität der alltäglichen Wirklichkeitserfahrung. Denn Lukács geht sehr wohl von einem " Entsprechen von Kunst und Leben " aus,

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    das allerdings aufgrund des " Funktionswandels der Kategorien " in der ästhetischen mimetischen Reproduktion, wie noch zu zeigen sein wird, zur Konstitution einer spezifisch ästhetischen Bedeutung führt, die in keinem Adäquationsverhältnis zur alltagspraktischen Bedeutung stehen kann. Das " Entsprechen von Kunst und Leben " ist für Lukács konsequenterweise daher eine Entsprechung (relativer) Totalitäten. Allerdings sichert der Funktionswandel der Kategorien auch für die ästhetische Bedeutung der in sich abgeschlossenen Totalität der Werkwelt, daß die Kategorien der Wirklichkeitserfahrung bzw. der Wirklichkeitsmodelle des Alltagsdenkens für die ästhetischen Wirklichkeitsmodelle erhalten bleiben, wenn auch funktional gewandelt aufgrund der Prinzipien der ästhetischen mimetischen Reproduktion, die sich in jahrtausendelangen Prozessen gattungsgeschichtlich und soziohistorisch als Konventionen der spezifisch ästhetischen Bedeutungskonstitution herausgebildet haben.
    Der Realismus als fundamentale Tatsache jeder Kunst bei Lukács ist daher weder auf den naiven Realismus des Alltagsdenkens, noch auf den " internen Realismus " oder den Bedeutungsholismus explikativ zurückzuführen. *236 Im theoretischen Zusammenhang der ÄSTHETIK von Lukács müßte von einem globalen Realismus gesprochen werden, der einerseits keine partikularen Korrespondenzen zwischen Details der Werkwelten und der Wirklichkeit zuläßt, der aber andererseits dennoch von Entsprechungen zwischen den Totalitäten der Werkwelten (einschließlich der " Welt " der Musikwerke) und der Wirklichkeit ausgeht. Für diesen globalen Realismus müssen Korrespondenzbeziehungen eigener Art zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsmodellen der elementaren und ästhetischen Mimesis ästhetiktheoretisch begründet werden; sie sind nicht durch semantiktheoretische Explikationen vorgegeben.

  4. Besonderheit als ästhetisches Prinzip
    Lukács weist darauf hin, daß " eine systematisch vollendete Ästhetik " sämtliche Kategorien, die in der ästhetischen mimetischen Reproduktion eine Rolle spielen, behandeln müßte und daß er selbst einer bescheideneren Zielsetzung folgt, wenn

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    er nur an einigen ausgewählten Fällen solche Analysen durchführt (I, 746).
    Über die Kategorie der Besonderheit hat Lukács bereits vor der großen ÄSTHETIK historische und systematische Analysen durchgeführt, vor allem mit Beziehung auf Hegel. Die logisch-kategoriale Explikation ist in Hegels Begriffslogik vorgebildet, *237 die Lukács, wie er selbst einschränkend erklärt, nur grob skizziert (II, 205). Auf die Ästhetiktheorie übertragen erscheint die Besonderheit als Vermittlung und Mitte. Denn die Besonderheit ist nach Hegel " weiter nichts als die bestimmte Allgemeinheit " (II, 197).
    In der materialistischen Umkehrung erscheinen " Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit als Widerspiegelungsformen der objektiven Beschaffenheit " (II, 198). Lukács expliziert daher auch nicht die abstrakte Kategorie des Allgemeinen, sondern den " Verallgemeinerungsprozeß " . Der Weg des Denkens und des Erkennens ist " ein ununterbrochenes Auf und Ab von der Einzelheit zu der Allgemeinheit und von dieser wieder zurück zu jener " (II, 201). Diese Wechselbeziehung wird nach Lukács durch die Besonderheit vermittelt. Das Besondere hat infolgedessen " eine widersprüchliche Wesensart " :
    Seine Eigenart erweist sich gerade im " Umschlagen sowohl ins Allgemeine wie ins Einzelne " (II, 202). Entscheidend ist dabei der Prozeß des Bestimmens. Die Besonderheit ist in Hegels Logik " geradezu ein Synonym für Bestimmung " (II, 203). Das Verhältnis der Besonderheit zur Allgemeinheit ist die Funktion des Bestimmens. Das Verhältnis von Besonderheit und Einzelheit ist ebenfalls durch den Prozeß des Bestimmens charakterisiert, denn die Gegebenheitsweise der Einzelheit ist die sinnliche Unmittelbarkeit, die erst in der denkerischen Aufhebung dieser unmittelbar materiellen und sinnlichen Wesensart als Bestimmungen der Einzelheit manifest wird. Die Kategorie der Bestimmung und Vermittlung ist deshalb die Besonderheit. Sie verhält sich zu Allgemeinheit und Einzelheit nicht als einem " Anderen " oder " als einem Jenseits " ihrer selbst; sie ist für Allgemeinheit und Einzelheit " das eigene immanente Moment " *238

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    Bei der Übertragung der allgemeinen philosophischen, logischkategorialen Explikationen auf den Bereich des Ästhetischen darf die generelle Unterscheidung zwischen desanthropomorphisierenden Verfahren, wie sie die Wissenschaften kennzeichnen, und den anthropomorphisierenden Verfahren der ästhetischen mimetischen Reproduktion nicht außer acht gelassen werden (II, 206). " Das Spezifische der ästhetischen Sphäre ist, daß die Besonderheit nicht einfach als Vermittlung zwischen Allgemeinheit und Einzelheit gesetzt wird, sondern als organisierende Mitte " (II, 206). Organisierende Mitte bezieht sich nicht nur auf den abstrakten Vermittlungscharakter, sondern bedeutet, daß die " Mitte nicht mehr bloß eine durch die objektive Wirklichkeit produzierte und gegebene " ist, sondern " in ihrer objektiven Beschaffenheit bereits etwas Gesetztes " ist (II, 210). Die Besonderheit als zentrale Kategorie des Ästhetischen zeigt sich in der Herstellung einer " Synthese zwischen Subjektivität und Objektivität an verschiedenen Konstitutionsbedingungen " . An " Momenten des ästhetischen Aufbaus der Kunstwerke " (II, 229) läßt sich die zentrale Funktion der Kategorie der Besonderheit ablesen: " Die Unaufhebbarkeit des hic et nunc in jedem Kunstwerk zeigt schon an, daß es unmöglich von der Kategorie der Allgemeinheit beherrscht sein kann " (II, 230). Nicht allgemeine Abstraktion, sondern das " Besondere als gesellschaftlich-geschichtliche Bedeutsamkeit des hic et nunc " . Das ästhetische Werk als " intensive Totalität " ist, im Unterschied zu den relativ abgeschlossenen Werken der Wissenschaft, " sowohl eine absolut in sich abgeschlossene, wie eine in sich vollendete Totalität " (II, 231). Die " intensive Totalität der Bestimmungen " ist ja nur " ein philosophisch abstrahierender Ausdruck dafür, daß der künstlerisch gestaltete ‘Lebensausschnitt‘ fähig ist, die ästhetische Evokation einer ‘Welt‘ zu erwecken " (II, 234).
    Der Totalitätsbegriff in der Kunst findet seine kategoriale Klärung in der Kategorie der Besonderheit. Typik in der ästhetischen mimetischen Reproduktion wird nicht erst in der ästhetischen Setzung geschaffen; sie findet sich auch in Wissenschaft und Alltagsdenken. Aber Wissenschaft und Kunst zielen

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    hierbei in verschiedene Richtung: Die Wissenschaft sucht das Typische ins Allgemeine zu erheben, die Kunst hebt die Einheit mit dem Individuum nicht auf, so daß Allgemeinheit in einer Pluralität der einander ergänzenden, miteinander kontrastierenden Typen zum Ausdruck kommt, " denen eine untrennbare Einheit des Einzelnen mit seiner Verallgemeinerung, mit dem Typischen, also mit dem Besonderen zugrundeliegt " (II, 241).
    Die " Welt " des Kunstwerks konstituiert sich unter der Kategorie der Besonderheit (II, 244); aber auch die dichterische Sprache zeigt nach Lukács dieses " Aufgehen der Allgemeinheit in die Besonderheit " , wie noch zu zeigen sein wird in der Analyse des Signalsystems 1‘. Als ästhetisches Prinzip sichert die Besonderheit bei der Konstitution der " Werkwelten " , des evokativen Eindrucks der Wirklichkeit, daß die individuellen Bestimmungen verallgemeinert werden können, ohne in die abstrakte Allgemeinheit der wissenschaftlichen mimetischen Reproduktion überzugehen,und verhindert gleichzeitig, daß die Individuen, die singulären Ereignisse, Prozesse, Raum- und Zeitbestimmungen als Partikulare des Alltagsdenkens oder der Alltagswirklichkeit rezipiert werden.
    Insofern fungiert auch dieses Prinzip als Abgrenzungskriterium gegenüber Wissenschaft und Alltagsdenken. Um die Relation von Allgemeinem und Besonderem in der spezifisch ästhetischen mimetischen Reproduktion begriffssystematisch genauer explizieren zu können, greift Lukács auf die Unterscheidung von Kausalität und Inhärenz zurück. Gerade die Primitivität dieser philosophiegeschichtlich alten und wissenschaftlich noch unentwickelten Relationsbestimmung macht diese Kategorie zu einem geeigneten Ausgangspunkt für die Ästhetik (I, 750). Denn die Inhärenz ist nach Lukács gerade jene Kategorie, in welcher das Verhältnis des einzigartig Individuellen zu jenen höheren Ordnungen, denen es angehört (Art, Gattung etc.), sichtbar wird (I, 750). Diese Kategorie bringt " im begrifflichen Erfassen der Wirklichkeit die Bestimmung des Verhältnisses von Selbständigkeit innerhalb höher gearteter Zusammenhänge " zum Ausdruck (I, 746). Zur Begriffsdefinition

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    greift Lukács auf Kants Unterscheidung von Subsistenz und Inhärenz zurück. *239
    Für Lukács bildet diese Kategorie " relativ primitive Verhältnisse " ab, die in den entwickelten Wissenschaften eine immer geringere Rolle spielen, allerdings in der ästhetischen mimetischen Reproduktion ihre Funktion behalten (I, 748). Denn das Verhältnis der Inhärenz bewahrt als " Annäherung " an das sinnlich Wahrnehmbare und Erlebbare eine Unmittelbarkeit zu den mimetisch zu reproduzierenden " Tatbeständen " . Gerade die " Zufälligkeiten " der Tatbestände werden nicht durch abstrahierende wissenschaftliche Verfahren und Theoriebildung ausgemerzt, sondern als Bestandteil der Substanz aufbewahrt. *240 So ermöglicht gerade das Inhärenzverhältnis die sinnfällige Darstellung allgemeiner Ordnungen und Gegenständlichkeiten. Das betrifft insbesondere die individuellen Charaktere der " gestalteten Menschen " in der ästhetischen mimetischen Reproduktion und " ihr Eingeordnetsein in gesellschaftliche Gruppen oder Zusammenhänge " . Die Inhärenz drückt ein solches Verhältnis aus, und zwar so, " daß dieses Einfügen in solche Ordnungen " das individuelle Leben nicht abschwächt, sondern, intensiviert (I, 752; I,635).
    Der von Lukács immer wieder angesprochene Prozeß der Intensivierung, aber auch der Begriff der " intensiven Totalität " hat hierin sein kategoriales Explikat: Die Aufrechterhaltung (zufälliger) Partikularität der sinnlichen Anschauung bei gleichzeitiger verallgemeinerbarer Bedeutung in der ästhetischen Sinnkonstitution wird durch. diese Teilhabe-Beziehung (I, 752; I, 634) möglich, anders als bei der wissenschaftlich entwickelteren Kausalitätsrelation, die die Partikularitäten mit Hilfe (gesetzesartiger) Allgemeinheit, als " kausal beeinflußt " , auseinander ableitet (I, 621 ff, 752). Die Inhärenzrelation bestimmt in der ästhetischen Sphäre konsequenterweise auch das Verhältnis von Einzelwerk, Kunstgattung und Kunst allgemein. Auch hierbei handelt es sich nicht um Subsumtions-, sondern um Inhärenzverhältnisse.
    Im Anschluß an Hegels ‘Logik‘ und an die ‘Philosophische Propädeutik‘ wird der Übergang des Qualitativen in die begriff-

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    liche Urteilsform in der Prädikation als unmittelbare oder sinnliche Allgemeinheit bestimmt. *241 Es handelt sich um " sinnliche Verallgemeinerung " , nicht um ein " begriffliches Abstrahieren " (I, 631). Was Lukács mit der " logischen Kategorie der Inhärenz " expliziert, ist eine kategoriale Relation, die grundlegend ist für die unterschiedlichsten soziohistorischen und stilgeschichtlichen Kunstmanifestationen und ihre Gestaltungen. Sie ist nicht mit symbolischen Darstellungsformen auf der Ebene der Kunstmanifestationen gleichzusetzen. *242
    Die philosophische Ästhetik expliziert nicht besondere epochen- oder stilgeschichtliche Entwicklungen auf der Ebene der Kunstphänomenologie, sondern kategoriale Bestimmungen der Konstitution und der Rezeption des Ästhetischen, auch wenn diese Bestimmungen im historischen Kontext der soziohistorischen und kunstgeschichtlich Entwicklungen begründet werden.

1.2.2. Struktur und Funktion

Fundamentale Voraussetzungen der Konstitution des Ästhetischen:
Funktionswandel der Kategorien, homogenes Medium und Evokation
Die von Lukacs in seiner Mimesiskonzeption behandelten Voraussetzungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion zeigen bereits, daß sich seine ÄSTHETIK nicht einfach nach dem Schema Produktion - Rezeption als Produktionsästhetik verrechnen läßt.
Die Konstitution ist von Strukturierungsoperationen abhängig, der Kombination von Elementen, die " auf Evokation angelegt sind " (I, 410), und erst durch dieses " Leiten des Rezeptiven " und die evokative Wirkung konstituiert sich der ästhetische Sinn. Lukács‘ Theorie liegt quer zu den produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Ansätzen, aber auch quer zu den seins-theoretischen und bewußtseinstheoretischen Begründungen in der Philosophischen Ästhetik. Lukács arbeitet bewußt die Prozessualität der Konstitution des Ästhetischen heraus; er reduziert diesen Vorgang nicht auf Strukturbestimmungen. Er vermeidet aber auf der anderen Seite die besonders in der neueren Re-

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zeptionsforschung favorisierten Konzepte, die den literarischen Text selbst als einen " Prozeß " charakterisieren oder die semiotisch und kommunikationstheoretisch begründete Dynamisierung des Strukturbegriffs als " Vermittlung von Struktur und Prozeß " . *243
Lukács entscheidet sich nicht einseitig zwischen einem materialen und funktionalen Werkbegriff, sondern sucht in seiner Mimesiskonzeption gerade den Zusammenhang von Strukturierungs- und Wirkungsprozessen systematisch und historisch zu beschreiben. Ästhetische Mimesis ist daher weder von einem rein materialen Werkbegriff noch von einem rein funktionalen Kommunikationsbegriff her zu explizieren. *244 Ästhetische Mimesis ist per definitionem immer evokative Mimesis. Daher kann Lukács von einer einheitlichen theoretischen Grundlage her strukturelle und funktionale Aspekte der Konstitution des Ästhetischen behandeln.
Dagegen sind die theoretischen Ansätze, die Ästhetizität aus Kommunikationsprozessen funktional herzuleiten versuchen, gezwungen, irgendwelche " Auslöser " struktureller Art einzuführen, ohne sie in ihrer Genesis und in ihrem Werkcharakter rein kommunikativ-funktional begründen zu können. Diese Ansätze greifen daher in ihrer Argumentation auf besondere " Vertextungstypen " zurück. *245
Kommunikativ-funktionale Analysen sind von ihrem theoretischen Ansatz her auch nicht in der Lage, vorsprachliche, gattungsgeschichtlich tiefliegende und soziohistorisch sich über lange Zeiträume hin entwickelnde Voraussetzungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion in die Betrachtung mit einzubeziehen.
Die philosophische Analyse, die Lukács auf die systematisch-historische Genesis stützt, soll aber einerseits die Verbindung des Ästhetischen mit allgemeinen Operationen der mimetischen Reproduktion, die sich im Alltagsleben, in Magie und Religion und in Wissenschaften nachweisen lassen, sicherstellen, um Ästhetizität weder von regionalen Bereichsausgrenzungen der ästhetischen Erfahrung, noch von speziellen Funktionsausgrenzungen oder funktionalen Dominanzen abhängig zu machen.

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Sie soll darüber hinaus das historische Gewordensein berücksichtigen, den jahrtausendelangen Prozeß in der Herausbildung der mimetischen Reproduktion, um nicht nur Funktionen innerhalb eines synchronen Kommunikationsmodells zu erfassen, sondern die gattungsgeschichtlich und soziohistorisch bedingten Modifikationen der Kategorien, den von Lukács so bezeichneten " Funktionswandel der Kategorien " .
Diese kategorialen Voraussetzungen der Konstitution des ästhetischen Sinns lassen sich nicht durch die theoretische Begrenzung auf semiotische Beziehungen oder die methodisch-pragmatische Reduktion auf kommunikationstheoretische Modelle oder die Reduzierung auf Vertextungsprozesse erklären. Die philosophische Analyse, die umfassende systematische und historische Bedingungen aufzuklären sucht, muß allerdings auf einem Allgemeinheitsgrad ihrer Explikationen verharren, der keinen unmittelbaren Übergang zu einzelwissenschaftlichen Theoriekonstruktionen oder Modellbildungen ermöglicht. Struktur und Prozeß weisen auf einen Problemzusammenhang, der nicht nur in der philosophischen Ästhetik eine Rolle spielt, sondern auch in spezialisierten Theorien des Ästhetischen, namentlich in semiotischen, strukturalistischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen.
Kennzeichen neuerer ästhetiktheoretischer Konzeptionen ist die Prozessualisierung des Strukturverhältnisses oder die Dynamisierung der Struktur und der funktionsanalytische Ansatz. Seit den Arbeiten der tschechischen Strukturalisten wird versucht, das ästhetische Werk unter Prozesskategorie zu explizieren. *246 Struktur ist nicht eine dem Artefakt inhärente fixe Größe, sondern ein Produkt; die Struktur des Werks ist eine Folge des Zusammenwirkens von Autor und Wahrnehmendem (Rezipienten). *247 Rezeption ist die " Konkretisierung einer immateriellen überindividuellen, ununterbrochen sich entwickelnden Struktur " . *248 Die Struktur des Werks ist ein Geschehen, ist Prozeß, kein statisches, genau abgegrenztes Ganzes.
Das hat für die ästhetische Reflexion wichtige Konsequenzen: Das Ästhetische wird als Teil des “gesellschaftlich kommuni-

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kativen Handelns“ *249 eingeführt. Die Explikation ist als Funktionsanalyse angelegt, und zwar bereits bei den Russischen Formalisten. *250 und gesellschaftliche Aspekte der Kunst sind in ihrer " gegenseitigen Durchdringung zu untersuchen " . *251 Günther kennzeichnet dieses Verfahren im Gegensatz zur soziogenetischen Erforschung als soziofunktionale Analyse, die das Werk in seiner künstlerischen Spezifik und in seiner gesellschaftlichen Wirkung behandelt. Das entscheidende theoretische und methodische Problem ist von Anfang an die " gegenseitige Durchdringung " der ästhetischen und sozialen Aspekte oder die Korrelierung von werkstrukturellen und rezeptiven, sozialen Faktoren. Die Konstitution des Ästhetischen als ästhetisches Objekt (Mukarovsky) oder als ästhetische Funktion (Jakobson) setzt eine Prozessualisierung voraus, die nicht im Rahmen ontologischer Kunsttheorien, sondern eingeführt ist.
Im Vergleich zur philosophischen Ästhetik, die sich an den Theorieelementen und Kategorien der Seinstheorien oder Bewußtseinstheorien orientiert, scheinen diese ästhetiktheoretischen Konzeptionen den Vorzug größerer Spezialisierung und Differenzierung zu haben. Versuchen diese theoretischen Ansätze aber über bloße Korrelierungen von Struktur- und Funktionsbestimmungen hinauszugelangen, taucht sogleich das Problem der Leistungsfähigkeit der zugrundeliegenden speziellen Theorien auf und erweist sich die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Einzeltheorien heranzuziehen, um der Komplexität von Struktur und Prozeß gerecht zu werden, so daß sich die Frage nach der Einheit der theoretischen Konzeption stellt.
Ecos semiotisch-kommunikationstheoretische Konzeption oder S.J. Schmidts handlungstheoretischer Ansatz legen solche kommunikativ-funktionalen Explikationen des Verhältnisses von Struktur und Funktion vor. Eco erläutert die ästhetische Wirkung im Rahmen von Analysen des Kommunikationsprozesses. Im Anschluß an Jakobsons Unterscheidungen der Funktionen der Sprache *252 definiert Eco die ästhetische Funktion dadurch, daß " sie sich als zweideutig strukturiert darstellt " und

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" als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint " . *253 Eco spricht von einer “produktiven Ambiguität“ und erklärt, daß die Zweideutigkeit als " primärer Zweck der Kommunikation intendiert wird " . Ambiguität und Autoreflexivität sind die Hauptcharakteristika. *254 Der funktionale Aspekt ist verbunden mit einem strukturalen; denn Ambiguität und Autoreflexivität sind auf der Signifikantenebene durch ein " System homologer strukturaler Beziehungen " begründet, das die unterschiedlichen Elemente als Bestandteile eines einzelnen und einzigartigen Codes erweist: Durch den Ideolekt des Werks. *255 Den Ideolekt erläutert Eco als " Einheit von Inhalt und Form " , so daß in einem Werk " dasselbe strukturale Schema die verschiedenen Organisationsebenen beherrscht " . Dieses strukturale Beziehungssystem ist durch die " offene " Logik der Signifikanten charakterisiert, die Eco auch als Dialektik von Form und " Offenheit " bezeichnet *256 Die " Logik der Signifikanten " hat eine doppelte Funktion: Zwei Probleme sind für Eco komplementär:
  1. in der ästhetischen Kommunikation verwirklicht sich eine Erfahrung,... die nicht auf strukturale Systematisierung reduziert werden kann;
  2. diese ästhetische Erfahrung wird durch ein Werk, das eine Struktur haben muß, ermöglicht.
Einerseits ist " das strukturale Modell des Prozesses des ästhetischen Genusses, andererseits die Struktur der Botschaft auf all ihren Ebenen im Spiel " . *258 Prozessualität und Strukturierung in der Konstitution des Ästhetischen sind in einem Kommunikationsprozeß analysiert, der ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis impliziert: Die Hauptcharakteristika der strukturalen Beziehungen " Ambiguität " und " Autoreflexivität " begründen eine ästhetische Wirkung. Die Ästhetizität aber, speziell die " ästhetische Funktion " , ist nicht weiter begründet; sie wird schlicht aus Sprachfunktionen eingeführt Die Prozessualisterung oder Dynamisierung der Werkstruktur trägt in dieser Konzeption nicht zur Begründung oder zur systematisch-begrifflichen Klärung der Ästhetizität bei. Die semiotische Konzeption verbindet Struktur und

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Funktion nicht in einem Konstitutionsmodell des Ästhetischen, sondern korreliert lediglich den Prozeß des " ästhetischen Genusses " mit der " Struktur der Botschaft " (beide sind " im Spiel " ), sie setzt aber das Ästhetische als eine Funktion von Zeichensystemen neben anderen Funktionen voraus.
Die Korrelierung von Rezeptionselementen und Werkelementen ist aber zu schwach für die philosophisch-ästhetische Explikation. Wienold hat bereits 1972 davor gewarnt, Semiotik und Kommunikationstheorie als bloß begrifflichen Aufputz für die alten ungeklärten Probleme zu verwenden. *259 Daß eine Botschaft eine ästhetische Funktion hat, wenn sie zweideutig strukturiert und autoreflexiv ist, kann als eine Charakterisierung von Strukturmerkmalen des Ästhetischen durchgehen, aber nicht als Explikation des Zusammenwirkens von strukturalen und prozessualen Voraussetzungen der Konstitution des Ästhetischen; dafür ist die semiotisch-theoretische Grundlage zu schwach.
Auch S.J. Schmidts Theorie der kommunikativen Handlungsspiele sucht den Weg von rein strukturalen zu funktionalen und prozessualen Bestimmungen des Ästhetischen. Die frühe Arbeit über ‘ästhetizität‘ setzt noch die Textstruktur als Basis jeder Textwirkung an und spricht von einer " ästhetischen Struktur " , die komplexe Mehrdeutigkeit aufweisen muß, d.h. eine Polyfunktionalität der Vertextung, die als grundlegende Möglichkeit der Freisetzung der Polyvalenz in der Rezeption fungiert. *260 Das Ästhetische wird in der Nachfolge der strukturalistischen Bestimmungen als eine Textfunktion, nicht als Elementqualität definiert.
In der Theorie der Kommunikativen Handlungsspiele handelt es sich um Korrelationen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen, gesellschaftlichen " Faktoren " . Sprache wird nicht primär als Zeichensystem aufgefaßt, sondern als Menge von Regeln für kommunikatives Handeln in Kommunikationsgemeinschaften. Sprache ist ein " Handlungsleitsystem " , sprachliche Bedeutung eine " Arbeitsform in Funktion " . Strukturen werden in Prozesse eingebettet und Bedeutung konsequent als Instruktion definiert. *261 Dies soll eine Komplexion sprachlicher und nichtsprachlicher verbaler und sozialer Faktoren ermöglichen, eine " Integration

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sprachlicher und nicht-sprachlicher Arbeitsformen in komplexen kommunikativen Prozessen "
*262 . Sprache wird insgesamt als eine soziale Arbeitsform, als " Lebensform " definiert. Allerdings wird dieser Arbeitsprozeß als Teil eines " Interaktions- und Kommunikationssystems " angesehen, und der Gesellschaftsbegriff auf diese Dimension reduziert. *263
In der weiter entwickelten Theorie der Kommunikativen Handlungsspiele werden nicht mehr Vertextungen, sondern Kommunikate als Basis gewählt. Unter veränderten semantiktheoretischen und kognitionspsychologischen, aber auch biologisch-anthropologischen Hypothesen *264 wird die Konstitution von Bedeutung nicht mehr als Entscheidungsprozeß expliziert, sondern als Zuordnung von " kognitiven Repräsentationen " zu Kommunikationsmitteln. Die Kommunikationscharakteristika sind nicht objektiv an der Kommunikatbasis zu erheben, sondern sie werden vom Rezipienten realisiert *265 . Bedeutungskonstitution ist somit als Zuordnungsprozeß durch Kommunikationsteilnehmer definiert. Die spezifisch ästhetische Kommunikation hängt von der Anerkennung von speziellen Konventionen ab und der " Polyvalenz " ästhetischer Kornmunikationshandlungen. Im ´Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft‘ versucht Schmidt Ästhetizität nicht mehr durch Konstitutionsbestimmungen zu definieren, sondern rein pragmatisch. *266 Die Theorie der Kommunikativen Handlungsspiele ist darauf angelegt, die Prozessualität in der Konstitution der Bedeutung herauszustellen und statische Strukturauffassungen zu vermeiden, nicht Text, sondern Vertextung, nicht Sprachstruktur, sondern " Sprache-in-Funktion " ist Ausgangspunkt. Dennoch weist die Beschränkung auf Interaktions- und Kommunikationsprozesse die Theorie der Kommunikativen Handlungsspiele als zu schwach aus, um die prozessuale Konstitution von Strukturen in ihrer Abhängigkeit von soziohistorischen oder gar gattungsgeschichtlichen Konventionen zu begründen. Die Differenzierung unterschiedlicher Konventionen der alltagspraktischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Kommunikation leitet sich aber nicht aus Kommunikationsprozessen selber her. *267 So ist es nicht verwunderlich, daß das Ästhetische nur durch eine pragmatische Definition des Prädikats

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" ästhetisch " eingeführt wird. aber inhaltlich unbestimmt bleibt. Hierin zeigt sich die Begrenztheit der Modellkonstruktion: Die zentrale Bestimmung jeder Ästhetik- oder Literaturtheorie wird als Grundbegriff lediglich pragmatisch eingeführt. Die Begründung des Ästhetischen als einer Konvention, die auf ihr historisches Gewordensein wie auf ihre Konstitutionsfunktion hin expliziert werden muß, fällt aus der Theorie der Kommunikativen Handlungsspiele heraus. Die Grenzen der Modellbildung, *268 nicht forschungspragmatisch notwendige Einschränkungen sind hierfür verantwortlich zu machen. Die philosophische Ästhetik, zumindest in der Tradition der Hegelschen Ästhetik, speziell aber die ÄSTHETIK von Lukács greift das Problem von Struktur und Prozeß umfassender auf, allerdings in größerer theoretischer Allgemeinheit. Prozessualität betrifft nicht nur innersystematische Beziehungen (Interaktions- und Kommunikationsprozesse), sondern die Prozessualität der gattungs— und soziohistorischen Entwicklung oder Herausbildung dieser " Arbeitsformen " , wie Schmidt formuliert. Es ist nicht eine Frage der Komplexität der Gegenstandswahl, sondern des theoretischen Modells, das den Prozeß der Herausbildung, Entstehung und Entwicklung der spezifischen Prozessualität und Strukturierung der Mimesis in Interaktion und Kommunikation oder in der Marxschen Terminologie: in Arbeit und Sprache zu erklären sucht. Lukács‘ Mimesiskonzeption bildet einen theoretischen Rahmen, der die Konstitution des Ästhetischen als Prozeß, als Struktur und als Funktion umfaßt. Die Mimesiskonzeption expliziert systematisch in einem einheitlichen Begriffssystem und entfaltet gleichzeitig das Gewordensein der mimetischen Reproduktion in seinen verschiedenen Ausforrnungen. In dieser einheitlichen Konzeption ist die Strukturierung immer Resultat von historischen Prozessen der gattungsgeschichtlichen und soziokulturellen Entwicklung und der systematischen Konstitutionsbedingungen. Strukturen, selbst in abgeschlossenen Systemen, sind dabei immer auch Faktoren in Funktionszusammenhängen. Stabilisierungen von fundamentalen Schemata der Wirklichkeitsmodellierung bzw. des Wirklichkeitseindrucks

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haben den Status von gattungsgeschichtliche Konventionen, und die Fixierungen der Objektivationen sind immer Resultate von soziohistorisch, kulturgeschichtlich bedingten Prozessen der mimetischen Operationen. Lukács gelingt es auf diese Weise, sowohl die Einseitigkeiten ontologischer Fixierung und Substanzialisierung der Strukturbestimmungen als auch die Auflösung der Struktur in bloße Prozeßverläufe der Rezeption zu vermeiden. *269
Die Mimesiskonzeption übergreift somit strukturalistische und funktionalistische Theorien. Bei der Konstitution des Ästhetischen sind Strukturierungen immer in Prozeßverläufe eingebunden, die Wirkungen hervorrufen. Dieses expliziert Lukács auf verschiedenen Theorieniveaus: analysiert Lukács immer den Zusammenhang von Strukturierungen und Funktionen als Ergebnis der Operationen der mimetischen Reproduktion.

1.2.2.1. Funktionswandel der Kategorien

Der Funktionswmndel betrifft einen Prozeß, der zwischen den kategorialen Bestimmungen und den medialen Manifestationen abläuft. Er bezieht sich auf die " Umformung " , die das homogene Medium in der Reproduktion der Wirklichkeit. in der Produktion von Wirklichkeitsmodellen durchsetzt, d.h., der Funktionswandel betrifft die mediale Formung auf veränderter kategorialer Basis (I, 687). Schon in Hegels ‘Vorlesungen über die Aesthetik‘ wird der Zusammenhang von Umwandlungen der " gewöhnlichen Anschauung " und der " gewohnten Ausdrucksweise ". thematisiert *270
Poesie und Prosa sind für Hegel " zwei unterschiedene Sphären des Bewußtseins " . Die " Poesie muß das Geschäft einer durchgänglgen Umschmelzung und Umprägung übernehmen " . Dabei muß sie nicht allein die gewöhnliche Anschauung dem " Gleichgültigen und Zufälligen entreißen, und die Betrach-

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tung des verständigen Zusammenhanges der Dinge zur Vernünftigkeit "
erheben, sondern auch " die gewohnte Ausdrucksweise des prosaischen Bewußtseyns zur poetischen unwandeln " . Diese Umwandlung liegt unterhalb gattungsniäßiger Partikularisationen, aber auch unterhalb der individuellen " Bestimmtheit des Nationalcharakters " , der Unterschiede in Hinblick auf Zeitepochen, Zeitgesinnungen und der besonderen " Weltanschauungen " , wie Hegel formuliert.
Für Lukács führt der gattungsgeschichtliche Loslösungsprozeß der ästhetischen mimetischen Reproduktion aus der elementaren Mimesis und der magischen Mimesis zu " ästhetisch transformierten Kategorien " (I, 789). Es handelt sich um einen Transformationsprozeß; es handelt sich nicht um prinzipiell andere Kategorien als sie in der Wirklichkeitsaneignung und Wirklichkeitsmodellierung des Alltagsdenkens vorliegen, sondern um die gattungsgeschichtlich in Arbeits- und Interaktionsprozessen eingespielten Kategorien, die in der ästhetischen Wirklichkeitsmodellierung, der spezifisch ästhetischen mimetischen Reproduktion, eine veränderte Funktion erhalten; daher auch " Funktionswandel " oder " Funktionswechsel " (I, 687) bzw. Transformation der Kategorien (I,789). " Dieser Funktionswandel der Kategorien im Ästhetischen bei Fortbestehen dessen, was ihrem Ansich in der objektiven Wirklichkeit entspricht, was sie allgemein formal abbilden, ist eine der Zentralfragen der Erkenntnis dessen, worin die Eigenart des Ästhetischen besteht " . Wenn auf der Ebene der medialen Repräsentation, d.h. in Akten der formalen Gestaltung. die " Umformung " sich durchsetzt, beeinflußt sie sowohl die " Gegenständlichkeitsformen des ästhetischen Inhalts " als auch die " Art und Wirksamkeit der Formen " (I, 687). Das heißt, es handelt sich um fundamentale Strukturierungsoperationen,nicht um Umwandlungen auf der Ebene der medialen Manifestationen *271 und betrifft die gattungsgeschichtlich stabilisierten Schemata der Wirklichkeitsmodellierung.
Lukács geht in seiner philosophischen Analyse nicht auf wahrnehmungsphysiologische oder kognitionspsychologische Einzelforschungen ein. Er expliziert diesen Umwandlungsprozeß im

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Rahmen seiner Mimesiskomzeption. D.h., es handelt sich um Schemata der mimetischen Reproduktion, die für die " gestaltete Totalität " , die Wirklichkeitsmodelle, erhebliche Auswirkungen haben. Ob Schemata auch als Wahrnehmungs- und Denkmuster zu explizieren sind, ist innerhalb des theoretischen Kontextes der Mimesiskonzeption nicht zu entscheiden und muß offen bleiben. Lukács macht in seiner ÄSTHETIK Aussagen über den Interaktionsbereich des Organismus in der Auseinandersetzung mit " Umwelten " ; sie betreffen immer den Prozeß der " Wirklichkeitsaneignung " , den " Stoffwechsel mit der Natur " . Aussagen über dem Zustandsbereich des Nervensystems und mögliche Muster von Korrelationen innerhalb dieses Bereichs liegen nicht in der Reichweite der Theorie der ÄSTHETIK. Es bleibt aber hervorzuheben, daß Lukács durch seine Theorie nicht ausschließt, daß sich gattungsgeschichtlich auch Muster sensomotorischer Korrelationen stabilisiert haben. *272
In der Explikation der Wirkung dieses Funktionswandels der Kategorien zeigt sich, daß Lukács von Schemata‘ der mimetischen Reproduktion und der Wirklichkeitsmodelle ausgeht, nicht aber von kognitiven Mustern in Wahrnehmungsprozessen. Eine der Wirkungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion besteht darin, die " Schemata, die das Alltagsdenken (und zuweilen auch die Wissenschaft) verfälschend zwischen Welt und Abbildung schiebt " , aufzuheben (I, 743). Die Umwandlung der Kategorien hat die Funktion, die Rezeption zu steuern; sie wird von Lukács sogar als " die tiefste Ursache der Fähigkeit der Werke, den Rezeptiven zu leiten " , charakterisiert (I, 614). In Hinblick auf die ästhetische mimetische Reproduktion ist der Funktionswandel der Kategorien eine Modifikation der kategorialen Basis der Strukturbestimmungen der " mimetischen Gebilde " , ihrer speziellen Kombination von Elementen, so daß z.B. Raum-Zeitbestimmungen der Werkwelten einen Quasi-Raum und eine Quasi-Zeit bilden und nicht mit den Bestimmungen der aktualen Welt koinzidieren. Im Zusammenhang der ästhetischen Rezeption aber übt diese Umstrukturierung auf die " Erlebnisse des Rezeptiven " die " evokativ ordnende, systenatisierende Macht des Werks; seiner Komposition " aus (I, 680).

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Diese Umformung bezieht sich allerdings nicht auf stilistische Überformungen, auch nicht auf poetisch-linguistische " Abweichungen " in der sprachlich-literarischen Gestaltung, sondern auf die kategoriale Basis des " Inhalts " der mimetischen Reproduktion und damit auf so fundamentale Bestimmungen wie Gegenständlichkeit, Raum, Zeit etc. Der Funktionswandel auf der kategorialen Basis konstituiert einen Quasi-Raum, eine Quasi-Zeit innerhalb der ästhetischen mimetischen Reproduktion und führt zur " unbestimmten Gegenständlichkeit " bzw. zu einer durch Strukturierungsoperationen " bestimmten Unbestimmtheit " (I, 720), für die Rezeption außerordentlich folgenreich insofern, als das Leiten des Rezeptiven sich " innerhalb eines Spielraums bewegt, den das homogene Medium des Werks (und der Kunstart) imperativ vorschreibt " (I, 685). Eine wichtige Konsequenz dieses Theorems des Funktionswandels der Kategorien liegt darin, daß das Problem des ästhetischen Abgrenzungskriteriums, wie bereits gezeigt, nicht als ein Bereichsproblem, sondern als ein Funktionsproblem behandelt werden kann. *273 Die Mimesiskonzeption von Lukács kann auf diese Weise einerseits alle mimetischen Operationen theoretisch zusammenfassen, auf der andern Seite aber die Differenz von Alltagsdenken und Ästhetik durch den Funktionswandel auf der kategorialen Ebene begründen. Damit werden keine ein für allemal fixierten regionalen Abgrenzungen von Gegenstandsbereichen erforderlich. dagegen aber die Übernahme von medialen Manifestationen des Alltagslebens oder der Wissenschaft in die Kunstdarstellung möglich, wie sie in allen Spielarten dokumentarischer Kunst und Montagekunst nachzuweisen ist. Nicht durch Differenzen auf der Ebene des Materials und der stilistischen Formung grenzt sich die ästhetische mimetische Reproduktion von anderen Reproduktionsforiiien ab, sondern durch den Wandel der Funktionen der Kategorien. *274
Die Theorie des Funktionswandels liefert im Rahmen der Mimesiskonzeption auch eine neue Antwort auf das traditionell ontologisch explizierte Problem von Sein und ästhetischem Schein. *275 Schein als Bedingung der Möglichkeit einer spezifischen Wahrheit in der ästhetischen mimetischen Reproduk-

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tion, die sich nicht am Wahrheitsbegriff des Alltagsdenkens oder der Wissenschaft orientiert, erhält in der Mimesiskonzeption als theoretisches Explikat den Funktionswandel der Kategorien, ein Explikat, das einerseits genauer den Zusammenhang von Schein und Sein, von " Realität " des Kunstwerks und Wirklichkeitsmodellen der Alltagserfahrung erläutert, das aber andererseits auch konziser die kategoriale Differenz in der Konstitution unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle zum Ausdruck bringt. Wahrheit der Kunst bleibt für Lukács damit an die " objektive Wirklichkeit ", d.h. auch an die Kategorien der Wirklichkeitsmodelle des Alltagsdenkens gebunden (I, 433); aber in der ästhetischen mimetischen Reproduktion führt die Transformation der Kategorien zu einer " Realität " sui generis, die weder durch Detailvergleiche zu überprüfen ist noch einen unmittelbaren Übergang in die Praxis ermöglicht.

1.2.2.2. Das homogene Medium

Auf der Ebene der Elaboration fundamentaler Strukturierungen bzw. Schemata der mimetischen Reproduktion setzt das homogene Medium in der Sphäre des Ästhetischen die " Umformung " der mimetisch reproduzierten Wirklichkeit durch (I, 687). Erkenntnistheoretisch gesehen ist die ontische Heterogenität mit schwächer oder stärker homogenisierten Erkenntnismitteln zu relationieren. Auf der medialen Ebene ist jede Erkenntnis ein " Umsetzen des Heterogenen in Homogene " . *276 Während aber in den Lebensäußerungen des Alltagslebens plurale Medien, verbale und nonverbale, visuelle und akustische Zeichensysteme in Abhängigkeit von dem jeweiligen situativen und kommunikativen Kontext verwendet werden, haben die gattungsgeschichtlich weiter entwickelten Objektivationen " nicht nur ihre innere Gesetzmäßigkeit, sondern auch ein bestimmtes Medium, durch welches allein die betreffende Objektivation produktiv wie rezeptiv realisiert werden kann " (I, 72). Lukács zufolge gibt es im Lauf der Geschichte " abgestufte Übergänge " . Bestimmte Objektivationen sind aber an bestimmte mediale Manifestationen gebunden; das ist an der Rolle der Mathematik in den exakten

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Wissenschaften abzulesen oder an der Visualität in den Bildenden Künsten.
In der Kunst allgemein wird " die extensive und heterogene Totalität der Wirklichkeit als eine spezifisch qualitative und intensive sinnlich homogene Totalität mimetisch reproduziert. " Hierfür sind Kategorien erforderlich, die für die Wissenschaft und Philosophie nicht in Frage kommen, z.B. die Kategorie der Besonderheit. *277
Auf der Ebene der medialen Instrumente handelt es sich historisch um Materialentwicklungen. Gattungsgeschichtlich und soziohistorisch ist es ein langer Weg von den in einen unmittelbaren Lebenszusammenhang eingebundenen Medien des Alltagsdenkens bis zu den abstrakten, empirisch leeren Kalkülen der formalen Logik oder der Mathematik. Aber auch innerhalb einer Klasse mimetischer Reproduktionen unterliegt das jeweilige homogene Medium Prozessen der Materialentwicklung. *278
In der ästhetischen mimetischen Reproduktion entwickelt sich ein homogenes Medium als subjektgebundenes, im Gegensatz zu den homogenen Medien der Wissenschaften, die zumindest tendenziell auf eine " sich stets vervollkommnende Ausschaltung der menschlichen Subjektivität " drängen, was an der Verwendung der Mathematik in den empirischen Wissenschaften, aber auch an der Einführung mathematischer Modelle in die traditionellen Humanwissenschaften abzulesen ist (I, 182; I, 643). Die ästhetische Setzung hingegen bleibt immer an die setzende Subjektivität gebunden, allerdings nicht an die Unmittelbarkeit und Spontaneität des Alltagslebens‘ sondern mit Beziehung auf das Gattungsbewußtsein. Dadurch entsteht die " eigenartige Objektivität " innerhalb der ästhetischen Sphäre, eine Objektivität, die die Subjektabhängigkeit beibehält (I, 644 f.). Nur in allgemeinster Form lassen sich die Funktionen des homogenen Mediums der ästhetischen mimetischen Reproduktion charakterisieren:
  1. Das homogene Medium dient zur Suspension von Verhaltensweisen der Alltagspraxis.
  2. Das homogene Medium dient zur Konzentration auf einen zugleich spezifischen und totalen Aspekt in der nimetischen Reproduktion, Das homogene Medium erscheint hierbei als eine Einengung der " Apper-

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    zeption der Welt "
    , als Reduktion der Elemente und Relationen; es ist ein Einengen " auf das im jeweiligen homogenen Medium Mögliche " . Aber von diesem spezifischen Aspekt aus ist ein Allgemeines " sinnbildlich festzuhalten " (I, 645 f.).
  3. Universalisierbarkeit ohne Eliminierung der Subjektivität wird zur zentralen Funktion des homogenen Mediums des Ästhetischen.
Lukács charakterisiert diese ästhetische Funktion des homogenen Mediums als " Umwandlung des ganzen Menschen in den ‘Menschen ganz´ " . Während der ganze Mensch des Alltagslebens in seiner individuellen Partikularität bestimmt ist, erhält der Mensch als Träger der durch das homogene Medium konstituierten Werkwelt die Funktion eines Organons der mimetischen Reproduktion und eine " neue Gestalt " . Im Gegensatz zum ganzen Menschen des Alltags ist im " schöpferischen und rezeptiven Verhältnis zur Kunst " vom " Menschen ganz " zu sprechen (I, 659), weil in der Sphäre des Ästhetischen durch die Einbeziehung des historischen Wissens der Menschengattung selbst in der sinnlich-sinnfälligen Partikularität des subjektiven Bewußtseins das ihm inhärierende Moment des allgemeinen Seins- und Selbstbewußtseins in Form des gattungsgeschichtlich und historisch akkumulierten Wissens zum Vorschein kommen muß. Denn in der Sphäre des Ästhetischen sind aufgrund der Suspension des unmittelbaren situativen und kommunikativen Lebenszusammenhangs selbst die Individuen und singulären Objekte und Ereignisse nicht mehr Partikularia eines individuellen Bewußtseins- und Handlungskontextes und können daher prinzipiell keine indexikalische Bedeutung annehmen. Sie sind vielmehr Elemente einer Werkwelt bzw. einer " gestalteten Totalität " , die nur aufgrund des allgemeinen Seins- und Selbstbewußtseins den strukturierten Einheiten der Werkwelt eine Bedeutung zuordnen kann, und zwar nur als partikulär Allgemeines oder, wie Lukács formuliert, als sinnlich-sinnfällige Allgemeinheit, Das Ästhetische macht Lukács zufolge uno actu Individuum und Menschengattung erlebbar. *279
Insofern spielt das homogene Medium auch eine wichtige Rolle in der Rezeption, speziell in Bezug auf das " Leiten des Re-

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zeptiven "
. Die Wirkung ist ein zentrales Merkmal der minetischen Reproduktion. denn die ästhetische Objektivität ist, anders als die wissenschaftliche, die auf die Unabhängigkeit des Ansichseins abzielt, abhängig ‘vom Menschen. von seinen Gedanken, Gefühlen etc.“ (I, 679). Die die ‘Erlebnisse des Rezeptiven evokativ ordnende, systematisierende Macht des Werks‘ ist als ‘Leiten‘ bzw. als ‘Geleitetwerden“ des Rezeptiven definiert (I, 680; I, 685). Die Konstitution des ästhetischen Sinns ist vom “Pathos der Evokation‘ und damit von der rezeptiven Subjektivität abhängig.

1.2.2.3. Evokation des ästhetischen Sinns

Wie bereits dargestellt, bedingt die ästhetische Setzung als das untrennbare Ineinander von Subjektivität und Objektivität den evokativen Charakter der Kunst. Denn während in den Äußerungen des Alltagslebens Evokation nur als ein Element der Gesantmitteilung auftritt (I, 412), sind in der ästhetisch mimetischen Reproduktion die ‘Elemente und ihre Kombination“ auf Evokation angelegt (I, 410).
Die Konstitution des ästhetischen Sinns ist gegen zwei Seiten abzugrenzen: Evokation ist nicht begriffliche Prädikation, und Evokation ist auch nicht subjektive Assoziation. Die Konzeption der Evokation des Sinns liegt quer zur eingespielten Trennung in produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Begründungen. Bedingung der Möglichkeit von Evokation ist das Zusammen von " objektiver Immanenz des Kunstwerks und subjektiver Immanenz des ästhetischen Verhaltens " , wie Lukács schon sehr früh festgestellt hat. *280 Immer wieder kommt er in der großen ÄSTHETIK auf diese für die ästhetische Setzung konstitutive Relation zu sprechen. Bereits im Objekt der Kunst ist " ein untrennbares Ineinander und Zusammen von Subjektivität und Objektivität " gegeben (II, 297). Objekt der ästhetischen Reproduktion ist immer schon der Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, nicht etwa die Natur in einem kruden Ansich (I, 235).
Aber auch der gegenständliche Status des Kunstwerks als Ob-

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jektivation‘ das “gegenständliche Wesen der Kunstwerke‘ ist durch die ‘Wechselbeziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität‘ charakterisiert (I, 299), so daß die Existenz des Ästhetischen ein Subjekt-Objekt ist, das von Lukács aber lediglich als Konstitutionsbedingung in der Sphäre des Ästhetischen definiert ist und das nicht vorschnell zu einem Versöhnungsparadigma zu hypostasieren ist; Konstitutionsmerkmal in allgemeinster Bedeutung, aber streng bezogen auf die Konstitution des ästhetischen Sinns, die ihrerseits Voraussetzung für weitere funktionale Bestimmungen des Ästhetischen im soziohistorischen Kontext werden kann.
Im der ästhetischen Reproduktion ist die Welt als ansichseiende immer auf den Menschen zurückbezogen. Lukács spricht von einer elementaren Rückbeziehung, *281 die nicht als nachträgliches Interpretament durch historische Subjekte zu verstehen ist, sondern als Konstitutionsbedingung. Allerdings handelt es sich, und das ist wichtig für die materialistische Basis dieser Explikation, um eine Rückbeziehung; d.h., das Ansich der Objektivität ist ebenfalls konstitutiv für diese Relation. *282 Die evokative Wirkung wird nur hervorgerufen, wenn die ästhetische mimetische Reproduktion den Bezug zum Ansich der objektiven Wirklichkeit aufrechterhält und nicht in reiner (möglicherweise sogar autistisch-pathologischer) Subjektivität abgeschlossen ist. *283
Hierin ist auch die konstitutive Bedingung für den so oft mißverstandenen oder oberflächlich explizierten Realismus zu suchen: Realismus als " Tatsache jeder Kunst " ist ein Prinzip der Konstitution des Ästhetischen nicht eine kunstgeschichtliche und stilistische Ausgestaltung der Manifestationen der Kunstphänomenologie. Auf dieser konstitutiven Ebene, die die Bedingung der Möglichkeit von Ästhetizität expliziert, hängen Realismus und " evokative Wirksamkeit " zusammen.
Auf Seiten der ästhetischen mimetischen Reproduktion hat das zur Voraussetzung, daß die " Elemente wie ihre Kombination " , d.h. die Komposition auf Evokation " angelegt " sein muß, die die intentionierte Universalisierbarkeit einschließt. Die Komposition zielt auf die Konstituierung einer " Realität " , die

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den evokativen Eindruck einer Wirklichkeit beim Rezeptiven erzeugen kann. Sowohl inhaltliche als auch formale Momente sind auf die Evokation von " Gefühlen und Gedanken " konzentriert, aber nicht als isolierte Stimuli, sondern durch ein " mimetisches Gebilde " als Relationsganzes oder als Struktur, das eine " Werkwelt " konstituiert und als eine ‘Werkindividualität rezipiert werden muß. *284 Diese strukturierte " Werkwelt " ist Voraussetzung für die " komplexe Wahrnehmungsprägnanz " , *285 von der Henrich spricht. Die " Werkwelt " als objektive Immanenz des Kunstwerks ist gerade in ihrer " Abgeschlossenheit " Voraussetzung für die Konstitution des ästhetischen Sinns in der subjektiven Immanenz. Die Wirkung kommt zustande trotz der Abgeschlossenheit zweier Immanenzen, der in sich abgeschlossenen Werkwelt und der rezeptiven Subjektivität. Wirkung als Evokation ist nicht nach dem einfachen kommunikationstheoretischen Schema der Informationsübertragung zu denken; der ästhetisch verallgemeinerte Sinn odet die Bedeutung der Werke wird durch das Evokationssubjekt den spezifisch strukturierten Werkwelten, und das sind inhaltliche und formale Einheiten und Relationen, zugeordnet. Der ästhetische Sinn ist also nicht einfach am Werk objektiv abzulesen; er ist eine eigene, unter den spezifischen Bedingungen der subjektiven Rezeptivität stehende Konstitutionsleistung. geleitet durch die Strukturierungsoperationen der mimetischen Reproduktion der evokativen Mimesis.
Lukács sieht als Konsequenz der ausgebildeten evokativen Mimesis, die gattungsgeschichtlich eine späte mimetische Reproduktionsform darstellt, *286 die eindeutige Scheidung in " Schaffende und Rezeptive " (I, 414). Das Zusammentreffen zweier Immanenzen bedeutet nicht eine Konfundierung von produktions- und rezeptionsästhetischen Leistungen oder Funktionen, auch nicht die " Übertragung " von Werkwelten in Gedanken und Gefühle des Rezeptiven. Hierin steht Lukács neueren Überlegungen zur kommunikationstheoretischen Modellbildung, wie sie von Köck im Anschluß an die Theorien selbstreferentieller Systeme angestellt werden, näher, als den informationstheoretischen Explikationen, die die Wirkung lediglich

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als einen Übertragungsmechanismus abbilden. *287 Das " Leiten des Rezeptiven " ist als Induzierung eines Konstitutionsprozesses zu sehen, der in der " subjektiven Immanenz " des Rezeptiven abläuft. Die Induzierung oder die Auslöserfunktion ist an die Bedingung gebunden. daß die Strukturierung der " Werkwelten " (und das betrifft immer inhaltliche und formale Aspekte) eine Kombination von Elementen ist, die einem " leitenden Prinzip untergeordnet " ist. Ein bloßes Konglomerat von Elementen hätte nicht die Wahrnehmungsprägnanz, die Evokationen bewirken könnte. Deshalb ist diese strukturell bedingte Evokation von Assoziationen zu trennen, die auch von Einzelelementen eines Konglomerats ausgelöst werden könnten ‚ *288
Aber auch das Konzept einer " evokativen Suggestion " im Rahmen einer Theorie der ästhetischen Erfahrung schneidet die werkstrukturelle Induzierung ab und beschränkt sich auf die " Suggestion von Totalität " , nicht auf die Konstitution in sich strukturierter Werkindividualitäten bzw. Werkwelten als " Realität " . Als Folge des bewußtseinstheoretischen Ansatzes erläutert Bubner auch lediglich den Subjektbereich: Die Beobachtung von Kunstgegenständen, anders als von Gebrauchsgegenständen, führt zu einem " Auslegungsverhalten " ‚ das durch die " Suggestion von Totalität " angetrieben wird, d.h. durch " die Vermutung, daß die Details mehr sind als nur Details " . Die Sinngebundenheit durch die Semantik des Werks und der Totalitätscharakter werden durch das " freie Spiel der Reflexion " nach Bubners Auffassung " vermittelt " . Die Reflexionstätigkeit bewegt sich per definitionem in dem " Zwischenraum " von Anschauung und Begriff; sie ist aber allein " unfähig, die reale Vereinigung von Anschauung und Begriff zu erzeugen " , so daß die " Einheit kein fester Punkt ist " ; die Reflexion gelangt nicht zum Abschluß. Bubner denkt sich diesen Prozeß als eine Projektion durch das Subjekt der ästhetischen Erfahrung. Ein " Fixpunkt " in diesem Prozeß ist " in der charakteristischen Gestalt und Singularität " des Anlasses der ästhetischen Erfahrung zu sehen; denn das Subjekt projiziert das sinnliche Material nicht in freier Beliebigkeit. Aber die

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Singularität des Werks ist nur eine Umschreibung des Erfahrungsgehaltes, der in allen " Akten der sinnlichen Gewahrung wieder und wieder bestätigt werden " muß: " Werke gehen nicht in ein für allemal gültiger Bestimmtheit einer objektiven Existenz auf "*289
Die transzendentalphilosophische Theorie des Subjekts, für die Ästhetik als Theorie der Erfahrung ausgearbeitet, hat per definitionem nicht die Reichweite, um das Zusammenwirken zweier abgeschlossener Systeme, der " objektiven Immanenz des Kunstwerks " und der " subjektiven Immanenz des ästhetischen Verhaltens " , zu explizieren. Das Kunstwerk hat als " Werk " (Bubner setzt es in Anführungsstriche) nur transitorische Existenz und wird im erfahrungstheoretischen Ansatz zum bloßen " Anlaß " der ästhetischen Erfahrung; die Strukturiertheit der mimetischen Gebilde, die regelgeleitete Kombination von Elementen als Bedingung der Möglichkeit für den " evokativen Eindruck einer Wirklichkeit " d.h. die " Werkwelt " gerät aus dem Blick. Deshalb ist der Vorgang auch nur als Suggestion zu beschreiben und nicht als strukturgeleitete Evokation, die von den Raum-, Zeit-, Objekt- und Prozeßstrukturen der ästhetischen Wirklichkeitsmodelle, d.h. ihrer Schemata, abhängig ist. Der ästhetisch konstituierte Wirklichkeitseindruck ist auf der anderen Seite aber auch streng gegen rationale Nachkonstruktionen von Wirklichkeitsausschnitten, wie sie in der wissenschaftlichen Reproduktion vorliegen, abzugrenzen. Denn die für die Wissenschaft konstitutive strikte Trennung von Subjektivität und Objektivität, die erst durch Theoriebildung, Modellkonstruktion und methodische Operationen wieder " vermittelt " werden, liegt in der ästhetischen mimetischen Reproduktion ja gerade nicht vor. Die evokative Wirksamkeit besteht darin, daß allgemeine Bestimmungen aus dem Erfahrungswissen der Gattung, aus ihrem Seins- und Selbstbewußtsein unmittelbar zur sinnlichen Wahrnehmung bleiben, eine Relation, die Lukács durch die Kategorie der Besonderheit expliziert bzw. als mimetische Operation auf das ästhetische Prinzip zurückführt. *290 Der Wirklichkeitseindruck reduziert sich dabei allerdings nicht auf bloß subjektive Vermutungen, son-

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dem bleibt " Realität " und damit verallgemeinert gegenüber bloß singulären Eindrücken. doch nicht abstrakt allgemein wie in empirischen Theorien. Die Besonderheit dieser " Realität " als Wirklichkeitseindruck eines Rezeptiven konstituiert sich nur im " Zusammentreffen der objektiven Immanenz des Kunstwerks mit der subjektiven Immanenz " der ästhetischen Rezeption.

1.2.3. Primitiva und Formativa

Das implizite Explikationsmodell, das Lukács in seiner ÄSTHETIK anwendet, um die Genesis des Ästhetischen in ihrer gattungsgeschichtlichen und soziohistorischen Tiefe begrifflich-systematisch entwickeln zu können, umfaßt mehrere Ebenen:
  1. Ästhetische Prinzipien als Regulativa der mimetischen Operationen,
  2. Primitiva als prämediale Schemata der Werkwelten und
  3. Formativa als mediale Manifestationen und soziohistorische und kulturell-konventionelle Elaborationen der Werkindividualitäten
Die Differenzierung zwischen Formativa und Primitiva bezeichnet die konstitutive Abhängigkeit der " formalen Widerspiegelungsformen " der historisch und kulturell kurzfristig varianten medialen Manifestationen von langfristig stabilisierten Relationsmustern oder Schemata der Wirklichkeitsmodellierung in der Sphäre des Ästhetischen. Ob das Verhältnis der Formativa zu den Primitiva durch Generierungen aus Tiefenstrukturen oder als Anreicherungen von Grundmustern durch zunehmende Attribuierungen modellhaft abzubilden ist, bleibt im Rahmen der philosophischen Analyse offen. Das könnte nur in Beziehung auf spezielle Konstitutionsmodelle oder Textmodelle der einzelnen Kunstwissenschaften entschieden werden; die Konstruktion solcher disziplinärer Modelle ist aber nicht mehr Gegenstand der philosophischen Ästhetik. *291
Problembereich der philosophischen Analyse ist für Lukács die " Eigenart des Ästhetischen " , jedenfalls im Allgemeinen Teil der ÄSTHETIK, und sind nicht die Manifestationen der Kunstphänomenologie, die der kunstgeschichtlichen und kunstanalytischen Forschung zufallen. Auch die philosophische Analyse übersieht

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nicht, daß die Kunst nur in der Pluralität der Künste und der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke existiert; aber die Problemstellung resultiert ja gerade aus dem ungeklärten Verhältnis dieser Pluralität der ästhetischen Erscheinungen und der " Einheit des Ästhetischen " .
Die " Einheit des Ästhetischen " kann Lukács zufolge aus wissenschaftslogischen Gründen nicht auf dem Wege empirischer Generalisierungen abstraktiv aus der Kunstphänomenologie abgezogen werden, und Lukács wählt daher die systematisch-historische Genesis der ästhetischen mimetischen Reproduktion und das Verfahren des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten, um dieses Problem zu klären. Im Rahmen der Mimesiskonzeption arbeitet er durch begriffssystematische und historische Analysen unterschiedliche Klassen von Wirklichkeitsmodellen heraus, die aus differenzierten mimetischen Operationen resultieren. Die gattungsgeschichtliche und soziohistorische Entstehung der spezifisch ästhetischen mimetischen Reproduktion und die systematische Abgrenzung der ästhetischen " Objektivationen " von anderen Wirklichkeitsmodellen des Alltagsdenkens oder der Wissenschaft zeigen, daß die ästhetischen Wirklichkeitsmodelle als individuelle " Werkwelten " *292 trotz der Disparatheit der historischen Manifestationen der kulturellen Normen, Produktionsformen und Rezeptionskonventionen dennoch durch fundamentale Konstitutionsbedingungen dieser Werkwelten die " Einheit des Ästhetischen " begründen. In der philosophischen Analyse der mimetischen Reproduktion, nicht der Werkindividualitäten, deckt Lukács prämediale Schemata der Werkwelten und der Werkindividualitäten auf, die hier als Primitiva der Konstitution der Werkwelten zusammengefaßt werden.
Bezeichnenderweise, aber auch zwingenderweise, erfolgt die Analyse nicht auf der Ebene der Kunstphänomenologie. Lukács setzt bei den abstraktesten Bestimmungen an und greift auf Hegels ‘Logik‘ zurück, um die Kategorie des Fürsichseins zu explizieren. *293 Hegel geht ganz allgemein in seinen ontologisch-logischen Explikationen davon aus, daß Grundstrukturen sich in allen Besonderungen durchhalten. Im Explikationsgang der Hegelschen ‘Logik‘ ist im Fürsichsein der Unterschied von

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Sein und Bestimmtheit gesetzt und ausgeglichen. Als gesetzte Bestimmtheit oder Negation der Negation liegt eine einfache Beziehung auf sich vor, so daß Hegel von einem " absoluten Bestimmtsein " sprechen kann. Diesen begriffsexplikativen Prozeß entfaltet Hegel über die Stufen des Eins als unmittelbar Fürsichseiendes, der Vielheit der Eins als Repulsion und Attraktion bis zum Ausgleich dieser wechselseitigen Bestimmungen in der Qualität. *294
Als Kategorie des gesellschaftlichen Lebens interpretiert Lukács, hierin Marx folgend, das Fürsichseim als Kategorie des Selbstbewußtseins (II, 321). Alle Bestimmungen des Fürsichseins, " von der Repulsion eines jeden Andersseins bis zum Selbstbewußtsein des Menschen, sind ausschlaggebende Momente des Kunstwerks " (II. 321). Die allgemeinste Form des Kunstwerks ist das Fürsichsein und damit ist es gegen alle anderen mimetischen Reproduktionen und Objektivationen abgegrenzt (II, 325). Durch die " Verwandlung von Bewußtsein zu Selbstbewußtsein " in der Kategorie des Fürsichseins entsteht die für das Kunstwerk " eigenartige Beziehung zwischen Subjektivität und Objektivität " :
" Das fürsichseiende Kunstwerk ist also eine ´ Welt ´ , eine Art von objektivem Ansich, das in unberührbarem Geradesosein, in fundierter Notwendigkeit den Rezeptiven gegenübersteht. Jedoch ebenso wie diese Objektivität das Kunstwerk zur Totalität macht und alle seine Poren durchdringt, ebenso sind sein Ganzes und seine sämtlichem Momente zugleich und untrennbar von dieser Objektivität Erscheinungs- und Äußerungsweisen einer bestimmten und besonderen Subjektivität "
. *295 Dieses Fürsichsein des Kunstwerks manifestiert sich in der Werkindividualität, in einem " mimetischen Gebilde " , das einen " geschlossenen individuellen Charakter " hat (II, 308). Fundamentale Konstituenten dieses Fürsichseins des Kunstwerks, seiner " Welt " , sind relationale Schemata, nicht spezielle mediale Manifestationen oder gar Formbestimmungen. Lukács expliziert diese relationalen Primitiva auf der Basis der abstrakten Werkkategorie, nicht anhand konkreter kunsthistorischer Werkgestaltungen. Denn die Primitiva sind " kategoriale Zusammenhänge " ,

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" die unmöglich aus der bloßen Kontinuität der bis dahin gehenden Entwicklung ‘abgeleitet‘ werden können " (I,25). *296
  1. Autoreflexivität der ästhetischen Immanenz
    Im Fürsichsein des Kunstwerks ermöglicht die Partikularität trotz der Begrenztheit der konkretem Strukturbestimmtheit relationale Bestimmungen " intensiver Unendlichkeit " . Die theoretische Begründung liegt darin, daß im Fürsichsein, Hegel zufolge, das Andere, das die Bestimmtheit setzt, immer nur als " ein Aufgehobenes, als sein Moment " fungiert. *297 Unendliche Bestimmungen als Beziehungen auf sich selbst konstituieren sich nur in der Immanenz der Werkwelt, nicht durch irgendwelche transzendenten Verweise. Schon Hegel insistiert auf dieser Immanenz und weist die platten Unendlichkeitsvorstellungen für die Kunstsphäre zurück. *298 Durch Tilgung des Außenbezugs, durch die strukturelle Suspension des unmittelbaren Lebemszusammenhangs oder auch des Gebrauchskontextes kann " für die Betrachtung " das in sich abgeschlossene System, die Immanenz des Kunstwerks mit seinen Elementen und Kombinationen, immer neue Bestimmungen hervorbringen bzw. kann der Rezipient, Hegels " Betrachter " , in der Evokation immer neue Kombinationsmöglichkeiten bei der Konstitution des Sinns ausschöpfen. *299 Darin liegt kein Begriffsmystizismus, sondern eine philosophische Explikation, die heute in anderen theoretischen Rahmen und mit veränderter Terminologie, z.B. in der Begrifflichkeit der selbstreferentiellen Systeme, zu formulieren wäre. Die Klärung in der Sache liegt aber bereits bei Hegel vor mit seinen ontologisch-logischen Explikationen des Fürsichseins und wird von Lukács übernommen und auf das " gesellschaftliche Leben der Menschen " angewendet. Die relationale Bestimmung der intensiven Totalität erlaubt, daß in der Individualität der mimetischen Reproduktion eine " Ausdehnung des Selbstbewußtseins " auf die Gattung möglich ist. eine Ausdehnung " weit über den Bereich des sonstigen, normalen individuellen Erlebniskreises " (II, 327). Im Pathos der Evokation, in der evokativen Zuordnung des ästhetischen Sinns zu singulären Strukturbestimmungen, ermöglicht die indivi-

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    duelle Werkwelt das " Wirksamwerden der Gattung in der Existenz eines jeden Individuums " (II, 328).

  2. Typik der ästhetischen Immanenz
    Auch die unter dem Begriff des Typischen zusammengefaßten Primitiva der ästhetischen mimetischen Reproduktion sind relationale Bestimmungen. Die begriffssystematische Fundierung erfolgt nicht durch Rückführung auf den Allgemeinheitsbegriff, sondern auf die Kategorie der Besonderheit. Besonderheit wird von Lukács als Relation von Allgemeinheit und Einzelheit begriffsgeschichtlich ausführlich und systematisch im Anschluß an Hegels ‘Logik‘ behandelt. *300 Grundsätzlich handelt es sich nicht um ein Subsumtionsverhältnis, sondern um die Beziehung der Inhärenz. Individuelle Bestimmungen erhalten ihren Allgemeinheitscharakter nicht dadurch, daß sie irgendwelchen allgemeinem Bestimmungen innerhalb des mimetischen Gebildes untergeordnet werden, auch nicht irgendwelchen " Ideen " oder Textthemata, sondern sie sind strukturell im Sinne einer Teilhabe-Beziehung als Partikulare immer auch schon universelle Bestimmungen, ohne einen Prozeß der Verallgemeinerung zu durchlaufen.
    Die ästhetische mimetische Reproduktion kann aufgrund dieser Primitiva bei der Zuordnung des ästhetischen Sinns durch die Evokation niemals zu bloß singulärem Bedeutungen führen, d.h. zur Konstitution vom Individuen, partikulären Ereignissen oder singulären Raum-Zeitbestimmumgen. *301 Auch wenn die Funktion der evokativen Mimesis durchaus den Rezipienten in der Weise betroffen machen soll, daß " seine Sache " verhandelt wird, ist diese eine der gattungsmäßigen Allgemeinheit bzw. der Beziehung des individuellen Bewußtseins zum Selbstbewußtsein der Gattung.
    Auf der Grundlage dieser Primitiva der ästhetischen mimetischen Reproduktion ist auch das Naturalismusverdikt bei Lukács zu verstehen und die Begründung des Realismus als einer Tatsache jeder Kunst: Nicht Partikularia als Zufallserscheinumgen der aktualen Welt bzw. des konkreten Lebenszusammenhangs sind in die " ästhetische Immanenz " zu integrieren. Die Autoreflexivität der ästhetischen Immanenz als (unendliche)

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    Beziehung auf sich selbst ermöglicht immer nur die Konstitution von individuellen Bestimmungen mit Allgemeinheits- oder Gattungscharakter. Typik als " Elementarform " der mimetischen Gebilde in der Sphäre des Ästhetischen unterscheidet sich daher auch von allen Typusbildungen im Bereich der Wissenschaften. Während in den Wissenschaften die Anzahl der Typen beschränkt bleiben muß, wenn sie eine begrifflich ordnende und systematisierende Funktion erfüllen sollen, ist in der Kunst ein unbegrenzter Typenpluralismus vorhanden; denn die Typik der ästhetischen Immanenz kann weder von der sinnfälligen medialen Materialität noch von der Spezifik der Werkindividualität abgelöst werden. Innerhalb des Werkpluralismus ist die Typik zur Klasse der Primitiva der Konstitution der Werkindividualität zu rechnen und sichert die evokative Wirksamkeit der ästhetischen Immanenz. Nicht die singuläre Partikularität, eingebunden in einen unmittelbaren praktischen Lebenszusaminenhang, d.h. nicht der reine Einzelfall, der " in Hinsicht auf jede sinnfällige unmittelbare Mitteilung " stumm bleibt (I, 592), erzeugt das Pathos der Evokation. Erst die Umwandlung der kategonialen Beziehungen von Allgemeinem und Einzelheit kann in der Zuordnung des ästhetischen Sinns zu den Strukturbestimmungen, d.h. den " Einheiten und ihren Kombinationen " der Werkindividualität, nicht nur die " Individualität des Schöpfers " erlebbar machen, " sondern uno actu auch das gegebene historische Entwicklungsstadium der Menschheit " (I, 551).

  3. Realistik der ästhetischen Immanenz
    Realismus als fundamentale Tatsache jeder Kunst ist zunächst einmal ein ästhetisches Prinzip. das als Regulativ die Subjekt-Objekt-Relation innerhalb der mimetischen Reproduktion spezifiziert: Nur in der ästhetischen mimetischen Reproduktion werden Wirklichkeitsmodelle erstellt, die versuchen, " im Ringen der Subjektivität mit sich selbst, das Ansich der Welt zu erfassen " (II, 297). Das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist im Ästhetischen als " untrennbares Ineinander und Zusammen von Subjektivität und Objektivität " charakterisiert und

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    verhindert damit im Bereich des Ästhetischen einfache Adäquationsbeziehungen zwischen der Wirklichkeitsenfahrung des Alltagsdenkens und dem evokativen Wirklichkeitseindruck.
    Von diesem Regulativ der mimetischen Operationen sind auf den Ebene der Konstitution der Werkindividualität die prämedialen Primitiva oder " Elementanformen " als relationale kategoriale Schemata der Subjekt-Objekt-Beziehung zu unterscheiden, die das Verhältnis der mimetisch reproduzierten Werkwelt zur Wirklichkeitserfahrung des Alltagsdenkens oder der magisch-religiösem Mythenbildung oder zur Wirklichkeitsmodellierung der Wissenschaften bestimmen. Zwischen der " Welt " der Werkimdividualitäten als Evokation eines Wirklichkeitseindrucks und der Wirklichkeit, wie sie Gegenstand des Alltagsdenkens oder der Religion und Wissenschaft ist, kann kein Adäquatiomsverhältnis der Elemente oder Details zustandekommen. *302 In der ästhetischen Immanenz kann sich aber durch die kompositionelle Strukturierung der Werkindividualität als " abgeschlossene, auf sich selbst gestellte, in sich selbständige, unmittelbar nur durch sich selbst wirkende " Totalität *303 ein Korrespondenzverhältmis zwischen der intensiven Totalität und der allgemeinen gattungsgeschichtlichen Wirklichkeitserfahrumg in einem " gegebenen historischen Entwicklungsstadium der Menschheit " herausbilden. Dieses totalisierende Korrespondenzverhältnis gehört zu den prämedialen Primitiva der Konstitution des Ästhetischen und wird hier als Realistik der ästhetischen Immanenz bezeichnet. Es unterscheidet sich vom allen naiven Realismusvorstellungen, d.h. von der " spontanen Ontologie des Alltagslebens " , und es ist nicht aus stil- oder epochen-geschichtlichen Ausformungen der Kunstphänomenologie herzuleiten.
    Realistik als prämediales relationales Schema der Wirklichkeitsmodellierung in der Sphäre des Ästhetischen erfordert für die Konstituierung der Werkwelten eine " geschlossene Totalität " , die eine " in sich abgeschlossene Wirklichkeit " darstellt, der gegenüber keinerlei Praxis möglich ist, und fordert für die Evokation des ästhetischen Sinns, daß die " geschlossene Totalität " dem Wahrhaftigkeitspostulat unterworfen

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    wird, d.h., daß die Evokation eines Wirklichkeitseindrucks in seiner Totalität immer auf das Seins- und Selbstbewußtsein der Gattung in einem gegebenen historischen Entwicklungsstadium hin orientiert wird, oder, wie Lukács formuliert, mit den " auf das Menschheitliche orientierten Momenten der Wirklichkeit " korrespondiert (II, 840). Subjektivität und Objektivität sind in dieser Sphäre nicht zu trennen, und das Wahrheitskriterium der Realistik kann nicht die äußerliche adaequatio intellectus ad rem sein, sondern nur eine Orientierung des evozierten Wirklichkeitseindrucks des Rezeptiven an dem Selbstbewußtsein der Gattung im Prozeß der Konstituierung des ästhetischen Sinns. Erst der Bezug auf das Selbstbewußtsein der Gattung, nicht etwa auf das partikulare empirische Wissen konkreter historischer Subjekte, sichert die Einbeziehung des Weltwissens, das sich in einem historischen Entwicklungsstadium gattungsgeschichtlich und soziohistorisch herausgebildet hat, und ermöglicht Korrespondenzen zwischen beliebigen Inhalten der " gestalteten Totalität " der Werkwelt und den " auf das Menschheitliche orientierten Momenten der Wirklichkeit " .
    Mit welchen Mitteln, d.h. auf welchem Entwicklungsstand der Materialentwicklung und der Form- und Stilentwicklung die ästhetische mimetische Reproduktion dieses " Weltschaffen " der Kunst realisiert, ist ein kunsthistorisches oder epochen- und stilgeschichtliches Problem und betrifft nicht die prämedialen relationalen Schemata der Konstitution der Werkwelten. Lukács weist wiederholt und nachdrücklich darauf hin, daß Realistik als Primitivum der Konstitution nicht ein Spezialstil unter vielen anderen ist, sondern die " künstlerische Grundlage " und daß es trotz dieser Grundlage " nichts so radikal Variiertes " gibt wie die Bezugssysteme und Ausdrucksmittel, die den historisch jeweils besonderen Stil bedingen (II, 840).
    Das von Lukács herangezogene Explikationsverfahren, das zwischen ästhetischen Prinzipien, Primitiva und Formativa der Konstitution des ästhetischen Sinns zu trennen erlaubt, sollte die planen Mißverständnisse in der ästhetiktheoretischen Diskussion und vor allem die Konfundierung von Realismus als

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    " fundamentaler Tatsache " der ästhetischen mimetischen Operationen bzw. als " künstlerischer Grundlage eines jeden gültigen Schaffens " und den historisch variierenden Spezialstilen vermeiden helfen. Dazu ist es erforderlich, begrifflich über Lukács hinausgehend, strenger zwischen diesen Ebenen zu scheiden. Ich schlage deshalb vor,
    • zwischen Realismus als Prinzip,
    • Realistik als Primitivum und
    • realistischem Stil als Formativ
    begrifflich zu differenzieren. *304
    Zusammenfassend bleibt zu betonen, daß die prämedialen Pnimitiva nichts über stilistische und formale Gestaltungsmöglichkeiten von Personen, Ereignissen oder Zuständen in den Kunstwerken aussagen. Die Gestaltungen auf der Ebene den Formativa unterliegen unterschiedlichen kunsthistorischen Entwicklungen und kulturellen Konventionen. Die Primitiva als fundamentale Schemata der Wirklichkeitsmodellierung sichern sowohl von seiten der Struktur als auch von seiten den Funktion nur, daß die Evokation des Wirklichkeitseimdrucks oder allgemein die Zuordnung eines kohärenten Sinns durch den Rezeptiven nicht als alltagspraktische Bedeutung oder als wissenschaftliche Aussage interpretiert werden kann. *305 Aus diesem Grund fungieren alle Primitiva wie schon die Regulativa der mimetischen Reproduktion als Abgrenzungskniterien für die " Eigenart des Ästhetischen " .
    Über den Zusammenhang der Primitiva der Konstitution mit den Fornativa als " formalen Widerspiegelungsformen ", d.h. mit den medialen Realisierungen und soziohistorischen und kulturell-konventionellen Elaborationen in der Kunstphänomenologie, kann Lukács auf der Allgemeinheitsstufe der philosophischen Analyse keine speziellen Angaben machen. Hierzu sind disziplinäre Modellbildungen der Literaturtheorie, der Musiktheorie und der Theorie der Bildenden Künste erforderlich, wie sie z.B. im strukturalistischen Ansätzen vorliegen, *306 weil die Formativa immer schon mediale Ausdifferenzierungen der Manifestationen voraussetzen.
    Lukács eigene kursorische Charakterisierungen oder analytischen Skizzen der Kunstphänomenologie und der kunstgeschichtlichem Entwicklungen können immer nun als historische Konkre-

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    tisierungen den begriffssystematischen Explikationen gelesen werden. Dies ist von seiten der disziplinären kunsthistorischen und kunstanalytischen Forschung zu berücksichtigen bei der Auseinandersetzung mit der ÄSTHETIK von Lukács. Das von Lukács herangezogene Verfahren des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten ist aus logisch-methodologischen Rücksichten nicht mit den historischen Methoden der disziplinären Kunst-wissenschaften zu konfundieren. Und Lukács grenzt wiederholt seine philosophische Analyse von den Zielen und Methoden der disziplinären Kunstgeschichte und Kunstanalytik ab. *307

1.3. Funktionen der ästhetischen mimetischen Reproduktionn

Lukács‘ ÄSTHETIK ist nicht auf eine produktionsästhetische oder eine rezeptionsästhetische Konzeption zu reduzieren. Die systematisch-historische Genesis des Ästhetischen hat nicht allein die Explikation von Strukturbestimmungen zur Aufgabe, sondern bezieht immer auch Wirkung und Funktion der nimetischen Reproduktion in die Betrachtung ein. Dabei werden auch in der Behandlung von Rezeptionsproblemen immer strukturelle und funktionale Aspekte zusammen expliziert: Das " Leiten des Rezeptiven " ist nicht von strukturellen Bedingungen der mimetischen Gebilde losgelöst. Lukács skizziert physiologisch- psychologische Grundlagen und semiotische Voraussetzungen der Rezeptivität, behandelt den Rezeptionsprozeß selbst und explizient " Stadien des Rezeptionsprozesses " , bevor er übergreifende Funktionen der ästhetischen mimetischen Reproduktion darstellt: Die Katharsis als eine soziale Funktion der ästhetischen Rezeptivität und die defetischisierende Funktion der Kunst im ganzen.

1.3.1. Physiologisch-psychologische Grundlage des ästhetischen Verhaltens

Lukács betont nachdrücklich, daß er selbst auf dem Gebiet der Psychologie vollständiger Laie sei und sich hier stark an Vorarbeiten anderer anlehnen müsse (II, 12). Dennoch ist die systematische und historische Explikation des ästhetischen

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Verhaltens auf eine wenigstens skizzenhafte Darstellung der physiologisch-psychologischen Voraussetzungen in Verbindung mit der Entwicklung semiotischen Systeme angewiesen. Lukács greift auf die materialistische Psychologie zurück, die vor allem die Untersuchung psychologischer Phänomene in Relation zu " Umgebungen " behandelt. In diesem Zusammenhang kritisiert er Pawlows Psychologie des künstlerischen Schaffens, der im Rahmen seiner Reflexologie das künstlerische Schaffen auf bedingte Reflexe glaubte zurückführen zu können (II, 15, 37); dabei habe Pawlow gerade die genetische Verbindung von Arbeitsprozessen mit der Entwicklung von Symbolsystemen außer acht gelassen.
Lukács versucht selbst mit Hilfe der systematisch-historischen Analyse eine genetische Explikation, um das ästhetische Verhalten nicht als eine ursprüngliche Verhaltensweise rein anthropologisch begründen zu müssen (II, 32). Sein Hauptaugenmerk richtet er auf die Explikation der Genesis des semiotischen Systems, das sich innerhalb der gattumgsgeschichtlichem Entwicklung im Zusammenwirken von Arbeitsprozessen herausgebildet hat, das nicht mehr nur reine bedingte Reflexe umfaßt, aber auch noch nicht voll zu einem Symbolsystem entwickelt ist. Lukács nennt dieses System Signalsystem 1‘ (II, 12 f.). In seiner Begründung geht er im Anschluß an Engels‘ kursorische Darstellung auf das Verhältnis von Arbeit und Sprache ein *308 und bezieht die Hinweise von Marx auf die Arbeitsteilung der fünf Sinne in die Betrachtung ein (II, 24).
Die Entstehung des Signalsystems 1‘ als eines nonverbalen semiotischen Systems erfolgt reflexähnlich aufgrund des Wesens der Arbeit (II, 38). Schon im Arbeitsprozeß entstehen Reflexe, die, auch wenn sie sich " nicht wie die Sprache in ostemsibler Abstraktion über die unmittelbare Sinnlichkeit " entwickeln, dennoch nicht mehr einfache bedingte Reflexe sind. Im einzelnen differenziert Lukács hierbei nicht zwischen unterschiedlichen Ausformungen, sondern faßt die ganze Klasse dieser Reflexe, die nicht mehr nur an die " ummittelbare Sinnlichkeit " ihres Auftretens gebunden sind, als " Signale von

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Signalen "
zum Signalsystem 1‘ zusammen (II, 73) *309 Die kategoriale Explikation dieses Signalsystems muß auf die gattungsgeschichtlich tief liegenden Kategorien der Substantialität und Inhärenz wieder zurückgreifen. Denn die Signalfunktion dieser Systemelemente ist an die unmittelbare Sinnlichkeit des Verhaltens derart gebunden, daß von einem Teilhabe-Verhältnis ausgegangen werden muß; sie hat sich noch nicht zu " ostensibler Abstraktion " entwickelt, die Voraussetzung ist für das Entstehen eines der Unmittelbarkeit enthobenen selbstständigen Symbolsystems, wie es das Signalsystem 2, nämlich die Sprache darstellt. Dieses Signalsystem zwischen unbedingten Reflexen und Sprache hat als nonverbales, aber intentioniertes Verhalten die Möglichkeit zu konventionell eingespielten " Bedeutungen " ; so vor allem abzulesen an Stereotypen des Verhaltens, die im Alltagsleben vielfältig auftreten und zu analysieren sind als Reaktionen der Menschen aufeinander, als " Mitteilung " von Gefühlen und Affekten und ähnliches (I, 42 ff.; II, 71).
Die im Alltagsleben aufzuweisenden Evokationen, die im strengen Sinn keine Evokationen sind, da die evokativen Äußerungen im Alltagsleben immer nur einen zusätzlichen Aspekt der in Gebrauchssituationen eingebundenen Mitteilung darstellen (I, 412), setzen dieses Signalsystem 1‘ voraus. Wie bereits dargestellt, ist die Evokation nicht nur ein ästhetisches Phänomen, wohl aber ist das " Pathos der Evokaton " als zentrale Bedingung der Konstitution des ästhetischen Sinns, d.h. des evokativ hervorgerufenen Wirklichkeitseindrucks, nur in der ästhetischen Sphäre anzutreffen oder voll entwickelt. Lukács geht deshalb davon aus, daß der " adäquateste Erfüllungsort " für dieses System des nonverbalen, intentionierten Verhaltens das Ästhetische ist (II, 74). In der ästhetischen Sphäre zeigt sich auch das " Zusammenwirken der höheren Signalsysteme " , des nonverbalen intentionierten Venhaltenssystems und des zu ostensibler Abstraktion entwickelten Symbolsystems in besonderer Weise. Dadurch lassen sich wichtige Merkmale der für die Konstitution des ästhetischen Sinns unabdingbaren Evokation erklären: Das intuitive Verstehen und die " Augenblicklichkeit "

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der Sinnkonstitution, die an den unmittelbaren Sinneseindruck gebunden ist (II, 45 ff.). Das " Leiten des Rezeptiven " erfolgt in der ästhetischen Sphäre eben nicht allein durch das Signalsystem 2, das zu ostensibler Abstraktion ausgebildete Symbolsystem, sondern auch durch nonvenbale, allerdings intentionierte und konventionalisierte " Verhaltensweisen " .

1.3.2. Stadien des Rezeptionsprozesses

Auch für die ästhetische Sphäre ist das Vorher und Nachher der künstlerischen Wirkung, die " beiden ergänzenden Stadien der eigentlichen ästhetischen Rezeptivität " , nicht von dem Alltagsleben, d.h. " von der normalen Existenz des ganzen Menschen zu isolieren " (II, 586). Das Subjekt der ästhetischen Rezeptivität ist " der im Leben stehende, dort handelnd engagierte ganze Mensch " , in dessen " Denken und Empfinden die Kategorien der Praxis " das Übergewicht haben (II, 586). Diesen Ausgamgspunkt der ästhetischen Rezeptivität muß deutlich hervorgehoben werden, das Eingebundensein den Rezeptionsprozesse in den einheitlichen Lebenszusammenhang handelnder, denkender und empfindenden Subjekte.
War bei den Konstitution des Ästhetischen die Suspension des einheitlichen, unmittelbaren Lebenszusammenhangs Voraussetzung, so ist für die ästhetische Rezeptivität die Einheit dieses Lebenszusammenhangs als Rahmenbedingung anzuerkennen. Der unmittelbare Lebenszusammenhang, die Praxis des Alltagslebens, ist aber die " eigentliche Domäne den Partikularität " (II, 601). Das Vorher der ästhetischen Rezeptivität ist von der Subjektivität des ganzen Menschen der Alltagspraxis und der Partikularität dieses Lebenszusammenhangs bestimmt. Ausgangspunkt ist nicht eine irgendwie vorweggenommene Ästhetisierung des Alltagslebens und erst recht nicht eine " Ästhetisierung der Moral " (II, 587). Gesellschaft und Geschichte sind nicht zu ästhetisieren, und Lukács kritisiert ausdrücklich Vischers Konzeption von der " Schönheit des Menschlichen, des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens " und behandelt in einem Exkurs über die geistesgeschichtliche Entwicklung der

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" Ästhetisierung des Lebens " solche Hypostasierungen des Schönen. *310
Nicht das Alltagsleben in seiner Partikularität ist zu ästhetisieren und zu " gespensterhaft spiritualisierten Formen des Ästhetischen " zu hypostasienen (II, 598), sondern die Rezeption des Ästhetischen muß im Kontext des partikulären Lebenszusammenhangs analysiert werden. Dennoch kann in der rezeptiven Funktion der evokativen Mimesis durch die strukturierte, in sich abgeschlossene Werkwelt ein Wirklichkeitseindruck hervorgerufen werden, der die " im Leben partikulare Begebenheit " , ohne sie in ihrem Anundfürsichsein aufheben zu können, dennoch zu einem " Moment einer Lebenstotalität " macht, so daß sie den " Charakter ihrer reinen und bloßen Partikularität verliert " (II, 604). *311 Dies setzt aber die ästhetische mimetische Reproduktion voraus. Die ästhetische Rezeptivität ist deshalb auch von der sogenannten Naturschönheit und den durch die Natur entstehenden Empfindungen abzugrenzen; die Naturerlebnisse der Menschen sind in den Bereich des Angenehmen einzuordnen (II, 653); und das trotz der romantischen Annäherung gerade der Naturphilosophie an die Ästhetik. Die subjektive Empfindungskraft als Erlebnis bleibt in den Partikularität befangen (II, 655), da sie nicht eine " Intention auf Verallgemeinerung " enthält. Deshalb ist " die Sphäre des Ästhetischen von der der partikularen Erlebnisse, trotz der anthropomorphisierenden Beschaffenheit beider " , durch einen qualitativen Sprung getrennt (II, 655 f.). Das Vorher der ästhetischen Rezeptivität ist sowohl im Bereich des unmittelbaren Lebenszusammenhangs der Alltagspraxis als auch im Bereich der Erlebnisfähigkeit und Empfindungskraft an die Partikularität gebunden. Erst unter den Bedingungen der ästhetischen mimetischen Reproduktion hat das " Hinausgehen über diese Partikularität " , ohne die Subjektabhängigkeit der Konstitution des ästhetischen Sinns aufzuheben, " eine Richtung, " Lukács vollzieht damit eine scharfe Abgrenzung des " ästhetisch Gattungsmäßigen vom lebenhaft Partikularen " (II, 656).
Die philosophische Analyse der ästhetischen Rezeptivität muß sich von ihren theoretischen und methodischen Voraussetzungen her auf einem Allgemeinheitsniveau bewegen, das keine modellhaften Konstruktionen der Faktoren der empirischen Rezeptionsprozesse ermöglicht, wie es die einzelwissenschaftliche Rezeptionsforschung versucht. *312
Methodologisch gesehen, handelt es sich in Lukács‘ Analyse der ästhetischen Rezeptivität wie in fast allen Beschreibungen von Rezeptionsprozessen um ein black-box-Verfahren: Lukács expliziert begriffssystematisch und historisch rekonstruierend das Vorher der Rezeption und das Nachher der rezeptiven Erlebnisse. Für das Nachher der ästhetischen Rezeptivität stellt er fest, daß aus dem Ästhetischen keine unmittelbare, konkrete praktische Handlung folgt (I, 836). Die in der ästhetischen mimetischen Reproduktion erreichte Suspension des unmittelbaren Lebenszusammenhangs, die zur Konstituierung der ästhetischen Immanenz führt, d.h. zur Strukturierung abgeschlossener Werkwelten, wird in der ästhetischen Rezeptivität nicht aufgehoben, sondern muß als vielfältig vermittelte Wirkung des Kunstwerks auf den Rezeptiven und seinen unmittelbaren Lebenszusammenhang beschrieben werden. Dabei spielen das schon analysierte " Leiten des Rezeptiven " als " organisierende, systematisierende Macht " der Werkgestalt und das " Pathos der Evokation " als Quelle des Wirklichkeitseindrucks beim Rezeptiven die zentrale Rolle. Entscheidend für die Wirksamkeit ist aber die ästhetische Immanenz der Werkindividualität selbst, d.h. die Strukturierung der Werkwelten, die den ästhetischen Prinzipien unterliegt. Nur aufgrund dieser Prinzipien konstituiert sich ein ästhetischer Sinn, der vom Funktionswandel der Kategorien ausgeht; denn " die tiefste Ursache der Fähigkeit der Werke, den Rezeptiven zu leiten " , ist dieser schon von Aristoteles erkannte Funktionswandel, wie bereits dargelegt (I, 694). Die Wirkung der Kunst, und Lukács begründet äußerst weitreichende Wirkungen und gesellschaftlich-geschichtliche Funktionen

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des Ästhetischen, geht eindeutig von den Werkindividualitäten und ihren Strukturierungen, d.h. der Kombination ihrer Elemente,aus. Nur diese Strukturierungen können den evokativen Eindruck einer Wirklichkeit erzeugen, eine " Realität " sui generis, die allerdings den Funktionswandel der Kategorien voraussetzt und Quasi-Raum und Quasi-Zeit und die unbestimmte Bestimmtheit der Gegenständlichkeit zur Folge hat. Die Wirkung der Werkindividualitäten ist nicht auf rhetorische oder stilistische Besonderheiten, sprachliche Abweichungen oder sekundäre Überformungen zurückzuführen, sondern die Rezeptivität wird in doppelter Weise bestimmt: durch Aneignung eines bestimmten Inhalts und durch Evokation des ästhetischen Erlebnisses aufgrund der Formen (I, 804). Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß das naive aber genuin ästhetische Erlebnis ein inhaltliches ist; der Zugang erfolgt über die " Werkwelt " ‚ nicht über vereinzelte Formbestimmungen. Der Zugang von der Form zum Inhalt ist, wie Lukács ausführt, bereits ein " komplizierterer Typus der Rezeptivität " (I, 840). Es hängt weitgehend von dem Vorher des Rezeptiven, d.h. von der komplexen Voraussetzungsstruktur des Rezeptionsprozesses ab, die ebenso psychologisch-biographische, bildungsmäßig konventionelle wie historische und gesellschaftspolitische Komponenten umfaßt, welche " Schicht " des Werks auf den Rezeptiven die direkteste Wirkung ausübt (I, 841). *313 Da die " Welt " der Kunstwerke sich trotz des Funktionswandels der Kategorien in der mimetischen Reproduktion auf die Wirklichkeit in ihrem Ansich bezieht, da nur so die " eigenartige Gegenständlichkeit " , bedingt durch das Zusammenwirken von Subjektivität und Objektivität, entstehen kann, ist es unvermeidlich, " daß zwischen beiden Welten unzählige Fäden der subjektiven und objektiven Analogien, Entsprechungen etc, hin und her laufen " (I, 839). *314 Entscheidend für die ästhetische Rezeptivität, im Unterschied zum allgemeinen rezeptivem Sprachverhalten *315 , sind die Voraussetzungen der Konstitution des ästhetischen Sinn, die Lukács in allgemeinster Form als ästhetische Prinzipien eingeführt hat.
Denn nur aufgrund dieser Prinzipien ergeben die Strukturierungsoperationen der mimetischen Reproduktion eine ästhetische Im-

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manemz der Werkwelt mit eigenen Raum-, Zeit-, Objekt- und Prozeßstrukturen, die gegen die alltagspraktische Lebenswelt abgeschlossen ist, eine sinnlich-sinnfällige Allgemeinheit bildet und die " Ausdehnung des Selbstbewußtsein " auf die Gattung ermöglicht, eine Ausdehnung über den alltagspraktischen individuellen Lebenskreis hinaus. Nur dadurch kann die " Allmacht der Formen " , von der Lukács spricht, im inhaltlichen Erleben, " in der kathartischen Erschütterung " des Rezeptiven zur Wirkung kommen. *316 Nur dadurch kann der Rezeptive als konkreter ganzer Mensch des Alltagslebens, eingebunden in die Partikularitäten des unmittelbaren Lebens- und Erlebniszusammenhangs zum " Menschen ganz der Rezeptivität " werden (I, 845; I, 806). Hierin liegt das Wirkungsresultat. Diese in Lukács‘ Terminologie ein wenig unscharf klingende Beschreibung des Wirkungsresultats bezieht sich auf die Universalisierbarkeit der Partikularität der individuellen Erlebnisse und Erfahrungen durch das Seins- und Selbstbewußtsein der Gattung in einem gegebenen historischen Entwicklungsstadium. *317 Die allgemeine, gattungsgeschichtlich und historisch-gesellschaftliche Bedeutung, die weit über den engen Rahmen der Partikularität des alltagspraktischen Bewußtseins und individuellen Handelns hinausgeht, ist in der evokativen Wirksamkeit der ästhetischen mimetischen Reproduktion dennoch von den individuellen und situativen Bedingungen der rezeptiven Sinnzuondnung aus zu konstituieren; nicht als wissenschaftliche Allgemeinheit, nicht als utopischer Entwurf, sondern als Erlebnis- und Bewußtseinsprozeß, *318 der mit der Begrenztheit des individuellen Bewußtseins in eins (uno actu) das Selbstbewußtsein der Gattung schafft. Der " Mensch ganz " ist im Unterschied zum " ganzen Menschen " des Alltagslebens immer auch Instanz des Gattungsmäßigen und des sich in langen soziohistorischen Prozessen herausbildenden Selbstbewußtseins der Gattung. Lukács charakterisiert diese " Verwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz " als eine " Erweiterung und Bereicherung seiner Psyche " (I, 807).
Das Nachher der Rezeption ist im strengen Sinn der Erfahrungs- und Erlebnisraum des ganzen Menschen, der wieder im unmittel-

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baren Lebenszusammenhang und seiner Partikularität handeln und wirken muß, der aber das Erleben und die Erfahrung des über sein eigenes begrenztes Selbstbewußtsein hinausreichenden Selbstbewußtseins der Gattung nun in der konkreten Partikularität des Alltagslebens " verarbeiten " kann (I, 845). Die ästhetische Rezeptivität ermöglicht aber keine dauerhafte Umwandlung des Alltagsmenschen in eine irgendwie geartete ästhetische Existenz; oder in Lukács‘ Terminologie: keine perpetuierende Verwandlung des " ganzen Menschen " in den " Menschen ganz " .
Dennoch sind im Nachher der Rezeption aufgrund des in der ästhetischen Rezeptivität erweiterten Bewußtseins *319 individuell-ethische, gesellschaftlich-politische Wirkungen auszumachen. Sie betreffen die kathartische Funktion und die defetischisierende Funktion des Ästhetischen. Diese Funktionen sind aber gegen alle vorschnellen praktischen Wirkungsformen innerhalb des unmittelbaren Lebenszusammenhangs des Rezeptiven abzugrenzen; denn Voraussetzung für die Wirkung auf den Rezeptiven bleiben die Suspension dieses unmittelbaren Lebenszusammenhangs *320 und die Konstitution einer " Realität " des Kunstwerks, von der aus kein unmittelbarer Übergang in die Praxis möglich ist, nicht einmal ein Detailvergleich mit den Partikularitäten der Welt des Rezeptiven, d.h. der aktualen Welt, wie Lukács ausgeführt hat; Der Wirklichkeit der Kunstwerke gegenüber ist keinerlei Praxis möglich, und zwischen dem Werkganzen und dem Ganzen der Wirklichkeit können nur globale Vergleiche vorgenommen werden. *321 Das in der ästhetischen Rezeptivität erweiterte Bewußtsein, die " Erweiterung der Psyche " , kann lediglich initiierende Funktionen für das praktisch-persönliche und praktisch-politische Handeln haben. Dabei sind die Wirkungsmöglichkeiten sozial nicht eingeschränkt; denn die soziale Funktion der Kunst ist aus " dem Wesen der Kunst " selbst abzuleiten. *322

1.3.3. Soziale Funktionen des Ästhetischen

" Die Suspension der konkreten Aktivität, der konkreten Ziel-

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setzungen "
(I, 809), die in der ästhetischen Rezeptivität vorliegen muß, scheint ästhetiktheoretischen Argumentationen zu folgen, die das Ästhetische " vollständig vom normalen Dasein der Menschen " abgrenzen; so das Konzept der " Interesselosigkeit " des ästhetischen Verhaltens, wie es in Kants " Kritik der Urteilskraft "begründet ist.
Diese Trennung des Ästhetischen vom aktiven Lebenszusammenhang verkennt allerdings die Wirksamkeit der ästhetischen mimetischen Reproduktion und das Nachher der ästhetischen Rezeptivität; denn aus diesen Bestimmungen ist die " große gesellschaftliche Rolle der Kunst " (I, 810) abzuleiten, die seit der ästhetiktheoretischen Reflexion in der Antike immer wieder herausgearbeitet worden ist. Lukács greift daher in seiner systematisch-historischen Explikation der ästhetischen Rezeptivität auf diese Funktionsbestimmungen zurück. Er geht davon aus, daß die antike Ästhetik, die ihrer theoretischen Begrifflichkeit nach im wesentlichen in Rhetorik und Poetik, aber auch Metaphysik und Ethik entwickelt worden ist, *323 der gesellschaftlichen Funktion der Kunst weitgehend gerecht geworden ist: " Sie anerkennt die den Menschen stark beeinflussende, ja ihn unter Umständen sogar transformierende Macht der ästhetischen Erlebnisse " , die eine " sittliche Wirkung haben " (I, 810).
In der Katharsistheorie des Aristoteles *324 ist diese moralisch-praktische Funktion begründet, im engeren Kontext bezogen auf die Wirkungen der Tragödie, auf die Affekte von Furcht und Mitleid; aber schon Lessing hat nach Lukács‘ Auffassung die fundamentale gesellschaftliche Zielsetzung formuliert als " Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten " . *325 Lukács nimmt in der Begründung der gesellschaftlichen Funktion des Ästhetischen eine entscheidende Erweiterung des Katharsisbegriffs vor: Die Katharsis ist " primär nicht aus der Kunst ins Leben, sondern aus dem Leben in die Kunst gekommen " (I, 811); sie ist ein ständiges Moment des gesellschaftlichen Lebens, und sie wird von Lukács sogar unter die " formenden Kräfte " der ästhetischen mimetischen Reproduktion gerechnet. Diese Verallgemeinerung der Katharsis bezieht so-

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wohl die " Ergriffenheit des Rezeptiven " als auch die " Erschütterung " vorhergehender fetischisierender Wirklichkeitsannahmen und Wirklichkeitsbetrachtungen durch das im Kunstwerk entfetischisierte Bild der " Realität " ein. Die Erweiterung der Psyche, von der Lukács spricht, ist nicht nur ein diffuser psychischer Vorgang, sondern beruht auf einem " Vergleich " zwischen der " Realität " als gestalteter Wirklichkeit im Kunstwerk und der Wirklichkeitserfahrung im konkret historischen Wahrnehmungs- und Handlungskontext. Der Wirklichkeitseindruck der evokativen Mimesis und die Wirklichkeitswahrnehmung sind " ein negativ begleitendes Gefühl " ; Lukács spricht auch von einem " Begleitgefühl " der ästhetischen Rezeptivität. *326 Das " Begleitgefühl " ist zwar nur eine sehr vage analytische Kategorie, präzisiert aber einen Punkt deutlich, daß nämlich der Vergleichsvorgang innerhalb der ästhetischen Rezeptivität kein kognitiver Prozeß ist und nicht als ästhetische Erkenntnis definiert werden kann. Lukács charakterisiert den Prozeß der Katharsis in verallgemeinernder Form als ein " Durchrütteln der Subjektivität des Rezeptiven " (I, 818). Die ästhetische Rezeptivität zielt nicht auf eine Erkenntnis, die als homogenes Medium die Begrifflichkeit des Signalsystems 2 und die subjekt-unabhängigen abstraktiven Verallgemeinerungen des Denkens zur Grundlage hat, sondern auf eine Neuorientierung der " seelischen Grundlage " , *327 die zur Beeinflussung und Initiierung des Handelns und Verhaltens in den konkreten Lebenszusammenhängen und der sozialen und politischen Welt führen kann.
Mit diesem Hinweis auf die " seelischen Grundlagen " ist sicher nicht der hochkomplexe Struktur- und Funktionszusammenhang des psycho-physischen Apparats mit seinen emotiven und aktionalen Folgen im einzelnen aufgeklärt. Die philosophische Analyse muß aber diese differenzierend empirische Arbeit den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Forschungen überlassen. Mit dem Begriffsinstrumentarium und dem Methodenarsenal der Philosophie als einer Theorie des Allgemeinen, die sich allerdings auf die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften einzulas-

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sen hat, können die seelischen Grundlagen der ästhetischen Rezeptivität nicht weiter erforscht werden. Und weiter reicht in diesem Punkt auch die systematische und historische Analyse der ästhetischen Rezeptivität bei Lukács nicht.
Dennoch zeigt seine systematische und historische Explikation der Katharsis, die Verbindung von ästhetischer Katharsis und ethischem Verhalten und die Verallgemeinerung des Katharsisbegriffs, eindeutig, daß es Lukács bei der ästhetischen Rezeptivität auf die " emotionale Wirksamkeit der Kunst " ankommt, auf eine " unmittelbare erlebnishafte Katharsis " , und nicht auf eine " vernunftmäßige Erschütterung des ganzen Menschen des Alltags " wie z.B. bei dem " Künstler-Moralisten " Brecht (I, 825). *328 Diese Beziehung auf die unmittelbare Erlebnishaftigkeit in der ästhetischen Rezeptivität ist für Lukács auch eine Grundlage für die " zeitüberdauernde Wirksamkeit " . Hierbei spielt das nonverbale, aber intentioniert konventionelle Signalsystem 1‘, das Lukács als eine der physiologisch-psychologischen Voraussetzungen des Ästhetischen analysiert hat, eine Rolle: Die unmittelbaren Lebenselemente. die unter jeweils spezifischen soziohistorischen Bedingungen entstanden sind und in ästhetischen mimetischen Reproduktionen " längst vergangener oder gar verschollener Epochen " erscheinen, sind nicht erkenntnismäßig zu reproduzieren und können dennoch als Momente einer evozierten " Realität " , einer Werkwelt, als Teil des Seins- und Selbstbewußtseins der Gattung eine unmittelbare, erlebnishafte Wirkung ausüben (II, 119 f). Das gilt auch dann, wenn die inhaltlichen Probleme und Konflikte im Laufe der soziohistorischen Entwicklung und der wissenschaftsgeschichtlichen Spezialisierung " eine bewußte gedankliche Form angenommen haben " . Auch dann ist die ästhetische Wirksamkeit dieser theoretisch überholten Wirklichkeitserfassung in der Form des unmittelbaren Erlebens noch möglich.
Zur Klärung der defetischisierenden Funktion der Kunst nimmt Lukács ebenfalls eine Bedeutungserweiterung vor, und zwar eine Erweiterung des von Marx entlehnten Fetischismusbegriffs. *329 Er hebt die Beschränkung des Fetischdenkens auf die Ökonomie

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des kapitalistischen Warenverkehrs auf und weist die universale Wirksamkeit der Fetischisierung in der Menschheitsgeschichte nach (I, 699). Zwei Aspekte sind dabei zu unterscheiden: Die Entlarvung des Scheins und die Richtigstellung (I, 696). Die defetischisierende Funktion hat zu ihrer Grundlage die oben angesprochene " Kontrastierung " oder den " Vergleich " , der aber nur ein " negativ begleitendes Gefühl " in der ästhetischen Rezeptivität zu sein braucht und kein Erkenntnisakt. Lukács spricht deshalb auch von der spontanen defetischisierenden Tendenz der Kunst gegen die gesellschaftlich bedingten Fetischisierungen des Alltags (I, 701). Die Kontrastierung betrifft das Verhältnis der Werkwelt zur sozialen Lebenswelt und psychischen Innenwelt des Rezeptiven. ohne daß die " Entgegengesetztheit beider Konzeptionen bewußt kontrastiert werden müßte " (I, 742). Die sinnlich-sinnfällige minetische Reproduktion und die Evokation des Gattungsmäßigen, des " menschlichen Lebenskerns " , wie Lukács auch sagt (I, 812), können bereits die Fetischisierungen von Alltag und Denken zerstören, ohne eine ausdrückliche Polemik gegen das Fetischhafte im Alltag führen zu müssen.
Die ästhetische Wirksamkeit bezieht sich hierbei nicht allein auf die Erschütterung der Subjektivität, auf das " Durchrütteln der Subjektivität des Rezeptiven " , sondern bewirkt das " Zerfallen der Schemata " des Alltagsdenkens und der Wissenschaft, ihrer Denkmuster, Theorien und Konventionen, die sich " verfälschend zwischen Welt und Abbildung " schieben können (I, 743).
Dies betrifft z.B. die fetischisierende Trennung von Raum und Zeit. Lukács folgt hierin Hegels Kritik an Kant (I, 704). Das Zugleich von Raum und Zeit hat sowohl für das " Gefühlsleben der Menschen " , aber auch für das homogene Medium im Bereich der ästhetischen mimetischen Reproduktion außerordentliche Folgen. Es gibt keine starre Gegenüberstellung von Räumlichem und Zeitlichem in der Kunst (I, 708), sondern wechselseitigen Austausch und vielfache Ersetzung der Quasi-Zeit durch den Quasi-Raum. Gerade in den Künsten, deren Medium zeitlich ist, kann der Quasi-Raum defetischisierende Funktionen übernehmen.

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Im Quasi—Raum dieser Künste (Musik, Literatur) erscheint das zeitliche Nacheinander als ein Nebeneinander und schafft dadurch " Vergleichsmöglichkeiten " , nämlich strukturelle Kontrastierungen. *330 Diese strukturelle Kontrastierung der " Realität " der Werkindividualitäten mit der Wirklichkeitserfahrung des Alltagslebens, aber auch den Wirklichkeitsmodellen der Wissenschaften, ermöglicht eine defetischisierende Wirksamkeit ohne inhaltlich-polemische Stellungnahmen, ohne ein Aufbrechen der ästhetischen Immanenz und ohne das Heraustreten aus der Werkwelt. Voraussetzung dafür ist die strukturierte ästhetische Immanenz, die die Konstitution des ästhetischen Sinns bzw. der Werkbedeutung ermöglicht, die von allen Gebrauchsbedeutungen der unmittelbaren Lebenspraxis unabhängig ist und keinen direkten Übergang in die Praxis zuläßt. Alle Versuche, die auf eine " Entdifferenzierung der Bereiche gesellschaftlicher Praxis " zielen und die Kunst in politische Aktion aufzuheben trachten, wie in den Avantgardebewegungen intendiert, *331 verkennen die Bedingungen der sozialen und politischen Wirksamkeit des Ästhetischen, das auf das Selbstbewußtsein der Gattung abzielt, nicht auf die individuelle Handlungsorientierung oder Aktion je konkreter Individuen. Lukács‘ eigene Abgrenzung von der Avantgarde begründet sich durch die Anerkennung allgemeinster Konstitutionsbedingungen des Ästhetischen, nämlich ästhetischer Prinzipien, die als Abgrenzungskriterien fungieren, und erklärt sich nicht aus der Kritik an bloßen Formbestimmtheiten und Formexperimenten. *332
Der " Befreiungskampf der Kunst " , den Lukács global in seinen soziohistorischen Grundlagen und der kulturgeschichtlichen Entwicklung skizziert, ist nur unter den strukturellen Voraussetzungen der ästhetischen Immanenz und den funktionalen Bedingungen der ästhetischen Rezeptivität zu erklären. Es ist ein Prozeß der " Selbstdeterminierung der Kunst " , der sich in mehreren Etappen als Loslösung aus der magischen und religiösen Praxis vollzieht und hier nicht nachgezeichnet werden muß. *333 Die gesellschaftlichen und geschichtlichen Leistungen des Ästhetischen sind gerade nicht durch die einfache Verein-

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nahmung der Kunst durch die Praxis erfolgt, wie eine vordergründige materialistische Kunstauffassung meinen könnte, *334 sondern durch die gattungsgeschichtlich und soziohistorisch begründete Ausdifferenzierung und Abgrenzung der evokativen Minesis von der elementaren Mimesis und die in dieser Abgrenzung entstandene ästhetische Immanenz, die allerdings über die Subjektivität des Rezeptiven in einem Wirkungszusammenhang mit den realen politischen und gesellschaftlichen Handeln steht. Die ästhetische Subjektivität bezieht sich dabei auf das Selbstbewußtsein der Gattung und ist nicht auf die partikularen Bestimmungen des unmittelbaren Lebenszusamnenhangs beschränkt und ist nicht an die Grenzen des Alltagsbewußtseins gebunden.

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ANMERKUNGEN
Die in den Text eingefügten Belege beziehen sich immer auf die beiden Halbbände der ÄSTHETIK von Georg Lukács, Werke Bde 11 und 12. Neuwied. Berlin 1963. zitiert als I und II mit Seitenzahl.
*143
Zum Begriff der mimetischen Reproduktion vgl. Lukács, Ästhetik I, 496.
*144
Die durch das systematisch-historische Verfahren bedingte methodische Reduzierung auf skizzenhafte oder kursorische Analysen ist selbst dort zu beachten, wo die Darstellungsweise von Lukács ausführlich und narrativ ausgreifend ist. Die ÄSTHETIK ist an keiner Stelle, jedenfalls nicht in ihrem 1. Teil, eine kunstgeschichtliche Darstellung.
Rosshoffs Kritik an der " Nichtanwendbarkeit " der ÄSTHETIK im einzelnen verkennt diesen Unterschied; vgl. Rosshoff 1974.
*145
Lukács verwendet diese Begriffe synonym; vgl. Ästhetik I, 39.
*146
Lukács ist sich der Komplexität und Disparatheit der Alltagswirklichkeit durchaus bewußt; vgl. Ästhetik I, 43.
*147
Arbeit als " fundamentaler Faktor des Alltagslebens " , vgl. Ästhetik I, 39.
*148
vgl. Lukács, Ästhetik II, 620.
*149
Ästhetik II, 622.
*150
Vgl. Marx/Engels, Werke 3, 30. Lukács, Ästhetik I, 58. Lukács geht hier nicht von gleich ursprünglichen Bedingungen der Menschwerdung aus wie Habermas in seiner Theorie kommunikativer Handlungen: Arbeit, Interaktion und Kommunikation sind danach gleichursprünglich für den Bildungsprozess der Gattung. Arbeit und Interaktion als " fundamentale Bedingungen der möglichen Reproduktion und Selbstkonstituierung der Menschengattung " ; vgl. Habermas 1968, 242.
*151
Lukács, Ästhetik II, 710.
*152
Ästhetisch-literarische Sprache als eine stark metaphorische Sprache, stilistisch überformte Sprache ist in Hinblick auf die Konstitutionsleistung für die Objektivationen gerade nicht durch " Verschwommenheit " gekennzeichnet, weil die " objektive Immanenz des Werks " streng gegen die Handlungsorientierung und Kontingenzbewältigung der pragmatischen Kontexte abgegrenzt ist; und die Innovationsleistungen dieser Sprache brechen gerade die " Erstarrungen " der Alltagssprache und des Alltagsdenkens auf.
*153
Unmittelbare Beziehung betrifft das Fehlen jeder theoretischen und methodischen Vermittlung in der " Aneignung der Wirklichkeit " durch das Alltagsdenken; sie schließt nicht instrumentelle Vermittlungen in der praktischen Tätigkeit aus.
Hervorzuheben ist die fehlende Loslösung vom Subjektivismus des Alltagsdenkens, nicht die personifizierenden Darstellungsweisen im Alltagssprechen, die mit dem Begriff " Anthropomorphisierung " verbunden sind. Vgl. Lukács, Ästhetik I, 139 ff; I, 157.
*154
Vgl. Lukács, Ästhetik I, 638 ff. Darauf wird noch bei der Erläuterung der Funktionsbestimmungen einzugehen sein.
Zur Entstehung der Verhaltensweise des " Menschen ganz " vgl. Ästhetik I, 183 f.
*155
Lukács führt den begrifflichen Gegensatz zwischen " Bewusstsein über… " und " Selbstbewusstsein von… " ein. Im Alltagsleben ist das Bewusstsein über die Objektwelt auf die unmittelbare Praxis bezogen; aber auch das Selbstbewusstsein bleibt im Alltagsleben auf die Praxis bezogen; vgl. Ästhetik I, 240 f.; I, 72. Erst im Ästhetischen können als " Selbstbewusstsein von… " Seinsbewusstsein und Selbstbewusstsein konvergieren.
*156
Vgl. Ästhetik I, 157. Zum Begriff " personifizieren " Ästhetik I, 139 f.
*157
Theoretizität beinhaltet vor allem eine Rezeption der Wirklichkeit unabhängig von den Schranken der menschlichen Sinnlichkeit. Die Methodik zielt vor allem auf die Subjektunabhängigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis, auf die " Selbstkontrolle des Subjekts, die automatisiert wird " . Ästhetik I, 146.
*158
Als definitiven Durchbruch der Desanthropomorphisierung im neuzeitlichen Denken nennt Lukács die Anwendung der geometrischen Methode (more geometrico) der Naturerkenntnis auf Anthropologie, Psychologie und Ethik bei Hobbes und Spinoza; vgl. Ästhetik I, 169 f.
*159
Auf diese historischen Skizzierungen soll im einzelnen nicht eingegangen werden, weil sie nicht als historisch-empirische Analysen zu lesen sind, sondern als Teil der systematisch—historischen Genesis. Diese genetischen Skizzen sind bereits ein Abstraktionsresultat bzw. Generalisierungsresultat und dienen lediglich der Konkretisierung der Entwicklungslogik. Sie sind keine Darstellungen auf der Ebene empirisch—historischer Fakten. Das soll nicht heißen, dass diese Skizzen gegen Faktenwissen immunisiert sind, aber dass die einzelnen empirischen Befunde als Abstraktionsresultate zusammengefasst sind und nur entwicklungslogische Prozesse, nicht einzelne historische Ereignisse kennzeichnen. Lukács verwendet in diesem Zusammenhang gern den Ausdruck " generelle Tendenz der Geschichte " ; vgl. Ästhetik II, 622. Zur Charakterisierung der Entwicklung in der Antike vgl. I, 140 ff.; zur Entwicklung in der Renaissance vgl. I, 163 ff.
*160
Lukács geht von einer langen Erfahrungsgeschichte im Anschluss an Engels aus. Denn die Entwicklungen der Gattung auf primitiver Stufe bringen anstelle spontan-naiver Personifikationen Anthropomorphisierungen auf höherer Stufe hervor, so dass der Prozess der Desanthropomorphisierung und die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens im engeren Sinn erst die Oberwindung dieser höheren personifizierenden Formen des Denkens voraussetzt; Ästhetik I, 139 f.
*161
Lukács knüpft hierbei an Gehlens Arbeiten an, der bereits " die allmählich entstehende Arbeitsteilung der Sinne " herausgearbeitet hat, diese Entwicklung allerdings ausschließlich in anthropologischem Rahmen begründet. Wichtig ist die Differenzierung zwischen der Entwicklung der visuellen, taktilen, akustischen Sinne. Lukács hält die anthropologischen Begründungen für ergänzungsbedürftig, weil Gehlen diesen Unterschied wie eine " von Ewigkeit her gegebene Kluft " zwischen dem anthropologischen Wesen des Menschen und dem entgegen gesetzten Tier behandelt und sie nicht als ein Produkt der Arbeit erläutert; Ästhetik I, 21o ff. Die Begründung für diesen Differenzierungsprozess sieht Lukács daher in den Hinweisen von Marx, der in den ‘ökonomisch-philosophischen Manuskripten‘ (1844) erklärt: " Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte " , Marx/Engels, Werke, Ergänzungsband I, 541 f.
*162
Das zeigt sich darin, dass auch die philosophische wissenschaftliche Darstellung bis in die Frühzeit der wissenschaftlichen Entwicklung " stark mit ästhetischen Elementen gemischt " ist (I,217).
*163
Für die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik ist grundlegend, dass kein Objekt ohne Subjekt möglich ist. Bei der ästhetischen Setzung wird simultan auch ein Subjekt gesetzt. Zur Untrennbarkeit von Subjektivität und Objektivität in der Ästhetik vgl. Ästhetik (I, 564). Lukács spricht auch von einer " Synthese zwischen Subjektivität und Objektivität " (II, 229).
*164
Vgl. auch Engels, Anti-Dühring: Prinzipien sind Resultate. Marx/Engels, Werke 20, 574. Auch neuere Erkenntnistheorien, die die gattungsgeschichtliche Dimension in die Explikation der Erkenntnisprozesse einbeziehen, stehen vor dem Problem der Verbindung von prinzipiellen und kontingenten Konstitutionsbedingungen. In Vollmers evolutionärer Erkenntnistheorie z.B. sind Kategorien zwar ontogenetisch apriori, phylogenetisch aber aposteriori und damit " Resultate " eines gattungsgeschichtlichen Prozesses; vgl. Vollmer 1984, 35.
Lukács setzt sich in seiner Kritik einerseits mit apriorischen Begründungen des Ästhetischen auseinander, andererseits mit den Konzeptionen, die im Ästhetischen " Ursprüngliches " festzumachen suchen: Die Konzeption des " goldenen Zeitalters " , Hamanns Konzeption einer " poetischen Muttersprache " , Kritik an Vico; vgl. Ästhetik I, 324 ff.
Die Arbeit als " Vehikel zur Menschwerdung des Menschen " soll verhindern, dass das Ästhetische durch überhistorische, apriorische Annahmen fundiert wird (I, 226).
*165
Z.B. Marx/Engels, Werke 25, 890, 198 f.; 13, 23 f.
*166
Für die Erkenntnistheorie, die es mit der Explikation des Verhältnisses von Bewusstsein und Bild der objektiven Wirklichkeit zu tun hat (I, 356), d.h. mit dem Verhältnis von Bewusstseinsprozessen und Wirklichkeitsmodellen, stellt Lukács fest, dass dieser Prozess bis heute bei weitem nicht geklärt ist; vor allem Einzelprobleme der Wahrnehmungsphysiologie, der Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie werden von der allgemeinen philosophischen Analyse nicht geklärt. Lukács grenzt die erkenntnistheoretische Explikation bewusst vor einzelwissenschaftlichen Forschungen, z.B. der Physiologie, ab, ohne die “physiologische Frage“ nach den Sinneseindrücken zu ignorieren (I, 356).
*167
Lukács spricht auch von “Tätigkeit“ allgemein (I, 207). Als Beispiel für diese “Operation“ im Bereich des Ästhetischen, die “evokativ mimetische Gebilde“ erzeugt und auf “evokative Wirkung“ abzielt, vgl. Lukács‘ Hinweise zur “Anordnung“ der Zeitstruktur im Kunstwerk (I, 419).
*168
Das betrifft vor allem den Entwicklungsstand der “Technik“ im weitesten Sinn. So zeigt sich, dass die photographisch genaue Abbildung gerade nicht ein Kennzeichen elementarer mimetischer Operationen ist, sondern Produkt einer hoch entwickelten Technik (I, 365).
*169
Der Begriff der Aura steht bei Lukács im Zusammenhang der Sinnkonstitution durch Evokation, d.h. durch " Gedanken und Gefühle " , die keine vollständige Ausformung oder Strukturierung eines Bedeutungsträgers erfordern. Für Lukács ist die evokative " Aura " ein allgemeines Kennzeichen der Alltagswirklichkeit (I, 370 f.). Aura ist nicht auf die Besonderheit des Kunstwerks bezogen, auf das " Hier und Jetzt des Kunstwerks " , das dennoch Distanz schafft, wie bei Benjamin, Schriften I, 369, 372.
*170
Dieser Ablösungsprozess des Ästhetischen unterscheidet sich deshalb auch vom wissenschaftlichen Ablösungsprozess (I, 242). Die Wissenschaft entwickelt sich im Umkreis des Alltagslebens direkt aus Erfordernissen des Arbeitsprozesses, speziell aus dem Handwerk, wie Lukács meint (I, 439); d. h. durch die instrumentelle Vermittlung der Subjekt—Objekt—Beziehung, die weiter zu theoretischer und methodischer Vermittlung führt.
*171
Lukács unterscheidet zwischen zwei Formen der Magie: der Nachahmungsmagie und der Übertragungsmagie. Die erste zielt auf Wirkungen durch Abbildung, die zweite bedeutet, dass alles, was dem Gegenstand zugefügt wird, auf die Person, die ihn berührt hat, übertragen wird (I, 378).
*172
Dieser Unterschied kommt auch in Hegels Differenzierung zwischen den " Formen " des absoluten Geistes und Ausdruck, zwischen dem bloß vorstellenden Denken der Religion und der sinnlichen Anschauung der Kunst; vgl. Hegel, Aesthetik, I, 140.
*173
Die Objektivationen in Wissenschaft und Kunst zeigen " eine stärkere Fixiertheit " als die Objektivationen des Alltagslebens, " die eine veränderlichere, fließendere Wesensart haben " (I, 41 ff.).
*174
Selbst wenn Lukács in seiner mittleren Phase allgemeinste ästhetische Bestimmungen exemplifizierend an der Phänomenologie der Kunst, speziell an Epochen- und Werkmerkmalen der realistischen Kunst, erläutert, liegen die ästhetiktheoretischen Differenzen zu seinen Kontrahenten der sog. Expressionismusdebatte“ und ihren Nachfolgern tiefer. Die Auseinandersetzungen, auch die der Brechtschen Position, bleiben oberflächlich und betreffen teils kulturpolitische Positionen, teils kompositorische Merkmale.
Allerdings ist Lukács selbst nicht schuldlos daran, denn erst in der späten ÄSTHETIK legt er die theoretischen Grundlagen und die begriffssystematischen Explikationen für den Sonderstatus der ästhetischen mimetischen Reproduktion. Ich gehe davon aus, dass die systematische Explikation von Lukács‘ ÄSTHETIK erst am Anfang steht. Die vereinzelten Arbeiten, die sich mit der späten ÄSTHETIK beschäftigen, setzen eine Kontinuität zu den frühen Arbeiten voraus. Renner spricht sogar von einer " Zusammenfassung früherer Thesen " . Renner verfährt im systematischen Teil seiner Arbeit allerdings stark referierend, ohne die begriffssystematischen Explikationen bei Lukács zu rekonstruieren. Dadurch wird die theoretische Vertiefung der späten ÄSTHETIK, die im Zusammenhang mit Lukács‘ Ontologie und nicht nur mit den ästhetischen Schriften der frühen und mittleren Phase zu sehen ist, nicht deutlich. Die Konsequenzen der von Lukács so bezeichneten " methodischen Bestimmung " (I, 30) müssen in systematischem Zusammenhang für die Mimesiskonzeption, die Produktions- und Rezeptionstheorie, die Realismuskonzeption und die Semantiktheorie rekonstruiert werden. Nur so wird es möglich, Lukács‘ ÄSTHETIK über den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang und die historischen Bedingtheiten hinaus in den philosophischen Diskurs über Realismusfragen, Semantikprobleme oder kognitionstheoretische Konzeptionen zu integrieren und nutzbar zu machen.
*175
Vgl. Ästhetik II, 297. Die ästhetische Setzung ist auf das untrennbare Ineinander und Zusammen von Subjektivität und Objektivität angewiesen. Die Welt ist für das Subjekt " eine ansichseiende, eine von ihm unabhängige Wirklichkeit. Sie ist aber, untrennbar von dieser Objektivität, zugleich das Produkt der Tätigkeit aller Menschen. "
*176
Zur sinnlich-sinnfälligen Verallgemeinerung vgl. Ästhetik I, 244 ff. Die Verallgemeinerung besteht darin, " das das künstlerisch Geformte sich von der bloß partikularen Individualität und damit von der praktisch-faktischen Erfüllung des Bedürfnisses... befreit, ohne jedoch den Charakter der individuellen und unmittelbaren Erlebtheit zu verlieren " (I,244).
*177
Die Systemgeschlossenheit des " mimetischen Gebildes " darf nicht mit Begriffen der " offenen oder geschlossenen Form " verwechselt werden. Das mimetische Gebilde ist definiert als " in sich geschlossenes System " (I, 429).
*178
Diese für die Evokation von Wirklichkeit wichtige Ausrichtung der ästhetischen Wirklichkeitsmodelle an der allgemeinen Wirklichkeitserfahrung bedeutet keine nachträgliche Orientierung an der Adaequationstheorie der Wahrheit. Denn Ergebnis ist nicht eine intersubjektiv überprüfbare Wirklichkeitsaussage, sondern der subjekt-abhängige Wirklichkeitseindruck. Lukács spricht von der " Wahrhaftigkeit der Widerspiegelung " (I, 433),und er hebt hervor, dass keine Überprüfung der " Wirklichkeitstreue " der Teilmomente der ästhetischen Wirklichkeitsmodelle möglich ist (II, 312).
*179
Vgl. Auch die Arbeit von Bataille 1979, der den magischkultischen Charakter hervorhebt. Die Höhlen waren nicht bewohnt und dienten der Feier, nicht der Dekoration. Bataille 1979, 45, 79. Zum ritualen Charakter dieser Höhlenmalerei und zur Zurückweisung der " Hypothese vom dekorativen Charakter der paläolithischen Kunst " vgl. Honour/Fleming, Weltgeschichte der Kunst 1983, 22. Auch Adorno geht in seiner Ästhetischen Theorie vom magischen Charakter der archaischen Mimesis aus, allerdings korrigiert er in seinen ‘Theorien über den Ursprung der Kunst‘, die als Exkurs der Ästhetischen Theorie angehängt sind, die " These vom magischen Utilitarismus und Naturalismus " mit Bezug auf die Forschungen von Lorenz und Gehlen; vgl. Adorno 1970, 484. Zu diesem Problembereich vgl. auch U. Schwarz 1981, 209 f.
*180
Lukács greift für die historische Konkretisierung nicht auf die frühesten paläolithischen Funde zurück, z.B. die Venus van Willendorff, sondern wählt die Höhlenmalereien von Lascaux. Darin zeigt sich, dass es um die Konkretisierung der begriffssystematischen Explikation des Begriffs der " Welthaltigkeit " geht, nicht um eine vollständige kunsthistorische Beschreibung.
*181
So hat der Tanz noch keinen ausgeprägten " Gebildecharakter " . Die Entstehung der ästhetischen " Welt " zielt aber gerade auf den Strukturzusammenhang des ästhetischen Gebildes (I, 445 f.).
Der Weltbegriff ist hier nicht als semantiktheoretischer Begriff verwendet, sondern als ästhetiktheoretischer und wird von Lukács als ein Ordnungsbegriff expliziert, der allgemein ein abgeschlossenes System ( " Kosmos " ) bezeichnet, nicht etwa die Abbildung der alltagspraktisch erfahrenen Realität. Das wird besonders deutlich an der Explikation des Weltbegriffs in der Musik: Die " Welt " der Musik ist nach Lukács eine " echt künstlerische Form " (II, 401), die inhaltlich einen " gestalteten Kosmos der Empfindungen " umfasst, einen Kosmos, dessen Eigenart gerade darin besteht, dass er " die gegenständliche Welt verschwinden lässt " (II, 376).
*182
Vgl. Lukács, Ästhetik I, 479; I, 486. Da Lukács in der Regel von " Tendenzen " der Entwicklung spricht, ist hier der Gesetzesbegriff nur metaphorisch zu nehmen.
*183
Paradoxie: zugleich " realistisch " , aber dennoch weltlos. Die magische Determination dieser Kunst kann die weltlose Darstellung erklären, das Außerachtlassen aller Beziehungen des Gegenstandes zu seiner Umwelt: Keine Mehrfigurenkomposition, keinen Rahmen für Einzelfiguren, keine Bodenlinien (I, 459 ff.).
*184
Der " Stoffwechsel mit der Natur " ist noch höchst einfach, aber geometrische Techniken der Praxis erlangen auch für die künstlerische Praxis große Bedeutung (I, 496).
*185
Lukács weist auf Unterschiede zwischen den Homerischen Epen und analogen Dichtungen des Orients hin; vor allem aber auf das Entstehen der Tragödie als Genre (I, 496 f.).
*186
Eine " Historisierung der ästhetischen Theorie " dagegen, wie sie Bürger im Anschluss an Adorno fordert, kommt über das prinzipielle Problem, einem historisch kontingenten Entwicklungszustand der Kunst Paradigmastatus dezisionistisch zusprechen zu müssen oder aber diesen historischen " Knackpunkt " als bloß methodische Entscheidung zu rechtfertigen, nicht hinaus.
*187
Die Diskussionen in der neueren Forschung zur Erkenntnistheorie und zur Sprachanalytik lassen für das Verhältnis priorität und Aposteriorität deutlich eine Relativierung erkennen.
Für die evolutionäre Erkenntnistheorie vgl. Vollmer 1984; für die Diskussion der Analytizität vgl. Quine 1963, 42 ff. und die Differenzierungen bei Putnam 1962.
Der Begriff der gattungsgeschichtlichen Konvention ist hier abzugrenzen gegenüber der epochengeschichtlichen Konventionalität in Kunst oder Wissenschaft, die sich auf die rhetorische Einübung der letzten 300 Jahre einschränkt, wie das bei Rorty der Fall ist; vgl. Rorty 1984, 360.
*188
Das Explikationsmodell macht keine Aussagen über mögliche und zulässige Konstitutionsmodelle des Ästhetischen über generative Modelle wie sie in der " Erzeugungsgrammatik " der Ethnologie verwendet werden (Garfinkel) oder aber in der Transformationsgrammatik und generativen Poetik. Garfinkel expliziert sprachliche Äußerungen als " Dokumente eines zugrundeliegenden Musters " . Die Beziehung zwischen den Äußerungsformen und den zugrundeliegenden Mustern charakterisiert er als Indexikalität. Vgl. Weingarten/Sack/Schenkein (Hrsg.) 1976.
*189
Sei es die " Moderne " oder die " Avantgarde " . Das Problem liegt ja nicht allein in der Selektion der kunstgeschichtlichen Phänomene, denen Paradigmastatus zugesprochen werden muss. Das Problem ist schon auf der methodologisch argumentatorischen Ebene nicht zu lösen; denn von empirischen Generalisierungen aus gibt es keinen unmittelbaren Übergang zu einer Theorie mit Allgemeinheitsanspruch. Als Ausweg bliebe nur der Rückzug auf rein forschungspragmatische Argumente: Die Wahl eines historischen " Knackpunkts " verlangt nur Plausibilität; für die theoretische Argumentation könnte aber jeder beliebige andere Punkt gewählt werden.
Ritter geht dem geschichtlichen Zusammenhang zwischen der in der Neuzeit einsetzenden ästhetischen Zuwendung zur Natur und dem Entwicklungsstand der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur, nach; vgl. Ritter 1974.
*190
Lukács geht dabei von einer " Arbeitsteilung der Sinne " aus (I, 234) und nimmt an, dass aufgrund unterschiedlicher Beziehungen der Sinne zur Welt verschiedene Entstehungspunkte der Kunst vorliegen (I, 230).
*191
Vgl. Marx/Engels, Werke 20, 574. Dass im Bereich der Ästhetik die Darstellung nicht einfache Nachahmung ist, sondern " eine Bildung aus einem Prinzip, nicht nach der bloßen Wahrnehmung " , ist Bestandteil der Ästhetiktradition. Schon Baumgarten unterscheidet zwischen Prinzipien und speziellen Regeln in der Kunst; vgl. 1983, 47. Solger beruft sich bei der Begründung von Prinzipien in der Ästhetik auf Aristoteles; vgl. 1980, 15. Lukács spricht von " objektiven Prinzipien der Komposition " (I, 423).
*192
Das “mimetische Gebilde“ ist als Struktur oder System zu definieren: Lukács geht davon aus, dass die Komposition Elemente und ihre Kombinationen betrifft, Auswahl ‚ Gruppierung und Ordnung von Elementen (I, 422).
*193
Die Neudefinition innerhalb theoretisch-systematisierter Grundtheorien ist nicht zu verwechseln mit der kritischen Umdeutung der traditionellen Begrifflichkeit der idealistischen Ästhetik durch Adorno, der, vom historischen Standpunkt der Moderne ausgehend, im Kontrast mit dem Neuen den geschichtlichen Wandel in die Begrifflichkeit einzubringen sucht. Vgl. Adorno 1970, 393.
Eine " Transformation durch Kritik " strebt auch Bürger an; sein Hinweis, dass im Gegensatz zu solcher Transformation Lukács an den Kategorien der idealistischen Ästhetik ungebrochen festgehalten habe, verkennt allerdings gänzlich die Einordnung der erkenntnistheoretischen Grundlagen von Lukács‘ ÄSTHETIK in das System der dialektisch-materialistischen Grundtheorien und die Ausrichtung an der Methodologie des ‘Kapital‘, worauf Lukács einleitend explizit hinweist.
*194
Lukács‘ Mimesiskonzeption geht, trotz der von Lukács bewusst gewählten Beschränkung auf die erkenntnistheoretische Explikation, von der aktiven Wechselbeziehung zwischen dem höherorganisierten Leben und seiner Umwelt aus; es handelt sich bei der in die Praxis umgesetzten Erkenntnis um Tätigkeiten bzw. Operationen.
Wird der Begriff der " ästhetischen Erkenntnis " als Grundbegriff der Kunsttheorie eingeführt und die " Kunst als ein Modus von Erkenntnis " expliziert, wie bei Metscher 1972, 927 und Renner 1976, 106, so hat das zur Konsequenz, dass das Bild " als Grundelement der ästhetischen Struktur aufgefasst wird " , nicht das " mimetische Gebilde " als eine in sich strukturierte Werkwelt, die sich sowohl auf die bildenden Künste und die Literatur als auch auf die Musik bezieht. Metscher schränkt bezeichnenderweise das Bild als Grundelement auf die Literatur und die bildenden Künste ein. Vgl. Metscher 1972, 929. Auf diese Weise gerät aber der operationale Charakter der Mimesiskonzeption aus dem Blick.
Zur begrenzten Geltung des Bildbegriffs als theoretischer Begriff der Ästhetik vgl. Lukács, Probleme der Ästhetik, 725. Die Schwäche des Bildbegriffs liegt nach Lukács darin, dass die Grenze zwischen Einzelheit und Besonderheit verschwimmt.
*195
Lukács, Ästhetik I, 365. Lukács stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der erkenntnistheoretische Prozess bis heute bei weitem noch nicht erforscht ist.
*196
Lukács situiert Schemata zwischen Realität und Abbildung (I, 743>, Schemata, die die Wirklichkeitsmodelle des Alltagsdenkens, aber auch der Kunst prägen.
Die genetische Erkenntnistheorie, die den kognitiven Prozess als einen wesentlich aktiven Vorgang beschreibt: Erkennen heißt, Realität zu transformieren, kennt Schemata im Obergang von der Handlung zur Operation. Vgl. Piaget 1973, 22; Piaget 1972, 68 ff.
Die Schemata der Weltkonstitution sind allerdings nicht als " Perspektivik " zu interpretieren. Sie sind daher von Metschers Auffassung der ästhetischen Welt als einer perspektivisch gestalteten Wirklichkeit abzugrenzen. Metscher geht davon aus, dass Wirklichkeit " von einem bestimmten Standpunkt her ästhetisch erfaßt, in parteilicher Stellungnahme gewertet und gedeutet " wird. Vgl. Metscher 1982, 162. Vergleichbar ist die Konzeption prämedialer Schemata mit dem semantiktheoretischen Begriff des Archetypus; vgl. Wildgen 1982. Sie sind aber nicht auf stabile Muster der Perzeption und Speicherung zu reduzieren, sondern betreffen Raum-, Zeit-, Dingstrukturen der Werkwelten, d.h. stabile Muster, die als Restriktionen der ästhetischen mimetischen Reproduktion fungieren.
*197
Lukács, Probleme der Ästhetik, 743.
*198
Lukács geht zwingenderweise im Rahmen seiner philosophischen Analyse von einem philosophischen Textbegriff aus, nicht von einem literaturwissenschaftlichen oder text-theoretischen, allerdings auch nicht von einem " metaphysischen " . Zur Kritik des idealistischen Werkbegriffs vgl. Bürger in: Oelmüller (Hrsg.) 3, 1983, 32 f.
*199
Vgl. Lukács, Probleme der Ästhetik, 745.
*200
Schiller versucht den Nachweis zu führen, daß die Kunst aufgrund ihrer Autonomie eine gesellschaftliche Funktion hat, nämlich die Beförderung der Humanität; vgl. Bürger 1974, 60.
*201
Bürger 1974, 63.
*202
Bürger 1974, 32, 15.
*203
Habermas 1972, 190. - " Autonomie der Kunst etabliert sich erst in dem Maße, als, mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische und das politische System vom kulturellen abgekoppelt werden.. . " Vgl. Habermas‘ Definition der Autonomie als " Selbständigkeit der Kunstwerke gegenüber kunstexternen Verwendungsansprüchen "
Mit Recht weist Bürger darauf hin, daß Adorno sich gegen die radikalen Tendenzen der Avantgarde, die auf eine Aufhebung und Entgrenzung der Kunst abzielen, nicht weniger vehement wendet als Lukács; vgl. Bürger in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 215.
*204
Bürger 1974, 31 f.
*205
Bürger 1974, 80. Neoavantgardistische Kunst ist autonome Kunst; vgl. Bürger in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 201 f. Die Avantgardebewegungen sind in der Intention zur Entdifferenzierung der Bereiche gesellschaftlicher Praxis gescheitert. Als Beispiel für solches Scheitern der Vereinigung von Kunst und Leben in der modernen Kunst sind die authentischen Berichte von P. Weiss über die Happeningveranstaltungen in den sechziger Jahren zu lesen. Vgl. P. Weiss 1982, 1, 23, 17.
*206
Die gattungsgeschichtlich und soziohistorisch sich zeigende " Loslösung " der ästhetischen Mimesis aus der magischen Mimesis ist " entwicklungslogisch " begründet, nicht nur empirisch-historisch. Die Loslösung aus der magischen Mimesis betrifft die Konstitution des Ästhetischen uberhaupt, nicht aber einen historischen Funktionalismus. Die soziohistorische und kunstgeschichtliche Entwicklung, die dazu führt, daß " die Künste aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen " werden (vgl. Habermas 1972, 190; Bürger 1974, 31), betrifft dagegen nur einen sozialen Vorgang, keinen konstitutiven Prozeß.
*207
Vgl. Rüsen in: Oelmüller (Hrsg.), Kolloquium 2, 1982, 340.
*208
Vgl. Adorno 1970, 125, 130. Die zwanglose Synthesis der Kunst, die ästhetische Einheit, wird von Adorno immer nur als Fiktion interpretiert. Vgl. auch Bloch 1968, 242 ff. und Bloch 975, 196 ff. Zu Adornos Utopie-Konzeption vgl. Baumeister/Kulenkampff 1973.
*209
Habermas hat allerdings bereits darauf hingewiesen, daß nach dem Zerfall der " Vernunft " in ihre Teilmomente, der wissenschaftlich-technischen, praktisch—moralischen und ästhetischen Rationalität, in der Neuzeit die ästhetische Rationalität eine Aufhebung dieser Differenzierungen nicht antizipieren kann. Wellmer interpretiert das Utopische am Kunstwerk eingeschränkter als " Überwindung der Sprachlosigkeit jenseits der Grenze des Sagbaren " . Vgl. Wellmer in: Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982, 343.
*210
Vgl. Baumeisters und Kulenkampffs Kritik an der übergroßen Nähe, in die Philosophie und Kunst bei Adorno geraten; 1973, 101.
*211
Lukács, Ästhetik I, 586. " Die Kunst hat also einen viel entschiedeneren antiutopischen Charakter als die Wissenschaft oder die Philosophie " (I, 588).
*212
Vgl. Lukács, Ästhetik I, 658 f.; I, 662 f.; I, 807.
*213
Lukács, Probleme der Ästhetik, 738.
*214
Theoretische Grundlage für die Explikation der Subjektivität in der Beziehung zur Gattung ist Marx‘ Gattungsbegriff, der aufgrund der natur- und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Arbeitsprozesse den Zusammenhang von Einzelheit und Verallgemeinerung erläutert (I, 575 ff.).
*215
Vgl. Ästhetik I, 242; I, 614 ff. Zur historischen Entwicklung der Gattungsgemäßheit und zur Kritik an der Konzeption des " Allgemein Menschlichen " in der idealistischen Ästhetik vgl. Ästhetik I, 587 ff.
*216
Diese Wandlung zum Gattungsmäßigen muß durch das individuelle Bewußtsein nicht reflexiv eingeholt werden, wie Lukács am Beispiel von Balzac darlegt. Das gattungsmäßige Bewußtsein ist nicht unmittelbar gegeben, " sondern vorwegnehmend utopisch " , wie Lukács sagt, ohne daß die Kunst dadurch utopisch würde (I, 585).
*217
Lukács, Probleme der Ästhetik, 738.
Die Konkretheit ist definiert durch die Einheit, die in sich unterschiedene Bestimmungen enthält. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 356. Enzyklopädie 1, § 14, 59; Aesthetik III, 328 ff. Vgl. Lukács, Ästhetik II, 231 ff. " Eine absolut in sich abgeschlossene, wie eine in sich vollendete Totalität " (II, 232); " konkrete Totalität " ; " intensive Totalität " . Schon in den Auseinandersetzungen der sog. Expressionismusdebatte, in der Bloch Lukács gegenüber den Vorwurf erhebt, daß er eine " geschlossene und zusammenhängende Wirklichkeit voraussetze " (vgl. Raddatz (Hrsg.) II, 55), geht Lukács auf das " Problem der Totalität " ein, allerdings in der einfachen Problemstellung, daß die " objektive Totalität der Wirklichkeit " eine entscheidende Rolle spielt und für die literarische Praxis die " Forderung der Allseitigkeit " zur Folge hat. (Vgl. Raddatz (Hrsg.) II, 64).
Auch die Verfechter einer ästhetischen Theorie der Moderne treffen die Unterscheidung zwischen Werkeinheit als allgemeiner Konstitutionsbedingung und besonderen kompositorischen Ausformungen dieser " Einheit " . Vgl. Adorno 1970: " Noch wo die Kunst... auf dem Äußersten von Unstimmigkeit und Dissonanten besteht, sind ihre Momente zugleich solche Einheit " (235). Und Bürger weist auf die literar- bzw. kunsthistorische Tatsache hin, daß auch nach den Avantgardebewegungen Kunstwerke produziert worden sind und daß in der postavantgardistischen Phase die Werkkategorie restauriert worden ist; vgl. Bürger 1974, 77 f.
*218
Der Begriff der " intensiven Totalität " ist nur " ein philosophisch abstrahierender Ausdruck dafür, daß der künstlerisch gestaltete ‘Lebensausschnitt‘ fähig ist, die ästhetische Evokation einer ‘Welt‘ zu erwecken " . Lukács, Ästhetik II, 234; Probleme der Ästhetik, 743 f.
*219
Lukács, Ästhetik II, 233.
*220
220) Vgl. Bubner in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 263 ff.
*221
Vgl. Bubner 1981, 265. Bubner sieht gerade darin die besondere Leistung der ‘Kritik der Urteilskraft‘, daß Kant im Rahmen der Reflexions- und Bewußtseinsterminologie nun eine Blickrichtung einführt, " die auf den von der Reflexion selbst hergestellten Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und Besonderen sieht, der nicht länger die apriorische Trennbarkeit von Besonderem und Allgemeinem zuläßt. " Das " Spiel der Reflexion " vermittelt unablässig und ohne definitiven Abschluß zwischen den beiden Momenten der Sinngebundenheit und des Totalitätscharakters.
*222
Adorno 1958, 32.
*223
Adorno 1958, 235.
*224
Adorno 1970, 453.
*225
Adorno 1970, 15 f.
*226
Daß die im " Gebilde " organisierte Einheit, trotz der Bestimmung als " Dialektik im Stillstand " (vgl. Adorno 1970, 130) und trotz der von Adorno gegen den traditionellen Harmoniebegriff geführten Polemik dennoch eine Wiederaufnahme dieses Harmoniebegriffs ist, sei nur am Rande vermerkt. Vgl. hierzu auch Baumeister/Kulenkampff 1973.
*227
Adorno 1970, 47.
*228
Vgl. auch Hegel, Aesthetik I, 201. Hegel, Logik I, 147 ff.
*229
Vgl. Lukács, Ästhetik I, 356. " Wenn die Widerspiegelung der objektiven, vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit nicht mehr den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt bildet, wird die Nachahmung etwas teils Rätselhaftes, teils Überflüssiges " (I, 353).
*230
Auch für die anthropologische Forschung sind die morphologische Sonderstellung des Menschen und die höheren Funktionen nur mit bezug auf den Handlungsbegriff zu erklären. Zwischen Gehlens " Grundbestimmung " der Handlung und Lukács‘ " Elementartatsache " der mimetischen Operation besteht zwar kein theoretischer, aber ein sachlicher Zusammenhang. Vgl. Gehlen 1962. 32 ff.; Lukács, Ästhetik I, 207 ff.
*231
Interpretament insofern, als Modifikationen des Objektiven vorgenommen werden, " um im Rezeptiven das Erleben des tua res agitur‘ evokativ hervorzurufen " (II, 298). Brechts Monitum, Lukács gebe " fast durchweg formale Kennzeichen für den Realismus an " (vgl. Arbeitsjournal 1, 20) trifft schon auf die Differenzierung zwischen " Realismus heute " und " Realismus überhaupt " in der Expressionismusdebatte nicht zu; erst recht aber nicht auf die ÄSTHETIK. Auch in der ÄSTHETIK gibt Lukács keine formalen Kriterien an, sondern arbeitet begriffssystematisch Primitiva der Werkkonstitution heraus, die eine Stufe tiefer und d.h. allgemeiner zu explizieren sind als formale Manifestationen.
*232
Vgl. Neschke in: Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982, 300. Während Hegels identitätsphilosophische Konzeption von einer vorgängigen " Einheit von Begriff und Realität " ausgeht und die Explikationen als begriffliche Entfaltungen eines selbstexplikativen Prozesses interpretiert, d.h. als " Selbstbewegung des Begriffs " , insistiert Lukács, nach Einführung des erkenntnistheoretischen Dualismus, lediglich auf dem abstrakten, aber konstitutiven Bezug zu einem " Etwas " . Lukács‘ Ontologie ist aber nicht auf einen vorhegelianischen naiven Realismus zu reduzieren.
Er differenziert nachdrücklich zwischen “der spontanen Ontologie des Alltagslebens“ und der philosophischen, ohne den Zusammenhang von wissenschaftlicher und alltagspraktischer Ontologie außer acht zu lassen (Ontologie 1, 570).
*233
Vgl. Warning in: Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982, 296 ff. " In der Sache " bedeutet nicht, daß die Konstitutionsleistung des Subjekts in der Referenz übersehen werden kann. Die Bedeutungskonstitution ist ohne das Subjekt nicht denkbar, auch außerhalb der Maturana-Konzeption; vgl. Greimas 1971, 121. Sie ist aber nicht einfach eine Resultante des Verweisungszusammenhangs von Zeichen, weil diese Verweisung überhaupt erst zustandekommt, wenn Bedeutungen konstituiert sind, auf die jeweils Bezug genommen werden kann und so ein semiotischer (semantischer) Zusammenhang entstehen kann.
*234
Putnam 1975, 148 ff. Die Methode der Rekognition beruht auf der Annahme, daß die Bedeutung die Extension der Begriffe umfaßt, und eine rein innerlinguistische Beziehung von Merkmalen für die Bedeutungsexplikation nicht ausreicht. Zur Bestimmung kann das Wissen von Experten herangezogen werden, ohne direkt auf empirische Befunde zu rekurrieren. Die Identifikation über Expertenwissen setzt allerdings voraus, daß irgendjemand einen Weg des Wiedererkennens weiß, vgl. 1975, 227 f. Soziolinguistisch gesehen ersetzt der Experte einen empirischen Test, aber im Wissen des Experten sind linguistisches und empirisches Wissen nicht scharf zu trennen. Und das heißt nichts anderes, als daß auch in der rein linguistischen Bedeutungsexplikation an irgendeiner Stelle auf das " Etwas " Bezug genommen wird bzw. der Bezugspunkt " in der Sache " gegeben ist.
*235
Lukács, Probleme der Ästhetik, 743. Die " Evokation einer intensiven Totalität " , die Lukács ausdrücklich als " System " charakterisiert, setzt in Lukács‘ Worten keine " Treue " gegenüber den Einzelheiten der Objektivität der Wirklichkeit voraus (II, 233).
*236
Putnam nimmt 1978 eine Korrektur gegenüber seiner Position von 1975 vor, die er selbst durch die begriffliche Gegenüberstellung von " internal realism " und " metaphysical realism " kennzeichnet; vgl. Putnam 1978, 123, 125.
Die kausale Referenztheorie führt semantiktheoretisch in Schwierigkeiten: Wenn nämlich die kausale Referenztheorie nichtintentionale Relationen zu einem außersprachlichen Etwas herzustellen sucht, ist es nicht zu umgehen, daß diese Relationen selbst Bestandteil der Theorie werden. Oder, wie Putnam erläutert, ist die Beziehung zwischen dem Begriff " Ursache " in der " causal theory of reference " und einem Etwas genauso unklar wie z.B. bei dem Gattungsbegriff " Katze " ; vgl. Putnam 1978, 126.
Zur gegenwärtigen Diskussion der sprachphilosophischen Referenzproblematik vgl. auch Rorty 1984. Zum Problem des Wirklichkeitsbezugs von Ausdrücken in der Sprachanalytischen Philosophie vgl. Tugendhat 1976, 326 ff.
*237
Zur Kategorie der Besonderheit bei Lukács vgl. die früheren Aufsätze in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Jg. 2, H. 4 (1954); Jg. 3, H. 2 (1955); Jg. 4, H. 2 (1956); Jg. 4, H. 4 (1956). Wiederabgedruckt in: Lukács, Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik 1967, und Probleme der Ästhetik, 539 ff.
Hegel, Logik II: Verhältnis von Allgemeinem und Einzelheit, Besonderheit als Mitte. Lukács weist ausdrücklich auf Hegels " Verdienst " hin; vgl. Ästhetik II, 196.
Hegel: " Das Besondere ist aus demselben Grunde, weil es nur das bestimmte Allgemeine ist, auch Einzelnes und umgekehrt, weil das Einzelne das bestimmte Allgemeine ist, ist es ebensosehr ein Besonderes " (Logik II, 261).
Auch Schelling versucht in seiner ‘Philosophie der Kunst‘ § 39 die Einheit von Allgemeinem und Besonderem theoretisch zu explizieren, ohne allerdings eine logische Explikation im Sinne Hegels zur Grundlage zu machen. Die Einheit als " Darstellung mit völliger Indifferenz , so nämlich, daß das Allgemeine ganz das Besondere, das Besondere zugleich das ganze Allgemeine ist , nicht es bedeutet " , bleibt so lediglich eine Beteiligung. Vgl. Hegels Kritik an Schellings begrifflich unvermittelter Einheitsvorstellung; Hegel, Phänomenologie, 19. Schelling, Philosophie der Kunst, 55.
*238
Hegel, Logik II, 245.
*210
Kant, Kritik der reinen Vernunft (B 230): Wenn den Bestimmungen einer Substanz, nämlich ihren Akzidenzen, " ein besonderes Dasein beigelegt " wird, z.B. Bewegung als Akzidenz der Materie, " so nennt man dieses Dasein die Inhärenz, zum Unterschiede vom Dasein der Substanz, die man Subsistenz nennt " .
*240
Enge Verbundenheit mit der Substantialität. " Das entscheidende Moment in der aufbewahrenden Aufhebung der Zufälligkeit im Ästhetischen ist das Beharren der Substanz, einerlei ob es sich um eine menschliche Gestalt oder um eine dinghafte Gegenständlichkeit handelt. " Vgl. Lukács, Ästhetik I, 751 f.
*241
Lukács, Ästhetik I, 631. Vgl. Hegel, Philosophische Propädeutung, Dritter Cursus (Begriffslehre) § 15: " Unmittelbar ist in dem Urtheil das Prädicat eine Eigenschaft, die dem Subject so zukommt, daß sie zwar als Allgemeines überhaupt sich zu ihm verhält, aber zugleich nur ein bestimmtes Dasein desselben ist.... Allgemeinheit, das Prädikat, hat hier nur die Bedeutung einer unmittelbaren (Oder sinnlichen> Allgemeinheit und der bloßen Gemeinschaftlichkeit mit anderen. " Hegel, Theorie Werkausgabe 4, 43.
*242
Die in der Literaturwissenschaft verwendeten Erläuterungen des Symbolbegriffs mit Rückgriff auf Goethes Charakterisierungen z.B. in den ‘Maximen und Reflexionen‘ sind keine Explikationen der begrifflichen Einheit von Allgemeinem und Besonderen. Es handelt sich eher um ein Repräsentationsverhältnis ohne Verweisfunktion. Vgl. Maximen und Reflexionen 751 und 752. Goethe, Werke 2, 471.
*243
Vgl. S.J. Schmidt 1980: An die Stelle des Textes tritt das Kommunikat. Ecos ‘Einführung in die Semiotik‘ ist zu lesen als Widerlegung des “ontologischen“ Strukturalismus.
*244
S.J. Schmidt modifiziert die in seiner Texttheorie 1973 vorgeschlagene Unterscheidung von " Textformular " und “Text-in-Funktion“ durch die Trennung zwischen materialem Textbegriff und kommunikativ-funktionalem sprachlichen Kommunikatbegriff.
Text wird zu einem Synonym für " sprachliche Kommunikatbasis " ; vgl. S.J. Schmidt 1980, 72 f. Er sieht zwar, daß Struktur und Funktion als zwei Aspekte nicht unabhängig voneinander sind, trennt aber in der Analyse der sprachlichen Kommunikationsprozesse beide Aspekte voneinander.
*245
Zur spezifisch ästhetischen Funktion vgl. Jakobson 1960,350 ff.
Vgl. Eco 1972, 145. S.J. Schmidt geht ursprünglich von Vertextungsoperationen aus, die " Polyfunktionalität " bewirken; vgl. S.J. Schmidt 1972, 19 ff.
*246
Die Dynamisierung des Strukturbegriffs wird durch die Unterscheidung zwischen Werk als Artefakt und Werk als " ästhetisches Objekt " bei Mukarovsky eingeführt; vgl. Mukarovsky 1970.
*247
Günther 1973, 44.
*248
Günther 1973, 42.
*249
Günther 1973, 11.
*250
Striedter 1971. Funktion wird zu einem zentralen Begriff der tschechischen strukturalistischen Ästhetik.
*251
Günther 1973, 22.
*252
Jakobson unterscheidet die referentielle, die emotionale die conative, die phatische, die metasprachliche und die ästhetische Funktion; vgl. Jakobson -1960, 353 ff.
*253
Eco 1972, 145.
*254
Eco 1972, 147.
*255
Eco 1972, 151. Der spezifische Code, der durch Ambiguität und Autoreflexivität bestimmt ist, erfordert ein Decodierungsverfahren, das " offen und prozeßartig " ist, eine offene und prozeßartige Interpretation. Auf Probleme der Interpretation soll hier nicht weiter eingegangen werden. -
*256
Eco 1977, 8.
*257
Die Ambiguität " disponiert " zu interpretativen Wahlen; vgl. Eco 1972, 154. Vgl. die perzeptive Ambiguität; Eco 1977, 50.
*258
Eco 1972, 155.
*259
Wienold 1972, 14.
*260
S.J. Schmidt 1972, 21 ff. Polyfunktionalität bereits bei Mukarovsky; vgl. Günther 1973, 30.
*261
S.J. Schmidt 1975; S.J. Schmidt 1973; 82 ff.
*262
S.J. Schmidt 1974, 108.
*263
Daß auch eine Sprachpragmatik sämtliche verbalen und nichtverbalen Koordinaten nicht miteinander korrelieren kann, gilt selbst für das auf wenige " Faktoren " reduzierte sprach-pragmatische Modell; vgl. das 9-tupel bei Wunderlich 1971, 177 f.
*263
Von Wunderlich wird nachdrücklich auf die Zusammenhänge zwischen Kommunikation und gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozessen hingewiesen. Vgl. Wunderlich 1976, 13.
*264
264) S.J. Schmidt bezieht ausdrücklich Maturanas Theorien ein.
*265
265) S.J. Schmidt 1980, 41 f.
*266
S.J. Schmidt 1980, 84. 1. Abgrenzungskriterium ist die Ä-Konvention, 2. Abgrenzungskriterium die Polyvalenz; vgl. 86 ff.
*267
S.J. Schmidt zählt bei der Darstellung der Voraussetzungssysteme der Kommunikationsteilnehmer neben Bedürfnissen und Intentionen selbst " ökonomische, politische, soziale und kulturelle Bedingungen " auf; vgl. 1980, 51.
*268
Damit soll nicht bestritten werden, daß wichtige Aspekte des Konzepts " Gesellschaft " oder Kulturphänomene unter dem Kommunikationsaspekt theoretisch rekonstruiert werden können; vgl. Schmidt 1980, 38 ff.
S.J. Schmidt sieht selbst, daß es sich bislang aber noch weitgehend um ein " spekulatives Konzept " handelt, dessen empirische Bestätigung noch aussteht; vgl. Schmidt 1980, 16.
*269
" Text als Prozeß " ist nicht weniger begriffsmetaphorisch, wenngleich in moderner Nomenklatur, als Formulierungen über das Wesen oder die Seinsmodi von Kunstwerken. Für die Klärung in der Sache ist es erforderlich, das Verhältnis der (textuellen) Strukturierungsoperationen und der rezeptiven Evokationen zu bestimmen, und zwar mit bezug auf eine Theorie von genügender Tiefe und Komplexität, um Prozesse als gattungsgeschichtlich entwickelte und sozial konventionalisierte Operationen und nicht nur als Begriffsmetaphern explizieren zu können.
*270
Hegel, Aesthetik III, 243 ff.
*271
Der Funktionswandel der Kategorien ist daher streng von den strukturalistischen Theorien der sekundär modellbildenden Systeme, wie sie vor allem Lotman entwickelt hat, aber auch von den Abweichungs- oder Devianztheorien der linguistischen Poetik zu unterscheiden.
*272
Vgl. Maturana 1982, 24 ff.
*273
Vor allem Stierle argumentiert für die Notwendigkeit, " einen regionalen Bereich der Kunsterfahrung abzugrenzen " ; vgl. Stierle in: Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982, 348.
*274
Mit dem Konzept des Funktionswandels der Kategorien kann Lukács zugleich das Verhältnis der unterschiedlichen Wirklichkeitsmodellierungen zueinander bestimmen.
Lukács orientiert sich nicht an der HierarchisierUng zwischen den " Formen des Geistes " , die in Hegels ‘Vorlesungen über die Aesthetik‘ eine Rangordnung bilden, die von der Ästhetik über die Religion zur Philosophie aufsteigt und die letztlich das Theorem vom Ende der Kunst notwendig macht, weil das Ästhetische nur Teil eines geschichtsspekulativen Prozesses ist, der nicht das Schöne zum Endpunkt hat, sondern das sich selbst Wissen des Geistes. So gibt es bei Hegel zwar nichts Schöneres als das klassische Ideal, aber etwas Höheres. Historische Entwicklung und klassische Norm konvergieren nicht bei Hegel. Szondi spricht sogar von einer Paradoxie des Systems; vgl. Szondi 1976, 18 f.
In Lukács‘ ÄSTHETIK ist dagegen von einer Nebenordnung von Alltagsdenken, Wissenschaft und Kunst auszugehen, auch wenn die unterschiedlichen mimetischen Operationen sich in einem langfristigen Prozeß erst nacheinander herausgebildet haben; denn sie beziehen sich alle, wie Lukács formuliert, " auf dieselbe Wirklichkeit " (I, 35). Das Ästhetische als eine Form der Wirklichkeitsmodellierung ist daher dem Theoretischen gleichwertig; vgl. Lukács, Probleme der Ästhetik, 725.
*275
Vgl. Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982.
Hier kann nicht im einzelnen auf diese Diskussionen eingegangen werden. Auffällig bleibt, daß Lukács aus diesem Diskurs ausgeschlossen ist.
Lukács verweist bereits auf Aristoteles und seine Unterscheidung der Kategorien in der reinen Erkenntnis und in der Ästhetik (I, 687). Aristoteles trennt dadurch die beiden Gebiete des Wahren und des bloß Wahrscheinlichen. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, II. Buch, 22. Kap.
Grob unterteilt gibt es in der gegenwärtigen Diskussion die Vertreter, die für eine Eliminierung des Begriffs des ästhetischen Scheins plädieren, " weil er für die Interpretationserfahrung nichts beiträgt " , und diejenigen, die an dem Scheinbegriff festhalten, weil er die " leere Ungegenständlichkeit im Gegenständlichen als konstitutives Moment für alles, was sich als Kunst zu erkennen gibt " , beinhaltet.
Auch Adorno beharrt auf dem Begriff des ästhetischen Scheins, worauf Bürger in: Oelmüller (Hrsg.) 2, 1982, 45 hingewiesen hat. Vgl. Adorno, Versuch über Wagner. 1964, 90.
*276
Lukács, Ontologie I, 505.
*277
Lukács, Ontologie I, 505.
*278
Adorno hat z.B. historische Entwicklungen auch als Materialentwicklungen expliziert: Die Zwölftonmusik stellt für ihn den avanciertesten Punkt der musikalischen Materialentwicklung dar. Von daher begründet sich bei Adorno dann auch der Vorrang gegenüber anderen Entwicklungen des musikalischen Materials, wie sie z.B. in Strawinskys Musik zu finden sind.
*279
Denn das homogene Medium ist geeignet, " bestimmte Momente der Wirklichkeit in bezug auf den Menschen und die Entwicklung der Menschengattung vollständiger und tiefschürfender zu erhellen, als es der ganze Mensch in seinem Alltagsdenken zu tun befähigt ist " (I, 661).
*280
Lukács, Heidelberger Philosophie der Kunst von 1912/14.
*281
" Diese elementar gemachte Rückbeziehung der Welt des Menschen auf den Menschen selbst " (II, 296).
*282
Lukács spricht davon, daß das Ansich " in der ästhetischen Widerspiegelung allgegenwärtig " ist (II, 298).
*283
Das ist der Grund für die prinzipielle, d.h. konstitutive Differenz, die selbst zwischen dem hermetischen Kunstwerk und autistischen Lebensäußerungen besteht.
Auch die Hermetik in der Kunst, die der Interpretation leicht als in sich abgeschlossene Subjektivität erscheinen mag, ist keine reine Subjektivität, sondern behält den Bezug zum Ansich der Objektivität.
*284
Dieses strukturelle Substrat, das Konstitutionsbedingung für strukturierte, bewußt komponierte Werkwelten ist, definiert die Evokation in strenger Abgrenzung gegenüber Halluzinationen oder den durch halluzinatorische Drogen erzeugten “Gedanken und Gefühlen“. Das gilt auch dann, wenn die Produktion des Kunstwerks unter solchen Einflüssen steht.
*285
Henrich 1975, 543 ff. Prägnanz erfordert die von Lukács angesprochene Strukturiertheit der Elemente und ihrer Kombinationen; die kompositorischen Regeln folgt; komplex insofern, als der regelhafte Zusammenhang nicht als einfache Abfolge von Sequenzen zu rekonstruieren ist. Henrich geht davon aus, daß eine Rekonstruktion nach Regeln niemals vollständig sein kann.
Piepmeier spricht vom Substratcharakter des Werks, in welchem die ästhetische Erfahrung " vorgeprägt " ist. Vgl. Piepmeier in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 274.
Aber auch die Rezeptionsforschung geht in der Regel davon aus, daß Rezeptionsprozesse durch Werkstrukturen " ausgelöst " oder " gesteuert " werden; vgl. S.J. Schmidt 1980.
*286
Evokative Äußerungen gibt es selbstverständlich auch im Alltagsleben, aber, wie Lukács erläutert, nur als Element einer Gesamtmitteilung, nicht als Konstitutionsbedingung für " Werkwelten " .
*287
Köck 1978, 187 ff.
Kognition ist als ein streng subjektabhängiger kreativer Prozeß des Lebens als solches zu denken (207). Kommunikation über Zeichen ist aber immer sekundär und setzt kognitive Systeme und deren " spezifische kognitive Realitäten " voraus; es handelt sich nicht um Abbildungsprozesse, sondern um Interaktionen. Kommunikation zwischen Lebewesen ist fast immer ein Lernprozeß, d.h. ein Prozeß der Veränderung der Struktur der beteiligten Systeme, provoziert, induziert und gesteuert durch Zeichen (210). Zur Kritik der an Shannons Kommunikationsmodell orientierten Konzepte vgl. Köck, 193 ff. Kommunikation ist im Gegensatz zur direkten Interaktion mit " Welt " ein sekundäres Phänomen und keineswegs eine elementare Überlebensvoraussetzung.
Maturana hält den informationstheoretischen Ansatz für grundsätzlich ungeeignet, wenn Lebewesen als strukturell determinierte Systeme angesehen werden; vgl. Maturana 1983, 62.
*288
Die Anerkennung dieser ästhetiktheoretischen Rezeptionsbedingung hätte Konsequenzen für die Assoziationsanalyse, wie sie heute auch in der literaturwisserschaftlichen Forschung gehandhabt wird; vgl. Wolff 1977.
*289
Bubner, in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 255 ff.
*290
Unter diesen Argumentationsvoraussetzungen ist begründet, daß sich zwischen " Wesen und Erscheinung " eine unmittelbare Beziehung herstellt, genau genommen, wieder herstellt als " neue Unmittelbarkeit " ; eine Einheit, die in der wissenschaftlichen mimetischen Reproduktion, die durch die Differenz von " Wesen und Erscheinung " definiert ist, nicht zustandekommen kann. Vgl. Lukács, Ästhetik II, 299 f.
*291
In diesem Punkt ist Bubner zuzustimmen, wenn er die Grundlagenreflexion der philosophischen Ästhetik gegen die einzelwissenschaftlichen Ansprüche und den jeweiligen methodischen Entwicklungsstand der Einzeldisziplinen verteidigt. Vgl. Bubner in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 280.
*292
Lukács verwendet zur Charakterisierung des individuellen Charakters dieser Werkwelten auch die Begriffsmetapher von der monadischen " Welt " (II, 315).
*293
Allerdings in der Konkretisierung als eine gesellschaftliche Kategorie, die Lukács in Anlehnung an Marx ubernimmt (II, 320).
*294
Vgl. Hegel, Logik I, 147 ff. Auf die Spitze getrieben geht dieses Fürsichseifl als Qualität dann in Quantität über.
*295
Lukács, Ästhetik II, 325. Subjektivität und Objektivität werden zur " organischen Einheit " . Alle ästhetiktheoretischen Begriffe, die Lukács der Begriffstradition entlehnt, sind nicht als Formqualitäten der Kunstphänomenologie zu nehmen, so z.B. " Vollkommenheit " als Zusammenfallen von Innerem-und Äußerem.
*296
Die Analogie zur historisch-systematischen Methode im ersten Kapitel des ‘Kapital‘, auf das Lukács in seiner Einleitung ausdrücklich hinweist, ist nicht zu übersehen:
Auch Marx setzt nicht bei der Phänomenologie der " ungeheuren Warensammlung " an, sondern bei der Ware als " Elementarform " .
Die von Lukács herausgearbeiteten Primitiva sind als solche Elementarformen in der ästhetischen mimetischen Reproduktion zu interpretieren. Die relationalen Primitiva haben deshalb auch nichts mit literaturanalytischen Formbegriffen, wie z.B. " offene und geschlossene Form " zu tun. Sie werden aber auch nicht von Brechts Kritik an der " realistischen Schreibweise " , die sich an dem Muster des bürgerlichen Romans ausrichte, erreicht; vgl. Brecht, Gesammelte Schriften 19, 339.
*297
Intensive Unendlichkeit ist immer Beziehung auf sich selbst. Vgl. Hegel, Logik I, 48: " das Fürsichsein besteht darin, über die Schranke, über sein Anderssein so-hinausgegangen zu sein, daß es als diese Negation die unendliche Rückkehr in sich ist. "
*298
Hegel, Aesthetik I, 164: Das Objekt hat " die Richtung nach Außen in sich zurückgebogen, die Abhängigkeit von Anderem getilgt und für die Betrachtung seine unfreie Endlichkeit zu freier Unendlichkeit verwandelt. "
*299
Daher ist auch für Lukács die theoretische Begründung der " ästhetischen Immanenz " (II, 742; II, 311) oder der Abgeschlossenheit des Kunstwerks gegen die Praxis oder der " monadische " Charakter SO rigoros; was nicht verwechselt werden darf mit der Funktionslosigkeit des Kunstwerks.
*300
Lukács, Ästhetik II, 193 ff.
*301
In sprachanalytischer Reformulierung bedeutet dies, daß keine singulären Terme vorliegen, die aufgrund von raum-zeitlichen Identifizierungen einen direkten Wirklichkeitsbezug herzustellen erlauben,und erklärt, daß nach Lukács keine Überprüfung von Teilmomenten der geschlossenen Immanenz der Werkwelt auf ihre " Wirklichkeitstreue " möglich ist (II, 312).
Lukács selbst weist auf den begrifflichen Zusammenhang hin, den bereits Engels zwischen Realismus und der Kategorie des Typischen hergestellt hat (II, 106).
*302
Lukács verbietet ausdrücklich Detailvergleiche, wie sie im spontanen Realismus des Alltagsdenkens möglich und berechtigt sind; vgl. Lukács, Probleme der Ästhetik, 743; Ästhetik II, 312.
*303
Lukács, Probleme der Ästhetik, 738.
*304
" Der formale Charakter des Fürsichseins bedeutet, daß die ästhetische Existenz der Kunstwerke durch keine bloß inhaltlichen Bestimmungen apriori in positivem oder negativem Sinn gesetzt werden kann, daß diese prinzipiell beliebige Inhalte beliebig geformt in Bestandteile des menschlichen Selbstbewußtseins verwandeln können "
(II, 841).
*305
Das Verhältnis von Produktion und Rezeption kann nicht als " Strukturhomologie " interpretiert werden, wie Renner 1976, 116, vorschlägt. Die Zuordnung des Sinns zu den strukturierten " Werkwelten " durch den Rezipienten erfolgt zwar unter den spezifischen Raum—, Zeit-, Objekt-und Prozellstrukturen der " Werkwelten " , die aber keine homologen Entsprechungen auf seiten des Rezipienten voraussetzen.
*306
Z.B. in globaler Charakterisierung bei Cervenka, Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, 1978 oder in differenzierter Modellkonstruktion in den Arbeiten von Petöfi
*307
Lukács, Ästhetik I, 20.
*308
Zu Engels vgl. Marx/Engels, Werke 20, 444 - 447.
*309
Dieses semiotische System unterscheidet sich von der entwickelten Sprache durch seine " höchst verschiedenen, heterogenen Erscheinungsweisen " . " Während aber die Sprache sich von Anfang an in einer unzweideutig erkennbaren Art selbständig verkörpert, bleiben die Erscheinungsweisen des Signalsystems 1‘ zerstreut, unobjektiviert, miteinander nur durch das erlebende Subjekt verbunden " (II, 73 f.).
*310
Lukács, Ästhetik II, 593 f. Er hebt Goethes und Hegels Kritik an den Versuchen hervor, " aus ästhetischen Prinzipien Maximen des täglichen Lebens zu machen " , insbesondere die Ironisierung der " schönen Seele " .
*311
Am Beispiel der Liebesleidenschaft, der sexuellen Beziehung, die die " absolute Herrschaft des Partikularen " ist (II, 600 f.>, und ihrer mimetischen Reproduktion in den Gestalten von Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Anna Karenina und Wronski und anderen, zeigt sich dieser prinzipielle Unterschied: Die Partikularität des Gegenstandes ist nur im Leben selbst, d.h. für die Beteiligten bedeutsam, nicht aber für die generelle Rezeptivität (II, 604).
*312
Sieht man von der hermeneutischen Rezeptionsästhetik, die keine ausgearbeiteten Rezeptionsmodelle verwendet, einmal ab, so lassen sich kommunikations- und handlungstheoretisch orientierte Modelle von empirischen sprach- und kognitionspsychologischen Modellen unterscheiden. Allerdings darf in keinem Fall übersehen werden, daß es sich um Modellskizzen handelt, da die physiologisch-psychologischen Prozesse auch nicht im entferntesten bislang modellhaft abzubilden sind. Zu den in der empirischen Rezeptionsforschung herangezogenen Modellskizzen vgl. Kindt/ Schmidt 1979.
*313
" Der Rezeptive ist dem Kunstwerk gegenüber nie ein weißes Blatt " (I, 807>.
Metscher hebt nicht nur die " erkenntniskonstitutive Funktion des Rezipienten " hervor, sondern auch den " Standpunkt des Rezipienten " : " Ein Kunstwerk enthält einen Spielraum legitimer Interpretations- und das heißt Rezeptionsmöglichkeiten, die jeweils von einem von bestimmten Interessen geleiteten Standpunkt her realisiert werden " ; Metscher 1982, 170.
*314
Die in der Texttheorie hervorgehobene " Weiterinterpretation " beruht ebenfalls darauf, daß die Textwelt mit der Welt des Rezipienten in Beziehung gesetzt wird. Es handelt sich um eine Relation zwischen der in der verbalen Struktur manifestierten " Welt " und der aktualen Welt. Vgl. Petöfi 1973, 225.
*315
Zur Modellbildung für die Theorie des rezeptiven Sprachverhaltens vgl. Coulmas 1977.
*316
" Die Allmacht der Formen " scheint in dem Rezeptionsakt völlig zu verschwinden, " obwohl ihre Allmacht sich gerade darin geoffenbart hat, daß sie eine solche unendlich vielfältige und doch homogen einheitliche, eine zum völligen Eigenleben objektivierte und doch im Ganzen und in den Teilen auf das aufnehmende Subjekt bezogene ‘Welt‘ entstehen ließen, die als ‘Welt‘, also als Gehalt wirken konnte. " Vgl. Lukács, Ästhetik I, 840.
*317
" Die evokative Macht der Formen, vermittelt durch das homogene Medium " ermöglicht die Universalisierung in der " Realität " der Werkindividualität. Vgl. Lukács, Ästhetik I, 845.
*318
Deshalb spielen in diesen Rezeptionsprozessen auch die nichtverbalen, aber intentionierten und konventionell eingespielten Bedeutungskonstituenten des Mimetisch-Gestischen, die im Signalsystem 1‘ von Lukács zusammengefaßt sind, eine wichtige Rolle. Vgl. Lukács, Ästhetik II, 120.
Zugrunde liegt die Annahme, daß die mimetische Reproduktion " nicht nur die Individualität des Schöpfers verwirklicht und erlebbar macht, sondern uno actu auch das gegebene historische Entwicklungsstadium der Menschheit (und in diesem den Standpunkt einer Klasse, einer Nation etc.) " (I, 661).
*319
" Die leitend-evozierende Macht des homogenen Mediums bricht in das Seelenleben des Rezipienten ein, unterjocht seine gewohnte Art, die Welt zu betrachten, zwingt ihm vor allem eine neue ´Welt´ auf, erfüllt ihn mit neuen oder neugesehenen Inhalten, und gerade dadurch wird er dazu veranlaßt, diese ´Welt´ mit erneuerten, mit verjüngten Sinnesorganen und Denkweisen in sich aufzunehmen " (I, 807).
*320
Für die ästhetische Rezeptivität ist die " Suspension von Aktivität und Zielsetzung zugleich bewußt vorübergehend und absolut " (I, 807).
*321
Lukács, Probleme der Ästhetik, 743, 745.
*322
Werke, die auf proletarischer Klassengrundlage entstanden sind, können auch im Bürgertum wirken und umgekehrt. Soziale Einschränkungen der Wirkungsfunktion hält Lukács explizit für " flach und abwegig " (I, 808).
*323
Über die Entstehung einer disziplinären philosophischen Ästhetik und ihr Verhältnis zu den Kunstwissenschaften vgl. Wolandt 1974.
*324
Lukács weist selbst auf Aristoteles, VIII. Buch, Kap. 5 hin (I, 811).
*325
Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 82. Stück (I, 811).
*326
Dieses Vergleichsmoment innerhalb des Rezeptionsprozesses als Gefühlsprozeß muß beachtet werden, um keine falschen, d.h. zu weitgehenden Folgerungen in Richtung auf eine " Erkenntnisfunktion " des Ästhetischen zu ziehen. Die Rezeptivität ist nicht auf rein kognitive Leistungen einzuengen.
Die anthropologische Forschung hat für die Interpretation sinnlicher Erfahrungen grundsätzlich zwei Skalen herausgearbeitet: Die emotionale, organismisch perzipierte Bedeutung der " Welt " und die bewußt handlungsorientierte " rationale " Skala; vgl. Gehlen 1961.
Die emotionalen Reaktionen, die die verschiedenen Sinnes-und Organkomplexe affizieren, sind als Energiestöße vage und formal wenig differenziert. Lukács spricht daher nicht zu Unrecht von einem allgemeinen " Durchrütteln der Subjektivität " . Wird aber am Erkenntnisbegriff festgehalten, muß die ästhetische Erkenntnis als " Erkenntnismodus sui generis " begründet werden; vgl. Metscher 1972, 930; Metscher 1982, 165 ff.
Damit taucht das Problem, das Lukács auf der Ebene der mimetischen Reproduktion behandelt, nämlich die Begründung von Abgrenzungskriterien, auf der erkenntnistheoretischen Ebene erneut auf, und es ist äußerst fraglich, daß auf dieser Ebene allein Abgrenzungskriterien theoretisch zu begründen sind, ohne in die traditionelle Einteilung unterschiedlicher (niederer, mittlerer und höherer) Seelenvermögen zurückzufallen, was Lukács strikt ablehnt; vgl. Lukács, Ästhetik I, 65 f.
*327
Lukács denkt sich das " Durchrütteln der Subjektivität " derart, daß die " im Leben sich betätigenden Leidenschaften neue Inhalte, eine neue Richtung erhalten " ; er spricht auch von der " Selbstkritik der Subjektivität " (I, 818).
*328
Hierin liegen die theoretisch begründbaren Differenzen zu Brecht, nicht in formalen Techniken. Das Abweichen vom ästhetischen Prinzip, nämlich " der Einbruch rhetorisch-publizistischer Tendenzen in die Kunst " , ist im übrigen eine Erscheinung, die die Entwicklung der Kunst von Anfang an bis " zu unseren Tagen " begleitet (I, 831).
Hier braucht nicht diskutiert zu werden, wie auch Brecht seine Verfremdungstechnik auf emotionale Wirksamkeit, zumindest in seinen späten Werken, abgestellt hat. Lukács erklärt, daß Brechts späte bedeutende Dramen trotz des Verfremdungseffekts " ‘traditionelle‘ Erschütterungen hervorbringen " ; vgl. Ästhetik II, 186.
*329
Marx/Engels, Werke 23, 85 ff. : " ein Teil der Ökonomen wird von dem der Warenwelt anklebenden Fetischismus oder dem gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Arbeitsbestimmungen getäuscht " .
*330
Für den Musikbereich greift Lukács auf Adornos Explikation des Quasi-Raums zurück (I, 719).
*331
Vgl. Bürger in: Oelmüller (Hrsg.) 1, 1981, 201. Daß die Avantgardebewegungen gerade in diesem Punkt gescheitert sind, ist aufschlußreich. Die Neoavantgarde führt wieder einen strikten Werkbegriff ein.
*332
In der ÄSTHETIK nimmt Lukács die Diskussion mit der Avantgarde nochmals auf unter konstitutiven Fragestellungen und behandel.t sie im Zusammenhang mit Strukturanalysen der Allegorie: Allegorie als transzendentes und dadurch abstraktes Zeichensystem (II, 826; II, 771 ff4.
Mit diesen Hinweisen soll nicht vergessen gemacht werden, daß Lukács, besonders in seiner mittleren Phase, auch einfach gegen die Avantgardebewegung polemisiert hat von einem theoretisch noch wenig entwickelten Standpunkt aus.
*333
Lukács beabsichtigt nicht, eine historisch—materialistische Kunstgeschichte in Grundzügen darzustellen. Ihm geht es unter systematisch-historischen Gesichtspunkten um die Skizzierung der " Loslösung der Kunst von der Religion " , d.h. um die Befreiung aus der " kirchlichen, der thematisch-ikonographischen Gebundenheit " (II, 726). Dieser historische Vorgang wird anhand der begriffssystematischen Unterscheidung zwischen dem " Formtypus " Allegorie als einem " weltlosen, abstrakten Zusammenfügen von Partikularität und abstrakter Allgemeinheit " (II, 746) und dem " Formtypus " Symbolik als weltschaffender mimetischer Reproduktion mit sinnlich—sinnfälliger Allgemeinheit beschrieben (II, 731>.
*334
Besonders gern im Anschluß an Brechts theoretische Bemerkungen und Hinweise, mit denen dieser Autor sein literarisches Schaffen begleitet und die keinen Anspruch auf theoretische Konsistenz erheben können, wird die Kunst als " Wirklichkeitsfaktor " oder als " ein wirkendes Moment im dialektischen Prozeß " definiert. Vgl. K.-D. Müller 1972, 65; Richter 1972, 13.
Lukács hat sehr zu Recht darauf hingewiesen, daß Brecht " kein theoretischer Ästhetiker " war (I, 679). Brechts Hinweise geben einerseits Dichten als " gesellschaftliche Praxis " aus, zeigen aber ebenso deutlich die prinzipielle Differenz von Dichten und politischem Handeln; vgl. Arbeitsjournal 1, 126, 134.


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