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Team Pierre Frank
Thema Geschichte der Kommunistischen Internationale (1919 - 1943) - TEIL IV THERMIDOR ( original )
Status 1979 - Band 2 - Auszüge - ISP-VERLAG
Letzte Bearbeitung 04/2005
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1. Umgruppierung in der bolschewistischen Partei
1.1. Sinowjew und Bucharin
1.2. Bildung der Vereinigten Opposition
1.3. Die ´Erklärung der Dreizehn´ im Zentralkomitee
2. Der Generalstreik in Großbritannien
2.1. Gründung des Anglo-russischen Gewerkschaftskomitees
2.2. Der Generalstreik und der Bergarbeiterstreik
3. Das 7. Plenum (22. November bis 13. Dezember 1926)
3.1 Die englische Frage
3.2. Die KI und die Vereinigte Opposition
4. Die zweite chinesische Revolution (1925 - 1927)
4.1. Lenin und die Probleme der chinesischen Revolution vor 1914
4.2. Der Eintritt der chinesischen Kommunistischen Partei in die Kuomintang
4.3. Die Hauptphasen der Revolution
4.4. Die chinesische Politik der KI
4.5. Das 8. Plenum (18. - 3O.Mai 1927)
4.6. Die Gründe für die sowjetische Politik
4.7. Trotzki und die chinesische Revolution
5. Die Spaltung der KPSU
5.1. Die Plattform der Vereinigten Opposition
6.2. Der Repressionsapparat schlägt zu
5.3. Thermidor

1. Umgruppierung in der bolschewistischen Partei

Die unbewußt vollzogene "Wendung ins Unbekannte" des Jahres 1923 näherte sich dem Ende, das Dunkel lichtete sich, die politischen Differenzen begannen, feste Umrisse anzunehmen. Nach dem Auseinanderbrechen der Troika traten im Laufe der Jahre 1926 und 1927 einschneidende Ereignisse ein: eine Umgruppierung innerhalb der KPdSU, ein Generalstreik und ein langer Bergarbeiterstreik in Großbritannien, die zweite chinesische Revolution, ganz zu schweigen von anderen weniger spektakulären Ereignissen. Am Vorabend des 15. Kongresses der KPdSU, zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution, erreichte die Krise mit der Spaltung der Partei ihren Höhepunkt: der Thermidor der russischen Revolution wurde seitens der sowjetischen Bürokratie zu ihren Gunsten vollendet.

Diese Ereignisse entwickelten sich teilweise gleichzeitig, wirkten aufeinander ein oder verbanden sich. Um der Deutlichkeit der Darstellung willen werden wir die Untersuchung auf mehrere Kapitel verteilen. Wir beschäftigen uns zuerst mit der Bildung der Vereinigten Opposition in der KPdSU und dem Beginn des Kampfes gegen die von der Sowjetmacht betriebene rechte Politik. Danach gehen wir zu den Ereignissen in Großbritannien und im Zusammenhang damit, zu der Frage des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees über. Das 7. Plenum, wo diese Fragen - die sowjetische und die englische - auf der Tagesordnung standen, wird Gegenstand eines weiteren Kapitels sein. Danach werden wir der zweiten chinesischen Revolution (1925 - 1927) einen großen Platz einräumen, und dieses Kapitel durch einen Bericht über das 8. Plenum ergänzen, wo sie auf der Tagesordnung stand. Schließlich werden wir die letzte Periode des Kampfes der Opposition behandeln, bevor sie vernichtet wird.

Das Auseinanderbrechen der Troika bildete den Ausgangspunkt einer neuen Etappe der großen Krise der KPdSU, die 1923 begonnen hatte. Weit davon entfernt, beigelegt zu sein, hatten sich die Krisen, in die die verschiedenen kommunistischen Parteien geraten waren, noch verschärft.

In der KPdSU folgte sehr schnell auf den 14. Kongreß der Ausschluß der

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Opposition aus den führenden Positionen, die sie in Leningrad und anderswo bekleideten. Aber die auf diese Weise durch bürokratisches Vorgehen erzielten Siege hatten die politischen und andere durch die Entwicklung der Sowjetgesellschaft aufgeworfenen Fragen nicht geregelt. Sinowjew und Kamenew hatten diese Probleme angesprochen, genau wie es Trotzki im Jahre 1923 getan hatte, aber sie verwandten weniger Präzision und Nachdruck darauf, zu ihrer Lösung beizutragen. Im Rückblick erscheint die politische Begegnung zwischen Trotzki auf der einen, Sinowjew und Kamenew auf der anderen Seite, der Logik ihrer jeweiligen Positionen zu entsprechen. Sie erfolgte indessen nicht ohne Schwierigkeiten. Bei der Analyse der Kongreßdebatten, die Trotzki vorgenommen hatte, billigte er - wir haben es gesehen - der Beschuldigung der Mehrheit, Sinowjew und Kamenew entwickelten sich in seiner Richtung, nur ein "Element" von Wahrheit zu. Der Streit, der ausgebrochen war, verschaffte Trotzki objektiv eine stärkere Position. Man hat behauptet — ohne zwingende Beweise anzuführen —, Stalin hätte durch die Vermittlung Radeks Annäherungsversuche an ihn gemacht; es ist wahrscheinlicher, daß Radek von sich aus Trotzki in diesem Sinne einen Rat erteilt hat, denn er wußte, daß Stalin keine eigene Position hatte, und außerdem aus Feindschaft gegen Sinowjew wegen dessen Haltung auf dem V. Kongreß. Andererseits wollte Trotzki vor allem die Umstände benutzen, um in das Parteileben von neuem ein wenig Demokratie hineinzubringen, eine Vorbedingung für ihn, um die Situation wieder ins rechte Lot bringen zu können; er wandte sich weiterhin an Bucharin, der in der Zentralkomiteesitzung, die auf den 14. Kongreß folgte, Reden geführt hatte, die eine gewisse Unruhe über das Parteiregime zeigten; er forderte ihn brieflich auf, in der Partei für mehr Diskussionsfreiheit einzutreten, und er, Bucharin, solle die Verwendung des Antisemitismus gegen die Oppositionellen seitens der Leute Stalins bekämpfen; dieser Versuch bei Bucharin scheiterte, nicht weil er mit den angewandten Methoden einverstanden war, sondern weil er mehr und mehr nach rechts neigte und jene, die sich wie Sinowjew und Kamenew nach links wandten, fürchtete.

1.1. Sinowjew und Bucharin

Die gleichen Gründe, die für die Annäherung Sinowjews und Kamenews an Trotzki sprachen, mußten Bucharin von Trotzki entfernen. Menschen wie Sinowjew und Bucharin, auch wenn sie sich der Methoden, Manöver und Intrigen Stalins bewußt waren, maßen diesem nur eine organisatorische Bedeutung bei. Er war zweifellos Herr des Apparats; für sie aber konnte langfristig die Bürokratie nur das Instrument einer Klasse sein. Selbst Trotzki, der bürokratische Methoden nicht mit Bürokratie gleichsetzte und wußte, daß die Bürokratie, mit ihren materiellen Interessen, kein zweitrangiger Faktor

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war, glaubte nicht, die Sowjetunion könnte für viele Jahre in die Hände dieser sozialen Schicht fallen. Für Bucharin lag die Gefahr - nachdem die Hoffnung auf die Weltrevolution begraben wurde — in einem Bruch mit der Bauernschaft; zu jener Zeit war er am Ende einer persönlichen Wandlung angelangt, die ihn — ausgehend von der extremen Linken in der Partei, wo er sich in den Jahren 1917 - 1920 befand - schließlich zum rechten Flügel führte. Sinowjew und Kamenew erwarteten ebenso wie Trotzki einen Wiederaufstieg der Revolution; in der Zwischenzeit mußte man das Land industrialisieren und das Los der Arbeiter und armen Bauern bessern, um gegen die Bourgeoisie der NEP und die Kulaken zu kämpfen, hinter denen die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus Gestalt annahm.

Die bolschewistische Partei hatte zahlreiche interne Kämpfe durchgemacht, die nicht, entgegen den später von den Stalinisten verbreiteten Legenden, aus ununterbrochenen Eliminationen konterrevolutionärer Elemente bestanden. Die Neugruppierung innerhalb der Partei des Jahre 1926 wurde zum Ausgangspunkt des letzten großen Fraktionskampfes; danach verschwand die bolschewistische Partei als solche, und hinterließ unter der gleichen Bezeichnung eine Organisation, wo es noch viele Elemente der früheren Partei gab, die aber politisch nichts mehr mit ihr gemein hatte. Nachdem sie die erste siegreiche Revolution geleitet hatte, wird sie von dem neuen von ihr errichteten Staat zerstört werden. Am Verlauf der Geschichte gemessen war sie ein bemerkenswertes Instrument gewesen, das, nachdem es seine Aufgabe erfüllt hatte, angesichts einer neuen Situation zerbrach. Das ist gewiß nicht ein einmaliger Vorgang in der Geschichte. Lenin hatte es geahnt, als die innere Krise begann:
"Den historischen Ausgang ... entscheiden gigantische Massen, die mit dieser kleinen Zahl von Menschen, wenn sie ihnen nicht passen, manchmal nicht allzu höflich umspringen." (Lenin)*1
Später, im Exil in Astrachan, unterstrich Rakowski ebenfalls die internen Gründe dafür*2 . Die entstehende Neugruppierung nahm also eine außerordentliche Bedeutung an, die Menschen, die an der Spitze der verschiedenen Tendenzen und Fraktionen standen, durchliefen eine der entscheidenden Perioden ihres Lebens. Wir sprechen hier nicht von der Person Trotzkis, dem die Geschichte, wir sind dessen sicher, im Ablauf der Jahre einen hervorragenden Platz einräumen wird. Wir sprechen hier auch nicht von Stalin, über den man viel geschrieben hat, ohne allerdings auszusprechen, daß er sicherlich derjenige der Führer der Oktoberrevolution ist, welcher am wenigsten den

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Stalin, der aus ihm geworden ist, begriffen hat. In dieser letzten Neugruppierung innerhalb der bolschewistischen Partei haben zwei Menschen, deren Fähigkeiten und deren Ergebenheit in die Sache des Sozialismus unbestreitbar sind, während dieser verhängnisvollen Krise enorme Schwächen gezeigt, die sie schließlich mit äußerstem Widerwillen erst zu Instrumenten, dann zu Opfern desjenigen gemacht haben, den jeder von ihnen geglaubt hatte, für seine Politik benutzen zu können.

Nimmt man zur Grundlage seiner Beurteilung nur die allerersten Jahre der Revolution, so wäre man paradoxerweise versucht zu glauben, daß sie innerhalb der entstehenden Neugruppierung den umgekehrten Platz einnehmen müßten. Im Oktober 1917 und bei verschiedenen entscheidenden Ereignissen hatte sich Sinowjew auf dem rechten Flügel der Partei befunden. Im Gegensatz dazu, in der gleichen Epoche, stand Bucharin bei gleichermaßen entscheidenden Ereignissen auf dem äußersten linken Flügel. Zu Beginn der Krise, im Jahre 1923, waren sie gemeinsam gegen Trotzki marschiert, obwohl Bucharin, im Gegensatz zu Sinowjew und Stalin, eine echte Freundschaft für ihn empfand. Jedoch seit 1925 nahmen sie fast diametral entgegengesetzte politische Positionen ein. Wie kann man diese Positionen und diese Wandlungen Sinowjews und Bucharins erklären? Bei dem Rang, den sie in der Partei innehatten, muß man zuerst politische Erklärungen im eigentlichen Sinne heranziehen, in zweiter Linie aber auch psychologische Faktoren berücksichtigen, die — bei den unterschiedlichen Zügen eines Charakters — ihn diesem oder jenem Element der Situation eher empfänglich machen.

Sinowjew war vor allem, man könnte sagen ausschließlich, ein Politiker, ja ein Hintertreppenpolitiker. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein den eigentlich politischen Problemen. Seine Begabung als Agitator, die er ebenso sehr bei großen Massendemonstrationen wie bei begrenzten Zusammenkünften leitender Gremien zu nutzen wußte, gab ihm einen Hang zur Demagogie. Dies war ein Charakterzug, der indessen ein Pendant hatte: seine demagogische Seite machte ihn auch für Regungen empfänglich, die die Massen bewegten, in ihren Höhen und Tiefen, bei ihrer Begeisterung und ihrer Unzufriedenheit. Als Führer Leningrads spiegelte er auf seine Art die Empfindungen der Arbeiter dieser Stadt wider, die die Avantgarde des sowjetischen Proletariats, ihres am stärksten internationalistisch gesinnten und dem Sozialismus zutiefst ergebenen Teiles bildeten. Angesichts der Wiedergeburt einer von der NEP begünstigten Bourgoiesie, der durch den Druck der Kulaken hervorgerufenen anwachsenden Schwierigkeiten - die den Arbeitern der Städte nicht unbekannt waren - zeigten diese eine Unzufriedenheit, die, wenn auch sehr schwach, bei der Parteiführung Leningrads ihren Widerhall fand. Sinowjew war nur selten den Umständen gewachsen, wenn ihn diese an den Rand des Abgrunds brachten; er war mehr darauf vorbereitet, die Probleme mit Hilfe organisatorischer Maßnahmen zu lösen. Doch bei dem Grau in Grau der NEP, gegenüber den gefährlichen Kräften, die sie ins Le-

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ben gerufen hatte, war er schließlich unter den Druck der Arbeiter gekommen. Da er sich wegen seiner Vertrautheit mit der Arbeiterbewegung der ganzen Welt an der Spitze der KI befand, war er sich gleichzeitig theoretisch und praktisch der nicht zu überschreitenden "nationalen" Grenzen bewußt; sein Internationalismus machte ihn gegenüber einem "Sozialismus in einem Lande" allergisch. Zum Unterschied von Sinowjew beschäftigte sich Bucharin nicht nur mit Politik, obwohl sie den Wesenskern seines Lebens bildete. Ökonomie, Soziologie, Philosophie, Literatur usw. - er verfolgte alle diese Gebiete, las alles, hielt sich immer auf dem laufenden und zögerte nicht, die verschiedensten Themen zu behandeln. Er hatte eine ungeheuer umfassende Bildung. Aber er war vor allem ein Intellektueller, der an dem Spielen mit Ideen Gefallen fand. Deshalb war er gegenüber den Stimmungen der Massen nicht sehr empfänglich und kam zu leicht zu übermäßigen Verallgemeinerungen und gewagten, ja sogar gefährlichen Schlußfolgerungen. Nicht zufällig hat Lenin in seinem "Testament" diese anscheinend widersprüchliche Stelle über ihn geschrieben:
"Bucharin ist nicht nur ein überaus wertvoller und bedeutender Theoretiker der Partei, er gilt auch mit Recht als Liebling der ganzen Partei, aber seine theoretischen Anschauungen können nur mit sehr großen Bedenken zu den völlig marxistischen gerechnet werden, denn in ihm steckt etwas Scholastisches (er hat die Dialektik nie studiert und, glaube ich, nie vollständig begriffen)." (Lenin)*3
Der überaus wertvolle Theoretiker hat nie die Dialektik studiert, noch sie begriffen, und in ihm steckt etwas Scholastisches! Das ist eine sehr dialektische Beurteilung Lenins von der Persönlichkeit Bucharins. Einige Jahre später erwähnte Trotzki "die Leidenschaft Bucharins für das Spielen mit Verallgemeinerungen", bei denen "er eine völlig unverantwortliche und unerfindliche Willkür zeigt"*4 . Zu Anfang der Revolution neigte Bucharin dazu, den "Kriegskommunismus" zu verallgemeinern - zahlreiche Beispiele dafür findet man in seinem Buch Ökonomik der Transformationsperiode und dem Werk ABC des Kommunismus, das er zusammen mit Preobraschenski schrieb. In der KI unterstützte er auf der Ebene der Aktivitäten die gauchistischen Strömungen, wenn er auch zur Deckung theoretische Kritik an den Positionen Bordigas übte. Er zeigte sich noch ultragauchistisch, als er einer der Vorkämpfer der "proletarischen Literatur" wurde. Der NEP gegenüber zurückhaltend, als Lenin sie empfahl und einführte, ging er dann, auf der Basis ihrer Erfolge, zu einer neuen theoretischen Verallgemeinerung über, in der er die Bauernschaft idealisierte. Er stieß in diesem Punkt mit Preobraschenski zusammen,

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und die gemeinsamen Verfasser des ABC des Kommunismus fochten eine heftige Polemik über die ökonomischen Probleme der Sowjetunion aus. Von dieser Zeit an zeigte sich Bucharin als der Theoretiker und politischer Führer, der alles, absolut alles dem unterordnete, was er zur Aufrechterhaltung der Smytschka für unerläßlich hielt. Er sah die Bauernschaft als eine wenig differenzierte gegebene Größe an, der gegenüber - und auch den Kulaken - man alle Konzessionen machen müßte, um einen Streit zu vermeiden. Er war deshalb der letzte der bolschewistischen Führer - selbstverständlich mit Ausnahme Stalins -, die Bürokratie vom Gesellschaftlichen her zu begreifen; ungewollt aber unleugbar trägt er für den Sieg des Stalinismus eine sehr schwere Verantwortung. Kurz gesagt - er konnte für eine revolutionäre Führung von gewaltigem Nutzen sein, aber ihm fehlten die erforderlichen Eigenschaften, um der erste Führer der Partei zu sein*5 .

Während indessen Sinowjews Ansehen im allgemeinen nicht wiederhergestellt wurde, hat sich Bucharin bei vielen ehemaligen Kommunisten einen gewissen Nimbus erhalten, möglicherweise weil seine rechte Politik im Vergleich zu dem, was Stalin tat, "vernünftig" erschien, auch weil er, zum Unterschied von Sinowjew, der in der Öffentlichkeit Erster innerhalb der Troika gewesen war, nur der Zweite in seinem Gespann mit Stalin zu sein schien, und schließlich, weil er, mit Krestinski, der einzige gewesen ist, der im Verlauf des "Prozesses" dem Staatsanwalt Wyschinski Widerstand leistete.

1.2. Bildung der Vereinigten Opposition

Auf der Sitzung des Zentralkomitees, die unmittelbar auf den 14. Kongreß folgte, hatte Trotzki nur das Wort ergriffen, um sich gegen die administrativen Maßnahmen auszusprechen, die von der Mehrheit gegen die Leningrader

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Opposition ergriffen wurden, ohne sich mit ihnen politisch zu verbünden. Erst auf der Sitzung des Zentralkomitees vom 6. bis 9. April wurden die ersten Schritte unternommen, die zu einer Annäherung führten. Ein Resolutionsentwurf von Rykow machte noch den Versuch, die auf dem Kongreß aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Die Diskussion befaßte sich mit den Beziehungen zwischen Landwirtschaft und Industrie, genau genommen mit dem Tempo der Industrialisierung. In dieser Debatte gewann die Eigengesetzlichkeit der politischen Differenzen die Oberhand über das, was an Willen zu einer Versöhnung seitens der Führung Bucharin-Stalin mit Sinowjew und Kamenew vorhanden sein mochte. Kamenew bestand auf der Notwendigkeit, gegen den Kulaken zu kämpfen. Trotzki sagte ihm, dieser Kampf sei mit dem Problem der Industrialisierung verbunden:
"Unter den Bedingungen eines Mißverhältnisses zwischen Industrie und Landwirtschaft kann eine gute Ernte, das heißt ein potentielles Anwachsen des Überschusses an landwirtschaftlichen Produkten, zu einem Faktor werden, der das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung auf den Sozialismus zu nicht beschleunigt, sondern im Gegenteil die Wirtschaft durcheinander bringt, gespannte Beziehungen zwischen Stadt und Land, und in der Stadt zwischen dem Konsumenten und dem Staat schafft. In der Praxis kann eine gute Ernte, wenn es an Industrieprodukten mangelt, eine Vermehrung der zur illegalen Alkoholdestillation verwandten Getreidemenge und ein vermehrtes Anstehen vor den Läden in den Städten bedeuten. Politisch würde das ein Kampf der Bauernschaft gegen die sozialistische Industrie bedeuten." (nach H.Carr)*6
Wegen dieser Rede beschuldigte man Trotzki, einer guten Ernte feindlich gegenüberzustehen. Im Zentralkomitee wurde der Abänderungsantrag, den er einbrachte - er intervenierte zum ersten Mal seit ungefähr zwei Jahren - abgelehnt, auch von Kamenew. Aber einem Abänderungsantrag, der von Kamenew eingebracht und der ebenfalls abgelehnt wurde, hatte Trotzki zugestimmt. Dieser Meinungsaustausch und diese Abstimmung alarmierten Stalin, der einen Zwischenruf machte: "Besteht da ein Block?"*6

Als Folge dieser Sitzung des Zentralkomitees kam es zu Zusammenkünften, die zur Bildung der Vereinigten Opposition führten. Es konnte sich nicht nur um ein Übereinkommen zwischen diesen drei Menschen handeln: die einen wie die anderen hatten äußerst qualifizierte Anhänger, die ein Wort mitzusprechen hatten. Außerdem war der Kampf gegen den "Trotzkismus" in der Hauptsache von den Anhängern Sinowjews und Kamenews geführt worden. Erklärungen waren zuerst für sie und ganz allgemein für die Parteimitglieder unerläßlich. Man mußte die in der Vergangenheit eingenommene Haltung und die gegenwärtige verständlich machen. In einer relativ großen

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Versammlung erklärte Sinowjew seinen Anhängern, daß um der Bekämpfung Trotzkis willen die Differenzen von 1923 künstlich mit den Differenzen vergangener Zeiten miteinander verbunden wurden, um den "Trotzkismus" zuwege zu bringen; er erklärte außerdem, die Opposition von 1923 habe in den wesentlichen Fragen recht gehabt. Auf dieser Versammlung gab Trotzki eine Erklärung ab, in der er sich von der "permanenten Revolution" "in dem Maße, wie sie sich von den tatsächlichen Positionen Lenins unterschied", distanzierte; diese Erklärung besänftigte Sinowjew und Kamenew, jedoch nicht nur diese, denn viele Oppositionelle von 1923 stimmten dieser Theorie nicht zu. Das politische Übereinkommen, das die Vereinigte Opposition begründete, beruhte im wesentlichen auf der Politik, die auf ökonomischem Gebiet befolgt werden sollte; es erstreckte sich auch auf Fragen, die mit der Tätigkeit der Partei und der KI zusammenhingen. Nach ihrem Bruch mit Stalin, über den sie sich aufs schärfste äußerten, schienen Sinowjew und Kamenew erleichtert.

Aus Gesundheitsgründen war Trotzki gezwungen, inkognito für einige Wochen nach Berlin zu reisen. Er kam Ende Mai nach Moskau zurück, "in a fighting mood" (in kampfbereiter Stimmung), wie E. H. Carr schreibt*7 . Trotzki gab sich indessen nicht wie Sinowjew und Kamenew der Illusion hin, ihre Verbindung bedeute schon den Sieg in der Partei, er war überzeugt, daß ihnen ein schwerer Kampf bevorstünde, dessen Ergebnis keineswegs sicher war. Er war sich gleichfalls dessen bewußt, daß innerhalb der Opposition im Moment ihrer Vereinigung Differenzen bestünden — und daß sie nicht alle in den folgenden Monaten schwinden würden. Im Unterschied zu der Situation jedoch, die er seit 1923 erlebt hatte, meinte Trotzki, die Gruppierungen in der Partei seien deutlich genug, sie entsprächen klaren politischen Trennungslinien und die politische Übereinstimmung ginge weit genug, um den Kampf zu beginnen. Die Übereinkunft fand in der kommenden Periode ihren Niederschlag in mehreren Dokumenten. Trotzki war sich weiterhin der Gefahr bewußt, die der Existenz der KI durch ihre Politik in Großbritannien drohte; er war wahrscheinlich für die Frage der KI empfänglicher als Sinowjew selbst, der weiterhin dort den Vorsitz führte.

1.3. Die ´Erklärung der Dreizehn´ im Zentralkomitee

Das erste der Dokumente der Vereinigten Opposition, die Erklärung der Dreizehn genannt, war eine Erklärung über die Bildung einer Tendenz, die auf dem Juli-Plenum des Zentralkomitees abgegeben wurde. Diese Sitzung dauerte zehn Tage und zeichnete sich durch zahlreiche Streitigkeiten und Zwischenfälle aller Art aus, unter anderem durch den plötzlichen Tod Dserschinskis,

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durch Herzschlag, als er die Tribüne verließ, von wo aus er gerade eine heftige Rede gegen die Opposition gehalten hatte. Die "Erklärung der Dreizehn" war von Bakajew, Lisdin, Laschewitsch, Muralow, Peterson, Solowjew, Jewdokirnow, Pjatakow, Awdeew, Sinowjew, Krupskaja, Trotzki und Kamenew unterzeichnet. Sie richtete sich an die Mitglieder des Zentralkomitees und der Kontrollkommission der Partei*8 , und unterstrich ausdrücklich die bereits von Lenin angeführten Bürokratisierungsgefahren, die in der Anwendung administrativer Maßnahmen durch die Parteiführung liegen:
"Die erste Ursache der sich immer mehr verschärfenden Krise in der Partei liegt im Bürokratismus, der während der Periode nach dem Tode Lenins ungeheuerlich gewachsen ist und fortwährend weiterwächst ... Die Resolution vom 5. Dezember 1923, welche seinerzeit einstimmig angenommen wurde, weist direkt darauf hin, daß der Bürokratismus, indem er die Freiheit der Meinung unterdrückt, die Kritik tötet, unvermeidlich 'gewissenhafte Mitglieder auf den Weg der Absonderung, des Fraktionismus stößt' ... Die Anzahl der Arbeiter in der Staatsindustrie erreicht bei uns jetzt keine zwei Millionen, zusammen mit dem Transportwesen weniger als drei Millionen. An Sowjet-, Gewerkschafts-, Genossenschaftsangestellten und allen übrigen Angestellten zählen wir keineswegs weniger als die gleiche Zahl. Schon diese Gegenüberstellung zeugt von der kolossalen politischen und wirtschaftlichen Rolle der Bürokratie. Es ist vollkommen klar, daß der Staatsapparat seiner Zusammensetzung und seiner Lebenshaltung nach in ungeheurem Maße bürgerlich und kleinbürgerlich ist ..." (Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Bd IV, S.71, 72, 77)
Die "Erklärung der Dreizehn" stellte gleichfalls die Frage der Löhne und betonte die Notwendigkeit, den Lebensstandard der Arbeiter zu verteidigen:
"Das Zurückbleiben des Arbeitslohnes hinter der Erhöhung des Lebensstandards der nichtproletarischen Elemente der Stadt und der Dorfspitze bedeutet unvermeidlicherweise eine Senkung des politischen und kulturellen Selbstgefühls des Proletariats als der herrschenden Klasse ... Die Ablehnung des vollkommen berechtigten und absolut notwendigen Vorschlages auf dem Aprilplenum, den Reallohn zu sichern, war ein ganz offensichtlicher Fehler, der zur tatsächlichen Senkung des Reallohnes führte ... Man muß sofort herangehen an die Vorbereitung einer gewissen Lohnerhöhung im Herbst, angefangen bei den auf diesem Gebiete am meisten zurückgebliebenen Kategorien ...´." (A.a.O., S. 73, 74)
Sie nahm wieder die Frage der Industrialisierung und der Verbindung zum Lande auf:
"Das jetzige Jahr zeigt wiederum mit aller Klarheit, daß die Staatsindustrie zurückbleibt hinter der Entwicklung der Volkswirtschaft als Ganzes ... Nur unter der Bedingung einer hinreichend mächtigen Entwicklung der Industrie kann man sowohl [412] das Wachstum des Lohnes wie auch billige Waren für das Dorf garantieren ... Einige hundert Millionen akkumulierter Rubel, die sich schon jetzt in den Händen der Dorfspitzen konzentrieren, dienen zur wucherischen Versklavung der Dorfarmut. In den Händen von Kaufleuten, Vermittlern, Spekulanten sind bereits mehr als eine Milliarde von Rubeln angehäuft. Es ist notwendig, auf dem Wege eines energischen Steuerdrucks einen bedeutenden Teil dieser Mittel heranzuziehen zur Stärkung der Industrie, zur Befestigung des Systems des landwirtschaftlichen Kredits, zur Unterstützung der unteren Schichten des Dorfes mit Maschinen und Inventar bei Vorzugsbedingungen ... Die Resolution des 14. Parteitages über die Industrialisierung wird in Wirklichkeit immer weiter zurückgeschoben, genauso, wie alle Resolutionen über die Parteidemokratie einfach in nichts verwandelt worden sind ...." (A.a.O., S.75, 76)
Sie enthielt außerdem zwei kurze Kapitel über die internationalen Fragen, unter anderem über die Lage in der KI:
"Die Gerade-Biegung der Klassenlinie der Partei bedeutet auch die Gerade-Biegung ihrer internationalen Linie... Der Sozialismus in unserem Lande wird siegen im unzerreißbaren Zusammenhang mit der Revolution des europäischen Proletariats und im Kampfe des Ostens gegen das imperialistische Joch. Die Frage der Komintern in bezug auf ihre Politik, ihr inneres Regime ist wiederum unzerreißbar verbunden mit der des Regimes unserer Partei, die die leitende Partei der Komintern war und bleibt. Jede Verzerrung in unserer Partei wird unfehlbar auf die Parteien der Internationale übertragen. Umso gebieterischer ist unsere Pflicht, unser Verhalten unter dem internationalen Gesichtspunkt wirklicher Bolschewisten zu prüfen." (A.a.O., S.82)
Nach einer Anprangerung schließlich der fraktionellen Haltung der Führung, besonders hinsichtlich der Opposition von 1923 und der Leningrader Organisation unmittelbar nach dem 14. Kongreß, enthielt die Erklärung einen Appell zur Einheit der Partei:
"Wir wenden uns an das Plenum des ZK mit dem Vorschlag, mit gemeinsamen Kräften in der Partei ein Regime herzustellen, welches ermöglichen wird, alle Streitfragen in voller Übereinstimmung mit allen Traditionen der Partei, mit den Gefühlen und Gedanken der proletarischen Avantgarde zu lösen ..." (A.a.O., S.85)
Diese Erklärung war eine stark zusammengefaßte Kurzfassung der Plattform, die die Opposition für den 15. Parteikongreß im folgenden Jahre verfaßte. In ihr befanden sich eine ganze Reihe von Angaben zur gesellschaftlichen Lage, zu den damaligen Kräfteverhältnissen im Lande - vor allem zur übermäßigen Vergrößerung der Apparate im Verhältnis zum Proletariat, das sich nach dem Bürgerkrieg nur langsam wieder erholte. Die Erklärung enthielt ebenfalls peinliche Einzelheiten über die Privilegien und Mißbräuche der Bürokratie. In dieser Erklärung stellten sich die beiden sich vereinigenden Oppositionen auf die Linie, die von Trotzki und der Opposition von 1923 in den wesentlichen Fragen entwickelt worden war. Die Vereinigte Opposition wurde durch den Beitritt ehemaliger Mitglieder der Arbeiteropposition von 1921 wie

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Schljapnikow, Medvedev*9 gestärkt, weiterhin durch Oppositionelle wie Sapronow, Safarow, W.M. Smirnow, Ossinski, W. Rossiow, Bubnow, die als die "demokratischen Zentralisten" bezeichnet wurden und in den Bürgerkriegsjahren eine Linksopposition, hauptsächlich in Moskau, gebildet hatten. Sie waren damals gegen die Zentralisationsmaßnahmen, bestimmte Formen der Heranziehung bürgerlicher Spezialisten und die Entwicklung des Verwaltungsapparates. Sie hatten sich von der Arbeiteropposition unterschieden, indem sie deren progewerkschaftliche Stellungnahme ablehnten, hatten jedoch die "Erklärung der Sechsundvierzig" unterzeichnet*10 . Man schätzt die Zahl der Parteimitglieder, die sich der Vereinigten Opposition anschlössen, auf mehrere Tausend - Trotzki hat die Zahl achttausend genannt.

Im Zentralkomitee las Trotzki die "Erklärung der Dreizehn" vor und hielt eine Rede, in der er seine Beschuldigung, Sinowjew und Kemenew seien Opportunisten, zurückzog; diese erklärten, Trotzki habe im Jahre 1923 in den wesentlichen politischen Fragen recht gehabt. Die Diskussion war außerordentlich stürmisch. Keiner der Vorschläge der Vereinigten Opposition wurde akzeptiert. Das Zentralkomitee wies unter anderem jeden Gedanken an eine Lohnerhöhung zurück. Sehr heftige Angriffe richteten sich gegen Trotzki wegen seiner Stellung zum anglorussischen Gewerkschaftskomitee. Die Führung hatte offen gestanden nicht die Absicht, den Debatten einen umfassenden politischen Charakter zu geben. Sie warf kurzerhand Organisationsfragen auf, mit der Absicht, die Gegner bei Verstößen gegen die Parteidisziplin zu ertappen. So wurde zum Beispiel eine groteske Beschuldigung gegen Sinowjew vorgebracht, er habe einen Beschluß des Politbüros nicht befolgt, auf einen Brief des Oppositionellen Medvedev zu antworten, ein Beschluß, der... im August 1924 gefaßt worden war und an den niemand mehr dachte. Auch wurden die Oppositionellen beschuldigt, sich getroffen oder Parteimitglieder aufgesucht zu haben, usw. Das Zentralkomitee griff zu organisatorischen Maßregelungen. Sinowjew wurde aus dem Politbüro entfernt und durch Rudsutak ersetzt. Trotzki blieb so der einzige Oppositionelle im Politbüro, mit Kamenew als Kandidat. Laschewitsch wurde seiner Funktion als Kandidat des Zentralkomitees und seines Postens als Vertreter im Kriegskommissariat enthoben.

Politische Interventionen auf der einen, organisatorische Maßregelungen auf der anderen Seite - das war das Bild, das sich von nun an immer häufiger bot. Im August verlor Kamenew seinen Posten als Außen- und Innenhandelskommissar, Guralski seine Funktionen in der KI, Wujowitsch wurde zuerst gerügt und später dann seiner Funktion als Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale enthoben. In einigen Fällen nahmen die Maßregelungen die merkwürdige Form einer Zuteilung von Gesandtenposten an (Rakowski

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nach Paris, Kamenew nach Rom, Antonow-Owssejenko nach Prag, Safarow nach Istanbul usw.); dies war ein Mittel, diese Oppositionellen aus jeder unmittelbaren Aktivität innerhalb der Partei zu entfernen. Für jene, die kein so großes Renomee hatten, war die Repression sehr brutal. Die geringsten Maßregelungen bestanden in den Versetzungen auf abgelegene Posten, was tatsächlichen Verbannungen gleichkam und ein Vorspiel zu den Strafverschickungen bildete, die nach den Ausschlüssen des 15. Kongresses ausgesprochen werden sollten.

Von der Julisitzung des Zentralkomitees an steigerte sich der Kampf nach und nach. Die Opposition versuchte, offenkundige Provokationen zu vermeiden und machte auf organisatorischem Gebiet gelegentliche Rückzieher, ohne jedoch auf ihre politischen Positionen zu verzichten. In diesem Sinne gab sie am 16. Oktober 1926 und am 8. August 1927 Erklärungen ab, in denen sie versicherte, sie nehme die Parteibeschlüsse an, und eine Art Waffenstillstand in der Debatte anbot oder verlangte. Sie distanzierte sich ebenfalls von Oppositionellen anderer Sektionen der KI, wie Maslow und Ruth Fischer, die unter dem Vorwand mangelnder Disziplin aus der KPD ausgeschlossen worden waren. Es ist sowohl von den Oppositionellen der damaligen Zeit, wie später von den Historikern viel über diese Erklärungen diskutiert worden. Man hat gesagt, sie enthielten taktische Fehler, sie hätten die Opposition geschwächt usw. Man kann sich schwer vorstellen, daß bei Tendenz- und Fraktionskämpfen so erfahrene Menschen wie Trotzki und Sinowjew - um nur diese beiden zu nennen - nicht an diese Argumente dachten, daß sie gemeint hätten, durch diese Erklärungen die Kräfteverhältnisse ändern, der Lage einen anderen Verlauf usw. geben zu können. Es ist vor allem schwierig, sich kategorisch gegen diese Schritte auszusprechen, wenn man nicht die Bedingungen, unter denen die Opposition kämpfte, durchlebt hat, wenn man die Ziele, die sie sich setzte, nicht kennt, noch ihre Perspektiven bei diesem Vorgehen. Außerhalb den Zusammenkünften ihrer obersten Führer mußte sich die Opposition praktisch auf unterirdische Tätigkeit beschränken. Wie es auch sei — diese Erklärungen führten zu nichts, wenn dadurch nicht Zeit gewonnen wurde, um für einige Monate oder einige Wochen den thermidorianischen Eingriff ihres Ausschlusses zu verzögern.

Bei diesen Erklärungen hat wahrscheinlich ein Element mitgewirkt: zukünftige oder offenkundige Differenzen bestanden innerhalb der Opposition seit ihrer Gründung. Bezweckten die Erklärungen, ihre Einheit zu erhalten? Wir sind dieser Auffassung. Aber die wesentliche Schwäche der Opposition beruhte vor allem auf der Tatsache, daß die sowjetische Arbeiterklasse ihr nicht die Unterstützung zukommen ließ, die für die von ihr verfolgte Politik unerläßlich war. Die Apathie der arbeitenden Massen nahm zu, ihre Enttäuschung war groß, sie erwarteten nichts vom europäischen Proletariat, die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren hart, die Bürokratie übte immer mehr Druck aus, sie hörten sie sagen: es ist nicht mehr das Jahr 1917. Aus diesem Grunde

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waren die Aussichten für die Oppositionellen versperrt, und dies vor allem tat ihrem Zusammenhalt Abbruch. Taktische Manöver - welcher Art auch immer - konnten bestenfalls oberflächliche und vorübergehende Wirkungen erzielen; sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht imstande, den Lauf der Dinge zu ändern.

Einige Wochen vor dem 7. Plenum der Exekutive der KI trat das Zentralkomitee der KPdSU am 23. Oktober, der 15. Parteikongreß am 26. Oktober zusammen. Neue organisatorische Maßnahmen wurden vom Zentralkomitee am 23. Oktober ergriffen; unmittelbar darauf fand eine stürmische Sitzung des Politbüros statt, auf der Trotzki Stalin wörtlich gesagt hatte, er sei "Totengräber der Revolution". Das Zentralkomitee sprach sich gegen den Vorsitz Sinowjews im Präsidium der KI aus, nachdem sie von Vertretern verschiedener kommunistischer Parteien eine entsprechende Aufforderung erhalten hatte, die offensichtlich diktiert worden war. Unter dem Vorwand von Verstößen gegen die Disziplin rügte das Zentralkomitee die Mitglieder des ZK Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Pjatakow, Jewdokimow, Sokolnikow, Smilga, sowie den Kandidaten des ZK Nikolajewka. Es schloß Trotzki aus dem Politbüro aus und enthob Kamenew seiner Position als Kandidat.

Die Opposition hatte beschlossen, sich während des 15. Parteikongresses nach ihrer Erklärung vom 15. Oktober zu richten, das heißt, das Wort zu den Punkten der Tagesordnung, die ökonomische Fragen behandelten, nicht zu ergreifen, um nicht des Disziplinbruchs bezichtigt zu werden, und erst dann zu intervenieren, wenn Stalin Thesen zu dieser Frage vorbringen würde. Dieser hielt eine Rede von mehreren Stunden, in der er alles, was — wahr oder falsch — in den früheren Debatten gegen Trotzki, Sinowjew, Kamenew und die anderen Oppositionellen vorgebracht werden konnte, wieder aufnahm. Sinowjew und Kamenew wurden ganz deutlich beschuldigt, "vor dem Trotzkismus zu kapitulieren" und Trotzki, ein "Antileninist" zu sein. Stalin verlangte von der Konferenz, einen entschlossenen Kampf gegen jene zu führen, die die Partei gegen die Bauernschaft ausrichten wollten, eine übertriebene Industrialisierung forderten, welche Millionen Arbeiter und Bauern zum Elend verurteilen würde. Im Lichte der Ereignisse, die später eintraten, der Politik, die Stalin führte, grenzt diese Rede ans Unglaubliche. Die Führer der Opposition griffen in diese Debatte ein, so wie sie es sich vorgenommen hatten. Kamenew und Sinowjew wurden kaum angehört, Sinowjew sogar mit rauher Verachtung von der Tribüne gejagt. Trotzki hielt eine Rede, die einen so großen Eindruck machte, daß selbst diese feindliche Zuhörerschaft ihm mehrfach eine Verlängerung seiner Redezeit gewährte. Vor einer so großen Versammlung geschah dies damit zum letzten Mal. In seiner Rede behandelte er interne Probleme und das Verhältnis der Lage in der Sowjetunion zur internationalen Lage, mit den Argumenten, die von der Opposition in ihren Dokumenten entwickelt worden waren.

Der Hauptredner, der auf ihn einging, war Bucharin. Er tat es in einem Ton-

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fall, der nichts mit dem des Theoretikers Bucharin gemein hatte; er griff ihn in grober Weise an und ließ Äußerungen fallen, die nur die niedrigsten Instinkte seiner Zuhörer — unter dem Beifall Stalins — wecken konnten. Auf diesen hielt er eine Lobrede, feierte ihn als den Freund des Kleinbauern und den Verteidiger des Leninismus. Indessen ließen Anfang und Ende seiner Rede merken, daß er fühlte, wo ihn der Schuh drückte:
"Es ist allen bekannt, daß man uns dessen beschuldigte, daß sich unsere Partei auf den Weg des ,Thermidor' begeben habe... Wurde etwas darüber gesagt, daß wir das Proletariat würgen? ... Wurde vom Genossen Trotzki gesagt, daß Vertreter unserer Partei Totengräber der Revolution sind? ... Wurde gesagt oder nicht, daß unsere Partei vom Geleise der proletarischen Revolution abgleite? ... Wurde gesagt oder nicht, daß wir eine bürokratische Entartung oben erleben, wo sich eine Kaste von Leuten herausgebildet habe, die sich von den Massen losgerissen habe ...? Hat Genosse Trotzki von dieser Bühne herab vorgelesen, daß der Parteiapparat und die führenden Kreise der Partei die ganze Partei an der Kehle gepackt haben? ... Prophezeien Sie, daß wir bis auf die Wurzel verfaulen, oder stimmen Sie mit uns darin überein, daß wir uns auf dem Vormarsche befinden? So steht die Frage, das ist die Grundfrage, und auf diese Frage antworten wir: Wir marschieren vorwärts, wir werden vorwärts marschieren und siegen, trotz der Prophezeiungen über den Thermidor und entgegen diesen Prophezeiungen ..." (A.a.O., S.355, 356, 382)
Die Frage war richtig gestellt, und Bucharin konnte die sich entwickelnde Entartung noch so sehr leugnen - die Zukunft wird diese "Prophezeiungen" bestätigen. Die Mehrheit war in Wirklichkeit in Schrecken gesetzt durch das Bild, das ihr der Spiegel zeigte, den die Opposition ihr vorhielt. Zum Schluß billigte die 15. Konferenz die Zentralkomiteebeschlüsse, die die Opposition verurteilten. Die Einschüchterungs- und Repressionsmethoden der Führung hatten ihr einiges eingebracht, was sie die Konferenz wissen ließ. Die früheren Anhänger der Arbeiteropposition Schljapnikows und Medvedevs gestanden ihre "Irrwege" ein, ließen die Opposition im Stich und verurteilten sie; politisch standen sie tatsächlich dem Gewerkschaftsapparat näher als jede andere Parteiströmung. Weiterhin teilte Stalin der Konferenz mit, daß auch Krupskaja die Opposition verlassen habe. Diese persönlichen Fälle waren Vorzeichen von dem, was einige Jahre später größeren Umfang annahm, nämlich die Kapitulationen vor Stalin seitens kämpferischer Genossen, die — erschöpft von langen Jahren im Dienste der Revolution — sich machtlos fühlten, durch eine Situation gebrochen waren, die sie nicht begriffen und in der sie keine Zukunftsaussichten hatten. Für sie war die Revolution und die Partei in eine Sackgasse geraten, sie wußten keinen Rat und besaßen nicht die Kraft, auszubrechen.

Diese Konferenz war die letzte, wo es, trotz der vielen Zwischenfälle, noch eine gewisse Diskussion gab. Die Führung gab auf den Sitzungen des Zentralkomitees den Ton an, den Trotzki folgendermaßen beschrieb:

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"Als ich mich auf einer der Sitzungen des Zentralkomitees erhob, um eine Erklärung der Linksopposition zu verlesen, wurde ich ständig durch Schreiben, Pfeifen, Drohungen und Beleidigungen unterbrochen ... Im Jahre 1927 wurden die offiziellen Sitzungen des Zentralkomitees zu widerlichen Schaustellungen. Keine Frage wurde um ihrer selbst diskutiert ... Die Angriffslinie gegen die Opposition wurde vorher festgelegt, die Reden wurden besprochen und die Rollen verteilt ... Die unverschämtesten Mitglieder des Zentralkomitees, die erst kürzlich ausschließlich als Dank für die Schamlosigkeit, die sie der Opposition gegenüber bewiesen hatten, ins Zentralkomitee aufgenommen worden waren, unterbrachen andauernd die Reden von Veteranen der Revolution mit stupiden Wiederholungen sinnloser Anschuldigungen und mit Zwischenrufen von unerhörtester Rohheit und Vulgarität. Der Regisseur war Stalin ..." (Trotzki)*11
Was sich im Zentralkomitee zutrug, wiederholte sich, noch rücksichtsloser wenn möglich, in den Versammlungen an der Parteibasis, in den Meetings, wo die Oppositionellen versuchten, das Wort zu ergreifen; sie wurden daran durch Banden von Rowdies gehindert, die für diesen Zweck eingesetzt wurden.


2. Der Generalstreik in Großbritannien

Zwischen 1919 und 1923 konzentrierte die KI ihre Tätigkeit auf Deutschland, die große Industriemacht, die sich unterfangen hatte, die Weltherrschaft zu erobern, und die, besiegt, der Schauplatz gewaltiger revolutionärer Kämpfe war. Nach 1923 spielte Deutschland einige Jahre lang keine so zentrale Rolle; dieses Land nahm den ersten Platz erst wieder ein, als die große Krise von 1929 hereinbrach, die dort den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkte. In der Zwischenzeit fanden in Großbritannien große soziale Kämpfe statt. Das 19. Jahrhundert galt als jenes, wo "Britain rules the waves", und die Industrieprodukte der Welt waren "made in England". Vom letzten Drittel des Jahrhunderts an machten ihm Deutschland und die Vereinigten Staaten eine schnell anwachsende Konkurrenz. Die eigentliche Ursache für den Krieg 1914 - 1918 war der Konflikt zwischen Großbritannien und Deutschland, die sich diese Hegemonie streitig machten. Die Niederlage Deutschlands stellte den bisherigen Zustand nicht wieder her. Der niedergehende britische Imperialismus hatte für den Imperialismus der Vereinigten Staaten die Kastanien aus dem Feuer geholt. Die Änderung der Kräfteverhältnisse zeigte sich vor

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allem im Fernen Osten, wo die Vereinigten Staaten die Politik der "Offenen Tür" vertraten, um dort mit ihrem Kapital und ihren Waren einzudringen. Auf der Washingtoner Konferenz hatte Großbritannien bestimmte Größenverhältnisse zwischen den Seestreitkräften akzeptieren müssen: damit wurde die von ihm selbstherrlich im 19. Jahrhundert aufgestellte Regel durchbrochen, wonach seine Seemacht der Summe der beiden nächstgrößeren gleich zu sein habe. Aber das Britische Reich war noch intakt: seine herrschende Klasse und seine führenden Kreise waren sich ihres Niedergangs nicht bewußt; Beweis dafür ist im Jahre 1925 die Rückkehr des Pfund Sterlings zur Goldwährung durch Churchill, den damaligen Schatzkanzler — ein für sein Land besonders verhängnisvolles Unternehmen. Und für die Mittelklassen galt das gleiche.

Der britische Kapitalismus machte sich Sorgen wegen der Wirtschaftskonkurrenz, mit der er sich jeden Tag stärker auseinandersetzen mußte, und wegen der sehr langsamen aber ständigen Politisierung der Arbeiterklasse. Bedeutende Bewegungen bei den Arbeitern während des Krieges und unmittelbar danach hatten diese Politisierung beschleunigt und ihr einen Massencharakter gegeben, der zu einer Stärkung der Gewerkschaften und der Labour Party führte. Diese Partei war 1924 zur zweitgrößten des Landes geworden, wobei sie die Liberale Partei überflügelte, die - nach einer Glanzperiode unter der Führung von Asquith und Lloyd George — in den Hintergrund getreten war und niemals wieder seitdem den Verlust aufgeholt hatte. Die erste Labour-Regierung, unter MacDonald, war nur kurze Zeit - zehn Monate - an der Macht. Der britische Kapitalismus meinte noch, diese Regierung sei bloß ein folgenloser Zwischenfall gewesen.

2.1. Gründung des Anglo-russischen Gewerkschaftskomitees

Die Wahlniederlage der Labour Party Ende Oktober 1924 hatte als erstes zur Folge, daß die britischen Arbeiter ihr Hauptaugenmerk auf die Ebene ökonomischer Forderungen richteten. Die Bergarbeiter standen an der Spitze der Bewegung. Das Gedeihen des britischen Kapitalismus hatte auf Kohle und Eisen beruht, die im Lande im Überfluß vorhanden waren. Die Bergarbeiter waren hinsichtlich ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen eine stark benachteiligte Schicht der Arbeiterklasse. Ungefähr einundeinhalb Millionen Arbeitslosen fehlte es überdies am Nötigsten; sie übten auf die Löhne einen Druck zugunsten der Unternehmer aus. Ein erster Bergarbeiterstreik im Jahre 1920 hatte nur ein mittelmäßiges Ergebnis gebracht, und im folgenden Jahre waren sie infolge der Abtrünnigkeit der Gewerkschaftsführer der Eisenbahner und Transportarbeiter besiegt worden (der Schwarze Freitag, 15. April 1921). Die Anklagen der Bergarbeiter richteten sich vor allem gegen die Überalterung

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der Gruben und die entsprechende Form ihres Besitzes. Die Bergwerke hatten den Nachteil, stets zu den Erstgeborenen in der Wirtschaft zu rechnen, und gehörten deshalb, wie es sich aus einer verflossenen Epoche ergab, einer großen Zahl von Besitzern. Die mittleren und kleineren Besitzer hatten keine Modernisierung ihrer Gruben vorgenommen, da sie dazu nicht die nötigen Finanzmittel hatten. Aber in diesem, der Vergangenheit gegenüber sehr pietätvollen Lande, waren sie innerhalb des britischen Unternehmertums und im Staate noch sehr einflußreich, und zeigten sich sozial und politisch besonders rückschrittlich. Durch die Erfahrung von 1921 belehrt wollten die Bergarbeiter, welche die Nationalisierung der Gruben forderten, nur mit dem Kampf beginnen, wenn sie sicher waren, daß sie von der gesamten Arbeiterklasse unterstützt würden. Im Jahre 1925 hatte die Hilfestellung des Trade Union Congress (TUC) - des britischen Gewerkschaftsbundes - für die Bergarbeiter gegen einen Abbau ihrer Löhne die konservative Regierung gezwungen, eine Subvention zu gewähren, welche diese Löhne bis zum l. Mai 1926 garantierte; sie machte auch den Vermittlungsvorschlag, die Bergarbeiter an einer Untersuchungskommission über die Lage der Montanindustrie teilnehmen zu lassen. Der "Rote Freitag" (31. Juli 1925) schien den "Schwarzen Freitag" ausgelöscht zu haben. Aber die Regierung hatte nur einen Waffenstillstand geschlossen, um sich besser auf eine Kraftprobe vorzubereiten.

Der Sturz der Arbeiterregierung blieb auch in der Gewerkschaftsbewegung nicht ohne Folgen, wegen der Unzufriedenheit der Arbeiter und wegen der Perspektive einer Kraftprobe zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Da die britische Kommunistische Partei einer sektiererischen Atmosphäre entstammte, die lange Zeit ein Charakteristikum der linksradikalen Strömungen in diesem Lande gewesen ist, war sie zahlenmäßig schwach geblieben, besaß jedoch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung Einfluß und Sympathien; zahlreiche Parteimitglieder befanden sich in starken Gewerkschaftspositionen, nicht wegen ihrer Parteizugehörigkeit, sondern wegen ihrer kämpferischen Qualitäten. Diese Situation besteht heute noch. In dieser Periode gelang es der britischen Partei, die Formierung der Minority Movement (Minderheitsbewegung) anzuregen, die sich zur Aufgabe machte, "keine revolutionären, unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren, noch die revolutionären Elemente von den bestehenden der TUC angeschlossenen Verbänden zu trennen ..., sondern die revolutionäre Minderheit in jeder Industrie in eine revolutionäre Mehrheit zu verwandeln"*12 . In der Praxis ging die Minority Movement wie eine Gruppe, die auf die Gewerkschaftsbewegung Druck ausübt, vor. Die folgenden Ziffern geben einen Überblick über den Umfang dieser Bewegung. Die Gründungskonferenz, im August 1924, brachte 270 Delegierte, die 200.000 Arbeiter vertraten, zusammen; die Bergarbeiter, und danach die Metallarbeiter,

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bildeten die Hauptbastion der Bewegung. Die zweite Konferenz, im August 1925, versammelte 683 Delegierte, die 750.000 Arbeiter repräsentierten. Eine Sonderkonferenz, die so genannte Aktionskonferenz, kurz vor dem Streik im März 1926, vereinte 883 Delegierte aus 957.000 Arbeitern; 52 lokale Gewerkschaften waren offiziell vertreten*13 . Der Vorsitzende der Minority Movement, Tom Mann, war ein alter aktiver Gewerkschafter, der sich eines internationalen Ansehens erfreute, da er einer der Führer des berühmten Hafenarbeiterstreiks von 1889 gewesen war, und die Metallarbeitergewerkschaft im Jahre 1920 geführt hatte. Der Sekretär der Bewegung war Harry Pollitt, der als Sekretär der Londoner Kupferschmiede seit 1919 und als Führer der Bewegung "Hände weg von Rußland" im gleichen Jahre bekannt geworden war. Alle beide waren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Minority Movement stachelte die Gewerkschaften zu einer kämpferischen Politik an und trat ebenso energisch für die internationale Gewerkschaftseinheit ein.

Seit 1924 hatten sich die sowjetischen Gewerkschaften für die internationale Gewerkschaftseinheit vom IGB und der RGI ausgesprochen und sich zu diesem Zweck an die britischen Gewerkschaften gewandt. Das Mitglied des Politbüros Tomski nahm als Sekretär der sowjetischen Gewerkschaften am Kongreß der TUC im Jahre 1924 teil und forderte sie auf, eine Delegation in die Sowjetunion zu entsenden. Die Einladung wurde angenommen, und in Moskau sprachen sich die Delegationen der britischen und sowjetischen Gewerkschaftszentralen für den internationalen Gewerkschaftszusammenschluß aus und faßten die Schaffung eines gemeinsamen Komitees ins Auge, um auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Dieser Vorschlag wurde im September 1925 auf dem folgenden TUC-Kongreß in Scarborough in Kraft gesetzt, wo Tomski, der wieder anwesend war, beigeisterten Beifall erhielt. Man befand sich mitten im Aufstieg der Arbeiterklasse. Der Kongreß von Scarborough war links orientiert, es konnte der Kommunistischen Partei und der Minority Movement so erscheinen, als würden sie große Fortschritte machen. Immerhin hatte diese Atmosphäre des Kongresses von Scarborough nicht verhindert, daß der hier gewählte Generalrat durch ein vielleicht schwaches, aber unbestreitbar wirkliches Abgleiten nach rechts gekennzeichnet war*14 . In diesem Moment jedoch blieb diese Tatsache unbemerkt.

Das Anglo-russische Gewerkschaftskomitee schien ein ausschlaggebendes Element der internationalen politischen Lage zu sein, denn es setzte sich aus der stärksten nationalen Zentrale des IGB und der stärksten nationalen Zentrale der RGI zusammen. Die Angelegenheit war indessen nicht so einfach. Zuerst einmal waren die britischen Gewerkschaftsführer nicht alle nach links

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orientiert. Manche, deren reaktionäre Positionen kein Geheimnis waren (Thomas, Pugh usw.), warteten nur auf die erste günstige Gelegenheit, um der Existenz dieses Komitees ein Ende zu bereiten. Andere schwammen mit dem Strom und erlahmten, sobald er sie nicht mehr vorwärtstreiben würde. Selbst die "Linkesten" waren zuallererst Gewerkschaftsführer und faßten kaum eine andere als eine Wahlaktivität in Richtung auf eine Regierungsübernahme ins Auge. Diese Lage sprach an sich nicht gegen die Schaffung dieses Komitees. Jedoch der sowjetischen Führung Stalin-Bucharin sollte dieses Komitee, das ausdrücklich geschaffen wurde, um zur Wiederherstellung der Gewerkschaftseinheit beizutragen, in Wirklichkeit dazu dienen, andere Ziele zu erreichen: es sollte das Kernstück zur Ausübung eines Druckes auf die britische Regierung sein, genauer gesagt auf seine Außenpolitik, um die Kriegsgefahr zu verringern oder gar abzuwenden. Die britischen Gewerkschaftsführer waren Reformisten, die sich im wesentlichen mit wirtschaftlichen Fragen, welche die Lebensbedingungen der Arbeiter angingen, beschäftigten. Falls sie allgemeinere Ansichten hatten, so bestanden sie darin, diese Bedingungen vermittels einer Steigerung der ökonomischen Beziehungen ihres Landes zu der Sowjetunion zu verbessern. Die sowjetischen Führer machten sich über diese Reformisten Illusionen. Sie vergaßen völlig, daß im Falle eines Krieges sich diese Gewerkschaftsführer an der Seite ihrer Bourgeoisie und ihrer Regierung befinden würden; sie vergaßen gleichfalls, daß der Druck auf eine bürgerliche Regierung sie manchmal bei zweitrangigen Fragen zum Zurückweichen veranlassen kann, nicht jedoch dann, wenn sie in einen Krieg um lebenswichtige Fragen verwickelt ist. Die sowjetische Politik war an die Konzeption des "Sozialismus in einem Lande" gebunden; die Verteidigung der Sowjetunion hing nicht mehr von revolutionären Siegen in anderen Ländern ab, sondern vom Druck auf bürgerliche Regierungen mit geeigneten Mitteln, die den Aufbau des Sozialismus im Frieden erlaubten. Die erste Erfahrung auf diesem Gebiet wurde mit einer Gewerkschaftszentrale unter dem Mantel eines gewerkschaftlichen Ziels gemacht; andere Erfahrungen werden später mit Persönlichkeiten und unter verschiedenen Vorwänden gemacht werden.

In der Amsterdamer Internationale hätte die Mehrheit der leitenden Gewerkschafter den Beitritt der sowjetischen Gewerkschaften gutgeheißen, hatte jedoch nicht im Sinne, sich mit der RGI zu vereinigen oder Zusammenschlüsse auf nationaler Ebene zwischen Gewerkschaften, die den verschiedenen Internationalen angehörten, vorzunehmen. Wenn sie auch die sowjetischen Gewerkschaften nicht ignorieren konnten (genau wie ihre Regierungen den sowjetischen Staat anerkannten), so wollten sie jedoch anderswo einzig und allein die Kapitulation der Revolutionäre. Die TUC verteidigte nur schwach den internationalen Zusammenschluß innerhalb der Amsterdamer Internationale. Die Führer der sowjetischen Gewerkschaften waren, ihrer innersten Überzeugung nach und der Logik ihrer rechten Linie entsprechend, für die Auflösung

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der RGI; diese Gewerkschaftsführer haben sich fast jedes Mal in der bolschewistischen Partei auf die rechte Seite gestellt, wenn es zu politischen Differenzen kam: dies war auch wieder der Fall bei der Neugruppierung, von der wir gesprochen haben. Im Politbüro war Tomski einer der sichersten Stützen Bucharins, und sollte es selbst bei dem Bruch zwischen diesem und Stalin bleiben. Während der Kampagne für die internationale Gewerkschaftseinheit stießen sie jedes mal mit dem RGI-Sekretär Losowski und zahlreichen aktiven Gewerkschaftern, die ausländischen kommunistischen Parteien angehörten, zusammen. Die rechte Politik bei der russischen Frage und der chinesischen Revolution beschäftigte sie nicht allzu viel, dagegen waren sie außerordentlich empfindlich gegen eine Politik, die sie in Hinblick auf die reformistische Gewerkschaftsbürokratie ihres Landes zu entwaffnen schien. Unter ihnen befanden sich nicht wenige ehemalige revolutionäre Syndikalisten.

Die Kampagne für die internationale Gewerkschaftseinheit wäre unter der Bedingung gerechtfertigt gewesen, wenn man sie allein als eine Operation ins Auge gefaßt und durchgeführt hätte, die dazu bestimmt war, die Kommunisten in den Gewerkschaften zu stärken, und nicht als eine Operation im Dienste der Kreml-Diplomatie. Die gesamte britische Arbeiterbewegung und das Anglo-russische Gewerkschaftskomitee sollten bald einer weit schwierigeren und entscheidenderen Prüfung als dem Kampf um die Gewerkschaftseinheit unterworfen werden.

2.2. Der Generalstreik und der Bergarbeiterstreik

Die angeblich "neutrale" Kommission, welche die Lage der britischen Bergwerke, nach Anhörung der Vertreter der Bergarbeiter und der Unternehmer, untersucht hatte, verfaßte einen hinsichtlich der Reorganisation dieses zurückgebliebenen Industriezweigs völlig unzureichenden Bericht, sprach sich aber entschieden gegen die Beibehaltung der Regierungssubvention für die Bergarbeiterlöhne aus. Sie schlug auch eine Reihe von Maßnahmen (Familienzulagen, Jahresurlaub ...) vor, die in Anwendung kommen sollten, "wenn es der Industrie wieder gut gehen sollte". Der Bericht war für die Bergarbeiter und die gesamte Arbeiterklasse unannehmbar.

Die von Baldwin geführte Tory-Regierung hatte am 31. Juli akzeptiert, die Bergarbeiterlöhne bis Ende April 1926 zu subventionieren. Unmittelbar jedoch nach diesem Beschluß begann sie mit zahlreichen Vorbereitungen für eine Kraftprobe mit den Arbeitern. Sie zog im geheimen einen Verwaltungsapparat auf, der darauf eingerichtet war, einem eventuellen Generalstreik die Stirne zu bieten. Faschistoide Gruppen und andere Organisationen riefen öffentlich die Untertanen Ihrer Majestät dazu auf, sich Formationen anzuschließen, welche die Arbeiter, die in lebenswichtigen Industriezweigen streiken würden, ersetzen sollten. Die Unternehmer arbeiteten ihre Taktik aus. Im

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Gegensatz dazu wurde seitens der Arbeiterbewegung nichts getan. Erst am 27. April, drei Tage bevor die Regierungssubvention für die Bergarbeiterlöhne gestoppt werden sollte, und als die Grubenbesitzer bereits in den Schächten die Ankündigung der Aussperrung angeschlagen hatten, prüfte der Generalrat der TUC zum ersten Mal, was zu tun war*15 . Unterdessen war es zwischen verschiedenen Gewerkschaftsführern, vor allem zwischen dem Bergarbeiterführer Arthur Cook und dem Führer der Eisenbahner J. H. Thomas zu Streitigkeiten gekommen. Thomas, Kolonialminister in der ersten Labour-Regierung, hatte sich während des Krieges und danach innerhalb der Arbeiterbewegung auf das Provozierendste und Skandalöseste aufgeführt. Er war immer bereit, der Bourgeoisie einen Dienst zu erweisen, indem er selbst den eingeschüchtertsten linken Elementen Schläge versetzte und einen rasenden Antikommunismus bezeigte. Während des Generalstreiks nahm er an Banketten mit Großgrundbesitzern und Industriellen teil, um mit ihnen nach dem besten Mittel zu forschen, um ihn zu brechen. Trotzdem hielt er sich noch jahrelang in den höchsten Kreisen der Gewerkschaftsbewegung. Andererseits waren Gewerkschaftsführer und Führer der Labour Party (so Mac Donald u.a.) übereingekommen, zu erklären, die Labour Party und ihre parlamentarische Vertretung würden sich in den Generalstreik nicht einmischen, da dieser, ihrer Meinung nach, sich auf die Unterstützung der Bergarbeiterforderungen beschränken müsse und nichts mit Politik zu tun habe! Die mächtige Zentralorganisation der Genossenschaftsbewegung, die mit der Labour Party verbunden war, lehnte es ab, den Streikenden Kredite zu gewähren.

Am Generalstreik, der am Dienstag, den 4. Mai, ausgerufen wurde, beteiligten sich die Arbeiter sofort in großem Umfang. Von Anfang an traten Bergarbeiter, Eisenbahner, Transportarbeiter, die Londoner Metro-Arbeiter, Bauarbeiter, Hafenarbeiter, Drucker, Arbeiter der Stahl- und Chemieindustrie usw. in den Streik. In mehreren Städten wurden nach heftigen Zusammenstößen mit der Polizei Verteidigungsgruppen gebildet. Anstatt den Kampf aufzunehmen und zu koordinieren, versuchte die TUC-Führung, ihn aufzuspalten, indem sie beschloß, in bürokratisch festgelegten Streikwellen vorzugehen. Sie mißtraute auch den lokalen Gewerkschaften, die in Verbindung mit anderen Arbeiterorganisationen an Ort und Stelle für eine im allgemeinen energische Leitung sorgten, und gab ihnen Anweisung, sich zu mäßigen. Sie veröffentlichte mit großem Widerstreben The British Worker, das mehr ein Bulletin mit ausgewählten Informationen als ein Kampforgan war, und bestand in seinen Spalten darauf, daß der Streik nur um wirtschaftliche Forderungen ging und daß die Arbeiter vor den Kommunisten gewarnt werden müßten. Andererseits wurden seitens der von Churchill herausgegebenen

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British Gazette und im BBC die Informationen gegen die Streikenden umgefälscht.

Nach Ablauf einer Woche zeigte der Streik nicht das geringste Anzeichen von Schwäche. Am 11. Mai waren von ungefähr 40.000 Lokomotivführern nur 742 zur Arbeit erschienen; weniger als 1% der Beschäftigten der Eisenbahnen befand sich nicht im Streik. Am folgenden Tage jedoch kapitulierte der Generalrat der TUC und gab die Anweisung, die Arbeit wieder aufzunehmen. Während die Arbeiter Beweise an Mut und bewundernswerter Hingabe ablegten, mit der Polizei zusammenstießen, gerichtlich verfolgt und verurteilt wurden, während die Regierung alle Mittel einsetzte, um den Streik zu brechen, die reaktionären Organisationen den ganzen Tross der Klein- und Großbourgeoisie zusammentrommelte, um die verschiedensten Aufgaben zu erfüllen, wurden die Gewerkschaftsführer, die Linken eingeschlossen, von den Ereignissen offensichtlich überrumpelt. Der einzige unter ihnen, der dazu neigte, Initiativen zu ergreifen, um der Bewegung eine gewisse Koordination zu geben, war Ernest Bevin; das war ein Erzreformist, der dies nicht tat, um den Streik zu entwickeln und ihn triumphieren zu lassen, sondern um einen geordneten Rückzug zu sichern und einen Zusammenbruch und völligen Bankrott zu vermeiden. Vom ersten Tag des Streiks an suchte die TUC-Führung, ihn zu beenden; sie rief flehentlich und stürmisch nach Verhandlungen, während die Regierung verlangte, zuvor müsse erst der Streikaufruf zurückgenommen werden. Während dieser Woche spielte sich eine Komödie ab. Die TUC-Führung faßte ihren Beschluß, nachdem sie eine Erklärung vagen Inhalts eines ehemaligen Ministers vernommen hatte, der weder eine offizielle Funktion noch einen offiziellen Regierungsauftrag hatte, sondern einfach die Aufgabe, die ihm der Premierminister hinter den Kulissen anvertraut hatte, dieser Gewerkschaftsführung etwas Hoffnung auf Verhandlungen vorzugaukeln, einer Führung, die im internen Bereich unter dem Druck von Figuren wie Thomas stand. Sie nahm das Phantom von Verhandlungen für die Wirklichkeit.

Nachdem der Generalstreik einmal zugrunde gerichtet war, machte sich die Regierung daran, ihren Sieg auszunutzen. Vom Monat Juli an wurde das Gesetz aufgehoben, das den Acht-Stunden-Tag festgelegt hatte. Sie versetzte der Labour Party einen Schlag, deren Führung indessen zum Streik reichlich Abstand gehalten hatte: bis dahin ließen die Gewerkschaften, die auf ihren Kongressen für den Beitritt zur Labour Party stimmten, jedes ihrer Mitglieder einen zusätzlichen Beitrag zahlen, eine political levy (einen politischen Zuschuß) für die Partei, es sei denn, der gewerkschaftlich Organisierte erklärte persönlich, er weigere sich, Mitglied der Labour Party zu sein. Von jetzt ab konnten die Gewerkschaften nicht mehr gesetzlich in dieser Weise vorgehen; der politische Beitrag mußte persönlich von jedem Neuaufgenommenen und jedem gewerkschaftlich Organisierten beschlossen werden. Der Unterschied zwischen der persönlichen Weigerung, einen Kollektivbeschluß der Gewerkschaft anzuerkennen, und der persönlichen Anerkennung, einen politischen

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Beitrag für die Labour Party zu zahlen, war groß, besonders nach einer Niederlage. Fast zwanzig Jahre vergingen, bevor dieses Gesetz aufgehoben wurde. Die Unternehmer in allen Industrien nutzten die Schlappe des Generalstreiks durch die Entlassung von Tausenden aus.

Die Anweisung, die Arbeit wieder aufzunehmen, war von der TUC-Führung in betrügerischer Weise so gegeben worden, als wenn die Regierung Verhandlungen akzeptiert hätte, und bei den Arbeitern entstand daraus eine Verwirrung, die sich in Zorn verwandelte, als sie die Wahrheit erfuhren: doch da war es bereits zu spät, das Unheil war geschehen. Diese Anweisung zur Wiederaufnahme war auch gegen den Willen der Föderation der Bergarbeiter gegeben worden, die für ihre Auftraggeber Garantien, wenn nicht für die Löhne, so zumindest gegen die Entlassungen erlangen wollte. Die TUC-Führung war gegen dieses Verlangen taub gewesen. Vom 13. Mai an führten die Bergarbeiter allein den Streik fort, ein heroischer Kampf, der sieben Monate andauerte. Zu der einen Million von Streikenden muß man ihre Familien hinzurechnen, die am Kampf teilnahmen. Mehrere Male lehnten die Bergarbeiter Vorschläge auf eine Rückkehr zur Arbeit ab, zu Bedingungen, die jedes mal ungünstiger wurden. Ihre letzte Weigerung stammte vom 7. Oktober nach sechsmonatigem Streik. Die Grubenbesitzer wollten die Föderation der Bergarbeiter zerstören, die ihnen ein Dorn im Auge war. Die Regierung schlug sogar das Verlangen mancher ihrer Anhänger im Parlament ab, bei den Grubenbesitzern zu intervenieren, um von ihnen zu erreichen, daß sie einige versöhnliche Gesten machen sollten; sie forderte im Gegenteil hohe Würdenträger der Anglikanischen Kirche auf, nicht mehr öffentlich über das Elend der Bergarbeiter zu sprechen. Verwirrung bemächtigte sich der Führer der Bergarbeiterföderation und zwischen ihnen und den Mitgliedern des Generalrats kam es zu Zwischenfällen. Gegen Ende Oktober begann der Streik abzubröckeln. Ende November kehrten sie zur Arbeit zurück - geschlagen, gezwungen, einen längeren Arbeitstag, Lohnabbau und das Fehlen eines Kollektivvertrags auf Landesebene zu akzeptieren: die Arbeitsbedingungen wurden in jedem Distrikt von den Grubenbesitzern diktiert. Von irgendeiner Reorganisation der Bergwerke war nicht mehr die Rede. Es gab alsbald 200.000 weitere arbeitslose Bergarbeiter - ihre Zahl erreichte im Jahre 1928 300.000.

Wir haben bereits das Verhalten der Führer der TUC und der Labour Party erwähnt. Man braucht nur noch hinzuzufügen, daß die als links angesehenen Führer sich nicht entscheidend von den rechten abhoben. Selbst der Führer der Bergarbeiterföderation Arthur Cook, der beim Verrat des Generalstreiks durch die TUC Widerstand geleistet hatte, zeigte sich nach einigen Monaten des Bergarbeiterkampfes unentschlossen.

Die Minority Movement war als Bewegung während des Generalstreiks überhaupt nicht aufgetreten. Während des Streiks der Bergarbeiter, bei denen sie stark und gut organisiert war, sah es anders aus. Mit Hilfe der Kommunistischen Partei spielte sie des öfteren eine wichtige Rolle, stärkte den Kampfes-

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willen der Streikenden und sorgte dafür, daß die Vorschläge zur Arbeitswiederaufnahme unter schlechten Bedingungen zurückgewiesen wurden. Aber es gelang ihr nicht, die Böswilligkeit der TUC-Führer zu überwinden, noch selbst auf dem Kongreß der TUC eine für die Bergarbeiter günstige Abstimmung zu erreichen. Nach der Niederlage und dem daraus für die Arbeiterbewegung resultierenden Rückgang, nahm der Einfluß der Minority Movement stark ab; die Gewerkschaftsbürokratie ging energisch gegen sie vor und untersagte vor allem lokalen Gewerkschaften, sich ihr anzuschließen. Im Jahre 1928 befand sich keines ihrer Mitglieder unter den Delegierten des TUC-Kongresses. Sie verschwand völlig als Folge der ultralinken Politik der "Dritten Periode".

Die Kommunistische Partei und ihre Mitglieder hatten während des Generalstreiks und des Streiks der Bergarbeiter alle ihre Kräfte aufgeboten. Die Repression gegen sie setzte im Oktober 1925 ein: die Regierung ließ acht ihrer Führer, darunter ihren Sekretär Inkpin, verhaften und zu Strafen bis zu einem Jahr Gefängnis verurteilen. Die Repression nahm während der Kampfmonate zu. In einer Aufstiegsperiode der Massen kann sie in einem gewissen Maße die Aktivität einer revolutionären Partei einschränken, aber weit davon entfernt, ihr zu schaden, wird sie dadurch angestachelt und gestärkt. Obwohl sehr vielen Kommunisten für ihr Eingreifen im Laufe der Kämpfe Gefängnis- und Geldstrafen auferlegt wurden, erreichte die Kommunistische Partei, bei 3.000 Mitgliedern im Mai 1924, im September des gleichen Jahres 4.000 Mitglieder, 5.000 im Juni 1925, 6.000 im April 1926 und 10.730 im Oktober. Die Verbreitung ihres Wochenblatts Workers Weekly, die Mitte 1924 35.000 betrug, erhöhte sich zum Jahresende auf 41.000, und auf 70.000 und 80.000 im Juni und August 1926. Aber von 1927 an trat der Rückgang ein. Die Mitglieder zählten im Oktober 1927 nicht mehr als 7.300, und im März 1928 5.500. Der Verkauf der Zeitung ging in noch stärkerem Maße zurück*16 .

Kein Zweifel, daß die Verantwortung für die Niederlage des Generalstreiks und des Streiks der Bergarbeiter auf den Führungen der TUC und Labour Party lastet. Aber aus einem Kampfjahr wie dem von 1926 hätte die Kommunistische Partei erheblich verstärkt herauskommen, eine in den Massen sehr viel stärker verwurzelte Partei werden, sich einen beträchtlich größeren Zuhörerkreis verschaffen müssen, umso mehr, als die Niederlage, so schmerzlich sie gewesen sein mag, nicht vernichtend war: zwei Jahre darauf errang die Labour Party einen Wahlsieg, der sie zum zweiten Mal an die Regierung brachte. Die Arbeiterklasse war also nicht demoralisiert. Aber ihre kommunistische Avantgarde, statt nun stärker zu werden, mußte eine Verschlechterung ihrer Lage erleben. Die Gründe dafür muß man nicht außerhalb,

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sondern bei ihr selbst suchen. Das Eingreifen, die mutige Teilnahme der Parteimitglieder hatten neue kämpferische Kräfte angezogen. Aber der Umfang der Rekrutierung und noch mehr die spätere Konsolidierung hingen nicht mehr vom Kampf selbst, sondern von einer richtigen politischen Orientierung ab, die es erlaubt hätte, mit großer Kühnheit zu intervenieren, ohne durch verschiedene zweitrangige Erwägungen gehemmt zu sein. Dies war wegen der Politik, die in Großbritannien unter der Leitung der KI eingeschlagen wurde, nicht der Fall, in erster Linie wegen der gegenüber dem Anglo-russischen Gewerkschaftskomitee befolgten Politik, welche die britische Partei in Verwirrung brachte. Damit werden wir uns im folgenden Kapitel befassen, das dem 7. Plenum der KI gewidmet ist, wo wir die Differenzen ansprechen, die sich über die Lage in Großbritannien zeigten.


3. Das 7. Plenum (22. November bis 13. Dezember 1926)

Das 7. Plenum der Erweiterten Exekutive der KI trat hauptsächlich mit dem Ziel zusammen, von den kommunistischen Parteien Zustimmung zu der Politik der KPdSU gegen die Vereinigte Opposition und zu der in Großbritannien eingeschlagenen Politik zu erlangen. Die Mandatskommission kündigte die Anwesenheit von 100 Delegierten mit beschließender und 91 mit beratender Stimme an. Eine gewisse Anzahl von Mandaten mit beratender Stimme wurden gestrichen, weil es "die Verhältnisse unbedingt erforderten", wie der Berichterstatter erklärte, ohne anzugeben, um welche Mandate und welche Verhältnisse es sich dabei handelte. Obwohl gemäß den Statuten nur ein Kongreß der KI die Zusammensetzung des Exekutivkomitees ändern konnte, durften regulär gewählte Mitglieder wie Maslow und Ruth Fischer an diesem Plenum nicht teilnehmen. Wir werden auch sehen, wie die vertretenen Exekutivmitglieder der Vereinigten Opposition der KPdSU während der Diskussion dieser Frage behandelt wurden.

Gleich zu Beginn wurde dem Plenum ein Brief Sinowjews verlesen, in dem dieser unter Beachtung des Ersuchens der wichtigsten Sektionen bat, ihn vom Posten des Präsidenten und von jeder Arbeit in der Internationale zu befreien. Das Plenum hatte gerade eine Minute zuvor, ohne Debatte, ein Begrüßungsschreiben an die KPdSU beschlossen, das eine Billigung der Politik dieser Partei enthielt; es bestätigte ohne Diskussion und einstimmig die Bitte Sinowjews. So wurde sang- und klanglos der Mann ausgeschaltet, der die KI seit ihrer Gründung, mehr als sieben Jahre lang, geleitet hatte. Das Plenum beschloß, den Posten eines Präsidenten zu streichen und ihn durch ein politi-

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sches Sekretariat zu ersetzen. Wie auf dem vorangehenden Plenum befand sich unter den Begrüßungen des Kongresses die des Delegierten der chinesischen Kommunistischen Partei Tan Ping-schan und des Delegierten der Kuomintang Chao Li-tse. Dieser, genau wie der Delegierte zum vorherigen Plenum, beendete seine Begrüßung mit "Es lebe die Komintern! Es lebe die Weltrevolution!" Zwischen diesen beiden Plenumssitzungen hatte sich indessen in Kanton am 20. März ein für die Absichten Tschiang Kai-scheks und der Kuomintang mehr als bezeichnender "Streich" ereignet*17 .

Vier Hauptpunkte standen auf der Tagesordnung: Weiterhin wurden organisatorische Fragen in Kommissionen behandelt, die dann dem Plenum berichteten.

Der Bericht Bucharins war eine Anhäufung diversester Zahlen und Bemerkungen, diente aber vor allem dazu, das Terrain für die Diskussion über den Hauptpunkt der Tagesordnung, der russischen Frage, vorzubereiten. Er begann damit, einige aus ihrem Zusammenhang gelösten Sätze Trotzkis und Sinowjews zu kritisieren, und polemisierte alsdann wütend gegen einige ultralinke Deutsche. Zwischen diesen Passagen behandelte er zahlreiche Fragen, drückte jedoch keine klare Linie aus. Darunter trat indessen zu wiederholten Malen der "Sozialismus in einem Lande" hervor. Wenn er zum Beispiel die Opposition als Anhängerin der maßlosen Industrialisierung anprangerte, erklärte er, daß das mangelnde Gleichgewicht der kapitalistischen Welt und infolgedessen der Fortschritt der Weltrevolution in erster Linie von der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion abhingen:
"Die Hauptschwierigkeiten für die USSR liegen in der Außenpolitik. Der Druck der kapitalistischen Wirtschaft schafft gewaltige, aber keineswegs unüberwindliche Schwierigkeiten. Die dauernden Drohungen, die sich besonders in der letzten Zeit verschärft haben, und die Möglichkeit von Aktionen der kapitalistischen Staaten und Staatengruppierungen gegen die Sowjetunion bedeuten eine ständige Gefahr für die Diktatur des Proletariats. Die revolutionierende Bedeutung der Aufbauarbeit in der USSR und ihre politische Auswirkung ist der wichtigste Faktor im Prozesse der internationalen Revolution ..." (Protokoll, Hamburg - Reprint 1967, S.97 - 98)
Die äußeren Gefahren für die Sowjetunion waren ernst. Aber zu sagen, daß die Macht der Weltwirtschaft zur damaligen Zeit im Verhältnis zur Wirtschaftslage der Sowjetunion von zweitrangiger Bedeutung sei, war lächerlich. Und wenn er versicherte, die noch minimalen ökonomischen Fortschritte der Sowjetunion seien der wichtigste Faktor der Weltrevolution, dann war das von seiner Seite, der den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion "im Schneckentempo" ins Auge faßte, ein Rechtfertigungsversuch der Politik des

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"Sozialismus in einem Lande" angesichts einer "Stabilisierung" des Kapitalismus, der sich "über eine ganze Epoche" ausdehnte. Auffallend an diesem Bericht ist ebenfalls seine Beharrlichkeit, mit der er sich gegen die Sozialdemokratie wendet — ein indirektes Zeugnis dafür, daß diese Fortschritte machte, in denen die KI-Führung Gefahren für die kommunistische Bewegung erblickte.

Der Bericht gab keinen Anreiz zur Diskussion, außerdem schilderten die verschiedenen Redner nur die Aktivitäten ihrer Sektionen. Nur zwei von ihnen formulierten abweichende Auffassungen, oder vielmehr versuchten es. Zuerst bemühte sich der Franzose Treint, die Opposition - die er weniger als ein Jahr später unterstützen sollte - mit anderen Argumenten als mit denen der KI-Führung zu bekämpfen. Danach der deutsche Delegierte Riese, der eine ultralinke Opposition des Berliner Weddings vertrat; er wagte nicht, wahrscheinlich seiner Isoliertheit in der Versammlung wegen, geradeheraus seine Positionen zu nennen. Die Polen, die sich untereinander stritten und sich gegenseitig des Opportunismus und anderer Abweichungen bezichtigten, bekannten sich einhellig zu dem Fehler, den sie im Mai mit der Unterstützung Pilsudskis während seines Staatsstreichs begangen hatten; aber keiner von ihnen versuchte, die tieferen Gründe ihres Irrtums herauszufinden - und ebenso wenig die Führung der Internationale, weder in den Worten Bucharins noch Kuusinens. Unter den Rednern unterstützte Ercoli, ein neuer Stern am Himmel der Internationale, völlig Bucharin, lieferte jedoch auch eine korrektere Analyse des Faschismus als die bisher vorgenommenen. Ein Thema kehrte in allen Reden wieder: keine Fraktionen!

Die chinesische Frage wird in allen Einzelheiten auf dem folgenden Plenum wieder aufgenommen werden. Zum Jahresende 1926 wurde die Lage in China von einer Hochstimmung beherrscht, welche die anderen auf der Tagesordnung stehenden Fragen nicht erzeugen konnten; die größten Hoffnungen wurden in die Kuomintang gesetzt, deren Vertreter an den Debatten teilnahm, von denen die Opposition sich ausgeschlossen fand.

3.1 Die englische Frage

Die englische Frage wurde ebenfalls in Abwesenheit der Vereinigten Opposition und derer, die sich der Politik des Anglo-russischen Komitees widersetzt hatten, behandelt. Bereits erwähnt wurde, welcher Bedeutung auf dem V. Kongreß der Lage in Großbritannien, in Verbindung mit der Bildung der ersten Labour-Regierung, beigemessen wurde, danach auf dem 6. Plenum in Zusammenhang mit der Gewerkschaftseinheit und des Anglo-russischen Komitees. Seinerseits hatte Trotzki 1925 ein Buch Wohin treibt England? geschrieben, in dem er die Unvermeidlichkeit der sozialistischen Revolution in diesem Lande aufzeigte, wo der Gradualismus "natürlich" erschien; er kündig -

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te eine nahe bevorstehende soziale Krise an und übte an den reformistischen Führern der Arbeiterbewegung dieses Landes unbarmherzige Kritik. Dieses Buch, das anfangs von der Führung der britischen Kommunistischen Partei gut aufgenommen wurde, bereitete ihr später dieser Kritik wegen, welche auch die in das Anglorussische Komitee hineingezogenen Gewerkschaftsführer einschloß, einige Verlegenheit. Um die Differenzen in der Einschätzung besser zu verstehen — nicht nur hinsichtlich der Führer der Linken, sondern vor allem über die Dynamik des Streiks und die Aufgaben der Partei bei ihm — wollen wir zwei Äußerungen miteinander vergleichen. Zuerst das, was Trotzki für die zweite Auflage seines Buches am 6. Mai, das heißt während des Generalstreiks, schrieb:
"Die Hauptbemühungen der offiziellen Führer der Arbeiterpartei und einer bedeutenden Anzahl der offiziellen Gewerkschaftsführer werden nicht darauf gerichtet sein, mit Hilfe des Streiks den bürgerlichen Staat, sondern mit Hilfe des bürgerlichen Staats den Generalstreik zu paralysieren ... Man muß sich klar darüber Rechenschaft ablegen, daß dieser Erfolg nur in dem Maße möglich ist, in dem die britische Arbeiterklasse im Prozeß der Entwicklung und Verschärfung des Generalstreiks in der Lage sein und es verstehen wird, ihre Führer zu erneuern. Ein amerikanisches Sprichwort sagt, daß man das Pferd nicht wechseln darf, wenn man einen reißenden Strom durchschwimmt. Aber diese praktische Weisheit ist nur in gewissen Grenzen richtig. Auf dem Pferde des Reformismus ist es noch nie gelungen, einen revolutionären Strom zu durchschwimmen. .. ." (A.a.O., S.IV, V)
Und jetzt das, was eine Woche früher der Vertreter der britischen Partei bei der K. L. Murphy, am 30. April am Vorabend des Generalstreiks in der Zeitschrift Workers' Weekly ausführte:
"Unsere Partei nimmt keine führenden Positionen in den Gewerkschaften ein. Sie kann nur beraten und ihre Presse und Kräfte den von anderen geführten Arbeitern zur Verfügung stellen. Man sollte daran denken, daß die Führenden keine revolutionären Perspektiven vor sich haben. Und falls irgendeine revolutionäre Perspektive vor ihnen auftaucht, dann wird sich die Mehrheit von ihnen beeilen, den Rückzug anzutreten. Solche, die nicht nach einem Weg suchen, den Rückzug anzutreten, sind gute Gewerkschaftsführer, die Manns genug sind, die Forderungen der Bergarbeiter hartnäckig zu verteidigen, aber völlig außerstande, voranzugehen, um all den Verwicklungen die Stirn zu bieten, die die Herausforderung des Staates durch eine geeinte Arbeiterklasse hervorruft. Es wäre reine Phantasie, hätte jemand von den revolutionären Möglichkeiten dieser Krise übertriebene Vorstellungen, und Visionen von einer neuen Führung, die spontan während des Kampfes auftauchen könne'..." (MacFarlene)*18
Murphy zählte zu den "guten Gewerkschaftsführern", das heißt zu denen, die das Anglo-russisehe Komitee unterstützten, um einzig und allein die For-

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derungen der Bergarbeiter hartnäckig zu verteidigen. Die in einem Generalstreik vorhandene Dynamik entging ihm völlig, und er faßte überhaupt nicht ins Auge, daß der Streik gestatten könne, durch die Aktivität der Kommunistischen Partei eine neue Führung, wenn nicht der ganzen Arbeiterklasse, so doch zumindest einer starken Minderheit von ihr entstehen zu lassen. Deshalb überraschte es nicht, daß die britische Kommunistische Partei sich im Frühjahr 1926 beim sowjetischen Politbüro über die Positionen Trotzkis beklagte. Eine Diskussion fand in diesem Gremium am 3. Juni statt, nach dem Ende des Generalstreiks. Im Verlauf dieser Diskussion warf die Führung Stalin-Bucharin Trotzki vor, "er halte die britische Kommunistische Partei für eine reaktionäre Organisation, für ein Hindernis auf dem Wege der Arbeiterklasse", worauf er erwiderte:
"Am Vorabend großer Ereignisse in England habe ich in einem Brief an das Politbüro die Befürchtung geäußert, die britische Kommunistische Partei könne, wie die bulgarische Partei, in einem kritischen Moment von Massenaktivität eine zu passive oder abwartende Haltung einnehmen, umso mehr, als gegen sie der ungeheure Druck des bürgerlichen Staates, der bürgerlichen öffentlichen Meinung und der aller offiziellen Funktionäre der Arbeiterklasse vereint auftreten würde. Welche Schlußfolgerung habe ich daraus gezogen? Hier ist sie: ´Eines der wichtigsten Probleme besteht darin, der britischen Kommunistischen Partei behilflich zu sein, diese Perspektive vollkommen zu verstehen und zu studieren' ... Auf einer Plenumssitzung der Exekutive warnten einige britische Genossen vor einer Überschätzung des kritischen Zustandes des britischen Kapitalismus. Damit gaben sie zu erkennen, daß sie die Tiefe der Krise und die unmittelbar bevorstehenden sozialen Zusammenstöße unterschätzten ... Glücklicherweise stand die revolutionäre Aktivität der Partei insgesamt auf einem angemessen hohen Niveau. Das ist unser wichtigstes Ergebnis, das uns jedoch nicht der Notwendigkeit enthebt, eine Warnung auszusprechen ... Es wäre kriminell, die Dinge so zu beschreiben, als wäre die britische Kommunistische Partei allen Aufgaben gewachsen gewesen. Der Abstand zwischen ihrer Kraft, ihren Hilfsquellen, ihren Mitteln und - den objektiven Aufgaben, die immer dringlicher werden, ist gewaltig. Darüber sollten wir offen sprechen und nicht eine revolutionäre Politik durch Legenden und Parteiformeln ersetzen." (Trotzki)*19

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Vor dem 7. Plenum hatten sich einerseits Differenzen zwischen der Exekutive der KI und der Führung der britischen Partei, zum andern innerhalb der Partei gezeigt. Die außerordentlich zahmen Stellungnahmen der Führung dieser Partei gegenüber den "linken" Gewerkschaftsbossen - Stellungnahmen, die verrieten, daß diese Führung nicht die propagandistische und gewerkschaftliche Vergangenheit der Mehrzahl ihrer Mitglieder, einschließlich der besten von ihnen überwunden hatte - hatten innerhalb der Partei und seitens des Exekutivkomitees Kritik hervorgerufen; ihrerseits hatte die Führung der Partei der wenn auch gemäßigten Kritik der sowjetischen Gewerkschaften an der TUC widersprochen. Diese Differenzen traten während des Plenums nicht in Erscheinung, und die zur englischen Frage angenommene abschließende Resolution beschränkte sich darauf, zu verkünden, daß einige Irrtümer der britischen Partei sehr schnell beseitigt wurden:
"Dabei aber muß zugegeben werden, daß die Parteipresse nicht stets verstanden hat, die Verantwortlichkeit für den Verrat der Bergarbeiter so klar festzustellen, wie das erforderlich war. Einen ähnlichen Fehler beging die Parteifraktion in der Exekutive der Minderheitsbewegung: das ZK stellte ihn sofort ab ... Dabei muß aber zugegeben werden, daß während des siebenmonatigen Kampfes, der an die Partei außerordentlich schwere Anforderungen stellte und ihr viele große Schwierigkeiten bereitete, bei verschiedenen Gelegenheiten in öffentlichen Erklärungen in der Parteipresse verschiedene Fehler vorgekommen sind. Diese Fehler sind rasch abgestellt worden ..." (INPREKORR, 1927, Nr. l6, S. 329)
Es ist wahrscheinlich, daß vor dem Plenum ein Kompromiß ausgehandelt wurde, um sich gegenüber der Vereinigten Opposition keine Blöße zu geben. Das einleitende Referat über die englische Frage wurde auf der Abendsitzung vom 2. Dezember, unmittelbar nach der Beendigung des Kampfes der Bergarbeiter, von Murphy, einem der wichtigsten Führer der britischen Partei, gehalten. Dieser Bericht enthielt keine Analyse vom Ablauf des Generalstreiks; er unterstrich nicht, daß seine Niederlage ganz und gar der Tatsache zuzuschreiben war, daß — obwohl er von den Führern der Bourgeoisie als ein politischer Kampf zur Aufrechterhaltung der Macht geführt worden war — weder irgendeine Führung der Arbeiterklasse, noch eine Formation, die diese Führung anstrebte, auch nur darauf hingewiesen hätte, daß dies das eigentliche Problem sei. Dieser Bericht zog umfangreiches Zahlenmaterial zur Unterstützung heran und legte enormes Gewicht darauf, was der Widerstand der Bergarbeiter den britischen Kapitalismus finanziell gekostet hatte. Er prangerte die Reformi-

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sten der TUC und der Amsterdamer Internationale an, die nichts unternommen hatten, um die Einfuhr von elf Millionen Tonnen Kohle in das Land zu verhindern. Er sprach sich für die Organisierung eines linken Flügels innerhalb der Labour Party aus. Er vermittelte auch Informationen über die Aktivität der Parteimitglieder und über die Repression, die sie erlitten hatten, und beschränkte sich darauf, auf Einzelfehler der Partei aufmerksam zu machen. Über die Schlußfolgerungen, auch nur vorläufige, für die britische Arbeiterklasse wurde wenig gesagt. Murphy legte dar, daß eine Symmetrie zwischen der infolge des Streiks hervorgerufenen politischen Entwicklung bestünde, der einen nach rechts, anderer nach links, ohne selbst einen Versuch zu unternehmen, die relative Bedeutung dieser in entgegengesetzter Richtung gehenden Verschiebungen näher zu bestimmen. Während jedoch die Verstärkung linker Strömungen begrenzt war und sich als vorübergehend erwies, machte die Politik der Labour Party und der TUC eine scharfe Wendung nach rechts. Einige Jahre später bewirkte sie eine tatsächliche ökonomische Zusammenarbeit mit den Unternehmern. Murphy schwieg sich über das Anglo-russische Komitee aus, um nur mit einem Satz die Abberufung des Sekretärs und des Vorsitzenden dieses Komitees durch die TUC anzuprangern, was seine Existenz ungewiß mache.

Es gab noch zahlreiche Interventionen in die Debatte, aber sie boten kein besonderes politisches Interesse, denn sie beschränkten sich im wesentlichen darauf, über die unternommenen Solidaritätsaktionen zu berichten. In seiner Schlußrede unterstrich Murphy ihre Grenzen:
"Jedesmal, wenn wir einen Bericht über die gute Arbeit, die geleistet worden ist, anhörten, hatten wir es mit der Feststellung zu tun, daß die Sozialdemokraten doch imstande waren, unsere Aktionen zu sabotieren. Was will dies heißen? Dies heißt, daß die Sozialdemokraten die Kontrolle über die Arbeiterklasse besaßen und imstande waren, eine internationale Solidaritätsaktion zur Unterstützung dieses großen Streiks in England zu durchkreuzen ..." (Protokoll, S. 484)
Losowski malte in groben Zügen ein politischeres Bild der Ereignisse, die sich abgespielt hatten; aber auch er wich größtenteils den Konsequenzen aus der Niederlage der britischen Arbeiterklasse aus:
"Die Niederlage des sieben Monate langen Streiks der Bergarbeiter, die nicht nur eine Folge der Anstrengungen der Bourgeoisie, sondern auch eine Folge der Anstrengungen der Führer der politischen und wirtschaftlichen Arbeiterbewegung Englands ist, stellt die Arbeiterklasse Englands vor Fragen und Probleme, die sie früher nicht kannte ... Im Moment der Niederlage hat die Verschiebung des Kräfteverhältnisses anscheinend zugunsten der Bourgeoisie stattgefunden. Doch, Genossen, das Kräfteverhältnis der Klassen wird nicht nur vom Standpunkt des gegenwärtigen Moments gemessen ..." (A.a.O., S. 432, 433)

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Zweifellos konnte der Sieg des britischen Kapitalismus zuerst über den Generalstreik, danach über die Bergarbeiter, grundsätzlich seinen Niedergang nicht aufhalten, der aus bereits erwähnten tiefer liegenden Gründen stammte. Aber dieser Sieg blieb nicht ohne für ihn unmittelbar günstige Konsequenzen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, wo alle Schichten der Arbeiter, und nicht nur die Bergarbeiter, Lohnsenkungen hinnehmen mußten.

Im Verlaufe der Diskussion erwähnte ein einziger Redner, der deutsche Delegierte Remmele, das Anglo-russische Komitee, um die sowjetischen und deutschen Oppositionellen anzuprangern. Er brachte ihre Positionen nicht klar und redlich vor und fügte hinzu:
"Ich glaube - und das muß im Plenum festgestellt werden - daß die russischen Gewerkschaften richtig handelten, als sie für die Aufrechterhaltung des Anglo-russischen Komitees eintraten. Die beiden Verhandlungen des Anglo-russischen Komitees in Paris und Berlin haben klar bewiesen, daß die englischen Teilnehmer froh gewesen wären, diese Verbindung mit den russischen Gewerkschaften lösen zu können, die sie auf Grund der oppositionellen Stimmung der englischen Arbeiterschaft aufrechterhalten müssen. Die russischen Gewerkschaften haben damit den Weg beschritten, der uns die Möglichkeit gibt, auch fernerhin auf das englische Proletariat erheblichen Einfluß auszuüben. Das Anglo-russische Komitee war selbst nach der Meinung der Opposition in Wirklichkeit nichts anderes als das Sprachrohr, durch das es den revolutionären Arbeitern in Rußland möglich war, zum englischen Proletariat zu sprechen und so dem englischen Proletariat den Weg zur Revolutionierung der eigenen Klasse zu zeigen. Deswegen, weil ein Teil der Teilnehmer am Anglo-russischen Komitee Verräter am englischen Proletariat waren, das Anglo-russische Komitee aufzulösen, wäre verfehlt gewesen. Wollen wir das englische Proletariat über diese verräterische Rolle dieser Gewerkschaftsführer aufklären, so müssen wir erst recht für die Aufrechterhaltung des Anglo-russischen Komitees eintreten ..." (A.a.O., S. 477)
Die zu diesem Punkt der Tagesordnung beschlossene Resolution war in dieser Hinsicht auch wenig beredt und setzte folgende politische Aufgaben fest:
"Kampagne zur Bildung einer einheitlichen Gewerkschaftsinternationale als einer Garantie gegen die internationale wirtschaftliche und politische Reaktion und die Gefahr eines neuen Weltkrieges; insbesondere Kampagne für die Einberufung eines Welt-Einheitskongresses durch die RGI im Verein mit dem IGB und für die Entlarvung der Sabotierung des Anglo-russischen Einheitskomitees durch die Reformisten und, gleichzeitig mit der direkten Kampagne für dessen Wiederbelebung, und als ein weiterer Schritt in dieser Richtung, Mobilisierung der Arbeiter in den verschiedensten Industrien für die Einheit mit den Arbeitern in den entsprechenden Gewerkschaften." (Anglo-russisches Bergarbeiterkomitee, Entsendung von Arbeiterdelegationen nach der Sowjetunion usw., INPREKORR, Nr. 16, S. 331)
Das Anglo-russische Komitee war recht hinfällig, als der Bergarbeiterstreik aufhörte; die Trade-Union-Führer hatten es vor dem Streik benutzt, um sich vor ihren Linken hinter den fortgeschrittenen Arbeitern zu decken; sie sahen in ihm nach dem Streik keinen Nutzen mehr, und es dauerte nicht lange, bis

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es starb. Die Resolution des 7. Plenum und die Vorschläge Remmeles hinsichtlich des Anglo-russischen Komitees geben von der Einstellung der sowjetischen Regierung zu dieser Frage ein sehr klares Bild, eine Einstellung, die auch von der KI und den sowjetischen Gewerkschaften geteilt wurde. Remmele und die Resolution erklärten, das Anglo-russische Komitee hatte nicht nur die Absicht, zu den britischen Arbeitern zu sprechen und die Gewerkschaftseinheit wiederherzustellen, sondern verfolge auch allgemein politische Ziele wie den Kampf gegen die Weltreaktion und den Kampf gegen die Kriegsgefahr. In diesen Worten findet sich zuerst einmal die Vorstellung, die sowjetischen Arbeiter könnten sich nicht direkt an die britische Arbeiterklasse durch Vermittlung der KI oder der KPdSU wenden, sondern nur über die sowjetischen Gewerkschaften, und unter der Bedingung, diese blieben mit den britischen Gewerkschaften durch dieses Komitee verbunden. Aus einer solchen Konzeption ergab sich auch die Notwendigkeit, dieses Komitee um jeden Preis zu erhalten und es in ein ständiges Organ umzuwandeln, da es kein begrenztes Ziel, sondern allgemeine Ziele hatte, darunter den Kampf gegen die Kriegsgefahr. Was für eine gewaltige Änderung - zum einen bei der Konzeption der Einheitsfront, die für genau umschriebene Ziele, je nach den Umständen, gebildet werden sollte, zum anderen bei der kommunistischen Konzeption des Kampfes gegen den Krieg, der in eine Politik des auf Regierungen ausgeübten Drucks zur Erhaltung des Friedens verwandelt wurde! Eine solche Politik war unvermeidlich zum Bankrott verurteilt.

Trotz der beträchtlichen von ihren Mitgliedern entfalteten Aktivität und den Gewinnen, die sie vor allem bei den Bergarbeitern während des Streiks gemacht hatte, konnte die britische Kommunistische Partei während der Monate des Jahres 1926 keinen wirklichen Durchbruch erzielen. Ihren Angriffen gegen die reformistischen Führer wurde von diesen mit dem Einwand begegnet, die sowjetischen Gewerkschaftsführer seien ihre Verbündeten. Da sie sich der Bedeutung eines Generalstreiks von einer derartigen Breite nicht bewußt war und durch eine Politik, die ihre politische Schärfe eingebüßt hatte, und sich nur wenig von der der linkesten Gewerkschaftsführer unterschied, stark verwirrt war, büßte die britische Partei recht schnell die Gewinne, die sie gemacht hatte, wieder ein. Die Politik, die sie späterhin infolge der von der KI diktierten Wendungen einschlug, versperrte ihr alle Entwicklungsmöglichkeiten .

Das Anglo-russische Komitee war also ein Teil der internationalen sowjetischen Politik, die anscheinend darauf abzielte, mit den reformistischen Bossen der britischen Arbeiterbewegung mit dem Umweg über ihre Gewerkschaftsführer eine Einheitsfront herzustellen. Nach den Ereignissen in Sachsen aus dem Jahre 1923 lieferte sie ein neues Beispiel für das Unvermögen der KI-Führung, die Arbeitereinheitsfront wirkungsvoll zu realisieren, und förderte damit im Gegenteil Tendenzen, die jeder Einheitsfront von Organisation zu Organisation feindlich gesinnt waren. Das Anglo-russische Komitee war auch

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eine Erfahrung, die in einem Lande gemacht wurde, deren Arbeiterbewegung eine besondere Form darstellte, wo nämlich zu Anfang des Jahrhunderts die Gewerkschaften die Arbeitermassenpartei (die Labour Party) geschaffen hatten, zu einer Zeit, wo es auf dem europäischen Kontinent entweder umgekehrt gewesen war, oder wo sich in einem großen Maße unabhängige Entwicklungen von Partei und Gewerkschaften vollzogen hatten.

Die spezifische Form der britischen Arbeiterbewegung hat der revolutionären Avantgarde stets besondere Probleme gestellt. Zur Zeit des II. Kongresses, zu einem Zeitpunkt, wo die Erwartungen auf revolutionäre Siege in Europa ihren höchsten Punkt erreichten, riet Lenin den britischen Kommunisten, sich der Labour Party anzuschließen. Nach deren Statuten gewährte sie nur Organisationen Zutritt und nahm nicht — wie es später der Fall war — Einzelmitglieder auf. Das anfängliche Sektierertum zahlreicher britischer Kommunisten zusammen mit der Feindseligkeit reformistischer Führer, verhinderte einen solchen Beitritt. Die gegenwärtigen Bedingungen sind von denen zur Zeit Lenins sehr verschieden — die Kommunistische Partei ist keine revolutionäre Partei mehr und hat weiterhin stagniert. Mehr als fünfzig Jahre sind seit dem Generalstreik verflossen. Die Labour Party, die inzwischen sechs oder sieben Regierungen in Großbritannien gestellt hat, übernahm damit die tägliche Führung der Regierungsgeschäfte des britischen Kapitalismus. Dessen Krise hat sich sehr viel langsamer entwickelt, als man es damals annehmen konnte. Aber inzwischen nimmt sie gewaltige Dimensionen an. Zur gleichen Zeit ist sie unvermeidlich eine Krise der Führung der Arbeiterbewegung, eine Krise der Labour Party und der Gewerkschaften, da diese Führung außerstande ist, die Probleme der britischen Gesellschaft zu lösen. Aus diesem Grunde sind für die revolutionäre Avantgarde dieses Landes der Generalstreik vom Mai 1926 und demzufolge die Frage des Anglo-russischen Komitees heutzutage nicht allein historische Fragen.

3.2. Die KI und die Vereinigte Opposition

Bevor wir den politischen Hintergrund der Debatten über die russische Frage untersuchen, muß man ein formales Problem aufwerfen, dem seiner Natur nach auch eine große politische Bedeutung zukam. Im Verlauf der Diskussion über den Streik in Großbritannien stellte der Delegierte der Weddinger Opposition Riese einen Antrag, der verlangte, daß die Exekutivmitglieder, die an der Spitze der russischen Opposition standen, das Recht hätten, am Plenum teilzunehmen, und hier ihre Ansichten über die englische und russische Frage zu äußern; er begründete seinen Antrag folgendermaßen:
"…Da nach der Erklärung der russischen Genossen vom 16. Oktober ihr hiesiges Auftreten ohne offenen Beschluß und Aufforderung sehr gut als ein neuer Disziplinbruch [437] ausgelegt werden könnte, verlange ich in meinem Antrag, daß diese Genossen auf dem Wege über das ZK der russischen Partei aufgefordert werden, hier ihre abweichende Stellung zu vertreten." (Protokoll des 7. Plenums, S.449)
Riese hatte sicherlich Kontakt zu den Oppositionellen aufgenommen, die wußten, daß ihnen mit ihren eventuellen Interventionen eine Falle gestellt werden konnte. Zwei Redner nahmen zu dem Antrag Rieses Stellung. Der erste, Thälmann, der die Sitzung leitete, erklärte:
"... Nachdem Genosse Riese diesen Antrag hier gestellt hat, ist es notwendig, eine sachliche Darstellung zu geben über die Tatsache, daß Genosse Sinowjew und Genosse Trotzki als Mitglieder der Exekutive das Recht und die Gelegenheit haben, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde hier zu erscheinen und, wenn es ihnen beliebt, auch das Wort zu ergreifen. (Riese Wenn das nicht als Disziplinbruch ausgelegt wird.) Wie in allen anderen Fragen, wo Meinungsverschiedenheiten bestehen, Oppositionen vorhanden sind, die Betreffenden das Wort ergreifen können ohne eine besondere Aufforderung, glaube ich sagen zu können, daß auch das Plenum der Erweiterten Exekutive sich nicht bemüßigt sieht, noch eine besondere Einladung an die russische Opposition ergehen zu lassen... Was die Frage der Disziplin und die besondere Aufforderung anbetrifft, glaube ich, daß es eine Angelegenheit der russischen Partei ist, darüber zu entscheiden, und daß wir keine Veranlassung haben, uns in Angelegenheiten, die genügend bekannt sind, einzumischen ... Ich beantrage, daß wir über den Antrag des Genossen Riese zur Tagesordnung übergehen." (A.a.O., S. 450)
Der andere Redner, Ercoli, pflichtete dieser Ansicht bei, drückte sich aber genauer aus. Ihm zufolge würden die Interventionen der Oppositionellen keinen Disziplinbruch bedeuten:
"... Die exponiertesten Genossen der russischen Opposition sind doch Mitglieder der führenden Organe der Kommunistischen Internationale. Sie haben niemals ihre Rechte als Mitglieder dieser führenden Organe verloren ... In dieser Eigenschaft haben sie das Recht, an allen unseren Debatten teilzunehmen. Genosse Riese sagt, sie haben durch ihre Erklärung vom 16.Oktober jede Fraktionsarbeit aufgegeben. Wenn die Genossen nun hierher kämen, um ihren Standpunkt zu verteidigen, so könnte dies als ein Bruch dieser Erklärung betrachtet werden. Diese Argumentation des Genossen Riese ist absolut nicht stichhaltig ... Die Genossen haben nach der Erklärung vom 16. Oktober das Recht, auch hier zu erscheinen und ihren Standpunkt zu verteidigen ..." (A.a.O., S. 451)
Kein sowjetischer Delegierter nahm zu diesem Zeitpunkt zu dem Antrag Rieses Stellung. Die Diskussion über die russische Frage begann in Abwesenheit der Oppositionellen, an ihrem zweiten Tage jedoch verlas der Leiter der Sitzung eine "Mitteilung des Bureaus der Komintern-Delegation der KPSU", in der es seine Antwort auf ein Verlangen bekanntmachte, das von Sinowjew an es herangetragen worden war: dieser wollte dem Plenum "Erläuterungen" über den Standpunkt der Opposition geben. Diese vom sowjetischen Zentralkomitee gebilligte Antwort lautete.

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"Das Bureau der Delegation der KPSU steht auf dem Standpunkt, daß ein Auftreten des Genossen Sinowjew auf dem Erweiterten Plenum dem Wesen nach eine Appellation an das EKKI gegen die Beschlüsse der KPSU sein, und infolgedessen notwendigerweise ein Anstoß zu weiteren Fraktionskämpfen bilden würde. Daher erachtet das Delegationsbureau ein solches Auftreten für unzweckmäßig. Dessen ungeachtet hält das Bureau es für unmöglich, Genossen Sinowjew ein solches Auftreten zu verbieten, da jedes Mitglied der KP das Recht hat, an das EKKI gegen die Beschlüsse seiner Partei zu appellieren." (A.a.O., S. 533)
Die Doppelzüngigkeit dieser Antwort springt in die Augen: wir können es euch nicht verbieten, aufzutreten, aber wir halten das Bestehen auf eurem "Recht" für eine Aufforderung zum Fraktionskampf. Mit anderen Worten: ihr könnt reden, aber ihr würdet besser daran tun, zu schweigen und zwar für immer ... Hätten sie geschwiegen, so wäre den Führern der Opposition der Vorwurf gemacht worden, sie hätten sich vor der Exekutive versteckt, um ihren Kampf unterirdisch in der russischen Partei fortzusetzen. Die Möglichkeiten, sich zu äußern, verringerten sich und waren für sie im Verschwinden begriffen. Deshalb konnten sie auf eine Intervention nicht verzichten, was auch immer geschehen würde. Man wird es im Verlauf der Debatten sehen.

Am 7. Dezember wurde von Stalin in einem dreistündigen Bericht die russische Frage vorgebracht. Hinsichtlich dessen, was er früher gesagt hatte, war in ihm nichts Neues zu finden. Er wiederholte die bereits etliche Male gegen die Opposition erhobenen Anschuldigungen: Opportunismus mit linken Phrasen, prinzipienloser Block, Wiederaufnahme alter Differenzen ohne Bezug zu den kontroversen Fragen. Er stellte auch das übliche Amalgam zu bürgerlichen und menschewistischen Strömungen her. Dann folgte eine lange Abhandlung über den Sozialismus in einem Lande, in der sich eine Auslegung einiger Zitate Lenins fand, wo das Wort "Sozialismus" in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wurde, einmal im Sinne der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft, zum andern im Sinne des Sieges der Revolution in einem Lande über den Kapitalismus — in der Weise, daß er ein Gleichheitszeichen zwischen dem Sieg der sozialistischen Revolution in einem Lande und der Organisation der sozialistischen Produktion und der klassenlosen Gesellschaft in der Sowjetunion setzte. Stalin ließ auch durchblicken, was er im Schilde führte, als er erklärte, wenn man nicht den Sozialismus in einem Lande aufbauen könne, "gäbe es keinen Grund, an der Macht zu bleiben". Diese "Theorie" hatte also nur ein unmittelbares Ziel: nach soviel nicht erfüllten Hoffnungen auf revolutionäre Siege außerhalb des Landes Trost zu spenden. Stalin verfehlte auch nicht, die neue Linie bei der Außenpolitik zu erwähnen, deren Anwendung mit dem Anglo-russischen Komitee begonnen hatte, nämlich eine Politik der "Neutralisierung der internationalen Bourgeoisie" (A.a.O., S. 499), um den Sozialismus in einem Lande aufbauen zu können, ohne durch äußere Interventionen gestört zu werden. Im Gegensatz zu der Position Lenins und der Marxisten, für die der Krieg durch die bloße Existenz des Kapitalismus hervorgerufen

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wurde, gründete Stalin seine Politik auf eine mögliche Neutralisierung des Kapitalismus gegenüber dem Sozialismus. Den ökonomischen Problemen widmete der Berichterstatter nur einige zwanzig Zeilen:
"Die Partei geht davon aus, daß die Industrialisierung der Hauptweg des sozialistischen Aufbaus ist, und daß der innere Markt unseres Landes den Hauptmarkt für die sozialistische Industrie bildet, und ist damit der Auffassung, daß die Industrialisierung auf der Grundlage der ununterbrochenen Verbesserung der materiellen Lage der Hauptmasse der Bauernschaft (von den Arbeitern ganz abgesehen) entwickelt werden muß ... Die Opposition aber, die an die Heranziehung der Bauernschaft zum Aufbau des Sozialismus nicht glaubt und offenbar annimmt, daß man die Industrialisierung zum Schaden der Hauptmasse der Bauernschaft durchführen könne, gerät auf den Weg der kapitalistischen Methoden der Industrialisierung, auf den Weg, die Bauernschaft als ´Kolonie', als ´Ausbeutungsobjekt' für den proletarischen Staat einzuschätzen und schlägt Maßnahmen für die Industrialisierung vor (die Verstärkung des Steuerdrucks auf die Bauernschaft, die Erhöhung der Großhandelspreise für Industrieerzeugnisse usw.), die nur dazu geeignet sind, die ´Smytschka' der Industrie mit der Bauernschaft zu zerstören, die wirtschaftliche Lage der armen und Mittelbauern zu untergraben und die Grundlagen der Industrialisierung selbst zu vernichten." (A.a.O., S. 512)
Die Entstellung der entsprechenden Positionen der einen und der anderen war offenkundig. Im Übrigen sagte Stalin nichts über die Planung, nichts über die Bürokratie. Der Bericht schloß mit Beschuldigungen, denen zufolge die Opposition "illegale Dokumente" zirkulieren lasse, behaupte, die Sowjetunion wäre "kein proletarischer Staat" und betreibe eine Fraktionsarbeit, die zu "zwei Parteien" führen würde.

Aufgrund des Inhalts des Stalinschen Berichts widmeten Sinowjew und Trotzki einen Großteil ihrer Zeit der Erwiderung auf die Frage des "Sozialismus in einem Lande". Sinowjew brachte Zitate über Zitate, was die Wirkung abschwächte, welche dieselben Ausführungen in der Form eines Artikels gehabt haben könnten - soweit eine Intervention der Opposition überhaupt einen Einfluß auf die Mitglieder des Plenums hätte habe können. Trotzki erwiderte auf die Frage des "Trotzkismus", die Stalin behandelt hatte - eine Verlängerung der Redezeit, um seine Rede zu beenden, wurde ihm verweigert. Kamenew erzielte durch den offensiven Charakter seiner Rede die größte Wirkung. Er erklärte, die gegen sie erhobene Beschuldigung, die "Rechte" der Partei zu bilden, sei falsch, es gäbe tatsächlich eine Rechte, und sie sei es, die die Partei leite — und er prangerte ihre Politik an. Gegenüber den Beschuldigungen, die Opposition erhalte die Unterstützung der ausländischen bürgerlichen und sozialdemokratischen Feinde, zitierte er die von einem bürgerlichen Schriftsteller eingenommene Position (dessen Name bereits von Lenin in seinem "Testament" erwähnt worden war), eines Ustrjalow, den Kamenew als den "intelligentesten Feind der Diktatur des Proletariats" bezeichnete. Dieser Mann setzte sich für eine Orientierung auf eine Beteiligung an den Vorgängen in der Sowjetunion ein, mit der Absicht, die NEP aus einer Taktik

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der Bolschewiki in eine Entwicklung zur Wiederherstellung des Kapitalismus umzuwandeln. Infolgedessen unterstützte er die Führung gegen die Opposition. Nach der 15. Konferenz der KPSU schrieb er unter dem Beifall Miljukows, dem liberalen Führer der russischen Bourgeoisie im Exil:
"Heil dem Polbüro, wenn die Reueerklärung der Oppositionsführer ein Resultat ihrer einseitigen und bedingungslosen Kapitulation ist. Doch wehe ihm, wenn sie die Frucht eines Kompromisses mit ihnen ist. In diesem Falle dürfte der Kampf unvermeidlich wieder auflodern. Das siegreiche ZK muß eine innere Immunität gegen das zersetzende Oppositionsgift erwerben. Es muß alle Konsequenzen aus der Niederlage der Opposition ziehen ... Sonst wird es ein Unglück für das ganze Land sein." (A.a.O., S. 686)
Die Bourgeoisie zog tatsächlich die Führung der Opposition vor. Ein anderer Oppositioneller, Wujowitsch, ehemaliger Sekretär der Kommunistischen Jugendintemationale, der wie Sinowjew von seinem Posten entfernt worden war, obwohl er von einem Kongreß gewählt wurde, griff in die Debatte ein; er konnte über das Anglo-russische Komitee nur eine kurze Erklärung abgeben, da ihm jede Redezeitverlängerung abgeschlagen wurde.

Die Falle, welche die Oppositionellen geargwöhnt hatten, der sie jedoch nicht ausweichen konnten, trat in Funktion. In seiner Rede hatte Sinowjew darauf hingewiesen, daß die Opposition gegen die Beschlüsse der KPSU keinen Einspruch erhebe und nicht beabsichtige, einen Fraktionskampf zu eröffnen:
"Ich erkläre ausdrücklich: meinerseits geschieht keine Appellation an die Komintern gegen die Beschlüsse meiner Partei. Ich füge mich diesen Beschlüssen. Ich bin es aber der Komintern, an deren leitenden Organen ich seit dem ersten Tage ihres Bestehens aktiv teilgenommen habe, schuldig, einige Erklärungen abzugeben. Meine Partei hat mir das nicht verboten." (A.a.O., S. 549)
Trotzki bekräftigte diese Erklärung und erinnerte außerdem daran, daß der V. Kongreß deswegen, weil er dort nicht interveniert hatte, um seine vom 13. Parteikongreß verurteilten Positionen vorzubringen, ihm Vorwürfe gemacht habe:
"... Der V. Weltkongreß (verurteilte) mich in einem Beschluß ... gerade deshalb, weil ich nicht auftreten wollte. In diesem Beschluß wurde gesagt, daß ich mich auf formelle Gründe berufe, anstatt vor dem höchsten Forum der Internationale aufzutreten und meine Meinung zum Ausdruck zubringen." (A.a.O., S. 581)
Was die Oppositionellen auch immer hätten sagen mögen - die am Plenum Anwesenden waren von ihrer vorgefaßten Meinung nicht abzubringen. Die sehr zahlreichen Reden bestanden nur aus dem Überschütten mit stets heftigen, oft beleidigenden Angriffen. Wer nur' gewagt hätte, stillzuschweigen, wäre in den Verdacht von Sympathien für die Opposition geraten. Diese sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihre Interventionen, insbesondere durch

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die Kamenews - zu der sich Sinowjew und Trotzki gleichfalls bekannten - eine Fraktionstätigkeit wieder aufgenommen zu haben und dadurch die bolschewistische Partei anzugreifen. Das waren die Äußerungen von Bucharin, Ercoli, Thälmann und vielen anderen, im besonderen jedoch von Stalin in seiner Schlußrede, wo er die Dinge weiter durch den Hinweis verschärfte, daß man ihn, Stalin, angreife, um in Wirklichkeit Lenin zu treffen, mit dem er - eine offenkundige Lüge! - keine Differenzen gehabt hätte, vor allem nicht in der nationalen Frage! Die KPSU wurde von allen als die unbestritten führende Partei der KI betrachtet, was dazu ausgenutzt wurde, um die Opposition zu Boden zu drücken. Ercoli bediente sich vor allem dieser Vorstellung, um sie mit Hilfe eines ganz spitzfindigen Trugschlusses seiner Anfangsposition anzupassen, daß nämlich die Oppositionsführer das Recht hätten, sich zu äußern:
"... Ich bin noch der Meinung, daß die Führer der russischen Opposition als Mitglieder oder Kandidaten der Exekutive das Recht hatten, in unsere Debatte einzugreifen, aber ich glaube, daß dieses Recht etwas ist, und der Gebrauch, den sie von diesem Recht machen, wieder etwas anderes ist ... Genosse Sinowjew hat auf diesem Gebiet Erfahrungen ... Gewiß haben wir die Statuten der Internationale, die gewissen Genossen gewisse Rechte garantieren, aber es gibt etwas, was in diesen Statuten nicht enthalten ist.... Das ist die Stellung der russischen Partei in der Internationale, ihre führende Funktion; das geht über den Rahmen der Statuten hinaus. Infolgedessen glaube ich, daß das Auftreten der führenden Genossen der Opposition, wie es hier erfolgte, verurteilt werden muß, weil darin ein Versuch liegt, die leitende Rolle, welche die russische Partei in der Internationale hat, zu desorganisieren. Und auf dieses Auftreten müssen die ausländischen kommunistischen Parteien so antworten: Nun, gegen Euren Versuch scharen wir uns um die russische Partei, wir betonen noch einmal vor dem ganzen Weltproletariat, daß die russische Partei die Kommunistische Internationale leiten soll, und daß diese Funktion in unseren Augen die sicherste Garantie des Sieges der Revolution ist." (A.a.O., S. 626)
Das Recht habt ihr; aber macht keinen Gebraucht davon! Bei Ercoli, der nichts von der unumwundenen Grobheit eines Thälmann besaß, hatte keineswegs sein Urteilsvermögen versagt: in seiner Tasche hatte er einen Brief zurückgehalten, den Gramsci ihm für die KPSU anvertraut hatte, und in dem er von ihr verlangte, die Kampfmethoden gegen die Opposition nicht weiter fortzusetzen, die der kommunistischen Bewegung gewaltigen Schaden zufügen würden.

Auf politischer Ebene wurde von Thälmann eine bezeichnende Erklärung abgegeben:
"Die ganzen chinesischen Probleme sind für uns zum Teil so neu und so interessant, ihr Fragenkomplex ist so kompliziert, daß wir dort besonders vorsichtig manövrieren müssen. Die gleiche Bedeutung wie das Anglo-russiche Komitee neben der KPE als einem Zwischengliede zwischen dem Reformismus und der Revolution in England - dieselbe Bedeutung und sogar Notwendigkeit hat die Kuomintang neben der Kommunistischen Partei Chinas als Zwischenorganisation zur Unterstützung der revolutionären [442] Front. Sieht die Opposition das nicht? Das sind Zwischenglieder, die wir benutzen, auf deren Basis wir die revolutionären Kräfte erweitern, stärken, aktivieren. Das nicht zu verstehen, kennzeichnet die Verzweiflung der führenden Genossen der Opposition, die Schwäche ihres Vertrauens zu den kommunistischen Parteien und zu den revolutionären Kräften des Proletariats." (A.a.O., S. 738)
Komplizierte Probleme, wo man mit Zwischengliedern manövrieren mußte, um die revolutionären Kräfte zu aktivieren ... An dem Stil erkennt man den Menschen, zu den ihn die Bürokratisierung der KI machte.

Zu den Problemen der Sowjetunion wiederholten die Delegierten, was Stalin zum "Sozialismus in einem Lande" geäußert hatte. Viele von ihnen machten es sich auch sehr bequem und tischten die gerade zwei Jahre alten Angriffe Sinowjews und Kamenews gegen den Trotzkismus wieder auf, übertrieben und entstellten sie. Stalin hatte nicht gezögert, Trotzki für Brest-Litowsk zu verurteilen, als wenn Trotzki und nicht Bucharin es gewesen wäre, der die Fraktion der "linken Kommunisten" geleitet und bei dieser Gelegenheit ein offenes Organ herausgegeben hätte; Bucharin wahrte Stillschweigen. Die widersprüchlichsten Beschuldigungen wurden der Opposition in die Schuhe geschoben: sie seien Anhänger des Ultraimperialismus Kautskys, des Bernsteinschen Reformismus, einer syndikalistischen Abweichung usw. Man muß noch die Reden von Delegierten hinzufügen, die ihre Beschwerden über Gegner von ihnen in die Debatte hineinbrachten, ob sich diese nun in ihrer Partei befanden oder aus ihr ausgeschlossen waren. Clara Zetkin ihrerseits stillte ihre Rache an dem früheren Ultralinkstum Sinowjews auf dem V. Kongreß und an denen, die ihn damals, wie Maslow und Ruth Fischer, unterstützt hatten. Eine Kommission hatte einen von Maslow, Ruth Fischer, Urbahns, Scholem und Schwarz gegen ihren Ausschluß aus der KPD gerichteten Appell diskutiert, hatte ihn zurückgewiesen und durch das Plenum den Ausschluß bestätigen lassen. Eine unerwartete Resolution wurde zugunsten Brandlers und Thalheimers angenommen, doch sie hatte nur begrenzten Wert, denn die beiden wurden an Thälmann und Remmele ausgeliefert, die sie im Grunde nicht haben wollten:
"Auf dem Boden der Verurteilung ihrer politischen Fehler ... bleibend, ... stellt die 7. Erweiterte Exekutive fest, daß (sie) ... seit dem 5. Plenum ... keine Fraktionsarbeit unternommen haben ... und (gibt) ihnen die Möglichkeit ..., in der Komintern zu arbeiten. Die Frage der Verwendung der beiden ... Genossen für die deutsche Arbeit ist dem ZK der KPD zu überlassen." (A.a.O., S. 871)
In den Äußerungen, welche die Opposition des Pessimismus beschuldigten, drückte sich in Wirklichkeit der Pessimismus der Mehrheit aus. Sie verteidigte den "Sozialismus in einem Lande": denn diese Möglichkeit verneinen bedeute, nicht an die Kräfte des sowjetischen Proletariats und infolgedessen nicht an die Berechtigung der Oktoberrevolution zu glauben, das hieße, zu

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dem zu gelangen, was Plechanow nach der Revolution von 1905 gesagt hatte: man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen. Keine andere als Clara Zetkin drückte diese Gedanken deutlicher mit einem Pathos aus, das sie selbst schaudern ließ:
"Der Fatalismus, mit dem die Opposition auf die Weltrevolution starrt, ist ein Gegenstück, ein Seitenstück zu der fatalistischen Auffassung von Kautsky und Konsorten, die einst predigten, daß die ökonomische Evolution ganz mechanisch, ganz automatisch eines Tages in die soziale Revolution umschlagen müsse, und die heute von der Entwicklung des Weltkapitalismus verkünden, daß sie automatisch und mechanisch zum Sieg des Sozialismus führen werde, friedlich und schmerzlos, ohne revolutionären Kampf. Der Fatalismus der Opposition, der die Sicherstellung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion vom baldigen Ausbruch von Revolutionen in einzelnen kapitalistischen Ländern abhängig macht, führt zwangsläufig zur Revidierung der revolutionären Einstellung, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen ... Ein Rückwärts, ausgehend von der Zwangsvorstellung der Unmöglichkeit des Sozialismus in der Sowjetunion und endigend mit der Verneinung des proletarischen Wesens des Sowjetstaates, der geschichtlichen Bedeutung des Roten Oktober. Der Abschluß ist also die Auffassung der Menschewiki, daß der Rote Oktober eine lebensunfähige Zangengeburt in die Welt gesetzt habe. Das letzte Wort dieser Entwicklung ist die resignierende und schulmeisterliche Auffassung von Plechanow, der nach der glorreichen Erhebung des Proletariats im Jahre 1905 schrieb: ´Sie hätten nicht zu den Waffen greifen sollen'..." (A.a.O., S. 772 - 773)
In diesen Zeilen folgt ein Sophismus dem anderen. Sie zeigen jedoch, daß die Theorie des "Sozialismus in einem Lande" ein Ersatz und ein Trostpflaster für die enttäuschten Hoffnungen auf einen Sieg der sozialistischen Revolution in internationalem Maßstabe war — auf die Clara Zetkin nicht mehr ihre Blicke heftete. Für die Sowjetrussen, die der kapitalistischen Welt allein gegenüberstanden, lag die Hoffnung in dieser Theorie. Ebenso für die kommunistischen Genossen der kapitalistischen Länder: die Sowjetunion blieb als einzige Eroberung der Vergangenheit übrig und wurde von jetzt an die Fata Morgana einer allein durch ihre eigenen Bemühungen sozialistisch werdenden Gesellschaft. Diese Ideologie, dieses falsche Bewußtsein verwandelte die Sektionen der KI; sie machte ihre Mitglieder nicht mehr zu Organisatoren von Revolutionen, sondern, um einen Ausdruck Trotzkis aufzunehmen, zu "Grenzwächtern", welche sicherzustellen hätten, daß der Aufbau des Sozialismus in der alleinigen Sowjetunion ohne die Gefahr auswärtiger militärischer Interventionen vonstatten ginge. Späterhin, als die kommunistischen Parteien in reformistische Parteien verwandelt wurden, war der Tag derer gekommen, die den "Sozialismus in einem Lande" mit anderen Argumenten rechtfertigen sollten: die Oktoberrevolution sei nur eine Ausnahme gewesen; um zum Sozialismus zu gelangen, sei eine gewaltsame Revolution nicht mehr erforderlich...

Bei einer Enthaltung (die im Protokoll nicht spezifiziert wird) — einstimmig im Namen der "Einigkeit" — angenommen, steckt die Resolution über die russische Frage voller Drohungen für die Zukunft:

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"
  1. Die Opposition in der KPSU ist ihrem geistigen Inhalt nach im Wesen eine rechte, manchmal von linken Phrasen verdeckte Gefahr in der Partei.
  2. Der charakteristische Wesenszug der Opposition ist die Unterschätzung der inneren Entwicklungskräfte der Sowjetunion, was in der Verneinung der Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion zum Ausdruck kommt... Das Erweiterte Plenum erklärt die gegen die KPSU erhobenen Beschuldigungen der nationalen Beschränktheit als Verleumdung... Die KPSU (führt) ihre Politik des sozialistischen Aufbaus vollkommen richtig, in der festen Überzeugung durch, daß die Sowjetunion innerhalb des Landes über alles für den Aufbau der vollständigen sozialistischen Gesellschaft ´Notwendige und Genügende' verfügt. Die Verneinung dieser Möglichkeit durch die Opposition ist nichts anderes, als die Leugnung der Voraussetzungen für die sozialistische Revolution in Rußland, d.h. eine sozialdemokratische Abweichung.
  3. Aus dieser Verneinung .. folgt mit Notwendigkeit ... eine falsche Einschätzung der Staatsbetriebe und der ganzen Ökonomik der Sowjetunion, eine Übertreibung der Kulakengefahr, ein Nichtverstehen der Wege der sozialistischen Entwicklung auf dem Lande, eine falsche Einschätzung des Charakters der Staatsmacht ... und schließlich die Behauptungen von der Ausartung der proletarischen Diktatur in der KPSU bis zu empörenden und an die Konterrevolution grenzenden Äußerungen über einen ´Thermidor'
  4. ...
  5. ...
  6. ...
  7. ... Die Opposition erweist - durch die Aufnahme des Kampfes gegen die Partei unter Durchbrechung der elementarsten Parteinormen, durch Ablehnung der Leninschen Lehren in der Organisationsfrage, und zwar in Theorie und Praxis, durch den Versuch, nach ihrer Kapitulation (siehe Erklärung vom l0. Oktober) den Kampf in andere kommunistische Parteien zu tragen, durch die Schaffung einer Plattform für alle oppositionellen Elemente in der KI und sogar außerhalb ihrer Reihen - den Gegnern des Kommunismus einen Dienst.
  8. .. Das Erweiterte Plenum des EKKI verpflichtet alle Sektionen, in erster Linie die KPSU selbst, die Einheit der Leninschen Partei, der Führerin des ersten proletarischen Staates der Welt, mit allen Mitteln zu schützen
..."
(A.a.O., S. 837-839)
Man achte in diesem Text auf die Versicherung, die Sowjetunion verfüge über alles "Notwendige und Genügende", um dort die "vollständige sozialistische Gesellschaft" aufzubauen. Sieht man von dem Messianismus ab, den diese Versicherung für dieses Land bedeutete, so war kein Zweifel mehr gestattet: die Sowjetgesellschaft mußte - Stalin hat es gesagt! - eine vollständige sozialistische Gesellschaft werden.

Im Anschluß an die 15. Konferenz der KPSU hatte das 7. Plenum die Gesamtheit der kommunistischen Parteien völlig auf die Linie der Führung Stalin-Bucharin festgelegt. Aber diese Führung setzte in sich selbst nicht das Vertrauen, das ihr normalerweise ihre Mehrheit und die zahlenmäßige Schwäche der Opposition hätte einflößen müssen. Sie setzte sehr bald den Kampf gegen die Oppositionellen mit verdoppelter Heftigkeit fort. Sie tat es umso brutaler, als die folgenden zehn bis zwölf Monate eine Fülle von Ereignissen brachte, die sie empfindlich Lügen straften. Sie tat es wahrscheinlich auch, da sie trotz der über ihre Einigkeit verbreiteten Behauptungen nur gegenüber der Opposition einig war, während die internen Spannungen zunahmen und ihr nicht

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verborgen blieb, daß das Zerwürfnis unausbleiblich war. Sie mußte deshalb zuvor mit der Opposition fertig werden. Das Jahr 1927, in dem der 1O. Jahrestag der Oktoberrevolution fällig war, sollte auch das Jahr werden, in dem der Thermidor der ersten siegreichen sozialistischen Revolution vollendet wurde, nachdem sie während dieses Jahrzehnts isoliert geblieben war.


4. Die zweite chinesische Revolution (1925 - 1927)

Ab dem Jahre 1925 machte sich in verschiedenen Ländern des Fernen Ostens, insbesondere in Indonesien und China, sehr stark ein revolutionärer Aufschwung bemerkbar. Die Mitglieder der indonesischen Kommunistischen Partei spielten bei den revolutionären Unruhen ihres Landes eine wichtige Rolle, aber sie taten es unabhängig von der KI, zu der sie nur sehr lockere Beziehungen unterhielten. Aus diesem Grunde wurden sie - trotz der Bedeutung der in Indonesien eintretenden Ereignisse - von uns nicht in die Geschichte der KI aufgenommen, wo sie nur geringen Widerhall fanden. Ganz anders sah es hinsichtlich Chinas aus.

Die Rolle der KI-Führung ist im Verlauf der zweiten chinesischen Revolution überaus wichtig gewesen; sie hatte entscheidenden Einfluß auf die chinesische Kommunistische Partei; sie bestimmte ihre Politik einmal durch ihre zentralen Beschlüsse, zum andern durch die Einmischungen ihrer in dieses Land geschickten Ratgeber. Sie trug die Gesamtverantwortung für diese Politik. Die chinesischen Kommunisten, die Führer ebenso wie die Mitglieder an der Basis, waren im wesentlichen Ausführende, selbst wenn sie in bestimmten Momenten gegen die von ihnen befolgte Politik Einwendungen erhoben haben. Diese Politik der Führung Stalin-Bucharin endete in einem blutigen Bankrott, deren Rechnung von den chinesischen Arbeitern teuer bezahlt werden mußte. Die zweite chinesische Revolution wurde zu einem erheblichen Bestandteil des Kampfes zwischen der Sowjetführung und der Vereinigten Opposition und demzufolge des Lebens der KI.

Der Weltkrieg, die Oktoberrevolution und die Schaffung der KI hatten ernste Konsequenzen für ein China gehabt, das seit dem Opiumkrieg (1841) eine Art Halbkolonie war, wo mehrere imperialistische Mächte, dank der ungleichen Verträge, "Pachtgebiete" in den Hauptstädten des Landes besetzt hielten. Die Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1911 hatte - hinter der Fassade einer diplomatisch anerkannten so genannten Pekinger Regierung -

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die Teilung des Landes in mehrere Regionen nach sich gezogen, in denen "Kriegsherren", das heißt Militärchefs, die sich um die Unterstützung dieses oder jenes Imperialismus bemühten, die Macht ausübten, das Land ausplünderten, sich aus Gründen, bei denen sich die Interessen dieser "Kriegsherren" mit denen der Imperialisten, in deren Solde sie standen, verbanden, entweder schlugen oder verbündeten.

Zwangsweise in den Ersten Weltkrieg hineingezogen sah sich China seitens seiner "Verbündeten", der großen Sieger, um die Früchte des Sieges zugunsten Japans gebracht, das "21 Forderungen", die sich hauptsächlich gegen China richteten, präsentierte. Die Weigerung, diese Forderungen zurückzunehmen, brachte im Jahre 1919 die so bezeichnete "Bewegung des 4. Mai" zustande. An diesem Tage von den Schanghaier Studenten ins Leben gerufen führte diese Bewegung in den darauf folgenden Tagen zu Demonstrationen von Händlern und Arbeiterstreiks in dieser Stadt wie auch in Peking und in mehreren großen Städten des Landes. Zu diesem Zeitpunkt fanden damit die ersten Aktionen einer Bewegung statt, die in die zweite chinesische Revolution einmünden sollte. Ebenfalls von diesem Zeitpunkt an kann man — obwohl vorher bereits einige Organisationen existiert haben - den Beginn der chinesischen Arbeiterbewegung rechnen. In einem China mit ungefähr 400 Millionen Einwohnern lebten damals weniger als zwei Millionen Arbeiter (Bergwerke, Eisenbahnen usw.), somit 0,5% der Bevölkerung. Die "Bewegung des 4. Mai" rief außerdem eine beträchtliche intellektuelle Gärung hervor. Die Sowjetdiplomatie hatte offiziell auf die unter dem Zarismus geschlossenen ungleichen Verträge verzichtet und bot China an, ihr die ostchinesische Eisenbahn zurückzugeben*20 . In dieser Situation entstanden 1920 Gruppen, die sich zum Kommunismus bekannten, und im Jahre 1921 bildete sich die chinesische Kommunistische Partei, die sich zum Zeitpunkt ihres ersten Kongresses hauptsächlich aus zwei Gruppen (Peking und Schanghai) zusammensetzte und ungefähr 60 Mitglieder umfaßte. Sie wurde von in das Land zurückkehrenden chinesischen Kommunisten verstärkt, die sich in Frankreich und in zwei oder drei anderen europäischen Ländern organisiert hatten. (Während des Krieges waren ungefähr 200.000 Chinesen nach Europa gebracht worden, um dort in der Industrie beschäftigt zu werden). Der Generalsekretär der jungen Partei war Chen Tu-hsiu, Professor an der Universität Peking, der eine bemerkenswerte Rolle in der Revolution von 1911 gespielt hatte.

Das wichtigste Problem für die chinesische Kommunistische Partei bestand

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von Anfang an in ihren Beziehungen zu der einzigen anderen mit Erfolg auftretenden politischen Organisationen des Landes, der Kuomintang, und diese Frage sollte sich ihr immer wieder bis zum Siege der dritten chinesischen Revolution im Jahre 1949 stellen: erst dann konnte sie die Kuomintang, mit der Ausnahme des Gebietes von Taiwan, vom Schauplatz entfernen. Woher kam und was war die Kuomintang? Damals war sie in der Hauptsache durch die Person ihres Begründers und Leiters, des Doktors Sun Yat-sen, gekennzeichnet. Im Jahre 1866 geboren, war er seiner Erziehung und seinen Bestrebungen nach auf den bürgerlich-demokratischen Westen ausgerichtet, der damals in höchster Blüte stand. Als Folge seiner langen Jahre des Kampfes wurde Sun Yat-sen zum Führer der demokratischen Revolution von 1911, in deren Verlauf er zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. Diese Funktion fand mit der Niederlage der Revolution ihr Ende. Er stellte seine Organisation, die Kuomintang, im Jahre 1912 wieder her, dann errichtete er 1916 - 1917, durch Manövrieren zwischen den "Kriegsherren", eine Kuomintang-Regierung in der Region von Kanton, die - nach verschiedenen Wendungen - ab 1922 - 1923 dort mehr oder weniger fest installiert war. Die Kuomintang beruhte auf "drei Prinzipien": Er stützte sich auf die Händler, die Arbeiter und die Studenten von Kanton. Es handelte sich um eine nationalistische Volkspartei, welche die Hoffnungen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums zum Ausdruck brachte, die aus ihrem Lande eine moderne von den Ketten des Imperialismus befreite Nation machen wollten. Durch ihr Programm und ihre Zusammensetzung ähnelte die Kuomintang in etwa den Formationen anderer kolonisierter Länder wie zum Beispiel der Kongreßpartei Indiens.

4.1. Lenin und die Probleme der chinesischen Revolution vor 1914

Bevor wir die Beziehungen zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang betrachten, wollen wir uns die Vorstellungen Lenins über die Revolutionen in Ländern wie China, Indien, Iran (Persien) usw. ansehen. Die Frage war in der II. Internationale nie gestellt und diskutiert worden: diese war vor allem eine europäische Organisation. Dort bezeigte man höchstens eine allgemeine Sympathie für Bewegungen mit demokratischen Bestrebungen dieser Länder. Unseres Wissens gab allein Lenin in seinen Artikeln eine Beurteilung über diese Revolutionen ab, die sich auf die Klassenkräfte bezog, welche sich dort gegenüberstanden.

Im Jahre 1912 kommentierte Lenin in einem Artikel mit der Überschrift

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Demokratie und Volkstümlerideologie in China einen Artikel von Sun Yat-sen, des provisorischen Präsidenten der nur sehr kurze Zeit währenden Republik China*22 . Er hob die Gesichtspunkte der Klassenbeziehungen in der chinesischen Revolution im Vergleich zu den gleich gelagerten Problemen hervor, welche die russische Revolution stellte. Wir bringen daraus umfangreiche Zitate, in denen sich eine recht ausgearbeitete theoretische Konzeption befindet, die man kennen muß, um zu verstehen, was später in der KI aus diesen Fragen geworden ist. Die in diesem Artikel unterstrichenen Stellen sind Unterstreichungen Lenins:
"... (Dieser) … chinesische Demokrat (Sun Yat-sen) urteilt buchstäblich wie ein Russe. Seine Ähnlichkeit mit einem russischen Volkstümler ist so groß, daß sie bis zur vollen Übereinstimmung der Hauptgedanken und einer ganzen Reihe einzelner Ausdrücke geht.

... Die Plattform der großen chinesischen Demokratie - denn eben eine solche Plattform stellt der Artikel Sun Yat-sens dar - veranlaßt uns und gibt uns die willkommene Gelegenheit, die Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Demokratismus und Volkstümlerideologie in den gegenwärtigen bürgerlichen Revolutionen Asiens noch einmal unter dem Gesichtswinkel der neuen Weltereignisse zu überprüfen. Es ist das eines der ernstesten Fragen, vor die Rußland, in seiner revolutionären Epoche, die 1905 begann, gestellt worden ist. Und nicht nur Rußland, sondern ganz Asien, wie die Plattform des provisorischen Präsidenten der chinesischen Republik zeigt, besonders wenn man diese Plattform der Entwicklung der revolutionären Ereignisse in Rußland, in der Türkei, in Persien und China gegenüberstellt. Rußland ist in sehr vielen und sehr wesentlichen Beziehungen zweifellos ein asiatischer Staat, und dabei ein ganz besonders barbarischer, mittelalterlicher, schändlich rückständiger asiatischer Staat. Die russische bürgerliche Demokratie ist im Sinne der Volkstümlerideologie gefärbt - beginnend mit ihrem ältesten und einsamen Vorläufer, dem Adligen Heizen ... Jetzt sehen wir, daß die bürgerliche Demokratie Chinas in ganz der gleichen volkstümlerischen Färbung auftritt. Betrachten wir nun am Beispiel Sun Yat-sens, worin die ´soziale Bedeutung' der Ideen besteht, die aus der tiefen revolutionären Bewegung Hunderter und aber Hunderter Millionen Menschen hervorgegangen sind, die jetzt endgültig in den Strom der weltumfassenden kapitalistischen Zivilisation hineingezogen werden. Streitbare, ehrliche demokratische Gesinnung erfüllt jede Zeile der Plattform Sun Yat-sens. Volles Verständnis für die Mangelhaftigkeit einer ´Rassen’revolution. Keine Spur eines Apolitizismus oder auch nur einer Geringschätzung der politischen Freiheit, keinerlei Zulassung des Gedankens einer Vereinbarkeit der chinesischen Selbstherrschaft mit einer chinesischen ´Sozialreform´ mit einer chinesischen konstitutionellen Umgestaltung usw. Voller Demokratismus mit der Forderung der Republik. Direkte Stellung der Frage nach der Lage der Massen, der Frage des Massenkampfes, heißes Mitgefühl mit den Werktätigen und Ausgebeuteten, Glaube an ihr Recht und ihre Kraft.

Vor uns haben wir wirklich die große Ideologie eines wirklich großen Volkes, das sein jahrhundertealtes Sklaventum nicht nur beklagt, von Freiheit und Gleichheit [449] nicht nur träumt, sondern es auch versteht, gegen die jahrhundertealten Unterdrücker Chinas zu kämpfen.
Es drängt sich von selbst der Vergleich zwischen dem provisorischen Präsidenten der Republik im wilden, öden, asiatischen China und den verschiedenen Präsidenten der Republiken in Europa, in Amerika, in den Ländern der fortgeschrittenen Kultur auf. Dort sind die Präsidenten der Republiken durchweg Manager, Agenten oder Puppen in den Händen der Bourgeoisie, die durch und durch verfault ist, von Kopf bis Fuß ... Hier der asiatische provisorische Präsident einer Republik, ein revolutionärer Demokrat, voll Edelsinn und Heroismus, wie sie einer Klasse eigen sind, die aufsteigt und nicht abwärts gleitet, die die Zukunft nicht fürchtet, sondern an sie glaubt und mit Selbstverleugnung für sie kämpft - einer Klasse, die das Vergangene haßt und es versteht, sich des Abgestorbenen, der alles Leben erstickenden Fäulnis zu entledigen, einer Klasse, die sich nicht um ihrer Privilegien willen an die Erhaltung und Wiederaufrichtung des Vergangenen klammert...
... Verfault ist die Bourgeoisie des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht - das Proletariat. Aber in Asien existiert noch eine Bourgeoisie, die fähig ist, die ehrliche, streitbare und konsequente Demokratie zu vertreten, eine würdige Gefährtin der großen Verkünder und großen Tatmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich.
Der Hauptvertreter oder die soziale Hauptstütze dieser, einer historisch fortschrittlichen Sache noch fähigen, asiatischen Bourgeoisie ist der Bauer. Neben ihm gibt es bereits eine liberale Bourgeoisie, deren Führer, wie Yüan Schi-kai, am ehesten des Verrats fähig sind ...
Ohne einen starken, wahrhaften demokratischen Aufschwung, der die werktätigen Massen entflammt, sie fähig macht, Wunder zu vollbringen, und der in jedem Satz der Plattform Sun Yat-sens sichtbar wird, wäre eine wirkliche Befreiung des chinesischen Volkes von der jahrhundertealten Sklaverei unmöglich.
Aber diese Ideologie des streitbaren Demokratismus ist bei den chinesischen Volkstümlern verknüpft erstens mit sozialistischen Träumereien, mit der Hoffnung, den Weg des Kapitalismus in China zu vermeiden, dem Kapitalismus zuvorzukommen, und zweitens mit dem Plan und der Propagierung einer radikalen Agrarreform. Gerade diese beiden politisch-ideologischen Strömungen stellen das Element dar, welches das Wesen der Volkstümlerrichtung in der spezifischen Bedeutung dieses Begriffs, d.h. zum Unterschied vom Demokratismus, in Ergänzung zum Demokratismus, ausmacht.
Welchen Ursprung und welche Bedeutung haben diese Strömungen? Die chinesische Demokratie konnte die alte Ordnung in China nicht stürzen und die Republik nicht erobern ohne einen gewaltigen geistigen und revolutionären Aufschwung der Massen. Ein solcher Aufschwung setzt voraus und erzeugt das aufrichtigste Mitgefühl mit der Lage der werktätigen Massen, den glühendsten Haß gegen ihre Unterdrücker und Ausbeuter. Doch in Europa und Amerika, von wo die fortschrittlichen Chinesen, alle Chinesen, soweit sie diesen Aufschwung verspürten, ihre Befreiungsideen entlehnt haben, steht schon die Befreiung von der Bourgeoisie, d.h. der Sozialismus, auf der Tagesordnung. Die Folge ist unvermeidlich die Sympathie der chinesischen Demokraten für den Sozialismus, ihr subjektiver Sozialismus ... Und nun zeigt sich, daß sich aus den subjektiv-sozialistischen Gedanken und Programmen des chinesischen Demokraten in der Praxis ein Programm der Änderung aller Rechtsgrundlagen einzig und allein des ´unbeweglichen Eigentums', ein Programm der Vernichtung einzig und allein der feudalen Ausbeutung ergibt. Darin liegt der Kern der Volkstümlerideologie Sun Yat-sens, seines fortschrittlichen, kämpferischen, revolutionären Programms der bürgerlich-demokratischen Agrarumgestaltungen und seiner so genannten sozialistischen Theorie. [450]
Diese Theorie ist, vom Standpunkt der Doktrin betrachtet, die Theorie eines kleinbürgerlichen ´sozialistischen' Reaktionärs. Denn es ist ganz und gar reaktionär, davon zu träumen, daß es in China möglich sei, dem Kapitalismus ´zuvorzukommen', daß in China infolge seiner Rückständigkeit die ´soziale Revolution' leichter sei usw. Und Sun Yat-sen läßt selbst mit unnachahmlicher, man könnte fast sagen kindlicher Naivität seine reaktionäre Volkstümlerideologie in Rauch aufgehen, wenn er anerkennt, was anzuerkennen das Leben erzwingt: daß nämlich ´China am Vorabend einer gigantischen industriellen' (d.h. kapitalistischen) ´Entwicklung steht', daß in China ´der Handel' (d.h. der Kapitalismus) ´sich in gewaltigem Ausmaß entfalten wird', daß es ´bei uns in 50 Jahren viele Schanghais geben wird', d.h. Millionenzentren kapitalistischen Reichtums und proletarischer Not und Armut.
Aber es fragt sich - und das ist der ganze Kern der Frage, das ist der interessanteste Punkt, vor dem nicht selten der kastrierte liberale Quasimarxismus haltmacht -, es fragt sich, ob Sun Yat-sen auf Grund seiner reaktionären ökonomischen Theorie wirklich ein reaktionäres Agrarprogramm vertritt.
Darum eben geht es, daß dem nicht so ist. Darin eben besteht die Dialektik der gesellschaftlichen Verhältnisse Chinas, daß die chinesischen Demokraten, die mit dem Sozialismus in Europa aufrichtig sympathisierten, ihn in eine reaktionäre Theorie verwandelt haben und auf Grund dieser reaktionären Theorie, daß China dem Kapitalismus ´zuvorkommen' könne, ein rein kapitalistisches, maximal kapitalistisches Agrarprogramm verfechten!
... Die Ironie der Geschichte besteht darin, daß die Volkstümlerrichtung im Namen des ´Kampfes gegen den Kapitalismus' in der Landwirtschaft ein Agrarprogramm vertritt, dessen volle Verwirklichung die schnellste Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft bedeuten würde ...
Je mehr China hinter Europa und hinter Japan zurückblieb, desto mehr drohte ihm Zerstückelung und nationaler Zerfall. ´Erneuern' konnte es nur der Heroismus der revolutionären Volksmassen, der fähig ist, auf dem Gebiet der Politik die chinesische Republik zu schaffen und auf dem Gebiet der Landwirtschaft mittels der Nationalisierung des Bodens den raschesten kapitalistischen Fortschritt zu sichern. Ob und in welchem Maße das gelingt, das ist eine andere Frage. Verschiedene Länder haben in ihren bürgerlichen Revolutionen verschiedene Stufen der politischen Demokratie und der Agrardemokratie verwirklicht, und dabei in den buntesten Kombinationen ... Die revolutionäre bürgerliche Demokratie, die von Sun Yat-sen vertreten wird, sucht ganz richtig den Weg zur ´Erneuerung' Chinas in der Entwicklung der größtmöglichen Selbsttätigkeit, Entschlossenheit und Kühnheit der bäuerlichen Massen in der Sache der politischen und der Agrarreform.
Und schließlich wird, in dem Maße, wie in China die Zahl der Schanghais wachsen wird, auch das chinesische Proletariat wachsen. Es wird wahrscheinlich diese oder jene chinesische sozialdemokratische Arbeiterpartei bilden, die bei gleichzeitiger Kritik an den kleinbürgerlichen Utopien und den reaktionären Anschauungen Sun Yat-sens den revolutionär-demokratischen Kern seines politischen und Agrarprogramms sicherlich sorgfältig herausheben, bewahren und weiterentwickeln wird."
(15. Juli 1912 - Lenin Werke, Bd. l8, S. 152 - 158, Berlin 1962)
In einem einige Monate später erschienenen Artikel (am 8. November 1912) schrieb er über den gleichen Gegenstand noch folgendes:
"Die chinesische Freiheit ist erobert worden durch das Bündnis der bäuerlichen Demokratie und der liberalen Bourgeoisie. Ob die Bauern, die nicht von einer Partei des Proletariats geführt werden, imstande sein werden, ihre demokratische Position gegen [451] die Liberalen zu behaupten, die nur auf den geeigneten Moment waren, um nach rechts umzufallen - das wird die nahe Zukunft zeigen." (A.a.o., S. 394)
Aus dieser so bemerkenswerten Analyse ersieht man, daß Lenin für das zaristische Rußland — diesen "asiatischen", "barbarischen", "schändlich rückständigen" Staat - nach der Revolution von 1905 die programmatische Losung der "demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" gegen die Bourgeoisie formuliert, daß er aber in China meint, daß der demokratischste, militanteste Flügel - nicht ein gewisser, "am ehesten des Verrats fähiger" liberaler Flügel - noch eine progressive Rolle, nach Art der französischen Bourgeoisie des 18.Jahrhunderts, spiele. Es verhalte sich so trotz des utopischen, reaktionären, kleinbürgerlichen Elements, das in seinem volkstümlerischen Programm eingeschlossen ist. Wenn er auch in Rußland ein Bündnis des Proletariats und der Bauernschaft gegen die Bourgeoisie vorschlägt, so spricht er sich in China für ein Bündnis eines Flügels der Bourgeoisie mit der Bauernschaft aus. Das erst im Keim vorhandene Proletariat hätte die Aufgabe, während seines zahlenmäßigen Wachsens, den "revolutionär-demokratischen Kern" des Programms Sun Yat-sens auszunutzen, um die sozialistische Zukunft vorzubereiten.

Während des Krieges 1914 - 18 machten Lenins Vorstellungen hinsichtlich der russischen Revolution eine Entwicklung durch und fanden in den "Aprilthesen" ihren vollendeten Ausdruck, aber er übertrug sie nicht auf die Revolutionen in Asien. Und kein revolutionär-marxistischer Führer, selbst Trotzki nicht, der seine Theorie der "permanenten Revolution" nur für Rußland formuliert hatte, faßte für diese Revolutionen eine andere Entwicklung als jene der klassischen bürgerlichen Revolutionen ins Auge. Das war die den Thesen über "die nationale und koloniale Frage" zugrunde liegende Konzeption des II. Kongresses, die nur auf die diesen Revolutionen durch das Weltproletariat zu leistende Hilfe abstellten, sowie auf die Notwendigkeit für die Kommunisten dieser Länder, sich unabhängig zu organisieren und an den antiimperialistischen Kämpfen teilzunehmen, einschließlich gegebenenfalls im Bündnis mit den Parteien der nationalen Bourgeoisie. Auf dieser theoretischen Grundlage — mit Einschluß der von den bürgerlichen Revolutionen — fand sich die KI 1925 mit der chinesischen Revolution konfrontiert.

Sie stand auch Bewegungen gegenüber, die oft vom Klassenstandpunkt aus wenig differenziert waren, in denen einzelne Personen und Strömungen ihre Sympathie für die Oktoberrevolution und die KI zeigten.

4.2. Der Eintritt der chinesischen Kommunistischen Partei in die Kuomintang

Zwischen der Kuomintang, die mehr als zwanzig Jahre bestand, und der kommunistischen Partei, die soeben gegründet worden war, bestand hinsichtlich der Mitgliederzahl und des politischen Einflusses ein krasses Mißverhält-

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nis. Die Kuomintang hatte einen in ganz China und selbst in der Welt berühmten Führer. Ihre wenn auch nur mittelmäßig ausgebaute Organisation besaß quer durch China Einfluß und Prestige und darüber hinaus eine Regierung in Kanton, die über eine Armee verfügte. Die Kommunistische Partei hatte bei ihrem Gründungskongreß nur etwa sechzig Mitglieder, und diese Zahl wurde keineswegs durch die Tatsache ausgeglichen, daß ihr wichtigster Führer Chen Tu-hsiu gleichfalls persönlich angesehen war. Die Kommunistische Partei wuchs langsam zählte auf ihrem 3. Kongreß (1923) nur ungefähr 350 und auf ihrem 4. Kongreß im Januar 1925 ungefähr 1.000 Mitglieder. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß die Beziehungen zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei nicht im ersten Anlauf bei diesen zwei dem Umfange nach so ungleichen Organisationen glückten. Beziehungen wurden auf verschiedenen Ebenen und zwischen den unterschiedlichsten Gesprächspartnern geschaffen. Wir wollen uns nicht mit einer Fülle von Einzelheiten aufhalten und beschränken uns darauf, die Ereignisse in großen Zügen darzustellen.

Anfangs gab es nur eine sehr geringe Differenzierung zwischen der KI und dem sowjetischen Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten. Zum ersten Kontakt mit Sun Yat-sen — anscheinend ohne Erfolg — kam es im Herbst 1920 durch den Delegierten der KI in China Woitinski. Dann, im Dezember 1921, war die Reihe an Maring (Sneevliet), ebenfalls Vertreter der KI. Möglicherweise, jedoch nicht mit Sicherheit, erreichte er, daß Mitglieder der Kuomintang ermächtigt werden, an der in Irkutsk vorgesehenen und in Moskau abgehaltenen Konferenz teilzunehmen*23 . Mit der Vorbereitung der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Moskau beauftragt, traf A. Joffe im Dezember 1922 Sun Yat-sen in Schanghai, und dieses Treffen brachte die Entscheidung. Als Abschluß der Unterredungen wurde am 26 Januar 1923 eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der es heißt:
"Doktor Sun Yat-sen meint, das kommunistische System und selbst das der Sowjets können nicht in China eingeführt werden, wo zu ihrer Anwendung keine günstige Voraussetzung besteht. Diese Auffassung wird völlig von Herrn Joffe geteilt, der meint, für China sei das wichtigste und dringendste Problem das seiner Einigung und seiner nationalen Unabhängigkeit. Er hat Doktor Sun Yat-sen versichert, China besitze die ganze Sympathie des russischen Volkes und könne bei diesem großen Unterfangen auf die Unterstützung Rußlands rechnen."
Die Sowjetregierung bestätigte im Übrigen ihren Verzicht auf die Bestimmungen der vom Zaren unterzeichneten Verträge, die den Russen Privilegien gewährten, welche die chinesische Souveränität verletzten. Das Abkommen Sun Yat-sen — Joffe wirkte sich im Juni des gleichen Jahres in der Entsendung einer chinesischen Delegation nach Moskau aus, die von Tschiang Kai-schek, dem General-

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Stabschef der Kuomintang-Truppen, geleitet wurde, und in der Ankunft in China im Oktober 1923 von Borodin und sowjetischen Ratgebern, deren Aufgabe es war, die Kuomintang als Partei sowie ihre Armee zu reorganisieren. Die Kuomintang erhielt von da an ähnliche Strukturen wie die bolschewistische Partei, also auch wie die der chinesischen Kommunistischen Partei, doch hatte sie dieser gegenüber den Vorteil, stärker zu sein und über mehr Mittel zu verfügen. Bald darauf wurden die Mitglieder der Kommunistischen Partei in die Kuomintang eingetragen*24 . Auf militärischer Ebene konnte die Sowjetunion zu jener Zeit nur wenig Material liefern, aber sie half beim Aufbau der Militärakademie von Whampoa, deren Leiter Tschiang Kai-schek und sein beigeordneter politischer Direktor das Mitglied der Kommunistischen Partei Chou En-lai war. So also haben die Sowjetrussen insgesamt dazu beigetragen, die Kuomintang als politische Organisation wie als Militärorganisation umzugestalten. Wie wir bereits erwähnten, starb Sun Yat-sen am 12.März 1925, kurze Zeit, nachdem er der KI und der Kuomintang testamentarische Botschaften übermittelt hatte, in denen er die weitere Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der KI auf der einen Seite, von China und der Kuomintang auf der anderen eindringlich bestätigte.

Die spezielle Frage des Beitritts der Kommunistischen Partei zur Kuomintang wurde zum ersten Male im August 1922 gestellt, in einer Sitzung des Zentralkomitees, das einen Monat zuvor vom 2. Parteikongreß gewählt worden war. Sie wurde dort vom Delegierten der KI Maring aufgeworfen, der vorschlug, jedes Parteimitglied solle Mitglied der Kuomintang werden*25 . Im Zentral-

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komitee zeigten sich Meinungsverschiedenheiten, und erst im Juni 1923 auf dem 3. Kongreß wurde der Beitritt der Parteimitglieder zur Kuomintang beschlossen. Das war auch jener Kongreß, auf dem Mao Tse-tung zum ersten Male ins Zentralkomitee gewählt wurde. Das Manifest des Kongresses erkannte die führende Rolle der Kuomintang in der chinesischen Revolution an und fügte noch einige kritische Bemerkungen hinzu, oder vielmehr Ratschläge, wie sie es besser machen könnte:
"Die Kuomintang sollte die zentrale Kraft der Revolution sein und sie noch mehr anführen. Leider vertritt die Kuomintang dauernd zwei verkehrte Auffassungen: 1. sie hofft, daß die ausländischen Mächte der nationalen chinesischen Revolution helfen werden ... 2. sie konzentriert ihre Kräfte auf die militärische Aktion und vernachlässigt die Propaganda unter den Massen. Deshalb wird die Kuomintang ihre führende politische Rolle einbüßen, denn eine national-revolutionäre Partei, die nicht die Sympathien des gesamten Volkes erlangt, kann niemals Erfolg haben, wenn sie sich bloß auf die Militärkräfte stützt ... Wir hoffen also, daß sich alle revolutionären Elemente der Gesellschaft um die Kuomintang gruppieren, um die Verwirklichung der nationalen Revolution zu beschleunigen ..."
In den ersten Jahren hatte sich die KI gehütet, etwas anderes als ein Bündnis zwischen Kommunistischer Partei und Kuomintang zu empfehlen, wie es in mehreren Erklärungen festzustellen ist:
"Wir sind davon überzeugt, daß diese Partei - die Kuomintang - eine große revolutionäre Arbeit bewerkstelligt hat, die in China unbedingt notwendig war, und wir hoffen, Seite an Seite mit ihr in der Zukunft zu kämpfen ..." (Safarow, Delegierter der KI in Irkutsk, 1922)
"Im gegenwärtigen Interesse der Arbeiter und armen Bauern sollte die chinesische Kommunistische Partei die Arbeiter auffordern, der revolutionär-demokratischen Bewegung zu helfen und erreichen, daß die Arbeiter, die armen Bauern und die Kleinbourgeoisie eine geeinte demokratische Front bilden." (2.Kongreß der chinesischen Partei, Juli 1922)
" Solang die Arbeiterklasse nicht als eine absolut unabhängige Kraft Gestalt angenommen hat, hält es das Exekutivkomitee der KI für notwendig, die Aktivitäten der Kuo- [455] mintang und der chinesischen Kommunistischen Partei zu koordinieren." (Exekutivkomitee, 12. Januar 1923)
Koordinierung der Aktivitäten, kein Eintritt. Warum wurde dann diese Position nicht beibehalten? Was hat die Änderung hervorgerufen? Die Probleme eines Landes wie China waren, bevor die Ereignisse sie nicht in den Vordergrund rückten, nur einigen "Spezialisten" für den Fernen Osten bekannt — und noch dazu wenig bekannt - und wurden von diesen verfolgt: bei diesen Spezialisten selbst herrschte über die Frage der revolutionär-nationalen Parteien Verwirrung. Der Inder N .M. Roy schätzte die Kongreßpartei seines Landes richtiger ein, da die indische Bourgeoisie schon relativ entwickelt und der Klassencharakter dieser Partei schon ein wenig klarer ausgeprägt war. Maring, der in seinem Lande von den "Tribunisten" beeinflußt worden war — von Dogmatikern wie Pannekoek und Gorter — hatte, gegenüber den nationalistischen Bewegungen eine Einstellung, die von seinen eigenen Erfahrungen in Indonesien bestimmt wurde. Der Hauptgrund für eine Orientierung auf den Eintritt in die Kuomintang — im Gegensatz zu der Resolution des II. Kongresses, die sich ausdrücklich für die organisatorische Unabhängigkeit der Kommunisten in Bezug auf die nationale Bourgeoisie und ihre Formationen ausgesprochen hatte — lag daran, daß viele eine unschlüssige Haltung zum Charakter der revolutionär-nationalistischen Parteien und zu den Klassenbeziehungen im eigentlichen Verlauf des Kampfes einnahmen. Zu der Zeit, als die Revolution noch von Lenin und Trotzki geleitet wurde, war der Fall des türkischen nationalen Befreiungskampfes von ihnen in einer Weise behandelt worden, die — nach unserer Auffassung — zur Diskussion veranlassen könnte, nicht ob es notwendig sei, Kemal gegen die Griechen, Werkzeuge des britischen Imperialismus, zu unterstützen, sondern das Problem der Beziehungen zwischen den türkischen Kommunisten und den Kemalisten zu behandeln*26 . Es ist wahrscheinlicher, daß für die Sowjetregierung und die KI-Führung der Eintritt der chinesischen Partei in die Kuomintang aus verschiedenen Gründen diktiert wurde: aus der zuvor erwähnten politischen Verwirrung, aus der Hoffnung, angesichts eines gewaltigen revolutionären Aufschwungs sehr schnell über ein zahlenmäßig erheblich stärkeres Aktionspotential als die Kommunistische Partei verfugen zu können, und aus anderen Gründen, die wir später erwähnen werden.

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4.3. Die Hauptphasen der Revolution

Wir wollen die Hauptphasen der chinesischen Revolution 1925 - 27 in großen Zügen zusammenfassen, um dann ihnen die von der KI eingenommene Position gegenüberzustellen und die Debatten zu schildern, die sich dort abspielten. Die Geschichte dieser Revolution liegt in zahlreichen Werken vor und die wichtigsten Tatsachen sind allgemein bekannt*27 . Das unseres Dafürhaltens zuverlässigste Werk dieses grandiosen Kampfes ist das von Harold Isaacs, der sich an Ort und Steile der Tragödie befunden und sie - mit zahlreichen Dokumenten belegt - beschrieben hat. Er hat auch verstanden, die innere Logik aufzuzeigen, die zu ihrer Niederlage geführt hat*28 .

In den Jahren 1923 und 1924 mehrten sich die Anzeichen für eine Radikalisierung der chinesischen Massen. Die Streiks wurden häufiger, Gewerkschaften entstanden und wuchsen. Das flache Land geriet in Bewegung. Zum Ausgangspunkt der Revolution sollte der 30. Mai 1925 werden. Nach der Ermordung eines Arbeiters in einer japanischen Spinnerei Schanghais kam es in dieser Stadt zu einer großen Demonstration. Die britische Polizei schoß, tötete ein Dutzend Demonstranten und verwundete mehrere Dutzend. Das war der Ursprung einer Reihe von Streiks und Demonstrationen quer durch das ganze Land, bei denen weitere Arbeiter getötet und verwundet wurden. Von jetzt an jedoch entstand in ganz China eine stetig zunehmende mächtige Bewegung,

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die das Ende der ungleichen Verträge und der ausländischen Pachtgebiete, den Abzug der ausländischen Truppen verlangte.

Ausgelöst wurde, wie man sieht, die Bewegung durch einen Arbeiterstreik, durch ihre Generalisierung aber nahm sie vor allem eine national-revolutionäre Färbung an. Die Gewerkschaften schössen weiterhin wie Pilze aus der Erde; in ihnen nahmen die Mitglieder der Kommunistischen Partei, zum großen Entsetzen der chinesischen Bourgeoisie, einen überragenden Platz ein. In der Kuomintang — die kurz nach dem 6. Plenum (Februar - März 1926) in die KI als sympathisierende Organisation aufgenommen worden war — traten die Unterschiede stärker hervor, vor allem in der Frage der Beziehungen zu den Kommunisten. Die Entwicklung der Bauernbewegungen im Laufe des Jahres 1925 war ebenfalls spürbar, wenn auch langsamer. In diesem gleichen Jahre weitete die Kuomintang ihre Positionen in der Provinz Kwantung aus und konsolidierte sie und erhöhte die Kriegstüchtigkeit ihrer von Tschiang Kai-schek in Kämpfe hineingeführten Truppen. Die Differenzen innerhalb der Kuomintang polarisierten sich um den militärischen Führer Tschiang Kai-schek und den politischen Leiter Wang Ching-wei, der noch zu Beginn des Jahres 1926 formell der Vorgesetzte des ersteren war.

Der Zwischenfall, der allen Veränderungen in den Beziehungen zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei voranging, ist der "Handstreich vom 2O. März" 1926. Unter einem fadenscheinigen Vorwand ließ Tschiang Kai-schek während der Nacht mehrere Dutzend Kommunisten, vor allem politische Kommissare, die zu verschiedenen Armeeinheiten gehörten, verhaften, und wies den im Schlaf überraschten sowjetischen Kommunisten überwachte Wohnsitze an. Die Massen reagierten darauf nicht, weil niemand sie dazu aufforderte. Auf diese Weise machte sich Tschiang Kai-schek zum Herren Kantons. Die "Linke" in der Kuomintang gab klein bei, ihr Führer Wang Ching-wei übertrug seine Vollmachten auf Tschiang Kai-schek und schiffte sich nach Europa ein, von wo er erst am 1. April des folgenden Jahres zurückkehrte. Das Zentralkomitee der Kuomintaneg, von nun an unter der Leitung von Tschiang Kai-schek, ergriff hinsichtlich der Beziehungen zwischen der Kuomintang und der chinesischen Kommunistischen Partei folgende Maßnahmen: Der "Handstreich vom 20. März" hatte nur begrenzte Wirkung, es kam zu keinem wirklichen Blutvergießen, wie es in der Zukunft geschehen sollte, aber er hatte eine überaus klare politische Bedeutung. Er wurde in der sowjetischen Presse nicht erwähnt und blieb selbst den Mitgliedern des Exekutivkomitees verborgen*29 .

Tschiang Kai-schek fühlte zu diesem Zeitpunkt kein Bedürfnis, die Dinge voranzutreiben es genügte ihm, die Maschen des Netzes enger geknüpft und das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten geändert zu haben, auch gegenüber den sowjetischen Ratgebern und infolgedessen der Sowjetregierung. Eine der wichtigsten Folgen dieser Änderung des Kräfteverhältnisses bestand darin, daß die Kommunistische Partei und die sowjetischen Ratgeber nicht mehr die Bemühungen der Kantoner Arbeiter wie zuvor darauf richten konnten, ihre Organisationen in der Stadt und in der Provinz zu entwickeln: sie waren stattdessen genötigt, in die Fußstapfen der Kuomintang zu treten und diese Bemühungen auf eine Militäroffensive zu lenken, um den Norden des Landes zu erobern. Von dieser Offensive, die im Namen der Einigung des Landes vor sich gehen sollte, hatten bisher die Vertreter der Sowjetregierung abgeraten; sie entsprach jedoch den Bedürfnissen der Kantoner Bourgeoisie, die eine Vertiefung der Revolution fürchtete und von ihr durch eine militärische Operation ablenken wollte, um eine Erweiterung des Gebietes, über das sie die Macht ausübte, zu erreichen.

Im Juli 1926 begannen die von Tschiang Kai-schek befehligten Armeen, nach dem Norden zu marschieren. Da sie sich auf eine ungestüme revolutionäre Welle stützten, die in Wirklichkeit das Gelände für ihr Vorgehen vorbereitete, errangen sie alsbald Siege. Zu der gleichen Zeit sorgte der Generalstab Tschiang Kai-scheks dafür, daß die Massenbewegungen zurückgehalten oder selbst zerstört wurden. Unter dem Vorwand, daß der Krieg es erfordere,

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proklamierte er am 29. Juli das Kriegsrecht. Einige Tage später kam der Befehl, "während der Dauer des Nordfeldzuges alle Störungen bei der Arbeit zu untersagen". Von den neuen Machthabern Kantons in einer "Zentralvereinigung der Arbeit" zusammengebrachte Gangster griffen aktive Gewerkschafter an; im Verlauf der von ihnen provozierten Zusammenstöße wurden Dutzende von Arbeitern getötet. Die gleiche Politik wurde von Tschiang Kai-schek auf dem Lande betrieben. Zwei Delegationen der KI, die eine offiziell, die andere nicht, begleiteten den Marsch der Kuomintang-Armeen. Die zweite setzte sich aus jungen in ihren Parteien unbekannten oder wenig bekannten Genossen zusammen. Weit davon entfernt, zur Opposition zu gehören oder zu ihr Verbindung zu haben, unterstützten sie die Führung der KPSU. An Ort und Stelle angekommen waren sie der Auffassung, Borodin vertrete eine eigene Linie, die sich von der der KI unterscheide. Am 17. März schickte diese Delegation einen Bericht*30 nach Moskau, der darüber Auskunft gab, wie die offiziellen Vertreter der KI in diesem entscheidenden Stadium der Revolution dazu beitrugen, die Forderungen der Massen herabzuschrauben, um nicht Gefahr zu laufen, es zu einem Bruch der "Einigkeit" mit den Kuomintang-Führern kommen zu lassen:
"Die Beschüsse des Juniplenums des ZK (der chinesischen KP) ... (riefen) zum Block mit den .guten Gentry' und den Großgrundbesitzern (auf) ... Die alte Linie der Abdämpfung des Kampfes im Dorfe und der Abbremsung der Bauernbewegung bleibt bestehen ... Die Furcht vor der Bauernbewegung war und blieb in der Partei ... (Die Resolution vom Dezember-Plenum des ZK) sagt, man dürfe die Losung einer Bauernregierung nicht aufstellen, um die Kleinbourgeoisie nicht abzuschrecken ... Die Genossen sind der Meinung, der Bauer brauche sich nicht zu bewaffnen ... (In der Arbeiterbewegung) (sind) die fortwährenden Techtelmechtel mit den Unternehmern, die Teilnahme an den Profiten, die Einschränkung der Produktion, die Beteiligung an der Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die Unterwerfung der Gewerkschafter unter die Akkordunternehmer und Meister ... gewöhnliche Erscheinungen. Andererseits kommen Weigerungen vor, die ökonomischen Forderungen der Arbeiter zu unterstützen und zu verteidigen ... Der Bericht des ZK ... sagt: ... , Die Streiks der nicht-industriellen Arbeiter und Angestellten (sind) lediglich Konflikte innerhalb der Kleinbourgeoisie selbst ...'. Die Partei sprach niemals zu den Arbeitern über Waffen und bewaffneten Kampf...
(Woitinski) bewies die Unmöglichkeit der Organisierung von Zellen (im Heer), erstens dadurch, daß das Militärkommando, speziell Tschiang Kai-schek, hierin Umtriebe der Kommunisten erblicken würde, was die Beziehungen verschärfen würde, zweitens aber dadurch, daß die Kanton-Armee einer Bearbeitung von unten her nicht zugänglich sei ..."
(A.a.O., S. 19 - 23)

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Das Drama wurde durch den Widerspruch zwischen dem revolutionären Schwung der Massen und der bürgerlichen Politik der Kuomintang - die von der KI unterstützt wurde - verursacht. Die erste entscheidende Phase der Lösung des Knotens trat ein, als die von Kanton gekommenen Truppen sich dem Jang Tse-kiang und den großen an diesem Fluß gelegenen Städten näherten, vor allem dem Hauptsitz der Industrie Schanghai, wo sich der Kern der chinesischen Arbeiterklasse, infolgedessen der Revolution selbst, befand. Anfang 1927 hatten sich die chinesischen Massen des ausländischen Pachtgebiets Hankau bemächtigt. Die Übersiedlung der von Wang Ching-wei und der „linken" Kuomintang geleiteten Kanton-Regierung nach Wuhan führte zu einem Konflikt mit Tschiang Kai-schek, der die Armee führte und seine eigene Regierung in Nanking bildete. Vom Februar an verlangsamte Tschiang Kai-schek seinen Vormarsch auf Schanghai und stellte ihn schließlich ganz ein. In dieser Stadt lösten die Arbeiter einen Generalstreik und am 22. Februar eine bewaffnete Erhebung aus, die gewaltsam unterdrückt wurde. Am 21. März öffnete eine neue Erhebung die Stadt den Truppen Tschiang Kai-scheks, der am 26. März in sie eindrang. Ihm genügten etwa zwei Wochen, um einen Angriff in die Wege zu leiten, zu dem er am 12. April gegen die Arbeiter Schanghais und ihre Organisationen überging. Tausende und Abertausende Männer und Frauen wurden mit ungewöhnlicher Grausamkeit von den Truppen Tschiang Kai-scheks und von organisierten Gangsterbanden dieser Stadt ermordet.

Im gleichen Zeitraum, am 6. April, griffen in Peking Weißrussen die sowjetische Gesandtschaft an; der chinesische Marschall Chang Tso-liang schritt zur Verhaftung chinesischer Kommunisten und zu ihrer Ermordung, darunter auch von Li Ta-chao, einem ihrer Parteiführer. Diese beiden Schläge, der eine in Schanghai, der andere in Peking, bedeuteten einen schrecklichen Aderlaß für die Kommunistische Partei und die chinesische Arbeiterklasse.

Einige Tage später, am 21. April, beschloß die KI, nachdem sie ihr Schweigen gebrochen und vom "Verrat Tschiang Kai-scheks" gesprochen hatte, die alte Linie weiterzuverfolgen, das heißt intensiv die linke Kuomintang und die von Wang Ching-wei angeführte Wuhan-Regierung zu unterstützen. In die Regierung traten zwei Kommunisten ein, der eine als Arbeits-, der andere als Landwirtschaftsminister. Zur gleichen Zeit bemühte man sich um eine Annäherung an den christlichen General des Nordens, Fen Yü-hsiang. Aber mit Wang Ching-wei und mit diesem christlichen General vollzog sich der gleiche Prozeß, wie er gerade mit Tschiang Kai-schek zu Ende gegangen war. Ab dem Monat Mai traten Zwischenfälle auf, als deren Folge den Kommunisten wegen der "Ausschreitungen" der in Bewegung geratenen Massen Vorwürfe gemacht wurden. Im Juni fand eine Annäherung und Aussöhnung zwischen Nanking und Hankau statt. Im Juli wiederholte sich in Wuhan, was sich in Schanghai zugetragen hatte. Die Revolution, deren Rückgrat die Arbeiterklasse bildete, wurde in den wichtigsten Zentren erdrückt und begann zurückzufluten. Für die Kom-

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munistische Partei bedeutete das den Zusammenbruch.

Eine Bewegung derartigen Umfangs, die Dutzende von Millionen Wesen geeint hatte, kann nicht mit einem Schlag oder nach einigen Schlägen, so hart sie auch seien, verschwinden. Die Kämpfe gingen weiter. Militärische Formationen, wo die Kommunisten wichtige Positionen bekleideten, gehorchten nicht den Befehlen der Kuomintang-Führer. Auf dem Lande ging die Revolution ebenfalls weiter. Damit aber begann ein neues Kapitel, das der roten Bauernarmeen, deren Initiatoren ihre Perspektive darin sahen, nicht ohne Kampf unterzugehen. Wir werden uns damit später befassen.

Im übrigen wurde die Führung der chinesischen Partei auf Betreiben der Führungen der KPSU und der KI dazu verpflichtet, - nach den Aderlassen von Schanghai, Wuhan usw. - eine "Linkswendung" zumachen, zu leugnen, daß die Revolution eine Niederlage erlitten hatte und im Gegenteil zu behaupten, sie würde sogleich wieder anfangen. Die Konsequenz sah so aus: nachdem die Führung der Kommunistischen Partei sich geweigert hatte, während der Aufstiegsperiode der Revolution Räte zu gründen, gab sie während ihres Niedergangs diese Losung aus und — noch schlimmer — löste am 11. Dezember in Kanton eine Erhebung aus. Die "Kommune von Kanton" wurde von einem völlig aus der Luft gegriffenen "Sowjet" proklamiert, währte kaum drei Tage und endete mit einem neuen Blutbad für die kämpfenden Genossen. Das war das Ende der zweiten chinesischen Revolution (siehe später, Teil 5, Kapitel l).

4.4. Die chinesische Politik der KI

Wir haben weiter oben gesehen, welche Umstände die chinesische Kommunistische Partei dahin gebracht hatte, in die Kuomintang einzutreten. Danach diskutierte die chinesische Partei diese Frage zu wiederholten Malen und zwar dann, wenn ihre Mitglieder durch die Ereignisse in immer unhaltbarere Situationen gerieten; aber die KI hörte niemals auf die Kritik in dieser Angelegenheit. Auf dem 6. Plenum bildete die chinesische Frage zum ersten Male einen besonderen Tagesordnungspunkt. Der Bruch der Troika, der gerade erfolgt war, hatte keine unmittelbaren Folgen gehabt: Sinowjew hatte in dieser Frage noch keine Differenzen geäußert, und Trotzki, dessen persönliche Positionen wir später untersuchen werden, war zu dieser Sitzung nicht zugelassen worden. In der Plenumssitzung legte der Inder M. N. Roy, der in einer Kommission über die chinesische Frage den Vorsitz geführt hatte, eine Resolution vor, die einstimmig ohne Diskussion angenommen wurde. Das Hauptinteresse an dieser Resolution besteht in ihrer Aussage über die Kuomintang:
"Die politischen Streiks der chinesischen Arbeiter in Schanghai und Hongkong (im Juni/September 1925) bildeten einen Wendepunkt in dem Freiheitskampf des chinesischen Volkes gegen die ausländischen Imperialisten. Diese Streiks waren der Aus- [462] gangspunkt für eine machtvolle allgemeine Volksbewegung ... In dieser Bewegung (trat) die chinesische Arbeiterklasse, die in Klassengewerkschaften organisiert war und unter der Führung der Kommunistischen Partei stand, als die führende Kraft der Bewegung der demokratischen Massen, als der bedeutendste Vorkämpfer für die Unabhängigkeit des Landes und für die Schaffung einer Volksregierung auf ...

Die politische Aktion des Proletariats gab der weiteren Entwicklung einen gewaltigen Stoß vorwärts und stärkte alle revolutionär-demokratischen Organisationen im Lande, in erster Linie die revolutionäre Volkspartei Kuomintang und die revolutionäre Regierung in Kanton. Die Kuomintang-Partei, die in ihrem Kern im Bunde mit den chinesischen Kommunisten auftrat, ist ein revolutionärer Block der Arbeiter, Bauern, Intelligenz und der städtischen Demokratie, auf der Grundlage einer längeren Gemeinschaft der Klasseninteressen dieser Schichten im Kampfe gegen die ausländischen Imperialisten und die gesamten militärisch-feudalen Verhältnisse, für die Unabhängigkeit des Landes und für eine einheitliche revolutionär-demokratische Regierung. Die von der Kuomintang-Partei in Kanton geschaffene revolutionäre Regierung hat ... das gesamte politische Leben in der Provinz Kwantung radikal demokratisiert. Die Regierung in Kanton, die also die Vorhut des chinesischen Volkes im Kampfe für seine Unabhängigkeit verkörpert, ist ein Muster für den künftigen revolutionär-demokratischen Aufbau des Landes...

Einzelne Schichten der chinesischen Großbourgeoisie, die sich vorübergehend um die Kuomintang-Partei gruppierten, haben diese im Laufe des letzten Jahres verlassen; das rief die Bildung einer kleinen Gruppe auf dem rechten Flügel der Kuomintang-Partei hervor, die offen gegen ein enges Bündnis mit den Massen der Werktätigen und für einen Ausschluß der Kommunisten aus der Kuomintang-Partei und gegen die revolutionäre Politik der Regierung in Kanton auftritt...

Die politische Selbständigkeit der chinesischen Kommunisten wird sich im Kampf gegen zwei schädliche Abweichungen herausbilden gegen das rechte Liquidatorentum, das die selbständigen Klassenaufgaben des chinesischen Proletariats verkennt, und zu einer formlosen Verschmelzung mit der allgemeinen nationalen Bewegung führt, und gegen die ultralinken Stimmungen, die darin zum Ausdruck kommen, daß versucht wird, die revolutionäre demokratische Etappe der Bewegung zu überspringen und unmittelbar an die Aufgaben der proletarischen Diktatur und Sowjetmacht zu schreiten, wobei die Bauernschaft, dieser grundlegende und entscheidende Faktor der chinesischen nationalen Freiheitsbewegung, völlig außer acht gelassen wird. Die taktischen Probleme der chinesischen national-revolutionären Bewegung weisen trotz der Eigenart des Milieus eine starke Ähnlichkeit mit den Problemen auf, die vor dem russischen Proletariat während der ersten Revolution 1905 standen ..."
(Resolution zur chinesischen Frage, INPREKORR 1927, Nr. 68, S. 1063 - 1064)
Der rechte Flügel, von dem diese Resolution sprach, war nicht Tschiang Kai-schek, sondern eine so ausgesprochen rechte Formation, daß die Kuomintang es für gut gehalten hatte, sie im vorangegangenen Jahre heraus zuwerfen, da sie ihr das Spiel verdarb, die Unterstützung Moskaus zu erlangen. Die Resolution des 6. Plenums enthielt, man sollte es sich merken, die Definition der Kuomintang als ein "revolutionärer Block der Arbeiter, Bauern, Intellektuellen und der städtischen Demokratie als einer Interessensgemeinschaft" im antiimperialistischen Kampfe. Der Ausdruck "städtische Demokratie" bezeichnete die Bourgeoisien der Städte, die eine "Interessensgemeinschaft" mit den Arbeitern hätten. Die Stellungnahme zum Charakter der Kuomintang

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und der Interessengemeinschaft, welche die Resolution verkündete, waren die Grundlage der eingeschlagenen Politik.

Die "Erklärung der Dreizehn" vom Juli 1926, die die Bildung der Vereinigten Opposition ankündete, zielte nur auf die von der Führung in der Sowjetunion befolgte Politik ab, sie bezog sich nicht auf die Politik in der chinesischen Frage. Es hieß hier nur:
"Wir bauen den Sozialismus auf und werden ihn weiter aufbauen ... Die Kolonialvölker kämpfen für ihre Unabhängigkeit. Das ist die allgemeine Front. Jede Abteilung, jeder Abschnitt muß das Maximum dessen geben, was sie geben kann, ohne abzuwarten oder ohne die Initiative der anderen abzuwarten. Der Sozialismus in unserem Lande wird siegen im unzerreißbaren Zusammenhang mit der Revolution des europäischen Proletariats und im Kampfe des Ostens gegen das imperialistische Joch." (Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Band IV, 1926, S. 82, Berlin 1976)
Die Intervention der Opposition in die chinesische Frage erfolgte spät. Auf dem 7. Plenum hatte sie nicht das Recht, weder in der Kommission noch in der Plenumssitzung an der Diskussion teilzunehmen, aber ihre Position zugunsten des Auszugs der chinesischen Partei aus der Kuomintang und der Gründung von Bauernräten war bekannt, so daß einige Redner es nicht vermeiden konnten, sie im Plenum zu diskutieren. In der Kommission nahm Stalin selbst zu dieser Frage Stellung. Er wandte sich gegen jene, die den Armeen Tschiang Kai-scheks nicht ihren wahren revolutionären Wert zubilligten, und behauptete:
"Der Vormarsch der Kanton-Truppen ... bedeutet die Versammlungsfreiheit, die Streikfreiheit, die Pressefreiheit, die Freiheit für alle revolutionären Elemente, insbesondere für die Arbeiter, sich zu organisieren." (Stalin)
Das stimmte mit der Wirklichkeit offensichtlich nicht überein. Zur gleichen Zeit wies er den Gedanken von sich, daß die chinesische Partei von der Kuomintang unabhängig werden müsse - sie sollte im Gegenteil an der Regierung teilnehmen:
"Man verlangt, die chinesischen Kommunisten sollten aus der Kuomintang austreten. Diese Idee ist absurd. Der Austritt der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang wäre der größte Irrtum. Der ganze Verlauf der chinesischen Revolution, ihr Charakter, ihre Perspektiven haben unmißverständlich gezeigt, daß die chinesischen Kommunisten in der Kuomintang bleiben und dort ihre Aktivität verstärken müssen. Kann aber die chinesische Kommunistische Partei an der zukünftigen revolutionären Macht teilnehmen? Sie kann es nicht nur, sie muß es! Der Verlauf der Revolution in China, ihr Charakter, ihre Perspektiven beweisen sinnfällig, daß die Kommunistische Partei an der zukünftigen revolutionären Macht Chinas teilnehmen muß. Das wäre eine der notwendigen Garantien dafür, daß die Hegemonie des chinesischen Proletariats völlig realisiert wird...
Der Genosse Mif meint, man müsse sofort die Losung von Bauernräten auf dem flachen Lande in China aufstellen. Meiner Meinung nach ist das ein Irrtum ... Man kann auf [464] dem flachen Lande keine Räte errichten, ohne dies in den industriellen Zentren Chinas zu tun. Doch die Organisation von Räten in den industriellen Zentren Chinas steht noch nicht auf der Tagesordnung ..."
(Broue)*31
. Diese Positionen finden sich in der vom 7. Plenum angenommenen Resolution wieder. Sie erwähnt den „Handstreich vom 20. März" Tschiang Kai-scheks nicht; der Berichterstatter über die chinesische Frage Tan Ping-schan, Delegierter der chinesischen Partei, hatte auf ihn eine Anspielung gemacht, die der Mehrzahl der Delegierten entgangen war. In seinen Reden gab Tan Ping-schan eine interessante Beschreibung der Strömungen innerhalb der Kuomintang. Er sah dort die folgenden:
"Die äußerste Rechte ... Der rechte Flügel... (alle beide unterhalten offen Beziehungen zum Imperialismus)... Der mittlere (zentristische) Flügel. Er vertritt die im Entstehen begriffene industrielle Bourgeoisie, die ihre Selbständigkeit gegenüber dem Imperialismus anstrebt. Dieser Flügel ist in der Kuomintang zwar der Zahl seiner Anhänger nach schwach, aber in seinen Händen befindet sich jetzt die militärische Diktatur ... In Theorie und Praxis vertritt er vollständig die Interessen der Bourgeoisie. Er kann als der bewaffnete Verteidiger der Bourgeoisie in den halbkolonialen Ländern angesehen werden. Die Führer dieses Flügels sind: Tai Tschi-tao *32 und Tschiang Kai-schek, wobei zu bemerken ist, daß Tschiang Kai-schek die Ideologie Tai Tschi-taos in die Tat umsetzt..." (Der linke Flügel (deren Hauptführer Wang Ching-wei ist) ... Der kommunistische Flügel .. (Protokoll 7.Plenum, S. 364 - 366))
Trotz dieser präzisen Angaben über Strömungen und Personen definierte er die Aufgaben genau so wie die Führung Stalin-Bucharin:
"Wir müssen die vereinigte Kampffront aller Klassen für die nationale Revolution herstellen, die das Proletariat, die Bauernschaft und die städtische kleine und mittlere Bourgeoisie umfaßt. Unter bestimmten Bedingungen können wir auch mit jenem Teil der Großbourgeoisie zusammenarbeiten, der bis jetzt noch keine Beziehungen zu den Imperialisten hat, wobei wir allerdings ihren verräterischen, kompromißlerischen Charakter schonungslos entlarven müssen ..." (A.a.O., S. 339)
Die Zusammenarbeit, oder vielmehr die Unterordnung unter den bewaffneten Flügel der Großbourgeoisie ging bis zu dem Augenblick weiter, wo Tschiang Kai-schek die Arbeiter in Schanghai und anderswo niedermetzelte. Im März 1927 veröffentlichte die Humanite, die Rote Fahne und andere kommunistische Organe eine Photographie von Tschiang Kai-schek und repräsentierten ihn als den Chef der revolutionären Armeen. Während die aus Nassanow, Forkin und Albrecht bestehende Delegation an die Exekutive der KI den obener-

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wähnten „Brief aus Schanghai" schickten, in dem die Vorbereitungen für den Handstreich Tschiang Kai-scheks angekündigt wurden, verfaßte eine andere — offizielle — Delegation, die aus dem Engländer Tom Mann, dem Franzosen Doriot und dem Amerikaner Browder bestand — alle in leitenden Funktionen in ihren respektiven Sektionen — Erklärungen zugunsten Tschiang Kai-scheks, die von der kommunistischen Presse in der ganzen Welt gebracht wurden. Die Internationale Pressekorrespondenz schrieb:
"Eine Spaltung innerhalb der Kuomintang und ein Konflikt zwischen dem Proletariat Schanghais und den revolutionären Soldaten ist völlig ausgeschlossen ... Tschiang Kai-schek hat selbst erklärt, daß er sich den Entscheidungen der Partei unterwerfe. Ein Revolutionär wie Tschiang Kai-schek wird sich niemals, wie die Imperialisten sich einreden möchten, mit dem Konterrevolutionär Chang Tso-liang gegen die Befreiungsbewegung verbünden ... Die einzige Gefahr für das Proletariat Schanghais besteht in einer imperialistischen Provokation." (23. und 3O.März 1927)
In Moskau, wo die Opposition über die unmittelbar drohende Gefahr Alarm schlug, hielt Stalin am 5. April eine Rede, in der er vor dreitausend Parteifunktionären beruhigende Ausführungen machte:
"(Tschiang Kai-schek hat sich der Disziplin gefügt) ... Die Kuomintang ist ein Block, eine Art von revolutionärem Parlament mit der Rechten, der Linken und den Kommunisten. Wozu einen Staatsstreich machen? Wozu die Rechte verjagen, wenn wir die Mehrheit haben, und wenn die Rechte uns gehorcht? ... Wenn die Rechte uns nichts mehr nützen wird, werden wir sie fortjagen. Gegenwärtig brauchen wir die Rechte. Sie besitzt fähige Leute, die noch die Armee leiten und sie gegen den Imperialismus führen. Tschiang Kai-schek hat vielleicht keine Sympathie für die Revolution, aber er führt die Armee und kann gar nicht anders, als sie gegen die Imperialisten führen. Außerdem haben die Leute von der Rechten Beziehungen zu den Generälen Chang Tso-liangs und verstehen sehr gut, diese zu demoralisieren und zu veranlassen, mit Sack und Pack und ohne Schwertstreich auf die Seite der Revolution überzulaufen. Auch haben sie Verbindungen mit den reichen Kaufleuten und können bei ihnen Geldmittel aufbringen. Man muß sie also bis zu Ende ausnützen, wie eine Zitrone ausquetschen und dann wegschmeißen" (Stalin)*33
. Am Vorabend dieser Rede, am 4. April, hatten Wang Ching-wei für die Kuomintang und Chen Tu-hsiu für die Kommunistische Partei eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der zu lesen war:

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"... Die nationale Revolution hat die letzte Basis des Imperialismus in China -Schanghai - erreicht. Die Konterrevolutionäre in China und außerhalb Chinas verbreiten falsche Gerüchte, um beide Parteien zu entzweien ... Jetzt ist es nicht die Zeit, zu erörtern, woher diese böswilligen Gerüchte stammen. Das höchste Organ der Kuomintang hat auf seinem letzten Plenum erklärt, daß es durchaus nicht beabsichtigt, die Kommunistische Partei auseinanderzujagen und die Gewerkschaften zu zertrümmern. Die Militärgewalt in Schanghai hat erklärt, daß sie sich der Zentrale unterordnet. Wenn auch Differenzen und Meinungsverschiedenheiten bestehen, so sind sie doch nicht unlösbar. Die Kommunistische Partei strebt die Aufrechterhaltung der Ordnung in den befreiten Gebieten an. Sie hat bereits die Taktik der Nationalregierung, die Rückgabe der (ausländischen) Konzessionen von Schanghai nicht mit bewaffneter Gewalt zu erzwingen, gutgeheißen. Der Gewerkschaftsrat von Schanghai hat ebenfalls erklärt, daß er nicht gewaltsam in die Konzessionen eindringen wird. Zugleich erklärt er, daß er die Taktik des Zusammenarbeitens aller unterdrückten Klassen durch Bildung einer Lokalregierung voll und ganz billigt. Angesichts all dieser Tatsachen bleibt keinerlei Grundlage für die böswilligen Gerüchte übrig ... Wir müssen uns weiterhin an die gemeinsame Grundlage der Revolution halten, wir müssen die gegenseitigen Verdächtigungen lassen, die Verleumdungen und die albernen Märchen zurückweisen und uns gegenseitige Achtung bezeugen ... Dann wird alles für unsere beiden Parteien und die chinesische Revolution gut gehen ..." (Bündnis zwischen der Kuomintang und der KP Chinas, INPREKORR 1927, Nr. 37, S. 798)
Man sollte eigentlich den Wert solcher Dementis gut genug kennen, aber diese Erklärung wurde ohne Kommentar in der Internationalen Presskorrespondenz abgedruckt. Die „Gerüchte", die „albernen Märchen" besagten nur, was sich vorbereitete. Nachdem Tschiang Kai-schek einige Tage später offenkundig und vor aller Augen die Niedermetzelung der Schanghaier Arbeiter durchgeführt hatte, konnte die KI nicht mehr weiter mit der Wahrheit hinterm Berg halten. Am 20. April veröffentlichte die Internationale Pressekorrespondenz einen Aufruf des Exekutivkomitees, mit dem Datum des 15. April und der Überschrift "Der Verrat Tschiang Kai-scheks". Dieser große Verlegenheit zeigende Text endete mit den Worten "Es lebe die revolutionäre Kuomintang! Es lebe die chinesische Kommunistische Partei!" Die KI widerrief mit keinem Wort die von ihr bis dahin befolgte Politik, sondern sie führte sie mit der Wu-han-Regierung weiter. Einige Tage später erklärte Bucharin:
"Es wäre völlig verkehrt, das Banner der Kuomintang der Klique Tschiang Kai-scheks zu überlassen ... Das Verlassen der Kuomintang wäre gegenwärtig eine besonders unsinnige Politik." (INPREKORR 1927)
In seinen in der Prawda vom 21. April veröffentlichten Thesen verteidigte Stalin die gleiche Orientierung:
"... Die vertretene Linie war die einzig richtige ... Der Staatsstreich Tschiang Kai-scheks bedeutet, daß es künftig in Südchina zwei Lager, zwei Regierungen, zwei Heere, zwei Zentren geben wird: das der Revolution in Wuhan, das der Konterrevolution in Nanking ... Das bedeutet, daß die in Wuhan zur energischen Bekämpfung des Mili- [467] tarismus und des Imperialismus neu formierte Kuomintang aus diesem Grunde ein Organ der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft werden wird ... Wir müssen eine Politik der Konzentrierung der gesamten Macht in den Händen der revolutionären Kuomintang betreiben ... Das bedingt, daß der Politik enger Zusammenarbeit zwischen der Linken und den Kommunisten innerhalb der Kuomintang eine besondere Bedeutung zukommt ... und daß der Sieg der Revolution ohne eine solche Zusammenarbeit unmöglich ist." (Thesen Stalins, Prawda 21.4.1927)
Die Linie stimmte; Tschiang Kai-schek, der "Held" der Revolution, ist zum Konterrevolutionär geworden - aber die gleiche Linie wird fortgesetzt, als wenn nichts gewesen wäre. Wenden wir uns jetzt den Arbeiten des 8. Plenums zu, die sich nicht auf die chinesische Frage beschränkten, die aber dort den Hauptplatz einnahm.

4.5. Das 8. Plenum (18. - 3O.Mai 1927)

Niemals war eine Zusammenkunft der KI unter derartig für die Führung ungünstigen Bedingungen eröffnet worden, trotz der Tatsache, daß die Opposition von Tag zu Tag zunehmenden Schwierigkeiten begegnete, sich Gehör zu verschaffen. Mit der Niederlage in China und den dort in die Augen springenden Fehlern trafen andere Schlappen, vor allem in Großbritannien, zusammen.

Das 8. Plenum versammelte einen kleineren Personenkreis als die vorangegangenen: nur 77 Delegierte, davon 33 mit beratender Stimme. Ein vollständiges Protokoll seines Verlaufs, wie es bisher immer in der Vergangenheit der Fall gewesen war, ist niemals veröffentlicht worden; in der Folgezeit sollte die Veröffentlichung der Protokolle unregelmäßig werden. Unmittelbar danach beschränkte sich die Internationale Pressekorrespondenz darauf, ein Kommunique zu bringen, das die Tagesordnung und einige magere Kommentare enthielt; einige Tage später wurden die angenommenen Resolutionen mit einer undurchsichtigen Ankündigung veröffentlicht, die besagte, sie enthielten "einige Abänderungen aufgrund von Umständen, die durch die terroristische Herrschaft der Bourgeoisie in einer ganzen Reihe von Ländern aufgetreten sind". Über die Positionen der Opposition wurde Stillschweigen gewahrt. Die wichtigsten dort behandelten Fragen waren Wir werden uns über den ersten Punkt kurz fassen, der den Epilog zu einer unglückseligen Operation bildete. Nach der Niederlage des Generalstreiks begann die Führung des Trade Union Congress eine Offensive gegen die Kommunistische Partei und die Minority Movement. Die Existenz des Anglo-russischen Gewerkschaftskomitees wurde immer unsicherer. Ende März hatte in Berlin eine Zusammenkunft stattgefunden. Die Delegation der sowjetischen Gewerkschaften hatte dort in einer Erklärung sich dazu bekannt, daß "die einzigen Vertreter und Wortführer der

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Gewerkschaftsbewegung Großbritanniens der Kongreß der Trade Unions und ihr Generalrat seien"
und sich verpflichtet, keine Erklärung abzugeben, die "eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten" beinhalte. Auf der gleichen Zusammenkunft weigerte sich die Delegation der Trade Unions, dafür zu sorgen, daß die Interventionen des britischen Imperialismus in China bekannt wurden, oder auch nur zu verlangen, daß die in diesem Lande tätigen britischen Truppen sich zurückzogen. Auf dem 8. Plenum brachte Trotzki einen Antrag ein, der verlangte, die sowjetische Delegation beim Anglo-russischen Komitee solle eine genau umschriebene Resolution gegen das Vorgehen des britischen Imperialismus vorschlagen, in der Weise, daß die Weigerung, ihr zuzustimmen, das sofortige Zerbrechen des Komitees zur Folge haben würde. Das Plenum wies diesen Antrag zurück und nahm zur englischen Frage einen widersprüchlichen Text an:
"Die (britische) Kommunistische Partei hat die Arbeiter nach wie vor aufzuklären über die große Bedeutung der Einheit der Arbeiter Englands mit dem Proletariat der Sowjetunion, eine Einheit, die angesichts der militärischen Politik der englischen Regierung absolut notwendig ist. Die Partei muß die Arbeiter darüber aufklären, daß das Anglo-russische Komitee infolge der Sabotage seitens des gesamten Generalrats von Hicks und Purcell bis Thomas seine große Aufgabe noch nicht erfüllt hat. Der Generalrat hat in der Frage der Einheit mit den russischen Arbeitern dauernd ein Doppelspiel getrieben. Er ist in Worten für die Einheit eingetreten, hat aber die Herstellung eines wirklichen Bündnisses zwischen den Arbeitern beider Länder gehemmt... Die Kommunistische Partei muß besonders Klarheit schaffen über die wirkliche Bedeutung der letzten Berliner Konferenz, auf der der Generalrat, anstatt die Funktionen des Anglo-russischen Komitees zu erweitern, auf einer Einschränkung ... bestanden hat…." (INPREKORR 1927, Nr. 62, S. 1307)
In dem Rechenschaftsbericht, den Bucharin einige Tage später über das Plenum an das Moskauer Komitee der KPSU gab, erklärte er:
"Die Frage ist die, ob es richtig gewesen wäre, das Anglo-russische Komitee in jener außerordentlich schwierigen internationalen Situation aufzulösen. Wir waren der Ansicht, daß diese Situation uns zwang, eine Reihe von Zugeständnissen zu machen ..." (Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Band V, 1926, S. 137, Berlin 1976)
Der Ton war sehr defensiv; den Widerspruch zwischen dem Machen von Zugeständnissen und dem Anprangern des Generalrats löste dieser letztere einige Monate später, indem er die Initiative ergriff, das Anglo-russische Komitee unter dem Vorwand einer "Einmischung" der Sowjetrussen in die inneren Angelegenheiten der britischen Gewerkschaftsbewegung zu zerbrechen. Obwohl die englische Frage räumlich von der chinesischen Frage entfernt ist, haben wir sie in dieses Kapitel aufgenommen, denn es gab tatsächlich, trotz des unterschiedlichen Charakters von Kuomintang und Trade Union Congress, eine Parallele zwischen der Politik, die von der sowjetischen Führung diesen

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beiden gegenüber geführt wurde: sie machte sich über mehr als zweifelhafte Verbündete nicht nur vor den Klassenkämpfen Illusionen, sondern selbst noch danach. Und das war keineswegs ein Werk des Zufalls. Das war die logische Konsequenz aus der Politik des "Sozialismus in einem Lande".

Kehren wir nun zur chinesischen Frage zurück, die auf dem Plenum den Kernpunkt bildete. Der Diskussion gingen eine Reihe von Vorfällen innerhalb der Mehrheit voraus, die einer ihrer damaligen Mitglieder, J. Humbert-Droz, schildert*34 . Die italienische Kommission (oder ein Teil von ihr) und er selbst hatten sich geweigert, die Trotzkisten zu verurteilen, ohne sie anzuhören: das hatte den Zorn Stalins erregt, der indessen durchsetzt, daß Sinowjew nicht zum Plenum zugelassen wird. Humbert-Droz teilt weiter mit, das Stillschweigen über das Plenum und besonders über diese chinesische Diskussion habe in den kommunistischen Parteien einen so schlechten Eindruck gemacht, daß die KI sich genötigt sah, im darauf folgenden Jahre eine Broschüre von ungefähr 160 Seiten zu veröffentlichen. Hier findet man noch — nach dem Ausschluß der Linken Opposition — bestimmte Reden von diesem Plenum: außer dem Bericht Bucharins, der Rede Stalins usw. eine der zwei Reden Trotzkis und die Intervention von Wujowitsch. Und dann stößt man noch auf die Resolution über die chinesische Frage, die ... auf dem 9. Plenum am 25. Februar 1928 angenommen wurde, jedoch nicht auf die des 8. Plenums.

Vor dem 8. Plenum hatte die Vereinigte Opposition eine intensive Kampagne in Zellen der KPSU, wo sie sich Zutritt verschaffen konnte, geführt. Sie hatte dem Zentralkomitee dieser Partei einen Text mit der Bezeichnung "Erklärung der 84" vorgelegt und eine Kopie dem Plenum übermittelt*35 . Unvermeidlich bestand ein großer Teil der Reden auf diesem Plenum aus einer Wiederholung der bereits von den einen oder den andern mehrfach vorgebrachten sich mit der Vergangenheit befassenden Argumenten. Die Differenzen traten sehr klar bei der Haltung zutage, die gegenüber der von Wang Ching-wei geführten Wuhan-Regierung einzunehmen sei. Stalin trat am bestimmtesten auf:
"Die Kuomintang von Hankau und die Hankauer Regierung stellen das Zentrum der bürgerlich-demokratischen revolutionären Bewegung dar. Nanking und die Nanking-Regierung sind das Zentrum der nationalen Konterrevolution. Die Politik der Unterstützung Hankaus ist zugleich eine Politik der Entfesselung der bürgerlich-demokratischen Revolution mit sich daraus ergebenden Folgen. Daher denn auch die Teilnahme der Kommunisten an der Hankauer Kuomintang und an der revolutionären Regierung Hankaus..." (Protokoll 8. Plenum, S. 71)
In der im Plenum angenommenen Resolution hieß es:

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"Die Regierung in Hankau und die linke Kuomintang sind ihrer wesentlichen Tendenz nach der Ausdruck des revolutionären Blocks des Kleinbürgertums in Stadt und Land und des Proletariats ...
Das EKKI ist der Ansicht, daß die Kommunistische Partei Chinas ... daran gehen muß, die Kuomintang in eine wirkliche Massenorganisation umzuwandeln, die die werktätige Bevölkerung in Stadt und Land erfasst…
Das EKKI hält die Auffassung, die die Bedeutung der Hankau-Regierung unterschätzt und so tatsächlich ihre höchst gewaltige revolutionäre Rolle leugnet, für falsch. Die Hankauer Regierung und die Spitze der linken Kuomintang vertreten, ihrer klassenmäßigen Zusammensetzung nach, nicht nur Bauern, Arbeiter und Handwerker, sondern auch einen Teil der mittleren Bourgeoisie. Die Hankau-Regierung, die eine Regierung der linken Kuomintang ist, ist deshalb noch keine Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, aber sie befindet sich auf dem Wege zu einer solchen Diktatur und wird im Falle eines siegreichen Verlaufes des Klassenkampfes des Proletariats unter Abstoßung ihrer radikal-bürgerlichen Mitläufer und nach Überwindung einer Reihe von Verrätereien sich unvermeidlich in der Richtung einer solchen Diktatur entwickeln. Das EKKI ist der Ansicht, daß die energischste Teilnahme der Kommunistischen Partei Chinas an der Tätigkeit der ´provisorischen revolutionären Regierung' von Hankau notwendig ist ... Sie muß dabei die mangelnde Festigkeit sogar ihrer nächsten Bundesgenossen kritisieren ..."
(INPREKORR 1927, Nr. 58, S. 1248, 1250)
Nachdem Trotzki und Wujowitsch gegen das Sinowjew auferlegte Verbot, beim Plenum anwesend zu sein, und gegen das innere Regime protestiert hatten, das die Parteimitglieder daran hinderte, die Positionen der Minderheit kennen zu lernen, erwähnten sie den "Brief aus Schanghai", die Rede Stalins vom Anfang April sowie andere für die Ereignisse bezeichnende Tatsachen. Zur Angelegenheit Wuhan erklärte Trotzki:
"Wir sind nicht bereit, auch nur einen Schatten von Verantwortung für die Politik der Wuhan-Regierung und der Kuomintang-Führung auf uns zu nehmen, und wir raten der Komintern entschieden, diese Verantwortung abzulehnen. Wir sagen den chinesischen Bauern deutlich: die Führer der linken Kuomintag vom Schlage eines Wang Ching-wei und Co. werden euch unvermeidlich betrügen, wenn ihr der Wuhanspitze folgt, statt selbständige, eigene Räte zu schaffen. Die Agrarrevolution ist eine ernste Sache. Politiker vom Schlage eines Wang Ching-wei werden sich in schwierigen Situationen zehnmal mit Tschiang Kai-schek gegen die Arbeiter und Bauern vereinigen ... Wir sagen den Arbeitern Chinas: die Bauern werden die Agrarrevolution nicht zu Ende führen, wenn sie sich von kleinbürgerlichen Radikalen, nicht aber von euch ... führen lassen. Baut daher eure Arbeitersowjets auf, verbindet sie mit Bauernsowjets, bewaffnet euch durch die Sowjets ... Wenn man ... die ´Reorganisation' der Hankau-Regierung und die Landenteignung der Großgrundbesitzer solange verschiebt, bis die Kriegsgefahr beseitigt ist, so geht man den sichersten und schnellsten Weg zum Verderben..." (Die linke Opposition in der SU, Bd. V, S. 108 - 109)
Im Moment, wo diese Diskussion im Plenum stattfand, begannen in Tschan-scha die ersten Repressionen gegen Arbeiter durch die Truppen der Wuhan-Regierung. Weniger als zwei Monate später, Anfang Juli, fand, was sich in Schanghai mit Tschiang Kai-schek zugetragen hatte, von neuem in Wuhan

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mit Wang Ching-wei statt. Am 14. Juli, sechs Wochen nach dem 8. Plenum, sah sich das Exekutivkomitee der KI gezwungen, eine Resolution anzunehmen, in der es hieß:
"Die revolutionäre Rolle der Wuhan-Regierung ist ausgespielt; diese Regierung ist zu einem konterrevolutionären Faktor geworden ... Trotz der Ratschläge, die ihnen von der KI gegeben wurden, haben die Kuomintangführer nicht nur versäumt, die Agrarrevolution zu unterstützen, sondern überdies das Feld deren Feinden überlassen ..." (INPREKORR 1927, Nr. 73, S. 1573)
Die Führer der linken Kuomintang hatten nicht auf die Ratschläge gehört, die ihnen die KI gegeben hatte! Trotzdem gab die gleiche Resolution vom 14. Juli folgende Anweisungen:
"Die Kommunisten müssen innerhalb der Kuomintang bleiben ... Sie müssen einen engeren Kontakt mit der Masse der Mitglieder der Kuomintang suchen ..., die Abberufung der gegenwärtigen Führer der Kuomintang verlangen. Die Kommunisten müssen sich darauf vorbereiten, mit dieser Perspektive auf dem Kongreß der Kuomintang tätig zu werden ..."
So also ermordeten die rechten, danach die linken Kuomintangführer die Kommunisten, und diese sollten auf dem Kuomintangkongreß "tätig werden". Man änderte nicht die Linie, aber man muß die für die Niederlage Verantwortlichen finden. Die Resolution des Plenums prangerte den "Opportunismus" des Zentralkomitees der chinesischen Partei an; ihr Generalsekretär Chen Tu-hsiu wurde dafür verantwortlich gemacht und am 7. August nach einer Konferenz dieser Partei entlassen.

Die Intervention der Opposition hatte die Führung im höchsten Grade aufgebracht; die Ereignisse veranlaßten sie, dem inneren Kampf mit allen Mitteln ein Ende zu bereiten. In diesem Zeitpunkt war eine neue diplomatische Krise zwischen Großbritannien und der Sowjetunion eingetreten. Die britische konservative Regierung durchsuchte die Räume der sowjetischen Handelsdelegation in London, berief sich auf angebliche Spionagetätigkeiten und brach am 27. Mai (während das Plenum tagte) die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern ab.

Durchaus nicht darauf bedacht, die Reihen der Partei und der KI fester zu schließen, benutzte die Führung Stalin-Bucharin diese Angelegenheit, um die Opposition zu beschuldigen, in einem gefährlichen Augenblick dem Arbeiterstaat einen Dolchstoß zu versetzen. Stalin gebrauchte zum Schluß seiner Rede Wendungen, die ohne Umschweife ankündigten, was er in Kürze tun würde:
"Die einen bedrohen die KPSU mit Krieg und Intervention, die anderen - mit Spaltung. Es kommt dabei so eine Art Einheitsfront von Chamberlain bis Trotzki zustande ... Ihr braucht nicht zu zweifeln, daß wir es verstehen werden, auch diese neue Front zu zerschlagen." (Protokoll 8.Plenum, S. 74)

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Das 8. Plenum stimmte auch für eine Resolution "über das Auftreten der Genossen Trotzki und Wujowitsch", die nicht weniger deutlich ist:
"Die prinzipielle Linie der Oppositionsführer bedeutet ... eine direkte Sabotage des Kampfes der Kommunisten gegen den imperialistischen Krieg ... Die Komintern ist sich ihrer Pflicht bewußt, sowohl diese ultralinks-sozialdemokratische Richtung, als auch die unablässigen feindseligen Vorstöße dieser Gruppe von bankrotten Führern ... unerbittlich und endgültig zu liquidieren ...
  1. Das EKKI konstatiert, daß sowohl die prinzipielle Linie, wie das Auftreten des Genossen Trotzki und Wujowitsch unvereinbar mit ihrer Eigenschaft als Mitglieder bzw. Kandidaten des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale ist.
  2. Das EKKI verbietet kategorisch jede Fortsetzung des fraktionellen Kampfes seitens der Genossen Trotzki und Wujowitsch.
  3. Die Vollsitzung des EKKI ermächtigt das Präsidium des EKKI, gemeinsam mit der IKK., den formellen Ausschluß der Genossen Trotzki und Wujowitsch aus dem EKKI zu vollziehen, falls dieser Kampf nicht eingestellt wird.
  4. Das EKKI schlägt dem ZK der KPSU vor, entschiedene Maßnahmen zur Sicherung der KPSU gegen die Fraktionsarbeit der Genossen Trotzki und Sinowjew zu ergreifen
"
(Die linke Opposition in der SU, Bd.V, S. l18 - 119)
Das war ein Befehl an das Präsidium, Ausschlüsse vor dem Zusammentreten des nächsten Plenums vorzunehmen. Zur Abrundung dieses Kapitels muß man noch die tieferen Gründe untersuchen, welche der Sowjetführung ihre chinesische Politik auferlegten, sowie diejenigen Positionen Trotzkis, wo sie sich in bestimmten Punkten von denen der Vereinigten Opposition unterschieden.

4.6. Die Gründe für die sowjetische Politik

Warum verfolgte die Führung Bucharin-Stalin trotz allem eine Politik, die sich als derartig unheilvoll erwies? Wozu diese Unterordnung unter die Kuomintang? Bei einer Großzahl alter Genossen — einschließlich der Oppositionellen — gab es, wie wir weiter oben feststellten, eine Konzeption von der chinesischen Revolution, die besagte, ein progressiver Teil der Bourgeoisie würde sich wie die früheren Bourgeoisien Frankreichs und Großbritanniens verhalten. Sie hatten an der Oktoberrevolution 1917 teilgenommen, aber sie hatten daraus keine Schlußfolgerung in Bezug auf Rußland gezogen; sie sollten sie auch nicht für China ziehen. Wenn dies aber für die Mehrzahl der Genossen galt, so waren die Gründe für die Sowjet-Führung weniger theoretisch. Hier schlägt sich der „Sozialismus in einem Lande" nieder. Er gründete sich zuerst einmal auf mangelndes Vertrauen in die revolutionären Möglichkeiten der europäischen Arbeiterklasse, geschweige denn in die des so jungen und zahlenmäßig so geringen chinesischen Proletariats. Der Kreml hatte nicht das geringste Vertrauen in die Kraft und die Möglichkeiten der chinesischen Arbeiterklasse. Andererseits

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brauchte die Sowjetunion bürgerliche Verbündete — infolgedessen, und unter diesem Aspekt, welcher Verbündete erschien dann besser als diese chinesischen Bürger und Kleinbürger im Kampf gegen den Imperialismus? Offensichtlich zeigten diese Leute keine besondere Befähigung im politischen und bewaffneten Kampf; man mußte ihnen also die Kräfte der Arbeiterklasse zur Verfügung stellen, die in China wie anderswo bedenkenlos bereit war, sich aufzuopfern, wenn sie in den Kampf trat. Außerdem befürchtete die Sowjetführung, daß, wenn sie in China den Kampf zu weit vorantrieb, sie Gefahr lief, den Status quo zu stören, den sie nur mit Mühe aufrechterhielt. Was wir hier vorbringen, wird von zahlreichen Erklärungen gestützt, die nicht für ein großes Publikum bestimmt waren, die aber gewiß dafür umso beweiskräftiger sind.

Chen Tu-hsiu wurde im August 1927 aus der chinesischen Führung und im August 1929 aus der Partei ausgeschlossen. In der Zwischenzeit hatte er eine Überprüfung der Geschehnisse, an denen er beteiligt war, vorgenommen und die Positionen der Opposition kennen gelernt. Am 1O. Dezember 1929 richtete er einen Brief an die Mitglieder der chinesischen Partei, der genaue Informationen und Schlußfolgerungen enthielt und dessen Ton in jeder Weise die Würde wahrte. Er beschrieb die näheren Umstände, unter denen eine gewisse Zahl von Parteiführern die Frage nach dem Austritt aus der Kuomintang gestellt hatte. Sie hatten es nicht getan, weil sie die Ansichten der Opposition teilten - sie hatten nicht die geringste Ahnung von ihnen —, sondern weil ihre eigene Erfahrung sie zu dieser Schlußfolgerung führte. Jedes Mal intervenierte die KI-Führung im entgegengesetzten Sinne und verpflichtete sie, sich der Disziplin zu fügen. Dabei operierte sie mit entlarvenden Argumenten:
"(Der Delegierte der KI Borodin) verlangte eindringlich, wir sollten alle Kräfte zur Verfügung der Militärdiktatur Tschiang Kai-scheks stellen, um die Regierung von Kanton zu stärken und die Expedition in den Norden zu unterstützen. Wir baten ihn, uns 5.000 von den Gewehren zu überlassen, die für Tschiang Kai-schek und Li Ji-schen bestimmt waren, um die Bauern von Kwantun zu bewaffnen. Er lehnte das ab und sagte: .Bewaffnete Bauern können die Kräfte von Chen Jiong-ming nicht bekämpfen und auch nicht an der Expedition in den Norden teilnehmen; sie könnten nur den Argwohn der Kuomintang erregen'. Das war einer der kritischsten Momente... Es war die Zeit, in der die Kuomintang der Bourgeoisie das Proletariat ganz offen dazu zwang, sie als Führung anzuerkennen und ihr zu folgen... (Der Delegierte der KI sagte wörtlich: ,Die augenblickliche Periode ist eine Periode, in der die Kommunisten Kuliarbeiten für die Kuomintang verrichten müssen')... Der Delegierte der KI befahl uns, alle Waffen zu verstecken oder zu vergraben, um einen bewaffneten Konflikt zwischen den Arbeitern und Tschiang Kai-schek zu vermeiden, und um die Konzessionen von Schanghai nicht durch den bewaffneten Kampf zu gefährden..." (S. China - die erwürgte Revolution Band 2, Berlin 1975, S. 330,333)
Chen Tu-hsiu schilderte darauf, was sich nach dem Staatsstreich von Tschanscha durch die Truppen der linken Kuomintang ereignete:

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"Ich fragte Borodin um Rat: ,Ich bin mit Ihnen tatsächlich völlig einer Meinung', sagte er, ,aber ich weiß, Moskau wird niemals gestatten, daß wir aus der Kuomintang austreten'... Von Anfang bis Ende betrachtete die KI die Kuomintang als das wesentliche Organ der nationalen demokratischen Revolution in China... Nach dem Staatsstreich von Tschanscha schrieb uns die KI folgendes Programm vor:
  1. Das Land der großen und kleinen Grundbesitzer konfiszieren, uns nicht des Namens der Nationalregierung bedienen, aber den Besitz der Offiziere nicht antasten
  2. (nun gab es aber in den Provinzen Hunan und Hubei keinen einzigen Grundbesitzer, der nicht Verwandter oder Freund eines Offiziers gewesen wäre... Unter diesen Voraussetzungen ´Land besetzen' war ein leeres Wort).
  3. Eine ´zu heftige' Aktion der Bauern mittels der Macht der Parteiführung verhindern...
Sie (die KI und unser ZK) geben... weder zu, daß die Kuomintang die Interessen der Bourgeoisie vertritt, noch, daß die Nationalregierung eben diese Interessen vertritt..."
(A.a.O., S. 334 - 336, 344)
Später drückte sich Borodin gegenüber einem amerikanischen Journalisten, Louis Fischer, ebenso deutlich aus. Dieser Journalist, der seit Jahren in der Sowjetunion lebte, wurde als "fellow-traveller" angesehen und hatte bei allen Gelegenheiten freien Zutritt zu Tschitscherin, Litwinow, Rakowski, Radek und anderen sowjetischen Führern. Er hatte Sympathie für die Außenpolitik Stalins und verteidigte sie schlau und durchtrieben in seinem Buche Die Sowjets im Weltgeschehen. In einem anderen seiner Werke mit dem Titel Männer und Politik, wo er einige der Leute schildert, denen er gelegentlich, vor allem während seines Aufenthalts in Moskau, begegnet war, kann man nicht alles, was er schreibt, für bare Münze nehmen; in vielen Fällen jedoch ist kein Zweifel möglich. Dies gilt für jene Worte Borodins, die er in einer Unterhaltung im Jahre 1929 geäußert haben soll:
"Als ich die schwierigen ökonomischen Bedingungen der Sowjetunion erwähnte, war Borodin einverstanden und sagte: ,Es gibt wahrscheinlich keine Lösung dafür, bevor nicht eine Revolution in einem anderen Lande stattfindet.' Er überlegte einen Augenblick. ,Aber nicht im Osten. Eine Revolution im Osten, zum Beispiel in China, wäre für Moskau eine zusätzliche Verantwortlichkeit. Das wäre keine schlechte Sache, was wir aber wirklich brauchen, das ist eine Revolution in England oder in Deutschland." (A.a.O., S. 140)
Im Jahre 1929 hatten noch viele militante Genossen der damaligen Zeit nicht völlig jede revolutionäre Perspektive aufgegeben, auch wenn man sich damit begnügte, davon zu träumen. Aber diese ganzen Äußerungen Borodins drückten recht gut die Gedanken des Kremls aus: kein Vertrauen in die Kräfte der Arbeiter- und Bauernmassen, Hoffnungen auf die Siege käuflicher Generäle, um andere gleichfalls käufliche Generäle zu bekämpfen und zu schlagen. Eine siegreiche chinesische Revolution wurde als eine weitere Bürde betrachtet, eine Belastung für den Aufbau des "Sozialismus in einem Lande". Lange Jahre hindurch beharrt Stalin auf diesen Positionen, er versuchte, ein Übereinkommen zwischen Mao Tse-tung und Tschiang Kai-schek zu erlangen und zweifelte bis zur Machtergreifung durch die chinesische Partei an ihrer Fähigkeit, das Regime der Kuomintang zu stürzen.

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4.7. Trotzki und die chinesische Revolution

Die Stellungnahmen der Vereinigten Opposition angesichts der Politik Bucharin-Stalins gegenüber der chinesischen Revolution waren, wie wir sagten, spät erfolgt. Sie unterscheiden sich von denen, die man in verschiedenen Büchern Trotzkis antrifft: Die Kommunistische Internationale nach Lenin, Die permanente Revolution, usw. Zwischendurch kritisierte die Opposition in der Plattform der Vereinigten Opposition zum 15. Parteitag der KPSU*36 heftig die Politik des Kremls in sehr wichtigen Punkten (Unterstützung für die Bourgeoisie der Kuomintang, die Weigerung, zur Schaffung von Sowjets aufzurufen...), aber sie war an die Perspektive der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" gebunden. Diese von Lenin aus dem Jahre 1905 stammende Formel für Rußland war von Trotzki niemals angewandt worden, weil sie von seiner Theorie der permanenten Revolution abwich. Sie wurde von Stalin und Bucharin für China benutzt. Erst später sollte Trotzki diese Formel zurückweisen und sie verurteilen. Er unterzeichnete die Plattform der Opposition trotz dieser Formel, da er den Oppositionsblock aufrechterhalten wollte, denn er hielt seine Politik insgesamt für richtig und hatte eben erst begonnen, über die von der chinesischen Revolution aufgeworfenen theoretischen Fragen nachzudenken.

Trotzki — wir hatten bereits darauf hingewiesen — war nicht zu einer Verallgemeinerung der Theorie der permanenten Revolution, die er 1905 für Rußland erarbeitet hatte, im Weltmaßstabe geschritten. Er hatte den Thesen des II. Kongresses zugunsten der Unterstützung und Teilnahme der Kommunisten an den revolutionären Kämpfen der kolonialen und halbkolonialen Länder zugestimmt; diese Thesen sprachen sich jedoch ebenfalls für die unabhängige Organisierung der kommunistischen Parteien in diesen Ländern aus. Er hatte indessen weder Hindernisse in den Weg gelegt, noch selbst dagegen protestiert, als die chinesische Partei im Jahre 1922 in die Kuomintang eintrat. Er erklärte später — in einem Brief an Shachtman vom 10. Dezember 1930 — daß er erst ab 1923 Einwände gegen diesen Eintritt erhoben habe. Von diesem Zeitpunkt an war es ihm nur noch möglich, sich innerhalb des Politbüros der KPSU zu äußern, dessen Protokolle nicht zur Verfügung stehen. In den Monaten jedoch, als sich die Vereinigte Opposition gebildet hatte, warf er die Frage der Beziehungen zwischen der chinesischen KP und der Kuomintang in Texten auf, die an die Oppositionellen gerichtet waren. In einem Brief vom 30. August an Radek schrieb er:
"Diese Frage (der Beziehungen zwischen den beiden Organisationen) verdient Auf- [476] merksamkeit und Ausarbeitung... Es ist außerordentlich wichtig, die wesentlichsten Tatsachen über die Entwicklung der Kuomintang und der KP zusammenzustellen (die Regionen, über die sie verbreitet sind, das Anwachsen der Streikbewegung, die Kuomintang, die KP, die Gewerkschaften, die Konflikte innerhalb der Kuomintang usw.). Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, die Situation Chinas mit der Indiens zu vergleichen... Tatsächlich ist es so, daß das Vorhandensein einer nationalen und selbst kolonialen Unterdrückung durchaus nicht den Eintritt der kommunistischen Partei in eine national-revolutionäre Partei notwendig macht. Die Frage hängt vor allem von der Differenzierung der Klassenkräfte ab, und wie das mit der ausländischen Unterdrückung verbunden ist. Politisch stellt sich die Frage folgendermaßen dar: ist die kommunistische Partei für eine langwährende Periode dazu verurteilt, die Rolle eines Propagandazirkels zu spielen, der isolierte Individuen rekrutiert (innerhalb einer revolutionär-demokratischen Partei), oder kann die kommunistische Partei in der vor ihr liegenden Zeit die Führung der Arbeiterbewegung übernehmen? In China gibt es keinen Zweifel, daß die Bedingungen für die zweite Erwägung sprechen. Das aber muß bewiesen werden, vielleicht nur in ganz allgemeiner Form, jedoch unter Hinzufügung geeigneten Tatsachenmaterials. .." (Leon Trotsky on China, S. 111, Monat Press, New-York 1976)
In einer Notiz vom 27. September 1926 kam er auf diese Argumentation zurück und entwickelte sie weiter:
"Tatsachen und Dokumente über das politische Leben Chinas in der kürzlich vergangenen Periode geben eine absolut unbestreitbare Antwort auf das Problem der weiteren Beziehungen zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang... Im Lichte dieser unumstößlichen Tatsachen ist es völlig klar, daß die Frage der Überprüfung der Beziehungen zwischen der KP und der Kuomintang aufgeworfen werden muß. Der Versuch, einer solchen Überprüfung auszuweichen unter dem Vorwand, die nationale und koloniale Unterdrückung in China erfordere das fortdauernde Hineingehen der KP in die Kuomintang, kann der Kritik nicht standhalten... Hinsichtlich Chinas sieht die Lösung des Problems der Beziehungen zwischen der KP und der Kuomintang zu verschiedenen Perioden der revolutionären Bewegung verschieden aus... Das Hauptkriterium für uns ist nicht der Dauerzustand der nationalen Unterdrückung, sondern der wechselnde Verlauf des Klassenkampfes, zum einen innerhalb der chinesischen Gesellschaft, zum andern in dem Maße, wie Parteien und Klassen in China mit dem Imperialismus zusammenstoßen.
Die nach links gehende Bewegung der chinesischen Arbeitermassen ist eine ebenso unleugbare Tatsache wie die Bewegung nach rechts der chinesischen Bourgeoisie. Soweit die Kuomintang auf einer politischen und organisatorischen Einheit von Arbeitern und der Bourgeoisie gegründet war, muß sie jetzt durch die zentrifugalen Kräfte des Klassenkampfes auseinander gerissen werden... Die Beteiligung der chinesischen KP an der Kuomintang war in der Periode völlig korrekt, wo die chinesische KP eine Propagandagesellschaft gewesen war, die sich allein auf eine zukünftige unabhängige politische Aktivität vorbereitete, die sich aber zur gleichen Zeit an dem laufenden nationalen Befreiungskampf beteiligen wollte. Die beiden letzten Jahre haben das Ansteigen einer mächtigen Streikwelle bei den chinesischen Arbeitern sichtbar gemacht... Gerade diese Tatsache stellt die chinesische KP vor die Aufgabe, aus der Vorbereitungsphase, in der sie sich befindet, in eine höhere aufzusteigen. Ihre unmittelbare politische Aufgabe sollte jetzt darin bestehen, um die direkte unabhängige Führung der erwachten Arbeiterklasse zu kämpfen, natürlich nicht, um die Arbeiterklasse aus dem Rahmen des national-revolutionären Kampfes herauszunehmen, vielmehr um ihr die Rolle nicht nur des entschiedensten Kämpfers, sondern auch die des politischen [477] Führers zu sichern, der die Hegemonie im Kampf der chinesischen Massen innehat."
(A.a.O., S. 113 - 114)
So also hatte Trotzki anfangs keine Einwendungen gegen den Eintritt der chinesischen Partei in die Kuomintang erhoben, weil er der Auffassung war, es handele sich dabei um ein rein taktisches Vorgehen, um einer kleinen Propagandagruppe ein Betätigungsfeld zu geben und es ihr zu ermöglichen, sich am nationalen Befreiungskampf zu beteiligen. Sobald aber die Massenbewegung einen größeren Umfang angenommen hatte, war er Anhänger einer völligen Unabhängigkeit der Partei geworden. Diese Position ließ er, wobei ihm die Ereignisse des Jahres 1926 und 1927 halfen, von der Opposition als der ihrigen annehmen. Aber die Differenzen in ihren Reihen beschränkten sich nicht allein auf die Frage der Beziehungen zwischen der kommunistischen Partei und der Kuomintang. Sie zeigten sich auch bei der Frage nach dem Charakter selbst der chinesischen Revolution. Die Pleite der stalinistischen Politik in China und der Ausschluß der Opposition durch den 15. Kongreß schafften die Differenzen über diese Frage nicht aus der Welt, sondern verstärkten sie eher. Im März - April 1928 hatten Trotzki und Preobrashenski, beide nach Sibirien verbannt, einen Briefwechsel über den Charakter der chinesischen Revolution. Preobrashenski, der seine intellektuelle Kraft bei seinen Arbeiten über die Beziehungen zwischen Planung und Markt bewiesen hatte, war bei den Ansichten Lenins von vor 1914 über die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern" geblieben und hatte nach der Oktoberrevolution keine Schlußfolgerungen für diese Frage gezogen. Darauf antwortete ihm Trotzki:
"Von April bis Mai 1927 unterstützte ich die Losung der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft für China (genauer, ich habe mich an diese Losung angepaßt), da die politischen Kräfte noch nicht ihr politisches Urteil gesprochen hatten, obwohl die Situation in China unvergleichlich weniger günstig für diese Losung als in Rußland war...

Wie charakterisiert man eine Revolution? Durch die Klasse, die sie vollzieht, oder durch den sozialen Inhalt, den sie besitzt? Man gerät in eine theoretische Falle, wenn man diese beiden Dinge in so allgemeiner Form einander gegenüberstellt... Der ,soziale Inhalt' kann unter der Diktatur des Proletariats (das sich auf ein Bündnis mit der Bauernschaft stützt) eine gewisse Zeit lang nicht-sozialistisch bleiben... Der Kern der Sache liegt gerade in der Tatsache, daß der Mechanismus der Revolution - obwohl er letzten Endes von einer ökonomischen Basis abhängt (nicht nur national, sondern international) - dennoch nicht mit abstrakter Logik von dieser ökonomischen Basis abgeleitet werden kann.
Eine einzige Sache ist klar. Die Hegemonie der zukünftigen Bewegung gehört immer dem Proletariat, aber der soziale Inhalt der ersten Etappe der zukünftigen dritten chinesischen Revolution kann nicht als ein sozialistischer Umsturz charakterisiert werden.
(In mehreren Briefen) habe ich mich zu beweisen bemüht, daß es in keinem Falle in der chinesischen Revolution eine besondere Epoche einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft geben wird, weil es für sie schlechtere Vorbedingun- [478] gen als in unserem Lande gäbe, und weil die Erfahrung, und nicht die Theorie, uns bereits gezeigt hat, daß die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft als solche sich in unserem eigenen Lande nicht realisieren ließ."
(A.a.O., S. 276 - 290)
Zur gleichen Zeit, wo er diese Zeilen schrieb, verfaßte Trotzki in der Verbannung von Alma Ata auch Die permanente Revolution, sein polemisches Werk gegen Radek, der diese Theorie verurteilt hatte, um seine Kapitulation vor Stalin zu rechtfertigen. Aus der Lektüre der Briefe an Preobrashenski und dieses Buches geht sehr klar hervor, daß Trotzki zu diesem Zeitpunkt noch einmal das gelesen hatte, was er über diese Theorie nach 1905 geschrieben hatte, und daß er sie im Lichte der siegreichen Oktoberrevolution und der besiegten chinesischen Revolution von neuem überprüfte. Er hatte daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß diese Theorie in Zukunft auch für China und infolgedessen für einen Großteil der kolonialen und halbkolonialen Länder Gültigkeit habe. Er nannte ausdrücklich in einem seiner Briefe das Datum, wo er seine Überzeugung hinsichtlich der permanenten Revolution für China gewonnen hatte:
"Seit der Zeit, als die Wuhan-Regierung gebildet wurde, kam ich zu der Auffassung, daß es in China keinerlei demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft geben würde. Dabei stützte ich mich gerade auf die Analyse der grundlegenden gesellschaftlichen Tatsachen, und nicht auf die Art und Weise, wie sie sich politisch widerspiegelten, was ja, wie man weiß, merkwürdige Formen annimmt, da auf diesem Gebiet zweitrangige Faktoren, darunter die nationale Tradition, hinzukommen. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß die wesentlichen gesellschaftlichen Tatsachen sich bereits einen Weg durch die Eigenheiten des politischen Überbaus gebahnt hatten, als das Scheitern Wuhans die Legende von der linken Kuomintang gründlich zerstörte, die angeblich neun Zehntel der gesamten Kuomintang umfassen sollte..." (A.a.O., S. 280)
Die russische Bourgeoisie hatte 1905 die reaktionäre Rolle gezeigt, die sie aus Angst vor der Arbeiterklasse spielte, als diese ihre Klasseninteressen bedrohte. Trotzki folgerte, ganz wie Lenin, aus dieser Erfahrung, daß es nicht möglich sei, sich an das Schema zu halten: "Aufgaben der bürgerlichen Revolution, also Führung der Bourgeoisie". Was ihn selbst betraf, steckte er die Perspektiven für das russische Proletariat, im Bündnis mit der Bauernschaft, dahingehend ab, es habe eine Arbeitermacht zu schaffen, die auf einen Schlag die demokratischen Aufgaben durchzuführen hätte, die die russische Bourgeoisie zum Unterschied von den alten Bourgeoisien nicht verwirklichen konnte, und eine permanente Revolution zu betreiben, die zu den sozialistischen Aufgaben hinführt. Die chinesische Revolution hatte ihm ebenso gezeigt, in den Jahren 1925 - 27 — oder genauer, wie er schrieb, seit der Bildung der Wuhan-Regierung —, daß in einer Welt, wo die erste proletarische Revolution gesiegt hatte, die klägliche Bourgeoisie dieses Landes, spät auf den Schauplatz der Geschichte getreten, dazu verurteilt war, ihre Kämpfe gegen den Imperialismus aus Furcht

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vor der Bewegung der Arbeiter in den Städten und der armen Massen auf dem Lande in Grenzen zu halten; er schloß daraus, daß das chinesische Proletariat, obwohl zahlenmäßig schwach, die Führung der revolutionären Bewegungen nicht nur gegen den Imperialismus übernehmen müßte, sondern auch gegen die eingeborene Bourgeoisie, um eine Arbeitermacht aufzurichten, die allein imstande wäre, die demokratischen Aufgaben durchzuführen, indem sie gleichzeitig den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Angriff nimmt. Eine Theorie, die sich nicht nur auf Rußland, sondern auch auf China anwenden ließ, mußte als eine im Weltmaßstab verwertbare Theorie angesehen werden.

Im Jahre 1928 war Trotzki der einzige, der aussprach, daß die kommende chinesische Revolution nur als sozialistische Revolution siegen könnte. Gewiß, er sah nicht die besonderen Formen und Wege, derer sie sich bedienen würde, voraus — von der Kommunistischen Partei geleitete Bauernaufstände, während das Proletariat der Städte passiv bleiben würde -, und er hatte sich getäuscht,, wenn er befürchtete, daß diese in eine unermeßlich große Bauernschaft eingebettete und von der Arbeiterklasse abgeschnittene Partei ihren Charakter als Arbeiterpartei verlieren wird. Als 20 Jahre nach der Prognose Trotzkis die chinesische Revolution das Regime Tschiang Kai-scheks stürzte, glaubten ihre Führer — Mao Tse-tung, Liu Shao-chi, Chou Enlai usw. -, sie würden "eine neue Demokratie" für eine "relativ lange Periode" schaffen, und erst acht Jahre später entdeckten sie, immer noch mit einer gewissen Unklarheit in ihrem Denken, daß sie nicht eine bürgerliche Revolution neuen Typs, sondern eine permanente, ununterbrochene Revolution durchgeführt hatten.

Die Sowjetbürokratie, die die zweite chinesische Revolution in die Niederlage geführt hatte, da sie die Konzeption einer sozialistischen Revolution in China und in den kolonialen und halbkolonialen Ländern verwarf, hinderte die KI und mit ihr die kommunistischen Parteien daran, jemals dorthin zu gelangen.


5. Die Spaltung der KPSU

Die Ereignisse beschleunigten ihr Tempo in den Monaten des Jahres 1927, die auf das 8. Plenum folgten. Stalin bereitete den Ausschluß der Oppositionellen vor. Die Ereignisse in China hatten ihn in Verlegenheit gebracht, aber er nutzte sehr geschickt die Krise aus, die in den Beziehungen zwischen Großbritannien und der Sowjetunion eingetreten war. Mit der Ankündigung des Abbruchs der Beziehungen hatte er beim 8. Plenum seine Rede beendet und

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dabei von einer "Art Einheitsfront von Chamberlain bis Trotzki" gesprochen. Eine große Kampagne war in der Sowjetunion entfesselt worden: sie wäre unmittelbar von einem Kriege bedroht. Zweifellos war die Spannung zwischen den beiden Ländern groß, — bedeutete dies jedoch, daß der Krieg wahrscheinlich war? Die Hauptverantwortlichen im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin und andere, glaubten nicht daran, aber Stalin und Bucharin trugen dieser Auffassung keine Rechnung. Die von ihnen entfesselte Kampagne ließ im Lande eine Art Panik aufkommen, die sie dazu benutzten, um die Opposition zu beschuldigen, mit dem Feind unter einer Decke zu stecken. Ob sie nun unter dem Druck dieser Kampagne zurückwich, oder sich nicht stark genug fühlte, sich dagegen zu wenden - die Opposition jedenfalls pflichtete ebenfalls der Warnung vor der Kriegsgefahr bei.

Bestand sie damals tatsächlich? Zu dieser Zeit wurde von verschiedenen Punkten der Welt her ein Angriff auf die Sowjetunion gestartet: Abbruch seitens der britischen Regierung, Überfälle auf sowjetische Diplomaten in China, Ermordung des Botschafters Woikow in Warschau, etwas später eine Kampagne in Frankreich, die die Abberufung des Botschafters Rakowski als persona non grata nach sich zog, usw. Es gab damals zweifellos in der kapitalistischen Welt, vor allem in Großbritannien, einflußreiche Personen, die es nicht aufgegeben hatte, die Sowjetmacht durch einen Krieg beseitigen zu wollen. Diese Strömungen versuchten, die Erbitterung auszubeuten, die innerhalb der Bourgeoisie durch den Generalstreik und den Bergarbeiterstreik, wie auch durch die Sowjethilfe für China entstanden war. Die Niederlagen der Sowjetregierung ermutigten sie, nach Möglichkeit Öl ins Feuer zu gießen. Wären sie jedoch stark genug gewesen, die Dinge bis zum Ausbruch eines bewaffneten Konflikts zu treiben? In nachhinein erscheint das zweifelhaft. Tatsächlich läßt sich schlecht sagen, welcher Staat damals über genügend bewaffnete Kräfte und ein völlig machtloses Proletariat verfügte, um sich in einen Krieg zu begeben, der jedenfalls von langer Dauer gewesen wäre; es gab keine Regierung, deren Situation mit der von Hitler zehn Jahre später vergleichbar wäre. Aber die Sowjetunion hatte die Jahre des Bürgerkriegs und der ausländischen Interventionen in sehr schlechter Erinnerung bewahrt; deshalb fiel es der Regierung nicht schwer, die Bevölkerung aufs äußerste in Unruhe zu versetzen und ihre Befürchtungen vor den Oppositionellen auszunutzen, die buchstäblich als Landesverräter hingestellt wurden.

5.1. Die Plattform der Vereinigten Opposition

Betrachten wir jetzt die großen Linien dieses Dokuments*38 . Bei all den aufgeführten Fragen begnügte sich die Plattform nicht damit, die Situa-

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tion mit allen ihren Schwierigkeiten, Problemen und Schwächen, so wie sie war, aufzuzeigen, sondern sie schloß jedes Kapitel mit konkreten Vorschlägen, wie man ihr abhelfen konnte, wozu in erster Linie die demokratische Teilnahme der Massen bei ihrer Verwirklichung gehörte.

Die Plattform Im Augenblick, wo dieser Text verfaßt wurde, befand sich die linke Opposition noch formell innerhalb der Partei. Die Plattform Wenn es sich hier auch um ein zu

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einem bestimmten Anlaß verfaßtes Dokument handelt, der ein halbes Jahrhundert zurückliegt, enthält es doch sehr zahlreiche noch heute für junge Arbeiterstaaten mit zurückgebliebener Wirtschaft gültige Elemente.

6.2. Der Repressionsapparat schlägt zu

Es wäre zu langwierig, auf alle seitens der Führung durchgeführten Operationen und herbeigeführten Zwischenfälle einzugehen, um den Ausschluß der Opposition zu erreichen. An der Basis wurden die Ausschlüsse der einfachen Mitglieder ohne jegliche Beachtung der Statuten ausgesprochen; oder aber sie wurden brutal an einen anderen Posten versetzt und zu ihrer Isolierung in entlegene Regionen geschickt. Vom Juni bis Oktober wurden die Führer der Opposition verschiedene Male zu Zusammenkünften des Zentralkomitees, der Zentralen Kontrollkommission oder seines Präsidiums vorgeladen. Unter den Beschuldigungen figurierte an erster Stelle die der "Fraktionsarbeit", die ihre gesamte Aktivität, jeden Schritt, den die Opposition machte, umschloß — ob sie sich zum Schreiben der Plattform traf, oder an die KI wegen der Beschlüsse appellierte, die von der KPSU gegen Mitglieder seines Exekutivkomitees gefaßt wurden. Sie wurden auch beschuldigt, die Meinungsverschiedenheiten an die Öffentlichkeit zu tragen, so zum Beispiel die Tatsache, sich am Bahnhof versammelt zu haben, wo einer der Mitglieder der Opposition, Smilga, den Zug bestieg, um sich an die mandschurische Grenze zu begeben, wohin er de facto verbannt wurde. Im Juli und im August, auf Zusammenkünften führender Gremien, wurden die Oppositionellen über allgemeine Probleme einer scharfen Befragung unterzogen und des Defaitismus und der Illoyalität im Kriegsfalle beschuldigt. Die Reden der Opposition, vor allem Trotzkis, ließen diese Gremien vorübergehend zögern, die trotz des von Stalin persönlich auf sie ausgeübten Drucks ihre Entscheidungen auf später verschoben*40 .

Da sich die Führung weigerte, die Plattform zu veröffentlichen, sah sich die Opposition gezwungen, dies konspirativ zu tun, was zu einem schweren Zwischenfall führte. Sie wurde beschuldigt, sich dafür eines ehemaligen Wrangeloffiziers bedient zu haben, aber es stellte sich fast sofort heraus, daß der in Frage kommende Mann ein von der GPU geschickter Spitzel war. Wegen des Drückens der Plattform wurden unter anderem die Ausschlüsse von Preobrashenski, Mrachkowski und Serebriakow - dreier hochgeschätzter Männer -ausgesprochen.

Stalin ließ die Abhaltung des 15. Parteikongresses um einen Monat verschieben. Je näher er rückte, umso stärker verspürte er das Bedürfnis, zuvor die Opposition zu beseitigen. Am 27. September ergriff das Exekutivkomitee die

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ersten entscheidenden Maßnahmen, die zur Spaltung führten. Unter Benutzung der Resolution des 8. Plenums gegen Trotzki und Wujowitsch schloß es sie aus der Exekutive wegen angeblicher Disziplinverletzung, illegaler Drucklegung, Verbindung zu Renegaten usw. aus. Der Ausschlußantrag wurde vom Führer der britischen Partei J. T. Murphy gestellt, der diese Partei einige Jahre später verließ, und der die Szene in einem Buch New Horizon, das er 1941 schrieb, schilderte. Die Sitzung dauerte nahezu acht Stunden. Trotzki hielt dort eine ungefähr zweistündige Rede, beschuldigte seine Richter, ihr Urteil bereits gefällt und die Statuten verletzt zu haben, da sie seit vier Jahren keinen Kongreß einberufen hatten, die Kuomintang als sympathisierende Organisation in die KI zugelassen zu haben und Stillschweigen über die Art und Weise zu bewahren, wie Stalin den Kongreß der KPSU vorbereitete.

"Er brachte seine Angriffe", schrieb Murphy, "mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft vor. Er konfrontierte uns mit allen Seiten der Probleme, die während der letzten drei Jahre zur Diskussion gestanden hatten..." und, damit schloß er, "und er entfernte sich erhobenen Hauptes".

Beim Herannahen des 10. Jahrestages der Oktoberrevolution machte Stalin einen demagogischen Schachzug mit der Ankündigung, die Regierung würde bald die Fünftagewoche und den Siebenstundentag ohne Gehaltsminderung einführen. Im Namen der Opposition deckte Trotzki die trügerische Seite dieser Versprechungen auf und erinnerte an das bescheidenere, realistischere Programm einer Lohnerhöhung, die mit den vorhandenen wirtschaftlichen Mitteln erreichbar war, was für die Versprechungen Stalins nicht galt. Aber kaum jemand vernahm diese Worte, die von der Presse nicht gebracht wurden, während die Agitpropgruppen und der gesamte Partei- und Staatsapparat im Felde standen, um ein Feuerwerk demagogischer Versprechungen aufsteigen zu lassen und die Opposition anzuprangern, die sie bekämpfte...

Am 23. Oktober schließlich erlangte Stalin bei einer Gesamtsitzung von Zentralkomitee und Zentralkontrollkommission den Ausschluß Sinowjews und Trotzkis aus dem Zentralkomitee. Auf dieser Sitzung wurde der Gipfelpunkt des Skandals erreicht: Beleidigungen, Schreie, Pfiffe, Gewalttätigkeiten. Diese Demonstrationen waren die Sache von Menschen, die Stalin dazu gedrängt hatte, den Rubikon zu überschreiten, und die nicht wußten, wohin er sie führte, aber viele konnten nicht ohne Bangen Trotzkis Worte vernehmen, wie er diese Methoden anprangerte und ihnen prophezeite, Stalin würde "darüber hinaus" gehen.

Wenn die Opposition ihr Verschwinden nicht hinnehmen wollte, ohne ein Wort und ohne Spuren zu hinterlassen, blieb ihr nichts weiter übrig, als auf einen Ausweg zu verfallen und, im Gegensatz zur vorgeschriebenen Disziplin, die einer Karikatur von Disziplin gewichen war, ihr Programm, ihre Losungen in die Massen zu tragen. Die für den 10. Jahrestag organisierten Demonstrationen boten ihr eine Gelegenheit. Sie beschloß, vor allem in Moskau und

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Leningrad, unter ihren eigenen Losungen teilzunehmen: Gegen den NEP-Mann! Gegen den Kulaken! Gegen die Bürokratie! Von ihrer Seite war das eine normale Kundgebung, kein "Staatsstreich", den die Stalinisten einige Jahre später darin entdeckten. Die Regierung, die über die Pläne der Opposition Bescheid wußte, nahm ihre Zuflucht zur Polizei, zur GPU, zu organisierten Banden, um die oppositionellen Gruppen anzugreifen und einige Zwischenfälle zu provozieren. Endlich war ein Vorwand gefunden: am 14. November, auf einer außerordentlichen Sitzung der führenden Gremien wurden Sinowjew und Trotzki aus der Partei und andere Oppositionsführer aus diesen Gremien ausgeschlossen. Hunderte von einfachen Parteimitgliedern wurden ebenfalls ausgeschlossen. Am 15. November beging der ehemalige Botschafter in China A. A. Joffe zum Zeichen des Protestes gegen diese Maßnahmen Selbstmord, nachdem er Trotzki einen erschütternden Brief hinterlassen hatte*41 . Am 23. November billigte das Präsidium der KI rückhaltlos die Beschlüsse der KPSU und ermutigte sie, weitere energische Maßnahmen zu ergreifen.

Der 15. Kongreß wurde am 2. Dezember eröffnet. Die Oppositionellen hatten dort keinen einzigen Delegierten mit beschließender Stimme; da aber Rakowski und Kamenew Einspruch gegen ihren Ausschluß eingelegt hatten, wurde ihnen gestattet, auf dem Kongreß zu sprechen. In Wirklichkeit wurden sie dort kaum angehört: Rakowki wurde praktisch von der Rednerbühne verjagt und Kamenew verhöhnt. Der Kongreß beschloß, daß die Auffassungen der Opposition mit der Zugehörigkeit zur Partei unvereinbar seien. Diese Entscheidung rief das Auseinanderbrechen der Opposition hervor: Trotzki, Rakowski, Radek, Muralow usw. hielten ihre politischen Positionen aufrecht; Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow usw. kapitulierten zum ersten Male — es sollte nicht das einzige bleiben — und sagten sich von den politischen Positionen los, die sie seit nahezu zwei Jahren verteidigt hatten. Das Zentralkomitee beschloß, ihren Fall um mindestens sechs Monate hinauszuschieben, bevor er aufgegriffen würde. Ende 1927 und Anfang 1928 begannen die Zwangsverschickungen von Oppositionellen, die ihre Positionen beibehielten. Die besiegte sowjetische Opposition sollte die widrigsten Umstände im Exil und in Isolatoren zu spüren bekommen, aber die Niederlage zog für sie auch verhängnisvolle politische Konsequenzen nach sich, auf die wir später zurückkommen.

In dem Maße, wie Stalin in der sowjetischen Führung einen stärkeren Platz einnahm, wurde die KI immer mehr auf Nebenfunktionen beschränkt, sie hatte nur ihre Unterschrift unter die vom Kreml gefaßten Beschlüsse zu setzen. Nachdem sie die Beschüsse des 15. Kongresses bestätigt hatte, rief sie alle Sektionen auf, den Kampf gegen die Ausgeschlossenen durch eine "Anprangerung des Drucks des Neomenschewismus mit dem linken Flügel des Faschismus und der Sozialdemokratie" zu führen.

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Für die Mehrheit der Sowjetführung kamen die unmittelbar nach dem 15. Kongreß eintretenden Ereignisse völlig unerwartet, und eine Krise trat sehr bald ein. Zuerst jedoch muß man auf die Bedeutung der Ereignisse zurückkommen, die sich an diesem Jahresende 1927 in der Sowjetunion abgespielt hatten. Wir hatten gesagt, der Thermidor der russischen Revolution war gerade eingetreten. Dieser Begriff Thermidor, in Anwendung auf diese Ereignisse und allgemeiner auf die Entwicklung, die in der Sowjetgesellschaft nachfolgte, war vor und nach dem 15. Kongreß Gegenstand zahlreicher Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit. Wir wollen ihn uns ansehen, seine Geschichte und danach die Bedeutung fixieren, die Trotzki ihm schließlich gab.

5.3. Thermidor

Alle russischen Revolutionäre (Bolschewiki, Menschewiki usw.) hatten bei der Ausarbeitung ihrer politischen Ideen der Großen Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts einen bedeutenden Platz eingeräumt. Man kann im Übrigen in den Gesellschaftswissenschaften auf keine andere Weise Fortschritte machen als durch ein Studium der Vergangenheit, die die einzig verfügbare Erfahrung zur Aufstellung von Gesetzen bildet. Die Vergleiche und Analogien, die deshalb für jede ernsthafte politische Diskussion unerläßlich sind, haben ihre Grenzen, denn die Geschichte - wenn sie auch Gesetzen gehorcht -wiederholt sich nicht. Der Anwendung eines Ausdrucks, der eine Erscheinung der Vergangenheit bezeichnet, auf eine neue Erscheinung, birgt in sich deshalb die Gefahr, zu Irrtümern, Verwechslungen, falschen Interpretationen zu führen: das ist auch eingetreten, als der Begriff Thermidor aus der Französischen Revolution auf die Prozesse innerhalb der Russischen Revolution übertragen wurde. Eine Klärung in dieser Hinsicht erlaubt es rückschauend zu begreifen, was die Situation in der Sowjetunion an neuem mit sich brachte, welche Verwirrung sie auslöste, und wie sich bei dieser "Wendung ins Unbekannte" die Dinge nach und nach und mit Schwierigkeiten aufgehellt haben.

Eine gewisse Idee vom Thermidor - eher als eine genaue Vorstellung von ihm - war in der ersten Periode der NEP aufgetaucht. Lenin hat diesen Ausdruck nicht benutzt, aber er hatte eine Umwandlung der Sowjetgesellschaft, eine Art Rückwärtsbewegung der Revolution ins Auge gefaßt, die dahinter steckte, wenn er sagte, in der Geschichte hätten sich die Besiegten zuweilen gegen die Sieger durchgesetzt, weil sie eine höhere Kultur besaßen. Das waren auch unter anderen seine Besorgnisse in den letzten Monaten seines politischen Lebens*42 . Kurz nach seinem Tode begann das Wort Thermidor im Verlauf

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der internen Kämpfe der bolschewistischen Partei benutzt zu werden. Bestimmte oppositionelle Kreise gebrauchten es häufig, in erster Linie aus der Tendenz des "demokratischen Zentralismus", danach bestimmte Mitglieder der Leningrader Opposition. Die Mitglieder der Tendenz des "demokratischen Zentralismus" meinten von den Jahren 1924 - 25 an, der Thermidor sei vollzogen, die Partei sei bereits so sehr entartet, daß es keine Möglichkeit der Korrektur mehr gäbe, die Diktatur des Proletariats sei vorüber und die Macht sei praktisch in die Hände der Bourgeoisie übergegangen. Gerade diese Tendenz hat enorm dazu beigetragen, jahrelang dem Thermidor die Bedeutung eines Vorgangs zuzulegen, bei dem in der Sowjetunion die kapitalistische Konterrevolution bereits gesiegt habe.

Die Anhänger der Führung Bucharin-Stalin waren besonders aufgebracht, wenn irgendeiner sie als Thermidorianer behandelte, denn sie legten dem Thermidor die gleiche Bedeutung zu. Auch Trotzki und die Vereinigte Opposition gaben dem Ausdruck Thermidor, wenn sie ihn auf die Russische Revolution anwandten, die gleiche Bedeutung, nämlich den eines konterrevolutionären Vorgangs, der den Kapitalismus wiederbrachte; aber genau aus diesem Grunde stritten sie sehr energisch ab, daß der Thermidor bereits eine vollendete Tatsache war. Sie waren der Auffassung, es gäbe im Partei- und Staatsapparat zahlreiche thermidorianische Elemente, das heißt Leute, die der Wiederherstellung des Kapitalismus positiv gegenüberstanden, sie sagten, die Politik der Führung mache von diesen Menschen Gebrauch und begünstige infolgedessen die Entfaltung der thermidorianischen Strömung und die Vorbereitung eines Thermidors, aber sie wiesen den Gedanken zurück, der Vorgang wäre bereits abgeschlossen, und sie identifizierten die Führung nicht mit dieser Strömung selbst. Die Plattform der Vereinigten Opposition präzisierte, es seien , die Folgen... nicht die Absichten' (A.a.O., S. 460) der Politik der Mehrheit, die sie aufwerfe, wenn sie die Frage thermidorianischer Gefahren stellt. Im Zusammenhang mit dieser Auffassung vom Thermidor, eines konterrevolutionären Vorgangs, der auf die Wiederherstellung des Kapitalismus hinausläuft, verwarf die Opposition gleichzeitig den Gedanken, man müsse eine neue revolutionäre Partei gründen und eine neue proletarische Revolution in der Sowjetunion vorbereiten. Sie kämpfte gleichzeitig für die Reform der Partei, für die Reform des Staates und ebenfalls für die Reform der KI. Die Ausschlüsse machten die Bewältigung dieser Aufgaben schwieriger, aber für die Oppositionellen, die nicht vor Stalin kapituliert hatten - in erster Linie für Trotzki - änderten sie nichts an den grundsätzlichen Gegebenheiten: die Sowjetunion blieb weiterhin ein Arbeiterstaat, die KI das Zentrum der Weltrevolution.

Noch mehrere Jahre nach seinem Ausschluß aus der Partei wandte sich Trotzki energisch gegen die Behauptung, der Thermidor sei bereits vollzogen. Die thermidorianischen Elemente hätten sich verstärkt, aber daraus ergab sich nicht, daß die Sowjetunion kein Arbeiterstaat mehr wäre. Der Thermidor hatte für ihn weiterhin die gleiche Bedeutung wie in den zwanziger Jahren. Zahl-

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reiche Zitate bezeugen dies. Reform des Staates, Reform der Partei, Reform der KI blieben die drei wesentlichen untrennbaren Orientierungspunkte Trotzkis. Aber der Lauf der Ereignisse in der Welt, einschließlich der Sowjetunion, bewogen Trotzki, auf die Untrennbarkeit dieser drei Elemente zurückzukommen, und als Folge davon rückschauend den Begriff Thermidor zu überdenken und ihm einen anderen Inhalt, als er bis dahin gehabt hatte, zu geben. In der dreifachen Reform, die die Perspektive Trotzkis bildete, war implizite der Gedanke enthalten, die Dialektik der Partei, des Staates und der KI seien identisch, wie man aus den folgenden Zeilen ersehen kann:
"Die erste Bedingung für den Erfolg des Sozialismus ist die Erhaltung oder besser die Rettung der Partei. Ohne dieses elementare historische Instrument ist das Proletariat machtlos... Im Grunde werden die Probleme unserer Wirtschaft auf Weltebene entschieden. Man muß die KI wiederherstellen..." (The new course in the Soviet Economy, Writings, New York 1975, S. 117, 118, 13. Februar 1930)
Zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigten ihm die Tatsachen, daß das nicht stimmte. Trotz ungeheuerlicher Fehler bei der Stalinschen Politik blieb der Staat erhalten, der Kapitalismus wurde nicht wiederhergestellt und die Produktivkräfte entwickelten sich. Andererseits war jeder Funke von Demokratie verschwunden, und die Hoffnungen auf Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der Partei und des Staates auf dem Wege von Reformen schwanden immer mehr. Schließlich hatte die KI jede Unabhängigkeit verloren und siechte dahin. Somit mußte Trotzki die theoretischen Vorstellungen noch einmal prüfen, die er während der Jahre des Kampfes gegen die Bürokratie verteidigt hatte, und nach den Fehlern und Sprüngen, die sie enthielten, forschen.

Wir sind gezwungen, den Ereignissen vorauszueilen. Den entscheidenden Anstoß erhielten seine Gedanken im Verlauf des Jahres 1933, als die KI und ihre Sektionen die Politik Stalins in Deutschland billigten, eine Politik, die eines der entscheidenden Elemente gewesen war, daß Hitler ohne Kampf zur Macht gelangen konnte. Diese Billigung war für ihn das Anzeichen, daß die KI nicht mehr über Kräfte in ihrem Innern verfügte, die sie wieder aufzurichten vermochten, und als Folge ließ er die Reform der KI fallen, um sie durch die Aufgabe des Aufbaus einer neuen revolutionären Internationale und neuer revolutionärer Parteien zu ersetzen. Diese von ihm getroffene Entscheidung zog die Frage nach dem Charakter der Sowjetgesellschaft nach sich, welche Politik ihr und der KPSU gegenüber einzuschlagen sei. Mußte man weiterhin die Reform der Sowjetunion und der KPSU betreiben? Wenn nicht — was sollte man von der Vorstellung vom Thermidor halten? War er in den vorangegangenen Jahren vollzogen worden?

Nach reiflicher Überlegung schrieb er im Februar 1935 eine selbstkritische Broschüre Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus. Das ist eine der wichtigsten historischen und theoretischen Studien, die er über die Sowjetunion geschrieben hat.

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Wir bringen jetzt das Wesentliche daraus mit der Stellungnahme zum Thermidor, die er bis zum Ende seiner Tage beibehielt:
"Der Thermidor des Jahres 1794 vollzog eine Machtverschiebung von den einen Gruppen des Konvents zu anderen, von den einen Schichten des siegreichen ´Volks' zu anderen. War der Thermidor Konterrevolution? Die Beantwortung dieser Frage hängt von dem Umfang ab, den wir im gegebenen Falle dem Begriff ´Konterrevolution' verleihen... Die dieser (bürgerlichen) Revolution entsprechende Konterrevolution hätte die Wiederherstellung des feudalen Eigentums bringen müssen: Allein, der Thermidor hat dies nicht einmal versucht. Robespierre wollte sich auf die Handwerker stützen, das Direktorium auf die Mittelbourgeoisie. Bonaparte vereinigte sich mit den Banken. Alle diese Verschiebungen, die freilich nicht nur von politischer sondern auch von sozialer Bedeutung waren, vollzogen sich jedoch auf dem Boden der neuen bürgerlichen Gesellschaft und Staatsmacht. Der Thermidor war ein Akt der Reaktion auf der gesellschaftlichen Grundlage der Revolution...

Heute kann man bereits unmöglich übersehen, daß auch in der Sowjetunion schon längst eine Machtverschiebung nach rechts vor sich gegangen ist, ganz analog zum Thermidor, wenn auch in langsamerem Tempo und in verschleierten Formen. Die Verschwörung der Sowjetbürokratie gegen den linken Flügel konnte in der ersten Zeit nur deshalb verhältnismäßig ´unblutig' vor sich gehen, weil sie weitaus systematischer und vollständiger durchgeführt wurde als die Improvisation des 9. Thermidor. Das Proletariat ist sozial gleichartiger als die Bourgeoisie, enthält aber doch eine ganze Reihe von Schichten, die sich besonders deutlich nach der Machteroberung abzeichnen, wo sich die Bürokratie und die mit ihr verbundene Arbeiteraristokratie herausbildet. Die Zertrümmerung der Linken Opposition bedeutete in direktem und unmittelbarem Sinne den Übergang der Macht aus den Händen der revolutionären Avantgarde in die der konservativen Elemente der Bürokratie und der Oberschichten der Arbeiterklasse. Das Jahr 1924 ist eben der Beginn des Sowjetthermidors..."
(A.a.O., Paris (1936), S. 5, 10)
Trotzki führte die historische Analogie unter dem neuen Gesichtswinkel, unter dem er den Thermidor sah, fort und fügte hinzu, man könne das Stalinregime als bereits jenseits des Thermidors ansehen, sein 18. Brumaire liege bereits recht weit zurück und dieses Regime stelle eine Art "Sowjet-Bonapartismus" dar, über das er schrieb:
"Weitaus wichtiger ist unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt die Verschiedenheit der sozialen Grundlagen der beiden Bonapartismen, jakobinischen und sowjetischen Ursprungs. In dem einen Falle handelte es sich um die Konsolidierung der bürgerlichen Revolution durch Liquidierung ihrer Prinzipien und politischen Einrichtungen. Im zweiten Fall geht es um die Konsolidierung der Arbeiter- und Bauernrevolution durch Zerschlagung ihres internationalen Programms, ihrer führenden Partei, ihrer Sowjets. ..Stalin schützt die Errungenschaften der Oktoberrevolution nicht nur vor der feudal-bürgerlichen Konterrevolution, sondern auch vor den Ansprüchen der Werktätigen, vor ihrer Ungeduld, ihrer Unzufriedenheit..." (A.a.O., S. 16)
Von diesen Erwägungen her unterschied Trotzki zwischen der Dialektik der Sowjetunion und der der KPSU und der KI. Die Sowjetunion blieb für ihn ein Arbeiterstaat, der bürokratisch entartet war (siehe Die Verratene Revolution), aber es konnte sich nicht mehr darum handeln, das von der Bürokratie einge-

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führte politische Regime zu reformieren, man mußte - in dem Moment, wo er diese Broschüre schrieb, in einer noch unbestimmten Zukunft - eine politische Revolution vorbereiten, die dazu bestimmt war, die sozialistische Demokratie im Lande wiederherzustellen. Er sagte sich auch von dem Gedanken der "einzigen Partei" in der Diktatur des Proletariats los; die KPSU war nur noch ein Mechanismus im Dienste des Kremls: um die politische Revolution vorzubereiten, mußte man eine neue bolschewistische Partei schaffen, welche die sowjetische Sektion der Vierten Internationale werden würde.

Zu diesen Schlußfolgerungen war Trotzki gekommen, als er die Bedeutung des Thermidors der französischen Revolution einer neuen Prüfung unterzog und zu einer Korrektur des Inhalts gelangte, der dem Begriff Thermidor während der Diskussionen zwischen Oppositionellen in den zwanziger Jahren gegeben worden war.

Die Entwicklung der Sowjetbürokratie und ihre Herrschaft haben zahlreiche Theorien hervorgebracht, die zu Trotzkis Theorie über die Sowjetunion als eines bürokratisch entarteten Arbeiterstaates im Widerspruch stehen; diesen Theorien zufolge handelt es sich bei ihr um eine neue Ausbeutungsform des Menschen durch den Menschen, und bei der Bürokratie um eine neue Klasse. Trotzki bekämpfte sie ständig und betrachtete die Bürokratie als ein parasitäres Gewächs, von dem sich die Sowjetgesellschaft befreien würde. Dieser Gegenstand gehört nicht direkt in diese Arbeit hinein.

Durch die Ausschlüsse des 15. Kongresses war der Thermidor der russischen Revolution endgültig vollendet. Das Kapitel der Geschichte, das wir mit einem Ausdruck Victor Serges als "Wendung ins Unbekannte" bezeichnet haben, ist damit geschlossen. Die siegreiche Sowjetbürokratie hatte sich über die Gesellschaft erhoben. Die politische Form, die ihre Interessen, ihre Privilegien zum Ausdruck brachte, trug sehr bald den Namen Stalinismus. Niemand hatte vorausgesehen, wie weit sich dieses Monstrum noch entwickeln sollte, als es gerade im Entstehen war. Seine klarblickendsten Gegner prangerten seine Missetaten an und sagten die größten Gefahren voraus, ohne indessen den Umfang zu ahnen, den es annehmen würde. Die ihm teilweise als Werkzeuge gedient hatten, wie Sinowjew und Bucharin, hatten erst zu spät die Kräfte erkannt, denen sie den Steigbügel gehalten hatten, und sie besaßen nicht die nötige Energie, um sie bis zum bitteren Ende zu bekämpfen. Und der Sieger, Stalin, der diese ganzen Jahre hindurch keine eigenständige Politik außerhalb von Repressionsmethoden ausgesprochen hat, hat am wenigsten die Kräfte begriffen, denen er diente:
"Hätte Stalin anfänglich voraussehen können, wohin ihn sein Kampf gegen den Trotzkismus führte, er hätte zweifellos gezögert, trotz der Aussicht auf den Sieg über alle seine Gegner. Er ist aber nicht imstande, irgend etwas vorauszusehen..." (S. 499)
Diese Zeilen wurden von Trotzki in seinem Buche Stalin (Köln/Berlin 1952) geschrieben, das aufgrund seiner Ermordung auf Befehl Stalins unvollendet blieb.

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Die stalinistische Entartung hatte von dem Zurückfluten der Weltrevolution ab 1923 einen mächtigen Anstoß erhalten. Aber sie wurde von einer völlig unerwarteten Erscheinung genährt. Man hatte in der kapitalistischen Gesellschaft Perioden gekannt, in denen die geschlagene Arbeiterklasse politische Apathie erkennen ließ, bevor sie wieder Kräfte sammelte. Aber niemand hatte gedacht, daß sich in einem Staat, wo eine proletarische Revolution gesiegt hatte, etwas ähnliches ereignen könnte. Offensichtlich ist der größte Teil der Arbeiterklasse, der die Revolution gemacht hatte, zerstört worden, und die neue Generation stammte aus zurückgebliebenen Gegenden. Diese Erscheinung erschien noch verwirrender angesichts der Tatsache, daß sich die revolutionäre Avantgarde der ganzen Welt — durch die Oktoberrevolution entstandenen der KI zusammengefaßt — ebenfalls außerstande zeigte, dem Stalinismus zu widerstehen; wir sehen sie noch einige Jahre hindurch eine unterschiedliche Aktivität entfalten, bevor sie in den letzten Zügen liegt.

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*1
Lenin Werke Bd.33, S. 274, Berlin 1962.

*2
Brief an Walentinow, Die professionellen Risiken der Macht, in Permanente Revolution 1932, Nr. l5, 20, 21 - Reprint 1977.

*3
Lenin Werke, Bd. 36, S. 579, Berlin 1962.

*4
L. Trotsky, The Third International after Lenin, New York 1936.

*5
Unsere Einschätzung Bucharins besteht schon seit sehr langer Zeit (siehe unseren Artikel über ihn in der Encyclopedie Universalis). Kürzlich haben wir in einem Buch El communisme de Bujarin von A. G. Lowy (Verlag Grijalbo, Barcelona) Äußerungen über Bucharin gefunden, die vom Verfasser dieses Buches aus den Schriften von Georg Lukács zusammengestellt wurden. Dieser hatte in mehrfacher Hinsicht (umfassende Bildung, Gelehrsamkeit usw.) Gemeinsamkeiten mit Bucharin und war weit davon entfernt, Sympathien für Trotzki zu haben. Indessen sagt er dort folgendes: "Bucharin hatte theoretisch-politisch eigentlich nie eine eigene Linie, er schwankte haltlos von der äußersten Linken zur äußersten Rechten. Ich gebe hier als Beispiel zuerst seine sinnlose Anti-Brest-Position und dann seine Position gegen die Kollektivierung. Bucharin zeigte eine besondere Form von innerer Haltlosigkeit. Trotzki hatte sicher manche falschen Vorstellungen, aber er hat bestimmte Vorstellungen sein ganzes Leben lang gehabt. Bucharin hingegen war der typische haltlose Intellektuelle, der von Strömungen getragen wird" (A. G. Löwy, Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, Wien 1969, S. 109).

*6
E. H. Carr, op. cit., S. 326.

*7
E. H. Carr, op.cit.

*8
Die Linke Opposition in der Sowjetunion "Die Erklärung der Dreizehn", Bd. IV, 1926, S. 71 - 85.

*9
Band 1, Teil 2, Kapitel 2.

*10
Band 1, Teil 3, Kapitel 1.

*11
Leo Trotzki, Stalin, Köln - Berlin 1952, S. 527.

*12
Gallacher, zitiert nach Ch. Farman, May 1926, the general strike.

*13
L. J. Mac Farlane, The British Communist Party, S. 323.

*14
Ch. Farman, op. cit.

*15
Christopher Farman, op. cit. Dieses Buch gibt einen seht objektiven Bericht von dem Zeitraum, der dem Streik voranging, und von dessem tagtäglichen Ablauf.

*16
L. J. Mac Farlane, op. ctf.

*17
Teil 4. Kapitel 4

*18
L. J. Mac Farlane, op.cit., S. 162

*19
Diese Rede Trotzkis vom 3. Juni im Politbüro befindet sich in den Trotzki-Archiven in Harvard. Unseres Wissens wurde sie zum ersten Mal von L. J. Mac Farlane in seinem Buch The British Communist Party (Verlag Macgibbon and Kee, 1966) veröffentlicht, aus dem wir übersetzt haben. Dieses Buch über die Geschichte der britischen Kommunistischen Partei von ihren Anfängen bis 1929 hält sich völlig an die Tatsachen und ist bei seinen zahlreichen Interpretationen der Politik der Partei und der KI sehr korrekt. Bei einem auch von ihm angestellten Vergleich der Positionen Trotzkis und Murphys meint er indessen, die Einschätzung Murphys sei "realistischer" als die Trotzkis, "wenn man den Charakter des Kampfes und die Kraft der Kommunistischen Partei in Betracht zieht" (S. 162). Man könnte meinen, Trotzki habe sich eine übertriebene Vorstellung von der Situation gemacht, während wir indessen zweifeln, daß er geglaubt habe, es sei zu diesem Zeitpunkt möglich, die bürgerliche Ordnung zu stürzen - er wußte, daß dies eine enorm schwierige Aufgabe in den alten kapitalistischen Ländern war. Aber er glaubte nicht, daß es eine kommunistische Partei versäumen dürfe, dieser Perspektive bei ihrer propagandistischen Aktivität einen Platz einzuräumen; darüber hinaus kannte er aus seinen Erfahrungen von 1905 und 1917 die ungeheuerliche Dynamik, welche die Mobilisierung von Millionen Menschen durch einen Generalstreik für Ziele auf nationaler Ebene entstehen lassen konnte » was weder der Führung der britischen Partei noch etwa der Führung der KI bewußt war.

*20
Die Transsibirische Eisenbahn der damaligen Zeit durchquerte einen Teil chinesischen Gebiets - was während der Bürgerkriegsjahre Wladiwostok vom übrigen Sibirien abgeschnitten hatte. Die so bezeichnete ostchinesische Eisenbahn war von den zaristischen Behörden verwaltet und kontrolliert worden - sie stellte tatsächlich eine russische Kolonie dar. Wir werden uns späterhin mit den Vorgängen befassen, die sich im Jahre 1929 in Bezug auf sie abspielten.

*21
Der dritte Ausdruck im Chinesischen wird manchmal zu Unrecht mit "Sozialismus" übersetzt.

*22
Der Artikel von Sun Yat-sen wurde in der Brüsseler sozialistischen Zeitung Le Peuple veröffentlicht.

*23
Band 1, Teil 2, Kapitel 3.

*24
Unter den 24 auf dem Kongreß der Kuomintang im Jahre 1924 gewählten führenden Mitgliedern befanden sich 3 Mitglieder der Kommunistischen Partei, und unter den 17 Kandidaten 6 Parteimitglieder, darunter Mao Tse-tung. Zur Geschichte der chinesischen Kommunistischen Partei und für die Revolution 1925 - 1927 verweisen wir auf folgende Bücher: J. Guillermaz, Histoire du Parti communiste chinois (Verlag Payot, Paris) und H. Isaacs, Z,a tragedie de la revolution chinoise 1925 - 1927 (Verlag Gallimard, Paris).

*25
Bei den Unterhaltungen, die Maring (Sneevliet) mit H. Isaacs, dem Verfasser der Tragödie der chinesischen Revolution 1925 - 1927 führte (ein Buch, auf das wir bald zurückkommen werden), hat Maring erklärt, er habe von sich aus, und nicht auf Anweisung oder Befehl der KI den Eintritt in die Kuomintang vorgeschlagen. Für diesen Vorschlag stützte er sich auf seine Erfahrung in Indonesien, wo er zusammen mit sozialistisch-revolutionären Militanten dieses Landes in die Saraket Islam hineingeht, eine zugleich nationalistische und religiöse Bewegung gegen den holländischen Imperialismus. Diese Versicherung Maring-Sneevliets, eines absolut unabhängigen kämpferischen Genossen, kann nicht im Geringsten angezweifelt werden. Seine Auffassung von dieser Sache mußte bei der KI ins Gewicht fallen, im Zeitpunkt, wo er sie vorbrachte, oder gleich danach, andernfalls wäre ihr nicht seitens der KI zugestimmt worden. Diese trägt tatsächlich die gesamte Verantwortung für den Eintritt der chinesischen Kommunistischen Partei in die Kuomintang.
Es sei uns hier gestattet, in ein paar Worten des unermüdlichen Revolutionärs, der Henryk Sneevliet gewesen ist, zu gedenken. Wir sind ihm zum ersten Male in Kopenhagen begegnet, wo er zur Konferenz gekommen war, die mit Trotzki auf Einladung der dänischen sozialdemokratischen Studenten stattfand. Danach haben wir zu ihm trotz einiger politischer Differenzen außerordentlich freundschaftliche Beziehungen gehabt. Er gehörte zu den seltenen europäischen Genossen vor dem Ersten Weltkriege, der sich für die kolonisierten Völker nicht nur interessierte, sondern auch an ihren Kämpfen teilnahm und aus diesem Grunde Repressionen erlitt. Er erlag niemals dem Stalinismus. Von den Nazis erschossen fand er während der Besetzung Hollands einen heldenhaften Tod. In Holland erschien Henk Sneevliet 1883 - 1942, eine politische Biographie, deren Verfasser Fritjof Tichelman ist. Eine deutsche Übersetzung wurde 1978 veröffentlicht, und eine französische Ausgabe ist im Erscheinen begriffen.

*26
Wir kennen keine über diese Politik veröffentlichten Dokumente, wir wissen nur, daß es zwischen Genossen persönliche Auseinandersetzungen über sie gegeben hat. In den Thesen, die Sinowjew am 14. April 1927 dem Politbüro der KPSU vorlegte und auf die sich Trotzki auf dem 8. Plenum der KI bezog, verglich der erstere die Kuomintang mit der kemalistischen Bewegung und warnte davor, daß sich die Kuomintang wie Kemal gegen die Massen und gegen die Kommunisten wenden würde.

*27
Wir sprechen allein von außerhalb Chinas verfaßten Werken, denn in diesem Lande wird diese Periode ebenso entstellt wie die Geschichte der Russischen Revolution in der Sowjetunion.

*28
Harold Isaacs hat zwei englische Ausgaben seines Buches veröffentlicht, die erste 1939, die zweite (die ins Französische übersetzt wurde) 1951. Es gibt zwischen ihnen für die Periode, die hier behandelt werden, in der Schilderung der Tatsachen keine fühlbaren Unterschiede, noch in der Darlegung der Positionen, die von den Hauptbeteiligten in dieser Revolution und bei den innerhalb der KI geführten Diskussionen eingenommen wurden. Jedoch hat Isaacs, wie viele amerikanische Intellektuelle seiner Generation, zwischen den beiden Ausgaben seines Buches erheblich seine politischen Beurteilungen geändert. 1938 sympathisierte er mit den Positionen Trotzkis, den er um ein Vorwort für sein Buch bat. 1951 erlag er den Pressionen des "Kalten Krieges" und verteidigte die Vereinigten Staaten gegen den sowjetischen "Totalitarismus". Deshalb ließ er bei der zweiten Auflage seines Werks das Vorwort Trotzkis weg und fügte seinem Buch Schlußfolgerungen über die Machtergreifung Mao Tse-tungs hinzu. "Die Kommunisten", schrieb er, "haben die Macht in China ergriffen und sich der russischen Haltung unterworfen, sie in der ganzen Welt zu übernehmen. Zusammen haben sie sich auf den düsteren Weg des Totalitarismus begeben". Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß China heute von der sozialistischen Demokratie noch sehr weit entfernt ist. Aber welch ein Irrtum, angenommen zu haben, der Kreml werde alsbald seine Herrschaft über China ausdehnen! Welch politische Blindheit, nicht erkannt zu haben, daß der Sieg von 1949 unweigerlich Auswirkungen haben müsse, durch die der Einfluß des Kremls auf die kommunistischen Parteien und die revolutionären Bewegungen der ganzen Welt immer mehr schwinden würde!

*29
Man sollte nicht übersehen, daß der Rundfunk damals im Anfangsstadium war und das Fernsehen nicht vorhanden. Die Presse war die Hauptinformationsquelle. Die Führer der Opposition beklagten sich zu wiederholten Malen, daß ihnen Nachrichten vorenthalten wurden. Als die Agenturen und Zeitungen mehrerer kapitalistischer Länder den "Handstreich vom 2O. März" berichteten, bezeichnete das Organ der KI Inprekorr (Internationale Presse-Korrespondenz) diese Informationen als "Lügen", behauptete, "die Kanton-Truppen und die revolutionäre Regierung Kantons" seien auf "eine Massenpartei im wahrsten Sinne des Wortes" gegründet, was es "unmöglich mache, dort in einer Nacht einen Staatsstreich zu machen". Im gleichen Organ erklärte am 16. Mai Woitinski, es handele sich da um eine "Erfindung des Imperialismus" und "die Kanton-Regierung, die von der imperialistischen Presse ´gestürzt' worden sei, wäre in Wirklichkeit stärker als je zuvor" (INPREKORR 1926, Nr. 66, S. 994).

*30
Dieser Bericht wurde später von den Oppositionellen veröffentlicht, die ihn unter der Bezeichnung "Brief aus Schanghai" zufällig fanden. Er wurde 1927 vom Verlag der "Fahne des Kommunismus" unter dem Titel Wie die chinesische Revolution zugrunde gerichtet wurde in Berlin veröffentlicht - Reprint Feltrinelli 1967.

*31
S. P. Broue, La question chinoise dans VI. C. (Editions E. D. I.).

*32
Ehemaliger Mitbegründer der chinesischen Kommunistischen Partei, der sehr früh zur Kuomintang übergegangen war.

*33
Diese Rede Stalins wurde vom Oppositionellen Wujowitsch, im darauf folgenden Monat, zitiert, mit der Aufforderung, Ungenauigkeiten richtig zu stellen, falls die Aufzeichnungen, die er sich auf der Versammlung gemacht hatte, Fehler enthielten. Auf dem gleichen Plenum verlangte Trotzki das Stenogramm der Rede Stalins. Es gab weder eine Veröffentlichung des Stenogramms noch ein Dementi. Mehrere Zuhörer bestätigten den Tenor der Rede Stalins. (S. Protokoll 8. Plenum, S. 123 - 124).

*34
J. Humbert-Droz, De Lenine a Staline

*35
Trotzki, Sinowjew, Smilga, Jewdokimow u.a.: Die Erklärung der Vierundachtzig, (Die linke Opposition in der SU, Band V, S. 84).

*36
S. Teil IV, Kapitel 5.

*37
Writings of Leon Trotsky 1930 - 31, New York 1973, S. 87 - 88.

*38
Der Wortlaut der Plattform befindet sich in Die Linke Opposition in der SU, Band V, 1926 - 1927, S. 328.

*39
l. Band, Teil III, Kapitel 1.

*40
Leo Trotzki, Die wirkliche Lage in Rußland, Hellerau 1928, darin Stalin fälscht Geschichte S. 161 ff.

*41
veröffentlicht in Leo Trotzki, Die wirkliche Lage in Rußland, op.cit, S. 259.

*42
l. Band, Teil III, L Kapitel. Wir untersuchen in diesem Buch den Gebrauch des Ausdrucks Thermidor innerhalb der bolschewistischen Partei und nicht in verschiedenen Strömungen außerhalb der Sowjetunion, wie zum Beispiel in ultralinken Strömungen (Bordiga ...) oder in linkssozialistischen (Otto Bauer).


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