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Pierre Frank |
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Geschichte der Kommunistischen Internationale (1919 - 1943) - TEIL V - DIE ´DRITTE PERIODE´ (1928 - 1933)
( original )
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Status |
Band 2 - Auszüge - ISP-VERLAG |
Letzte Bearbeitung |
1979 |
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www.mxks.de
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1. Anfänge einer ,Links´wendung
1.1. Das 9. Plenum (9. - 25. Februar 1928)
1.2. Der Kanton-Aufstand
1.3. Der Bruch zwischen dem Zentrum (Stalin) und der Rechten (Bucharin)
1.4. Die Zusammenkunft Bucharin-Kamenew vom 11. Juli 1928
2. Der VI. Kongreß (17. Juli bis zum 1. September 1928)
2.1. Die ´dritte Periode´, eine Entdeckung Bucharins
2.2. Wiederauftauchen des ´Sozial-Faschismus´
2.3. Versöhnler ?
2.4. Der Kampf gegen die Kriegsgefahren
2.5. Billigung der Beschlüsse des 15. Kongresses
2.6. Die koloniale Frage
2.7. Das Programm der KI
2.8. Trotzki und der VI. Kongreß
2.9. Der VI. Kongreß in der Geschichte der KI
3. Die Ausschaltung der Rechten
3.1. Bucharins Verurteilung durch die KP der Sowjetunion
3.2. Die Affäre Wittorf
3.3. Der Erste Mai in Berlin
3.4. Das 10. Plenum (3. bis 19. Juli 1929)
3.5. Die Stalinisierung der kommunistischen Parteien
4. Die Politik der ´dritten Periode´ auf dem Höhepunkt
4.1. Die ,dritte Periode´ in der Sowjetunion
4.2. Die große Wirtschaftskrise von 1929
4.3. Die Krisenanalyse
4.4. Der Aufstieg des Nationalsozialismus
4.5. Die Politik der KI und der KPD zwischen 1930 und 1933
4.6. Vertreibt die ´Sozialfaschisten´!
4.7. Ein Einheitsfront-Ersatz
4.8. Das 11. Plenum (25. März bis 13. April 1931
4.9. Das 12. Plenum (27. August bis 15. September 1932)
5. Die Linie war richtig...
5.1. Einige entscheidende Wochen
5.2. Der Aufruf vom 5. März
5.3. Der Heckert-Bericht
5.5. Das 13. Plenum (28. November bis 13. Dezember 1933)
5.6. Bilanz der ´dritten Periode´
1. Anfänge einer ,Links´wendung
Der 15. Kongreß bezeichnete eine entscheidende Etappe in der Geschichte der Sowjetunion und der KPSU. Die Bürokratie verfügte über die Macht im Staate und hatte die Partei, die sie hervorgebracht hatte, erstickt. Die Politik des
"Sozialismus in einem Lande" nahm nicht mehr auf die revolutionären Möglichkeiten Rücksicht, die die Weltsituation in verschiedenen Momenten und in verschiedenen Ländern bot, noch auf die Interessen der — internationalen oder sowjetischen — Arbeiterklasse. Die Massenbewegungen wurden vom Kreml nur unter dem Gesichtspunkt seiner diplomatischen Interessen, in seinen Beziehungen zu den bürgerlichen Regierungen betrachtet. Die bürokratisierten kommunistischen Parteien wurden durch sich häufende Niederlagen zu Boden gedrückt, durch die Weisungen, die sie vom Kreml über die KI bekamen, in Verwirrung gebracht: noch waren sie revolutionäre Parteien, nicht wegen des Programms, das sie zur Schau trugen, sondern wegen ihrer Aktivitäten gegen den bürgerlichen Staat, auch wenn sie oft unwirksam waren und ihnen nur Niederlagen beibrachten. Ein guter Teil der führenden Leute der ersten Jahre war verschwunden; die Übriggebliebenen büßten jeden Tag ihre Persönlichkeit und ihren revolutionären Enthusiasmus mehr ein. Die früheren oder neuen Führer verdankten ihre Posten den in Moskau gefaßten Beschlüssen.
In den auf den 15. Kongreß folgenden Jahren machten diese Parteien sinnlose Anstrengungen für das, was sie für eine revolutionäre Politik und eine der Verteidigung der Sowjetunion hielten, die Politik der so genannten
"dritten Periode", die mit einer beispiellosen Katastrophe für die Arbeiterbewegung der Welt endete, schlimmer noch als bei der zweiten chinesischen Revolution. Eine Katastrophe, die diesen Parteien das Rückgrat als revolutionäre Parteien brach. In der KI verschwand Bucharin aus der Führung, um zweit- oder drittrangigen Personen Platz zu machen. Die KI geriet in eine Periode, wo sie von Krämpfen derartig geschüttelt wurde, daß sie fast in den letzten Zügen lag. Nach den wenigen Jahren der Hoffnungen und Fortschritte, in denen die Flammen der Revolution hell gelodert haben, nach mehreren Jahren der Verwirrung, des
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Schwankens und der gegenseitigen Zerfleischung begannen die Jahre der Hoffnungslosigkeit und der Agonie.
Unmittelbar und direkt hatte die Spaltung der KPSU das Unbehagen in den kommunistischen Parteien vertieft. Um zu versuchen, hier Abhilfe zu schaffen, berief Stalin im Jahre 1928 erst das 9. Plenum, danach den VI. Kongreß der KI ein. In diesem Jahre traten auf internationaler Ebene keine Ereignisse ein, die sich mit jenen vergleichen ließen, welche die großen Differenzen mit der Vereinigten Opposition hervorgerufen hatten. Andererseits sollten die innersowjetischen Probleme in den Vordergrund treten und Umwälzungen im Lande und in der KI bewirken.
Kaum waren der 15. Kongreß beendet und die Oppositionellen in den Orten ihrer Verschickung oder Verbannung angelangt, als Stalin sich gezwungen sah, von sich aus die Warnungen der Opposition vor den Gefahren aufzunehmen und zu wiederholen, welche in erster Linie von Seiten der Kulaken für die wirtschaftliche und politische Situation drohten.
Stalin begann, eine Wendung nach links vorzunehmen, aber er ging dabei - national wie international — völlig bürokratisch vor. Weit davon entfernt, offen seine vergangenen Fehler einzugestehen, und noch weniger bereit, der Klarsichtigkeit der Opposition Genugtuung zu geben, versicherte er im Gegenteil, die von ihm eingeschlagene Politik sei immer richtig gewesen und er werde sie nicht ändern. Bei einem derart arglistigen Vorgehen vermochte er nur, die breiten sowjetischen Massen und die Mitglieder der kommunistischen Parteien weiterhin in Verwirrung und Irrtum zu lassen. Zusätzlich zu Oppositionellen, die mit Sinowjew und Kamenew auf dem 15. Kongreß kapituliert hatten, ließen sich andere Oppositionelle, durch diese Linkswendung getäuscht, von einer Politik fortreißen, die ihnen die gleiche zu sein schien, die sie selbst vertreten hatten, und sie kapitulierten ihrerseits. Die Wortführer der Rechten innerhalb des Politbüros Bucharin, Rykow und Tomski wiederum wagten nicht, obwohl sie über die Wendung Stalins alarmiert waren, ihn freimütig in der Öffentlichkeit anzugreifen. Das Regime, das er mit ihrer Zusammenarbeit in der Partei und im Staat errichtet hatte, sowie ihre Basis, die Teil des Apparats war, verurteilten sie zur Machtlosigkeit: sie wollten und konnten die Massen nicht aufrütteln und mobilisieren. Sie waren auf einen gedämpften halbkonspirativen Kampf beschränkt. In der Öffentlichkeit sagten sie oft dieselben Dinge wie Stalin und unterschieden sich von seiner Politik nur durch den Gebrauch einer Sprache, die den Massen hermetisch verschlossen blieb. Unter diesen Bedingungen wurden die Zusammenkünfte der KI im Jahre 1928 vorbereitet.
1.1. Das 9. Plenum (9. - 25. Februar 1928)
Dieses Plenum war vor allem eine Vorbereitungszusammenkunft für den Kongreß; die Teilnehmerzahl war diesmal noch geringer - 44 beschließende
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Stimmen auf 92 Anwesende, die aus 27 Ländern kamen. Genau wie für das vorangegangene Plenum wurde kein vollständiges Protokoll erstellt. Nur eine kleine Broschüre von 55 Seiten — mit den Resolutionen und Beschlüssen — wurde offiziell veröffentlicht . Ein Artikel in der
Prawda und Berichte über die Arbeiten in den Kommissionen erschienen ebenfalls in der
Internationalen Pressekorrespondenz und seitens bestimmter kommunistischer Parteien. Aber die Resolutionen und Beschlüsse genügen, um die Absicht der Arbeiten dieses Plenums zu durchschauen.
- Es war in erster Linie einberufen worden, um die Ausschlüsse der Oppositionellen in der KPSU zu billigen.
- An zweiter Stelle leitete es eine Wendung nach links ein.
- Es mußte sich zu dem Kanton-Aufstand äußern.
- Schließlich faßte es den Beschluß, den VI. Kongreß der KI für den Sommer des gleichen Jahres einzuberufen.
Die Billigung der Ausschlüsse des 15. Kongresses der KPSU und der Deportationsmaßnahmen gegen die Oppositionellen rief im Plenum keine Einwände hervor. Die angenommene Resolution stellt diese Maßnahmen als einen großen Sieg des Sozialismus dar. Aber die Oppositionellen innerhalb der anderen kommunistischen Parteien oder die aus ihnen Ausgeschlossenen schwiegen nicht und man konnte sie nicht deportieren. Deshalb nahm das Plenum eine nur wenige Zeilen ausmachende Resolution an, in der das Präsidium beauftragt wird, ein
"Westeuropäisches Büro" zur Herstellung
"einer engeren Verbindung" zwischen dem Exekutivkomitee und den Sektionen dieses Teils der Welt zu bilden
(Resolutionen und Beschlüsse, Neuntes Plenum des EKKI, Hamburg-Berlin, Reprint 1967, S. 53). Die Resolution bestätigte eine bereits seit mehreren Wochen ergriffene Maßnahme, enthielt aber nicht die geringste Erklärung zu ihrer Rechtfertigung, wo doch die betreffenden Sektionen gerade die mit den besten Verbindungen zum Zentrum waren.
Augenscheinlich war der Zweck dieses Büros, schnellstens auf die Aktivitäten und auf Koordinationsversuche von Oppositionsgruppen in mehreren Ländern zu reagieren. Die Resolution des Plenums über die trotzkistische Opposition (A.a.O., S. 5 - 13) erwähnte die Existenz aktiver Oppositionsgruppen in einer Reihe von in der großen Mehrheit europäischen Ländern: Deutschland, wo sich der Leninbund gebildet hatte, der eine Zeitlang eine beträchtliche zahlenmäßige Stärke und erheblichen politischen Einfluß besaß, weiterhin Frankreich, die Tschechoslowakei, Holland, sowie Belgien, wo das Zentralkomitee gegen die Spaltung der KPSU aufgetreten war und die KI große Anstrengungen machen mußte, um in der Führung und in der Partei eine Mehrheit zu erlangen, Italien, wo die bordigistische Opposition der sowjetischen Opposition ihre Unterstützung aussprach, ohne ihre politischen Auffassungen zu teilen, Österreich, Luxemburg, wo sich über eine kleine Gruppe um den Parteisekretär hinaus spanische in dieses Land ausgewanderte Kommunisten organisiert hatten, schließlich die Vereinigten Staaten,
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wo es indessen erst einzelne Oppositionelle gab. Alle diese Gruppen waren im Verhältnis zu den Parteien zahlenmäßig schwach, aber sie versetzten die Führung der KI deshalb nicht weniger in Schrecken. Diese entstellte die Positionen der verschiedenen Gruppen, stellte Amalgame her und rechnete alle Oppositionellen zu der linken Sozialdemokratie, die als gefährlichster Feind des Kommunismus angeprangert wurde:
"Die trotzkistische Opposition ist in allen Grundfragen auf den Standpunkt der ´linken' Lakaien des Opportunismus übergegangen... Die trotzkistische Opposition ging vom Fraktionskampf innerhalb der KPSU zur Schaffung einer zweiten Partei, zum Straßenkampf und zu offenen sowjetfeindlichen Aktionen über..."
(A.a.O., S. 9)
Die einsetzende politische Wendung stützte sich formell auf die Analyse der internationalen Situation, die vom 15. Parteikongreß stammte, eine Analyse, die in der Resolution zur Verdammung des Trotzkismus wieder aufgenommen wurde. Als Charakteristikum dieser Situation erwähnte man
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"die Radikalisierung der Arbeiterklasse",
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"den Feldzug gegen die Kommunisten, der gemeinsam von den Unternehmerorganisationen, dem kapitalistischen Staate und der Sozialdemokratie eröffnet wird".
In der Resolution hieß es, -
"die bevorstehende Phase der Entwicklung wird durch neue Zusammenstöße zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie und durch einen erbitterten Kampf zwischen der Sozialdemokratie und den Kommunisten um den Einfluß auf die Arbeitermassen geführt".
Sie fügte hinzu:
"Eine besonders verlogene Pharisäerrolle in diesem Kampfe gegen die Sowjetunion und die KPSU spielen die Führer des so genannten ,linken' Flügels des Sozialreformismus.."
(A.a.O., S. 8)
Die Radikalisierung der Massen, die Zusammenstöße mit der Bourgeoisie, der Kampf gegen die Sozialdemokratie, genauer noch die linke Sozialdemokratie, — diese Ausdrücke konnten den Anschein erwecken, als nähmen sie nur ein Vokabular, das in der KI seit ihrer Gründung gang und gäbe war, wieder auf. Aber sie erlangten eine Sonderbedeutung, sowie man sie mit der Sprache der Jahre 1926 bis 1928 in Bezug auf die Stabilisierung des Kapitalismus, die Einheit mit den linken Gewerkschaftsführern, der zu realisierenden Einheitsfront zwischen Kommunisten und Sozialisten usw. vergleicht. In dem Text waren Töne zu hören, deren Anklänge an einige Seiten des Ultralinkskurses des V., von Sinowjew geleiteten Kongresses unverkennbar waren. Diese Analyse versuchte, zahlreichen Mitgliedern der kommunistischen Parteien wieder Mut einzuflößen, die mehr oder weniger deutlich spürten, daß die in den letzten zwei oder drei Jahren eingeschlagene weiche Welle keineswegs Erfolge, sondern vielmehr schwere Niederlagen gebracht hatte.
Die Wendung zeigte sich deutlicher in der Resolution über die Gewerkschaftsfrage (A.a.O., S. 13 - 26), für die der Delegierte der britischen Kommuni-
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stischen Partei Campbell Berichterstatter war. In dieser Resolution gab es nicht den geringsten Hinweis mehr auf den Kampf für die internationale Gewerkschaftseinheit, die seit Jahren im Mittelpunkt der gesamten Aktivität gestanden hatte. Stattdessen konnte man dort lesen:
"Die Mobilisierung der Massen muß deshalb neben der Aufstellung konkreter Forderungen in bezug auf Arbeitslohn und Arbeitszeit vor allen Dingen vor sich gehen unter der Losung der Freiheit des Streiks - gegen das Zwangsschiedsgericht, gegen die Treue der Sozialdemokraten gegenüber dem Tarifvertrag und, in der Regel, für die Kurzfristigkeit des Tarifvertrags...
Die höchste Kampfeinheit der Arbeiterklasse, die Organisierung der Unorganisierten, die Organisierung der breitesten Massen der ungelernten Arbeiter und die Überwindung der verschwindend geringen Organisiertheit der Arbeiter der Großbetriebe - das muß die Hauptaufgabe der kommunistischen Vorhut sein...
Jeder Streik muß zu einer Arena des Kampfes um die Führung zwischen Kommunisten und Reformisten werden... (man) muß... Streikleitungen bilden, die Führung der Streikleitungen und dadurch die Führung des gesamten Streikkampfes an sich reißen... Die Kommunisten müssen:
a) einen entscheidenden und offenen Kampf unter der Losung der Einheit der Gewerkschaftsbewegung gegen den Ausschluß aus den Gewerkschaften führen...
b) der Versuch, innerhalb der Reihen des Gewerkschaftsverbandes zu verbleiben, darf bei den Kommunisten niemals zum Verzicht auf die aktive revolutionäre politische Arbeit in den Gewerkschaften führen..."
Die Formulierungen waren zumindest zweideutig und konnten verschieden ausgelegt werden - die Geschichte wird zeigen, wie das überwiegend geschah. So wie sie jedenfalls abgefaßt waren, unter den Bedingungen einer Offensive der reformistischen Führer, die die schwachen Positionen der aktiven kommunistischen Genossen in den Gewerkschaften ausnutzten, konnte eine Orientierung seitens dieser Genossen auf einen offenen Angriff sie nur weiterhin schwächen. Die Resolution enthielt kein Wort über das Anglo-russische Komitee, dessen Aufrechterhaltung nur acht Monate zuvor auf dem 8. Plenum als eine wesentliche Aufgabe der Kommunisten hingestellt worden war.
Die Vorbereitung auf die Linkswendung hatte vor dem Abhalten des Plenums begonnen, und es hatten sich innerhalb der Führungen bestimmter Sektionen Widerstände gegen sie bemerkbar gemacht. Deshalb benannte das 9. Plenum zwei Kommissionen, die eine für die britische, die andere für die französische Sektion, wo diese Widerstände hauptsächlich aufgetreten waren. Als Folge ihrer Arbeiten machen die vom Plenum verfaßten und angenommenen Resolutionen die Orientierung der von der KI vorgenommenen Wendung viel besser als die anderen Texte des Plenums deutlich.
Nach dem Generalstreik und dem Bergarbeiterstreik war die britische Kommunistische Partei recht schnell wieder auf ihrem geringen früheren Mitgliederstand angelangt. Als Reaktion auf diese negative Bilanz war eine nach links neigende Minderheit im Zentralkomitee entstanden, gegen die die Partei auf ihrem Kongreß im Oktober 1927 bei ihrer früheren Linie geblieben war, eine
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Linie, die den Kampf für den Beitritt zur Labour Party und die Unterstützung der Kandidaten dieser Partei bei den Wahlen vorsah, um das Zustandekommen einer Labour-Regierung zu begünstigen. Jetzt hingegen wurden die in Moskau zur Teilnahme am 15. Kongreß in Moskau angekommenen Vertreter der britischen Partei über die Notwendigkeit einer Wendung informiert: anstatt sich um die Aufnahme in die Labour Party zu bemühen, sollte man gegen sie eine erbarmungslose Kampagne führen und die Losung einer Labour-Regierung aufgeben . Nach Rückkehr der Delegation sprach sich eine Mehrheit des Zentralkomitees - diese Partei war weniger als andere als wichtiger eingestufte Parteien
"bolschewisiert" worden - gegen die Wendung aus. Einige Wochen später jedoch begann ihre Delegation zum 9. Plenum, den Rückzug anzutreten, während die Führung der KI sich auf die Minderheit des Zentralkomitees stützte, um ihre Offensive weiter voranzutreiben. Die KI rechtfertigte die Wendung nicht mit der objektiven Situation oder mit einer fehlerhaften Analyse des 8. Plenums, sondern mit Fehlern der britischen Führung. Diese Methode erschien jetzt üblich und anerkannt. Die Resolution wurde einstimmig angenommen, und der Führung der britischen Partei blieb nur noch übrig, sie von der Partei annehmen zu lassen, was sich ohne besondere Schwierigkeiten bewerkstelligen ließ. Die Resolution behauptete, die Massen entwickelten sich nach links, während die Führer der Labour Party und der Gewerkschaften - einschließlich jener, die gestern noch wegen ihrer Freundschaftsbeteuerungen gegenüber der Sowjetunion begeisterte Unterstützung gefunden hatten - mehr und mehr nach rechts glitten. Daraus, so fügte sie hinzu, folge einerseits eine Verschärfung des Klassenkampfes, andererseits eine Verschärfung der Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und diesen reformistischen Organisationen. Die Resolution verzeichnete die zahlreichen Angriffe, die dort gegen die linken Tendenzen gerichtet wurden und die Ausschlüsse, die sich häuften; sie folgerte daraus eine Offensive der Kommunisten, innerhalb und außerhalb dieser Organisationen, gegen
"die verräterische Führung der Labour Party". Als praktische Schlußfolgerung ergab sich, daß die Kommunistische Partei eine große Anzahl von Kandidaten aufstellen müsse, und vor allem:
"All das macht es notwendig, daß die Kommunistische Partei Englands kühner und klarer als eine selbständige politische Partei auftritt, daß sie ihre Haltung gegenüber der Labour Party und der Labour-Regierung ändert und infolgedessen die Parole der Labour-Regierung durch die Parole der revolutionären Arbeiterregierung ersetzt."
(A.a.O., S. 31)
Keine genauere Angabe, was unter den augenblicklich in Großbritannien herrschenden Verhältnissen diese
"revolutionäre Arbeiterregierung" im Gegensatz zur
"Labour-Regierung" sein sollte. Man sieht da ein wenig klarer, sowie man die Instruktionen für die Wahlen gelesen hat. In der Resolution hieß es, es sei
"zulässig" — außer in Fällen, wo man für kommunistische Kandidaten stimmen müßte oder für solche, die außerhalb der offiziellen Labour-Kandida-
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ten aufgestellt würden — für Kandidaten der Labour Party zu stimmen,
"die versprechen..., für die Aufnahme der Kommunistischen Partei in die Labour Party zu stimmen..." Unter den gegebenen Umständen konnte es sich nur um solche Kandidaten handeln, die entweder die Labour Party verließen oder sich von ihr ausschließen ließen. Ebenso wenig wie die Gewerkschaftsresolution enthielt die Resolution über die britische Partei ein Wort über das Anglo-russische Komitee, das — in der Sprache des späten Orwell — zu einem
"non fact" wurde, einem Ereignis, das nicht eingetreten war.
Ähnliches trug sich in der französischen Partei zu, die nach dem Abschütteln der Extravaganzen Treints einen maßlosen Opportunismus während des Rechtskurses der KI bewiesen hatte. Das Zentralkomitee dieser Partei hatte im November 1927 einen
"Offenen Brief an die Parteimitglieder" angenommen, der die Wendung einleitete. Unter der Bezeichnung
"Klasse gegen Klasse" vertrat er eine kaum näher ausgeführte Orientierung nach
"links", die im Januar 1928 von einer nationalen Parteikonferenz bestätigt wurde. Aber Totschweigen, Vorbehalte und selbst Feindseligkeit machten sich in den höchsten Spitzen bemerkbar. Das 9. Plenum fegte sie hinweg und nahm einstimmig eine Resolution (A.a.O., S. 3444) an, die an der französischen Sektion Kritik übte, an der das einzig Zutreffende die Nichtanwendung des
"Offenen Briefs" war. Aber die Betonung lag auf der Politik gegenüber der Sozialistischen Partei: ihre Fehler bestünden
"in der Haltung gegenüber der Sozialistischen Partei und ganz besonders gegenüber der so genannten Linken der Sozialistischen Partei, welch letztere nicht als eine Schranke betrachtet wurde, die die sozialistischen Arbeiter hindert, zum Kommunismus zu kommen, sondern die man als eine kommunistische Gruppe betrachtete, die imstande ist, die Arbeiter zur Kommunistischen Partei hinzuziehen, in der falschen Auffassung der Einheitsfront, die nur mechanisch vorgeschlagen wurde, ohne wirkliche und systematische Arbeit unter den sozialistischen Arbeitern, im Fehlen der Initiative beim Kampf gegen die Sozialistische Partei, um deren Rolle als Agent des Imperialismus und als Hilfstruppe der Reaktion zu entlarven, in der ungenügenden Abgrenzung zwischen Sozialistischer Partei und Kommunistischer Partei (in der Taktik der gemeinsamen Wahllisten, der Einigungsverhandlungen usw.)."
(A.a.O., S. 37 - 38)
Die Resolution erklärte gleichfalls:
"Der Wahlkampf wird ein Prüfstein für die gesamte Partei sein, die dabei zeigen kann, bis zu welchem Grade sie ihre Umstellung vollzogen hat. Die Exekutive billigt also die von der Reichskonferenz festgelegte Wahltaktik."
(A.a.O., S. 40)
Die für die Parlamentswahlen vom Mai 1928 festgelegte Taktik, mit der Überschrift
"Klasse gegen Klasse", bestand im wesentlichen darin, überall beim zweiten Wahlgang den Kandidaten der Kommunistischen Partei beizubehalten, auch gegenüber dem der Sozialistischen Partei, der beim ersten Wahl-
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gang an der Spitze gelegen hatte. In zahlreichen Wahlkreisen bedeutete diese Beibehaltung, daß die Wahl des bürgerlichen Kandidaten dadurch garantiert wurde oder drohte: damit wurde es den sozialistischen Wählern unmöglich gemacht, die Politik dieser Partei durch die Tatsachen nachzuprüfen, und vor den sozialistischen Arbeitern ein ernsthaftes Hindernis aufgerichtet, zu einer Einheitsfront zu gelangen. Sie verursachte der Kommunistischen Partei bei den Wahlen vom Mai 1928 fühlbare Verluste, sowohl beim ersten Wahlgang, wo kein kommunistischer Kandidat gewählt wurde, wie auch beim zweiten, wo die Partei dort, wo sie die Kandidatur aufrechterhielt, durchschnittlich ein Drittel ihrer Stimmen gegenüber dem ersten Wahlgang einbüßte.
Die Orientierung
"nach links" wurde in der ganzen KI in sehr großer Verwirrung durchgeführt.
- Die frührere Orientierung war nirgendwo verurteilt worden,
- es wurde nirgends gesagt, die KI hätte eine rechte Linie gehabt, die man aufgegeben hätte,
- es wurden keine genauen Gründe für die Rechtfertigung dieser Wendung angegeben,
- die neue Orientierung setzte sich aus der verschiedensten Bestandteilen zusammen (Beibehaltung früherer Positionen, zuweilen berechtigte Kritik an früheren Positionen, die einzig und allein entweder den Sektionsführungen in ihrer Gesamtheit oder Teilen von ihnen zugeschrieben wurden, ein Mangel an Genauigkeit bei der neuen Orientierung, usw.).
Unter solchen Umständen wurde das Regime — weit davon entfernt, mehr Demokratie in den Parteien zu ermöglichen — nur bürokratischer und unduldsamer.
Wenn man sagt, das 9. Plenum leitete eine Wendung ein, die auf die Politik der
"dritten Periode" herauslief, so ist damit nicht gemeint, diese Politik sei in den Spitzen der sowjetischen Partei und der KI bereits vollständig und bewußt ausgearbeitet gewesen. Damit hätte man fälschlicherweise Stalin — und auch der bürokratischen Tendenz, auf die er sich stützte — eine Vorausschau und klare Perspektiven, eine genaue Vorstellung von ihren Zielen, eine peinlich angestellte Berechnung zugeschrieben. Im Jahre 1925 betrieb die Bürokratie, auf der Basis der ersten Resultate der NEP und der nicht aufgehenden Rechnung mit einer ultralinken Politik in der KI, eine Politik in der Meinung, sie würde stets günstige Ergebnisse bringen. Unter dem Einfluß nationaler und internationaler Möglichkeiten ließ sie sich auf eine neue Wendung ein und sollte dabei weder Maß noch Ziel kennen, bis sie sich am Ende einer neuen Sackgasse den Kopf einrannte.
1.2. Der Kanton-Aufstand
In den Monaten nach der Niederlage der chinesischen Revolution — zuerst in Schanghai (März-April 1927), danach in Hankau (Juli 1927) — gingen die Kämpfe im Lande weiter. Eine Bewegung, die ein so großes Land ungefähr drei Jahre lang in derartige Unruhe versetzt hatte, konnte nicht, so schwer auch die Niederlage gewesen sein mochte, von heute auf morgen verschwinden. Umso mehr, als es selbst in so genannten
"normalen" Zeiten oft in diesem Lande
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Bauernerhebungen und -aufstände gegeben hatte. Deshalb kam es zu plötzlichen Auflehnungen — darunter recht bedeutenden — in verschiedenen Teilen Chinas. Die durch die Niederlagen hervorgerufene Verwirrung begünstigte auch die Bildung von Strömungen, die für die Linkswendung der KI empfänglich waren. Einige Erhebungen wurden sogar von Kuomintangtruppen durchgeführt, die unter dem Befehl kommunistischer Offiziere wie He Long und Yeh Ting standen. Unabhängig von ihren Ergebnissen sind diese Erhebungen — geschichtlich betrachtet — das Vorspiel zu den Kriegen, welche die Bauernarmeen unter dem Kommando der Kommunistischen Partei sehr viele Jahre lang, mit enormen Wechselfällen, bis zu dem Siege führen sollten, der zur Entstehung der Volksrepublik China führte. Im Dezember 1927 jedoch fand der Kanton-Aufstand statt, der nicht an den Anfang des Kapitels der Bauernkriege gehörte, sondern das tragische Ende der zweiten Revolution darstellte. Ein Ende, bei dem Stalin und die KI-Führung die genau entgegengesetzte Linie zu der während der aufsteigenden Periode der Revolution befolgten einschlugen.
Im gleichen Moment, wo der Unterdrückung der Kuomintang — nach einer Zahl, die einige Jahre später von einem von jenen, die Vertreter der KI in China gewesen waren, von dem Inder M.N. Roy, mitgeteilt wurde — mindestens 25.000 Kommunisten zum Opfer fielen, gaben Stalin und Bucharin die Losung von Sowjets aus, die sie bis dahin abgelehnt hatten und zwangen der chinesischen Partei eine Orientierung auf den bewaffneten Aufstand auf. Sie rechtfertigten ihre Wendung mit folgenden Worten:
"Wir haben gesagt, nichts sollte unternommen werden, die Kuomintang-Führung zu diskreditieren und zu stürzen, solange sie nicht alle Möglichkeiten bürgerlich-revolutionärer Regierung erschöpft habe... Sollen die Kommunisten (gegenwärtig) die Losung ausgeben: ´Nieder mit der Kuomintangführung Wuhans'? Natürlich sollen sie es tun, denn jetzt hat sich die Kuomintang-Führung selbst in Mißkredit gebracht, da sie die Revolution bekämpft und feindliche Beziehungen zwischen sich und den Massen schafft... Eine derartige Parole wird eine überwältigende Zustimmung finden. Jetzt wird jeder Arbeiter, jeder Bauer sehen, daß die Kommunisten im Begriff sind, das Richtige zu tun."
(INPREKORR, 4. August 1927)
Hatten sie es zuerst versäumt, die Arbeiter vor der rechten und linken Kuomintang zu warnen, so erklärten sie jetzt ganz einfach, die ausgebluteten Arbeiter sollten ihnen - den Kommunisten - Vertrauen entgegenbringen und zur Aktion übergehen. Das Zentralkomitee der KPSU pflichtete dem vollkommen bei. In der
Prawda vom 25. Juli und in der
Internationalen Pressekorrespondenz vom 3. August konnte man lesen:
"Die Krise der Kuomintang stellte bereits eine neue Frage: die Sowjets... Die Parole der Bildung der Räte ist von nun ab richtig..."
(INPREKORR, Nr. 76, S. 1626)
Im August verurteilte eine Konferenz der chinesischen Partei Chen Tu-hsiu, ihren Generalsekretär, der den Sündenbock für die
"Fehler" abgeben mußte,
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die ihn die KI hatte begehen lassen. Im September erklärte die Partei,
"die Erhebungen hätten keinesfalls unter dem Banner der Kuomintang stattfinden können". Die Repräsentanten der KI wurden ersetzt, zuallererst Borodin, dessen Nachfolger der Sowjetrusse Besso Lominadse und der Deutsche Heinz Neumann waren, zwei Leute, die man politisch als
"Linksstalinisten" bezeichnen kann.
Unter den oben erwähnten politischen Bedingungen kam es zum Kanton-Aufstand. Diese Stadt war nicht — wie Schanghai und Hankau im Rahmen Gesamtchinas — eine Bastion der Arbeiter, aber sie war der Ausgangspunkt der Revolution, der Regierung Sun Yat-sens, der Nordexpedition der Kuomintang-Heere, sie war, mit anderen Worten, ein wichtiges politisches Zentrum für ganz China. Von dem Einmarsch der Truppen Tschiang Kai-scheks in Schanghai an bis zum Angriff Wang Ching-weis auf die Kommunisten hatten die verschiedenen Kliquen, die China verheerten, parallel zueinander die Unterdrückung der revolutionären Bewegungen der Arbeiter und Bauern betrieben, aber die Rivalitäten zwischen Generälen und Militärkliquen hatten deshalb nicht aufgehört. So gingen am 17. November Generäle im Dienst Wang Ching-weis mit Gewalt zur Verjagung eines anderen Generals vor, der seit mehreren Monaten die Macht in dieser Stadt unter Anwendung grausamster Unterdrückung ausübte. Die kommunistische Parteiorganisation der Provinz Kwantung glaubte - im Sinne der neuen Linie - die Rivalität der Generäle ausnutzen zu können, die zu Zusammenstößen zwischen ihren Truppen geführt hatte.
Auf Betreiben vor allem des Delegierten der KI Heinz Neumann, der sich in der Stadt Kanton befand, beschloß sie am 26. November, einen Aufstand für den Termin des 13. Dezember zu organisieren, der danach dann auf den 11. dieses Monats festgesetzt wurde, als man erfuhr, die Behörden der Stadt wären über das, was geplant war, gewarnt worden und hätten Vorkehrungen dagegen getroffen. Die Machthaber waren über das, was sich gegen sie vorbereitete, auf dem Laufenden, nicht so jedoch die Arbeiter der Stadt. Denn die Agitation der Kommunistischen Partei bei den Massen blieb sehr allgemein und machte es ihnen nicht möglich, zu begreifen, daß ein entscheidender Ansturm in Vorbereitung war. Ein
"Sowjet" aus 16 Mitgliedern wurde von den Organisationsleitern, die illegal arbeiteten, benannt - und nicht gewählt. Die Bewaffnung der Aufständischen war außerordentlich schwach, vor allem im Verhältnis zu den ihnen gegenüberstehenden Kräften. Das gleiche galt für die Zahl der bewaffneten Kämpfer; die Befreiung von tausend Gefangenen beim Start der Operation, die sich fast alle den Kämpfenden anschlössen, konnte das Kräfteverhältnis nicht viel ändern. Auf seiten der chinesischen Truppen und chinesischen Artillerie mischten sich auch die britische und japanische Artillerie ein, um die Erhebung zu zerschlagen.
Eine Beschreibung des Kanton-Aufstandes verdanken wir seinem Haupt-
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anstifter Heinz Neumann . In dieser Studie befaßt er sich hauptsächlich mit einer Kritik organisatorischer Art, die darunter leidet,
hinterher geübt worden zu sein, und schließt nur einen mageren politischen Teil an, der aus einem Auszug aus der Resolution des 9. Plenums besteht. Aus einem anderen Grunde wurden ihm Vorhaltungen gemacht, jedoch nicht etwa daraus, eine Bewegung unter derartigen Bedingungen entfesselt zu haben. Unabhängig von den Bemerkungen über diese erwähnte er die folgende Beurteilung eines Mitgliedes des revolutionären Komitees Kantons, Yeh Ting, der bei der Vorbereitung des Aufstandes beteiligt war:
"Die breiten Massen haben sich am Aufstand nicht beteiligt. Das Ergebnis von zwei Massenmeetings war unbefriedigend... Die meisten der entwaffneten Soldaten zerstreuten sich in der Stadt. Der Aufstand war in keiner Weise verknüpft worden mit den auf drei Eisenbahnlinien ausgebrochenen Eisenbahnerunruhen..."
(Neuberg - s. Anm. 44, S. 122)
Die Resolution des 9. Plenums behielt die frühere Einschätzung des bürgerlich-demokratischen Charakters der chinesischen Revolution bei, wies jeden Gedanken an die
"permanente Revolution" zurück, den Neumann an Ort und Stelle geteilt haben sollte und forderte die chinesische Partei auf, sich auf einen neuen Aufschwung der Revolution vorzubereiten:
"Die gegenwärtige Periode der Umwälzung in China ist die Periode der bürgerlichdemokratischen Revolution, die weder vom wirtschaftlichen Standpunkt (Agrarrevolution und Vernichtung der Feudalverhältnisse), noch vom Standpunkt des nationalen Kampfes gegen den Imperialismus (Zusammenfassung Chinas zum Einheitsstaat und nationale Unabhängigkeit), noch vom Standpunkt der Klassennatur der Macht (Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft) ihren Abschluß gefunden hat. Falsch ist die Charakteristik der gegenwärtigen Etappe der chinesischen Revolution als einer Revolution, die bereits in die sozialistische Revolution umgeschlagen ist. Ebenso falsch ist ihre Charakterisierung als eine "permanente" Revolution (die Haltung des Vertreters des EKKI). Die Annahme einer Tendenz zur Überspringung der bürgerlich-demokratischen Etappe der Revolution bei gleichzeitiger Beurteilung der Revolution als einer "permanenten" Revolution ist ein Fehler, analog jenem, den Trotzki im Jahre 1905 begangen hat. Dieser Fehler ist umso schädlicher, als bei einer solchen Einstellung zur Frage auch die größte nationale Besonderheit der chinesischen Revolution als einer Revolution in einem Halbkoloniallande ausgeschaltet wird...
Die gesamte Situation diktiert der Partei im gegebenen Augenblick die grundlegende taktische Linie. Die Partei muß sich vorbereiten auf einen gewaltigen Aufschwung der neuen revolutionären Welle. Dieser Aufschwung stellt der Partei unbedingt als eine unmittelbare taktische Aufgabe die Organisierung und Durchführung des bewaffneten Massenaufstandes, denn die Aufgaben der Revolution können nur durch den Aufstand und durch den Sturz der heutigen Macht gelöst werden..."
(Protokoll VIII. Plenum, Anhang, S. 155, 157)
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Wir gehen nicht noch einmal auf den Charakter der chinesischen Revolution ein, den wir im Kapitel 4 von Teil IV behandelt haben. Diese Resolution schreibt der chinesischen Partei als unmittelbare Aufgabe die Realisierung des bewaffneten Aufstandes vor! Danach fügte sie noch wie zum Hohn eine Warnung der Partei vor putschistischen Tendenzen hinzu:
"Es gilt einen entschlossenen Kampf zu führen gegen den Putschismus in gewissen Schichten der Arbeiterklasse, gegen die unvorbereiteten und unorganisierten Aktionen in der Stadt und auf dem flachen Land sowie gegen das Spielen mit dem Aufstand..."
(A.a.O., S. 158)
Spielen mit dem Aufstand - genau das hatte Neumann auf Anweisung Moskaus getan. Die KI-Führung übte
"Kritik" am Kanton-Aufstand, jedoch nicht die geringste Selbstkritik gegenüber ihren eigenen Verantwortlichkeiten:
"Der Kantoner Aufstand, der einen heldenhaften Versuch des Proletariats zur Organisierung der Rätemacht in China darstellt und eine ungeheure Rolle für die Entwicklung der Arbeiter- und Bauernrevolution spielte, hat vielerlei Fehler der Führung aufgedeckt: die ungenügende Vorarbeit sowohl unter den Arbeitern und Bauern als auch in der Armee des Gegners, die falsche Methode des Herantretens an die Arbeitermitglieder der gelben Gewerkschaften, die ungenügende Vorbereitung des Aufstandes durch die Parteiorganisation und den KJV selber, das vollständig mangelnde Unterrichtet sein der chinesischen Parteizentrale über die Vorgänge in Kanton, die Schwäche der politischen Mobilisierung der Massen (Fehlen breiter politischer Streiks, das Fehlen gewählter Räte in Kanton als Organe des Aufstands), wofür die unmittelbaren Leiter ihren Teil der Verantwortung vor der KI zu tragen haben (Genosse N. und andere). Trotz dieser Fehler der Leitung muß der Kantoner Aufstand als Musterbeispiel des allergrößten Heroismus der chinesischen Arbeiter gelten, die mit Recht auf die geschichtliche Rolle des Führers in der großen chinesischen Revolution Anspruch erheben."
(A.a.O., S. 159, 160)
In seinem in dem Buche
Der bewaffnete Aufstand enthaltenen Bericht zitiert Neumann die Stelle der Resolution, welche die organisationellen Fehler betrifft, die teilweise ihm zugeschrieben werden, aber er läßt die Stelle aus, in der er beschuldigt wird, die chinesische Revolution als eine
"permanente Revolution" angesehen zu haben, um möglicherweise damit zu sagen, er habe diese Sünde irrtümlich begangen. Indessen zeigt das Programm der Kommune von Kanton, an dessen Ausarbeitung er teilgenommen hat, in verblüffender Weise, daß es sich hier um ein Programm einer permanenten Revolution handelte. Es deckt den Charakter der chinesischen Revolution auf, die damals zusammengebrochen war... und jener Revolution, die 1949 siegen sollte. So sah es aus:
"Das Manifest
- rief zur Beschlagnahme des Vermögens der Großbourgeoisie, der Banken und der Wechselstuben auf.
- Die Häuser der Reichen sollten in Schlafsäle für die Arbeiter umgewandelt werden.
- Die Läden der Pfandleiher sollten geschlossen und Gegenstände ihren Besitzern zurückgegeben werden.
.. Das Programm der Kommune von Kanton forderte den
- Achtstundentag,
- Lohnerhöhungen,
- staatliche Arbeitslosenhilfe in Höhe
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der offiziellen Löhne,
- die Nationalisierung der Großindustrien, des Verkehrswesens, der Banken,
- die Anerkennung des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes als nationale Organisation des chinesischen Proletariats.
Das Programm forderte
- die Nationalisierung von Grund und Boden,
- die Vernichtung der Großgrundbesitzer und
- derHao-shen (Dorfhäuptlinge),
- die Abschaffung der Pachten, der Versteigerungen, der Schuldscheine, der Grenzpfähle
- und die Errichtung einer Sowjetmacht in den Dörfern.
- Die Armen der Städte sollten mit den bei den Reichen konfiszierten Gütern unterstützt werden.
- Alle Schulden bei den Wucherern oder Pfandhäusern sollten getilgt und
- die zahlreichen Steuern und Zahlungen, die von den Handwerkern erhoben wurden, beseitigt werden.
- Das Volk in Waffen,
- die sofortige Befreiung aller politischer Gefangenen,
- Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit wurden für die ganze Arbeiterbevölkerung proklamiert,
- ebenso wie das Recht, sich zu organisieren und
- in den Streik treten zu können"
(H. Isaacs, La tragedie de la revolution chinoise 1925 - 27, A.a.O., S. 343)
1.3. Der Bruch zwischen dem Zentrum (Stalin) und der Rechten (Bucharin)
"Vorläufig werden die Gruppen der Rechten und des ´Zentrums' durch ihre gemeinsame Feindschaft zur Opposition zusammengehalten. Die Abhackung der letzteren würde unvermeidlicherweise den Kampf zwischen ihnen selber beschleunigen", besagte wörtlich die in der Plattform der Vereinigten Opposition enthaltene Prognose (
Entwurf..., Berlin (1928), S. 43). Sie bewahrheitete sich wortwörtlich im gleichen Moment, wo diese beiden Tendenzen gemeinsam für den Ausschluß derer stimmten, die es vorausgesagt hatten. Dieser Bruch trat ebenfalls genau über die Frage ein, die die Opposition von 1923 damals als erste aufgeworfen hatte, die Frage der gefährlichen Entwicklungen nämlich, die aus den Fortschritten in der Agrarwirtschaft gegenüber dem Zurückbleiben der Industrie entstanden.
Schon im Verlauf des 15. Kongresses hatten bestimmte Redner der Mehrheit - nur sie konnten an den Diskussionen teilnehmen - diese Gefahr erwähnt, ohne allerdings daraus die Konsequenzen zu ziehen, eine Gefahr, die in der Form einer Abnahme der Getreideablieferungen an den Staat auftrat. Diese Abnahme war nicht das Ergebnis einer schlechten Ernte, sondern im Gegenteil eines Lieferstreiks der Bauern, und darunter vor allem der Kulaken.
Weniger als ein Monat nach dem Kongreß erschienen in der Sowjetpresse Artikel, die das Vorhandensein einer solchen Gefahr unterstrichen. Am 15. Februar veröffentlichte die
Prawda einen wichtigen Artikel, den man Stalin zuschrieb, wo diesmal ein wahrer Angstschrei ausgestoßen wurde:
"Unter den verschiedenen Gründen, die zu den Schwierigkeiten bei den Getreidevorräten geführt haben, muß man auf einen aufmerksam machen: das flache Land hat gute Erfolge gehabt und sich bereichert. Vor allem der Kulak hat Erfolg gehabt und sich bereichert. Drei Jahre guter Ernten sind nicht spurlos vorbeigegangen. Die Steigerung der Einkünfte der Bauernschaft, die aus anderen als den Getreideernten, aus der Viehzucht und aus Industriepflanzenanbau herrühren, hat angesichts des Zurückbleibens eines Angebots an Industrieprodukten der Bauernschaft im allgemeinen und dem Kulaken im besonderen die Möglichkeit gegeben, die Getreideprodukte zurückzuhalten... In unseren Organisationen, in denen der Partei und den anderen, sind gewisse Elemente
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aufgetaucht, die nicht die Klassenrealitäten auf dem Lande sehen, nicht das Fundament unserer Klassenpolitik begreifen und bei ihrer ganzen Arbeit versuchen, niemanden zu kränken, mit dem Kulaken in Frieden zu leben und im allgemeinen ihre Popularität in allen Milieus zu bewahren."
Dieser Artikel konnte fast als Plagiat eines Teils der Plattform oder anderer Dokumente der zwei Monate zuvor ausgeschlossenen Opposition erscheinen. Alles war in ihm enthalten: die guten Ernten, die, weit davon entfernt, das Problem der Beziehungen zu der Bauernschaft leichter lösen zu können, es nur verschärft hatten, die Bereicherung auf dem flachen Lande, die der Bauernschaft es möglich gemacht hatte, sich in eine Art Streik bei den Getreidelieferungen zu begeben, der Kulak, dem es am besten gegangen war, der sich am meisten bereichert hatte. Gerade er vor allem ließ die Behörden lange zappeln; schließlich befanden sich bei den Verwaltungsbehörden, auch in der Partei, Elemente, die bei Freund und Feind angesehen sein wollten und die Augen vor dem, was sich auf dem Lande zutrug, schlössen. Genau das hatte Trotzki seit 1923 vorausgesagt, und die Vereinigte Opposition während der zweiten Hälfte 1926 und im Jahre 1927 immer wieder ausgesprochen. Der Unterschied lag vor allem darin, daß die verantwortliche — genauer gesagt schuldige — Führung an der eingeschlagenen Politik, die auch nicht die Folgen vorausgesehen hatte, sich nicht selbst anklagte, keine Selbstkritik übte, sondern in vagen Worten
"Elemente" zur Verfolgung als Verbrecher empfahl.
Um Abhilfe bei der Getreidekrise zu schaffen, wurden Maßnahmen getroffen.
- Zum einen sorgte man für einen stärkeren Versand von Konsum- und Industriegütern auf das flache Land, um den Bauern einen Anreiz zur Ablieferung ihres Getreides zu geben; bei dem gegebenen Produktionsniveau dieser Güter konnte das Resultat nur mager ausfallen.
-
Zum andern mobilisierte man die Partei und gab ihr sehr strenge Befehle; Abteilungen wurden auf das Land mit dem Auftrag geschickt, diejenigen, die das Getreide zur Spekulation speicherten, sollten verfolgt und das Getreide notfalls beschlagnahmt werden.
Das erinnerte ein wenig an die Periode des
"Kriegskommunismus". Man hatte die Parteimitglieder davon in Kenntnis gesetzt, sie müßten während ihres Vorgehens den Mittelbauern vom Kulaken trennen; aber solche Verwaltungsaktionen eigneten sich nicht sehr dazu, Unterschiede zu machen. Sozial gesehen zogen die Kulaken oft den Mittelbauern hinter sich her; in vielen Fällen waren sogar die armen Bauern vom Kulaken und vom Mittelbauern ins Schlepptau genommen. Im Übrigen waren die Teilnehmer an diesen Abteilungen mehr an administrative Maßnahmen, auch allerrauhester Art, als an politische Überzeugungsarbeit gewöhnt.
Zur gleichen Zeit wurde ein Feldzug für Sowchosen und Kolchosen in Angriff genommen, der zur ihrer Gründung anregen und damit ein Mittel liefern sollte, der Erpressung durch den Einzelbauern, wer es auch immer sei, zu entgehen.
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Diese Maßnahmen riefen sehr bald Meinungsverschiedenheiten im Politbüro hervor. Die Rechte hatte diese Maßnahmen als vorübergehenden Ausweg akzeptiert, der aufgegeben werden müßte, sobald die Krise der Getreideversorgung überwunden sei; sie sah in der Lage nur eine
zeitweilige Krise. Dagegen fingen Stalin und seine Fraktion, mehr von den Tatsachen ausgehend, an zu überlegen, daß das Vorgefallene nichts Vorübergehendes sei und eine
permanente Gefahr bilde, die ein Wiederaufgreifen der Politik der vorangegangenen Jahre nicht gestatte. Ohne bereits eine andere Orientierung festzulegen, standen sie auf jeden Fall einer Rückkehr zur früheren Politik feindlich gegenüber, sowie die augenblickliche Krise überwunden war. Im Politbüro spielte sich vom Monat Mai an ein heimlicher Kampf ab. Stalin ging vorsichtig vor, um Positionen, in erster Linie im Politbüro, auszubauen oder zu festigen. Er sicherte sich eine Mehrheit durch die Stimmen von Woroschilow und Kalinin, die aus nicht geklärten Gründen Bucharin fallen ließen. Er mußte auch die Positionen der Rechten auf verschiedenen Sektoren zurückdrängen, wo Bucharin ein während des Kampfes gegen die Opposition erlangtes Ansehen genoß. Gegen Jahresende war es Stalin gelungen, die Rechte zu schwächen, ohne indessen im ersten Anlauf Bucharin, Rykow und Tomski aus dem Politbüro, oder von ihren jeweiligen Posten zu entfernen .
Stalin war gezwungen, vorsichtig vorzugehen, weil er nicht sicher war, ob er im Zentralkomitee eine Mehrheit erlangen würde, und weil die Rechte im Partei- und Staatsapparat starke Positionen innehatte. Nach der sehr wichtigen Zusammenkunft des Zentralkomitees vom 4. bis 12. Juli glaubten viele, daß er dort in die Minderheit versetzt worden war. In Wirklichkeit überstürzte er nichts und ging Schritt für Schritt vor. Er reagierte Schlag auf Schlag auf eine unvorhergesehene Situation und nicht von einer festgelegten Orientierung her. Wir sollten auch daran denken, daß erst im Mai 1928 der erste Fünfjahresplan offiziell vom 5. Rätekongreß angenommen wurde. Stalin tastete sich vorwärts.
So also hatten sich in der ersten Hälfte des Jahres 1928 alle Probleme — außer einem —, die Trotzki seit Oktober 1923 aufgeworfen hatte, der Mehrheit der Führung aufgedrängt, die sie geleugnet hatte: Probleme nämlich wie die Notwendigkeit der Industrialisierung, einer Wirtschaftsplanung, einer Aufnahme des Klassenkampfes auf dem Lande. Die ersten zur Überwindung der Krise ergriffenen Maßnahmen waren praktisch erzwungen, und man konnte auch allenfalls einige der Fehler, die bei ihrer Durchsetzung begangen wurden, verstehen. Aber man sollte nicht vergessen, daß von 1923 bis 1928 nahezu fünf Jahre vergangen waren, und daß dieser
fünfjährige Rückstand die Schwierigkeiten und die Gefahren hatte beträchtlich anwachsen lassen. Diese Führung, die bis dahin die Probleme der Sowjetwirtschaft so wenig begriffen hatte, ignorierte, oder vielmehr fürchtete und unterdrückte ein anderes Problem, das
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von der Opposition von 1923 bereits gestellt wurde - das der Demokratie in der Partei und im Staate. Die Bürokratie, die auf dem 15. Kongreß triumphiert hatte, machte bei einigen Vorschlägen des Programms der ausgeschlossenen Opposition eine Anleihe nur deshalb, um die von ihr hervorgerufenen Schwierigkeiten zu überwinden. Durch Erdrosselung der Demokratie, deren Gewähren zweifellos ihren Privilegien und ihrer Vormachtstellung im Staate Abbruch getan hätte, entstellte sie das Programm der Opposition völlig.
Parallel zu der heranwachsenden Krise bei den Siegern des 15. Kongresses riefen die im Verlauf des Jahres 1928 getroffenen Maßnahmen Meinungsverschiedenheiten bei den Besiegten hervor. Im Juni waren Sinowjew und Kamenew wieder in die KPSU aufgenommen und auf untergeordnete Posten gestellt worden. Pjatakow, Antonow-Owssejenko und Krestinski kapitulierten nun ihrerseits. Andere wie Preobrashenski und Radek fühlten sich ebenfalls von einem solchen Schritt angezogen. Die Wendung
"nach links" bedeutete eine sehr große Versuchung, vor allem für Menschen wie Preobrashenski, der eine theoretisch hieb- und stichfest begründete Wirtschaftspolitik beschrieben hatte, bei der er jedoch die politischen und sozialen Aspekte vernachlässigte. Pjatakow, der nicht verbarg, daß er für Jahrzehnte jede Hoffnung auf eine Revolution verloren hatte, wollte seine - bedeutenden - Fähigkeiten für den Aufbau der sowjetischen Schwerindustrie einsetzen.
Überlegte sich Stalin einen Wechsel seiner Bündnispartner und eine Versöhnung mit Trotzki, wie damals die Gerüchte gingen? Nach Alma-Ata verbannt, wo er sehr verläßlich über das Geschehen in den höchsten Spitzen der KPSU unterrichtet blieb, glaubte Trotzki nicht im geringsten daran. Gewiß hätte er sehnsüchtig gewünscht, wieder einen Platz in der Partei und in der KI zu finden. Er wußte, daß sich der Kampf innerhalb des Politbüros immer mehr zuspitzte, aber er sah in der Haltung Stalins ein Manöver und keine echte politische Wendung, so wie es ihm vorschwebte. In Bezug auf die Juli-Sitzung des Zentralkomitees, wo manche die Illusion hatten, Stalin wäre in die Minderheit versetzt worden, schrieb er einem anderen Verbannten, Stalin hätte
"eine große taktische Niederlage, aber keine strategische Niederlage" erlitten. Im gleichen Monat Juni richtete er an den VI. Kongreß der KI einen Brief, in dem er die Frage in folgender Weise stellte:
"Wie soll man die gegenwärtige Wendung nach links einschätzen? Soll man darin ein Manöver oder einen ernsthaften Kurswechsel erblicken?... Das Manöver hat größeren Umfang angenommen; es lief auf eine politische Wendung hinaus, die wichtige Gruppen innerhalb der Partei, breite Volksschichten erfaßt hat... Deshalb wäre es verkehrt, zu bestreiten, daß sich die augenblickliche Zickzacklinie in eine Linie konsequenter und proletarischer Politik umwandeln könnte... Die Opposition muß alles, was in ihren Kräften steht, tun..., damit die gegenwärtige Zickzacklinie in eine ernsthafte Wendung verwandelt wird, die die Partei auf den Weg Lenins zurückführt."
(Trotzki)
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Trotzki war bereit, die Wendung auszunutzen, aber er hielt es nicht für möglich, einen wirklichen politischen Wechsel durch ein Geschenk von oben, durch bürokratische Maßnahmen hervorzurufen. Er wußte, in der Politik könne eine Maßnahme an sich nur Bedeutung gewinnen, wenn man berücksichtigt,
wer sie verwirklicht und
wie sie verwirklicht wird. Die Demokratie, in erster Linie in der Partei, hätte wiederhergestellt werden müssen, um sie politisch zusammenzubringen und nicht, um sie zu kommandieren.
Zwei Vorfälle — der eine öffentlich, der andere im privaten Bereich —, die sich in diesem Monat Juli ereigneten, legten dafür Zeugnis ab, wie weit man von der Wiederherstellung der Demokratie entfernt war. Der erste fand auf dem VI. Kongreß der KI statt. Am 30. Juli, als er seit fast zwei Wochen tagte, wurde den Delegierten eine feierliche Erklärung,
von allen Mitgliedern des sowjetischen Politbüros unterzeichnet, übergeben, in der
gegen die Verbreitung aller möglichen Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitgliedern des Politbüros der KPSU protestiert wurde (E.H. Carr,
Foundations of a planned economy 1926 - 1929, Vol. 2, pages 68 - 69). Dieses Dementi gehört zu der Sorte, die eine glänzende Bestätigung bilden. Was war die Ursache für diesen Vorstoß?
1.4. Die Zusammenkunft Bucharin-Kamenew vom 11. Juli 1928
Der andere Vorfall war noch verblüffender als das Dementi; es handelte sich um einen von Sokolnikow vorbereiteten Besuch, den Bucharin, Mitglied des Politbüros, am 11. Juli Kamenew, seit kurzem wieder in der Partei, abgestattet hatte. Im Prinzip war dieser Besuch ohne Wissen des Politbüros unternommen worden - Bucharin hatte ihn dem Büro verschwiegen. Ein von Kamenew verfaßtes Protokoll über diese Zusammenkunft zirkulierte bald und gelangte unter anderem in die Hände Trotzkis . Verschiedene Quellen übergaben diesen Bericht der Öffentlichkeit, mit leichten Unterschieden zwischen den Fassungen, aber alle stimmen im Wesentlichen überein. Kein Zweifel besteht darüber, daß diese Unterhaltung stattgefunden hat (sie wird erwähnt, als es später zur Verurteilung Bucharins kommt), noch über das dort Gesagte. Auf was beruhten die
"Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten", die sowohl von Bucharin wie von Stalin dementiert wurden?
Schon die Tatsache allein der Begegnung war ungewöhnlich, denn die beiden Menschen wußten, daß sie Stalin nicht verborgen bleiben würde. In dem Bericht heißt es, daß Bucharin Kamenew mitteilte:
"Nur Rykow und Tomski wissen über den Schritt Bescheid, mein Telefon wird überwacht, schreib nicht, ich habe vor Schriftlichem Angst". Die Äußerungen Bucharins und einige Kommentare Kamenews ergeben ein phantastisches Bild von der Situation im Politbüro. Kamenew, der diesen Bericht Sinowjew zusandte, sagt von Bucharin, er
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sei ein
"Mann in höchster Not",
"vor Erregung zitterten ihm mitunter die Lippen". Bucharin sprach von Stalin als einem
"Intriganten", einem
"Dschingis Khan",
"ein Nebenprodukt des Zentralkomitees", als einem Mann, der
"die Revolution gefährdet", dessen
"Politik zum Bürgerkrieg führt". Er erwähnte alle möglichen Manöver Stalins wie den
"Verrat" seiner Tendenz durch Woroschilow und Kalinin, den
"Kauf" der ukrainischen Parteiführung durch das Abberufen von Kaganowitsch aus ihr; er zitierte die Schliche Stalins, um die
Prawda in die Hand zu bekommen, deren Leitung er, Bucharin, hatte, und wie er einen seiner Anhänger, Uglanow aus dem Parteikomitee der Moskauer Partei entfernte, usw. Bucharin schlug Sinowjew und Kamenew eine Art Geschäft vor: er meinte, Stalin würde wahrscheinlich an sie appellieren, aber er und seine Freunde glaubten,
"es sei besser, daß Ihr anstelle von Stalin im Politbüro seid". Er beschrieb noch einige andere schmutzige Begebenheiten, die sich im Politbüro und in anderen sehr hohen Stellen abgespielt hatten.
Auf politischer Ebene hielt Bucharin hartnäckig am Rechtskurs in der Innenpolitik fest, identifizierte die Politik Stalins mit der Theorie Preobrashenskis und behauptete,
"die Differenzen zwischen uns und ihm (Stalin) sind unendlich tiefer als unsere alten Differenzen mit Euch (Sinowjew und Kamenew)" . Seine wichtigste Erklärung auf theoretischer und politischer Ebene wird in diesem Bericht indessen nur am Rande abgegeben:
"Die Wurzel des Übels ist, daß Partei und Staat so vollkommen ineinander aufgegangen sind". Er wurde dessen recht spät gewahr und dieser Zustand bedeutete tatsächlich die Sterbeurkunde der Partei.
In bezug auf die KI sagte Bucharin, dort betreibe Stalin eine rechte Politik, was nur vorübergehend richtig war. Stalin, fügte er hinzu, habe die KI aus dem Kreml ausgestoßen, und der VI. Kongreß sei gezwungen worden, in dem Haus der Gewerkschaften zusammenzutreten, und nicht im Kreml wie in der Vergangenheit. Er erklärte weiter, daß der Sekretär der französischen Partei Semard und der Sekretär der deutschen Partei Thälmann für Stalin seien.
Abgesehen von dem mangelnden Zusammenhang in dem Bericht dieser Unterhaltung, in der selbst ein großes Durcheinander herrschte, — Bucharin sprach fast ohne Unterbrechung und nicht immer kamen seine Äußerungen in der richtigen Reihenfolge — muß man die politische Lähmung hervorheben,
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die Bucharin und seine Tendenz befallen hatte:
"Wenn wir öffentlich eingreifen, wird er uns beschuldigen, die Spaltung vorzubereiten und uns umbringen; wenn wir nicht eingreifen, wird er uns durch seine Machenschaften umbringen und wird uns für den Getreidemangel verantwortlich machen."
Er verließ Kamenew mit den Worten:
"Ich werde diese Tage sehr mit dem Kongreß (der KI) beschäftigt sein, ich werde dich nicht mehr sehen können." Was für ein Regime! Ein Mitglied des Politbüros, der Form nach Stalin gleichgestellt, erklärt, gezwungen zu sein, konspirativ zu handeln. Alle beide hatten sich gegen
"die Gerüchte" über angebliche Meinungsverschiedenheiten gewandt. Die Haupturheber dieser
"Gerüchte" waren die beiden Kumpels, die wir in China angetroffen haben, Lominadse und Neumann, die auf diesem Kongreß hinter den Kulissen agierten und ohne jeden Skrupel die Delegierten warnten, daß die Tage Bucharins in Führungsposition gezählt seien, und daß sie gut täten, sich entsprechend zu verhalten.
Das Zentralkomitee im Juli war nur ein Geplänkel gewesen, und der Kampf setzte ab September wieder ein. Wir müssen uns jetzt dem VI. Kongreß der KI zuwenden, der in der Zwischenzeit stattfand.
2. Der VI. Kongreß (17. Juli bis zum 1. September 1928)
Der VI. Kongreß, der längste, den die KI je abgehalten hat, vereinigte fast sechs Wochen lang 515 Delegierte aus 58 Parteien und Organisationen; die Mandate mit beschließender Stimme zählten 372. Die Delegierten aus kolonialen und halbkolonialen Ländern, vor allem aus Lateinamerika, waren zahlreicher als in der Vergangenheit. Ungefähr zwei Drittel der Teilnehmer befanden sich zum ersten Mal auf einem Kongreß der KI. Fünf wichtige politische Fragen standen auf der Tagesordnung:
- der Bericht des Exekutivkomitees, der die internationale Situation und die Aufgaben der KI einschloß,
- die imperialistische Kriegsgefahr und der Kampf gegen den Krieg,
- die revolutionären Bewegungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern,
- die Lage in der Sowjetunion und schließlich
- das Programm der KI.
Augenscheinlich wurde der Kongreß von Bucharin geleitet, der dort mehrere recht lange Reden hielt; hinter den Kulissen jedoch und selbst bei gewissen Interventionen wurde die Autorität Bucharins auf Betreiben Stalins untergraben. Außerhalb der Eingeweihten war die Mehrzahl der Delegierten durch dieses Klima von Intrigen überfordert. Die Berichte wurden ausdrücklich mit Unterstützung der
"einmütigen" sowjetischen Führung gegeben. Vier Jahre trennten diesen Kongreß von dem vorangegangenen; fünf Erweiterte Exekutivsitzungen hatten in der Zwischenzeit stattgefunden. Der auf dem V. Kongreß
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gewählte Vorsitzende Sinowjew war ausgeschlossen worden, ebenso wie eine Reihe wichtiger Mitglieder des Exekutivkomitees, die ebenfalls auf jenem Kongreß gewählt worden waren (Kamenew, Trotzki, Muna, Neurath, Treint, Rosenberg, Ruth Fischer, Maslow, Bordiga, Wujowitsch usw.). Deshalb wird man nicht überrascht sein, zu erfahren, daß kein wirklicher Bericht über die Tätigkeit des Exekutivkomitees erstattet wurde, und daß es infolgedessen keine Diskussion über ihn gegeben hat: der VI. Kongreß nahm eine drei Zeilen umfassende, von der deutschen Delegation vorgelegte Resolution an, die die Tätigkeit der
"führenden Organe" für die abgelaufene Periode billigte. Die Billigung erstreckte sich sowohl auf die kurze ultralinke Linie Sinowjews wie auf die rechte Linie Bucharin-Stalins der verflossenen drei Jahre, er deckte auch die seit einigen Monaten ganz im Geheimen eingeleitete Linkswendung. In der angenommenen Resolution fand sich keine einzige politische Überlegung, und das aus gutem Grund - wer einen objektiven Tätigkeitsbericht hätte geben können, war vom Kongreß ausgeschlossen worden.
Die Berichte, Thesen und Resolutionen wurden schließlich einstimmig angenommen. Da die
"Gefahr von rechts" in der Internationale von Beginn an — in Übereinstimmung mit dem zuvor stattgefundenen 9. Plenum — als
"Hauptgefahr" heraufbeschworen wurde, sprachen sich alle Delegierten im gleichen Sinne aus, und mehr als einer bemühte sich, diese Gefahr in seiner Sektion aufzudecken. Mehrere Parteien waren innerlich zerrissen, so daß in jedem Falle derjenige am besten aussah, der beweisen konnte, die Gefahr von rechts liege bei seinem Gegner, der auf begangene rechte Fehler aufmerksam machte, indem er mehr oder weniger wichtige Episoden zitierte. Keiner stellte offensichtlich die Führung der KI in Frage. Nach der einhelligen Benennung des Präsidiums erschien Stalin, der dazu zählte, auf der Präsidiumstribüne,
"bei seinem Erscheinen stürmisch begrüßt", wie das Protokoll vermerkt. Dies war der einzige Tag, wo er persönlich bei einer öffentlichen Sitzung des Kongresses anwesend war.
2.1. Die ´dritte Periode´, eine Entdeckung Bucharins
Der Bericht Bucharins über die internationale Lage und die Aufgaben der KI wollte kein Ende nehmen - er war sogar noch länger als die Sinowjews in der Vergangenheit. Trotz der von Bucharin erhobenen Ansprüche enthielt der Bericht keine klare Analyse, noch gab er eine genaue Richtlinie für die Arbeit. Er war - nach den eigenen Worten Bucharins - von der Delegation der KPSU diskutiert und angenommen worden. In ihm befand sich vor allem ein neuer Begriff, der der
"dritten Periode". Bucharin hatte ihn vom Beginn seines Berichts an eingeführt, aber er definierte ihn nur vage, und wenige Delegierte wagten es, ihn aufzunehmen oder ihn in ihren Reden zu kommentieren. Der chinesische Delegierte Strachow (Chou Chiu-pai) äußerte sich mit einer Naivität, die in dieser Beziehung etwas geheuchelt sein mußte:
-515-
"Es scheint... uns, daß die so genannte dritte Periode in der Nachkriegsgeschichte des Kapitalismus sich sehr wenig von der zweiten Periode unterscheidet. (Stimmen: ´Richtig!') Trotzdem glaube ich, daß die Definition der dritten Periode in den Thesen bestehen bleiben muß, es muß nur eingehender festgestellt werden, warum alle Mächte gerade jetzt mit ernstlichen Vorbereitungen zu einem Kriege gegen die Sowjetunion begonnen haben, und warum der Pazifik zum Knotenpunkt zahlreicher internationaler Gegensätze geworden ist."
(Protokoll des VI. Weltkongresses der KI, Bd. I, S. 355)
Es war offensichtlich bequemer, die Bemerkung des chinesischen Delegierten durch einen Zwischenruf aus dem Saale zu unterstützen, als eine Kritik von der Tribüne her vorzunehmen. Da Bucharin die Empfindungen vieler Delegierter über diese unbegreifliche
"dritte Periode" nicht ignorieren konnte, versuchte er, als er am Schluß der Diskussion über diesen Tagungsordnungspunkt sprach, sie zu präzisieren:
"Die These der drei Perioden haben wir auch in der Delegation der KPSU debattiert und dort etwas konkretisiert... Die Gegner der Gliederung in drei Perioden behaupten, daß sich die zweite Periode durch nichts von der dritten unterscheidet und daß infolgedessen die Gliederung in eine zweite und dritte durch nichts berechtigt, absolut unbegründet und überflüssig ist. Nehmen wir an, es bestehen keine Unterschiede. Was wird aber dann aus der Tatsache der Überschreitung des Vorkriegsniveaus durch die Weltwirtschaft? Meiner Meinung nach ist das eine bedeutsame Tatsache. Warum? Gestatten Sie mir, daß ich das populär darlege. Die Bedeutung der angeführten Tatsache besteht darin, daß sie die Dynamik der Entwicklung hervorkehrt. Solange das Vorkriegsniveau nicht überschritten war, konnte man annehmen, daß das Wachsen der Produktivkräfte in dem einen oder dem anderen Lande rein zufälligen Charakter trägt, daß dieses Wachstum nicht etwas Typisches und keine für die gegebene Periode organische Eigenschaft ist. Als aber die Weltwirtschaft oder der kapitalistische Sektor dieser Weltwirtschaft das Vorkriegsniveau zu überschreiten und sich auf einer neuen Basis zu entwickeln begann, mußte man zu einer vorsichtigeren Beurteilung greifen und an unserer früheren Beurteilung mußten ziemlich wesentliche Veränderungen vorgenommen werden...
Man sagt, daß es keinen Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Periode gäbe. Dann aber erhebt sich die Frage, warum sich denn unsere Einschätzung der allgemeinen Lage geändert hat? ... Zu Beginn des Prozesses waren keimartige Erscheinungen der Stabilisierung vorhanden und wir hatten ernsthaft Grund dazu, diese Erscheinungen für mehr oder weniger zufällig zu halten. Jetzt haben wir diesen Grund nicht mehr...
Man sagt, es bestehen keinerlei Unterschiede in der Situation. Dabei ist aber ein neuer Krieg in China im Gange. Eine ´Kleinigkeit', nicht wahr? Das ist eine völlige Unterschätzung der Kriegsgefahr und eines bereits im Gange befindlichen Krieges... Was sind denn das für Führer, die keinerlei Unterschied in der Lage sehen und für die es ganz gleich ist, ob die Wirtschaft Europas am Boden liegt oder ob sie rasch vorwärts schreitet, ob sich in China ein Krieg abspielt oder nicht, ob der Imperialismus einen Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet oder nicht usw. usw...
Welchen Sinn hat die Stellung der Frage nach der dritten Periode? Worin liegt der ´Sinn dieser ganzen Philosophie'? Ihr Sinn liegt darin: wir betonen dadurch, daß die Stabilisierung des Kapitalismus nicht von heute auf morgen in der Weltwirtschaft verschwinden kann, und das muß unterstrichen werden. Gerade davon ging unsere Delegation
[516]
aus, als die Rede von der dritten Periode war."
(A.a.O., Bd I, S. 521 - 526)
Diese
"Beweisführung", die wir kurz zusammengefaßt haben, wurde endlos breitgetreten; die Weltwirtschaft schreitet vorwärts, in China gab es einen Krieg... Worin bestand aber der Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Periode? Das blieb ein vollständiges Geheimnis. Wir wollen unterstreichen, daß er — im Namen der gesamten sowjetischen Delegation, also auch im Namen Stalins — erklärte, die Stabilisierung des Kapitalismus würde nicht von heute auf morgen verschwinden, dies wäre der
Sinn der dritten Periode. So bescheiden auch dieser Einsatz war — im folgenden Jahr ist er nicht mehr vorhanden, als Stalin seine Linkswendung stärker herausstellte. Unter anderen Bedingungen wäre die dritte Periode vergessen worden wie andere Geistesblitze Bucharins; aber Stalin ließ sich auf solche Spiele nicht ein, er wollte eine bestimmte Politik betreiben, für die er eine
"theoretische" Rechtfertigung brauchte, und er nahm, was er in Reichweite fand. Auf diese Weise sollte die
"dritte Periode" Geschichte machen — mit der Bezeichnung, die Bucharin ihr gegeben hat, jedoch mit dem Inhalt, den sie von Stalin erhielt.
Auf dem Gebiet der Weltwirtschaftslage wurde der Bericht Bucharins durch einen Bericht Vargas ergänzt. Weder der eine noch der andere geizte mit Zahlen, aber beide wichen jeder Prognose aus. Sie stellten fest, daß die kapitalistische Wirtschaft die Vorkriegszahlen überschritten hätte, die Konjunktur noch im Aufstieg war und folgerten daraus neue Widersprüche, faßten jedoch nicht die Wiederkehr der Krisenzyklen ins Auge. Indessen sahen manche Delegierte weniger beruhigt in die Zukunft als die Berichterstatter.
2.2. Wiederauftauchen des ´Sozial-Faschismus´
Das Wesentliche der
"Links"wendung bestand in einer veränderten Haltung gegenüber der Sozialdemokratie. Bucharin stützte diese Veränderung, indem er in starkem Maße für die
"Einheitsfront von unten" eintrat, aber er ging nicht so weit, die Bezeichnung
"Sozialfaschismus" zu benutzen, die sich später einbürgern sollte:
"Der politische Hebel dieser Schwenkung ist das veränderte Verhältnis zu den sozialdemokratischen Parteien Die Frage des Verhältnisses zu den sozialdemokratischen Parteien ist die politische Hauptfrage. Die Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, das ist hier die politische Orientierung der Kommunistischen Internationale... Gleichzeitig muß ich unterstreichen, daß die Verschärfung der Kampfmethoden gegen die sozialdemokratischen Parteien keineswegs gleichbedeutend ist mit einer Ablehnung der Einheitsfronttaktik, wie dies einzelne Genossen glauben."
(A.a.O., S. 49 - 50)
"Im Zusammenhang mit der Verschärfung unseres Kampfes gegen die Sozialdemokratie müssen wir aber an diesem Kampf folgende Veränderungen vornehmen: Wir dürfen die Einheitsfronttaktik jetzt in den meisten Fällen nur von unten betreiben. Keinerlei Appellationen an die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien, und nur vielleicht in seltenen Fällen sind Appellationen an einzelne Ortsorganisationen der Sozialdemokrati-
[517]
sehen Partei zulässig. In der Hauptsache aber Appellationen an die sozialdemokratischen Massen, an die einfachen sozialdemokratischen Arbeiter."
(A.a.O., S. 57)
Mehrere Redner zögerten nicht, die Dinge weiter zu treiben. Die Sozialdemokratie sei keine Arbeiterpartei mehr, erklärte Losowski. Wie üblich setzte Thälmann ohne Umschweife die Tüpfelchen auf das I:
"Die Entwicklung des Reformismus zum Sozialfaschismus ist eine Erscheinung, die man in verschiedenen Ländern an verschiedenen Beispielen illustrieren kann."
(A.a.O., S. 303)
Verschiedene Delegierte bemühten sich, der Orientierung auf den
"Sozialfaschismus" Widerstand zu leisten. Aber sie machten es vorsichtig, brachten Argumente vor, die dieser Auffassung widersprachen, ohne zu einer offenen Verurteilung zu schreiten. Der deutsche Delegierte Ewert legte vor allem Gewicht auf die Arbeiterbasis der Sozialdemokratie:
"Die Sozialdemokratie baut diesen (Wahl)erfolg auf eine Parteiorganisation mit 800.000 Mitgliedern, einen Parteiapparat, der mit dem kapitalistischen Staat, Gemeinden, Kommunen usw. verbunden ist... Aber das allein macht nicht die Stärke der Sozialdemokratie aus. Denn die Sozialdemokraten beherrschen daneben den gewaltigen Apparat der Gewerkschaften, beherrschen die Konsumgenossenschaften, die Krankenkassen, alle jene Kulturorganisationen, mit denen sie weit über die Peripherie ihrer Partei hinaus Millionen von Arbeitern ideologisch dauernd beeinflußt und sie auch organisatorisch zusammenhält."
(A.a.O., S. 349)
Der italienische Delegierte Ercoli entwickelte seinen Gedanken sehr viel subtiler:
"Natürlich hat die Tatsache, daß wir den Faschismus als typische Form der kapitalistischen Reaktion unter bestimmten historischen Bedingungen in den einzelnen Ländern betrachten, bedeutsame politische und strategische Folgen, deren wichtigste darin besteht, daß die Aufrichtung des faschistischen Regimes, daß die durchgreifende reaktionäre Umbildung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Faschismus keine Perspektiven einer zweiten bürgerlich-demokratischen Revolution eröffnet, sondern uns zeigt, daß die proletarische Revolution reif ist, daß eine Periode der Vorbereitung einer proletarischen, nicht aber einer bürgerlich-demokratischen Revolution angebrochen ist. Ich möchte noch einige Worte über den Vergleich sagen, den einige Genossen zwischen dem Faschismus und der Sozialdemokratie ziehen. Es ist ganz richtig, darauf zu verweisen, daß zwischen Faschismus und Sozialdemokratie deutliche ideologische Verbindungsfäden hinüber- und herüberlaufen. Ebenso ist zu bemerken, daß in manchen Fällen auch organische Verbindungen bestehen, und daß die Sozialdemokratie in manchen Fällen und unter bestimmten Bedingungen offen faschistische Methoden gebraucht. Doch auch auf diesem Gebiet muß man sich vor übertriebenen Verallgemeinerungen hüten, denn es gibt tiefgehende Unterschiede zwischen dem Faschismus - der in der Hauptsache eine Bewegung des von Großbourgeoisie und Agrariern beherrschten Mittel- und Kleinbürgertums ist, und der keine Wurzeln in überlieferten Arbeiterorganisationen hat - und der Anwendung faschistischer Methoden durch die Sozialdemokratie, die in der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum Wurzeln hat und
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ihre Kraft hauptsächlich aus einer Organisation zieht, die von großen Arbeitermassen als ihre traditionelle Klassenorganisation betrachtet wird..."
(A.a.O., S. 448 - 449)
Es ist möglich, daß diese Intervention Ercolis, wie er es später sagte, gekürzt worden ist, aber in jedem Falle griff sie nicht offen die Konzeption des
"Sozialfaschismus" an, sie griff ihr gegenüber zur List und war keineswegs imstande, militante Arbeiter zu erziehen. Viele Jahre später, als Stalin bereits unter der Erde lag, berief sich Ercoli-Togliatti auf diese Rede, um zu sagen, er habe diese Auffassung nicht geteilt, Diese Rede diente ihm nur als Alibi, als schlechtes Alibi dazu: er hatte sie in seinem Innersten nicht geteilt, aber er hatte sie propagiert und angewandt, und hatte aus seiner Partei und der KI jene ausgeschlossen, die sie offen bekämpften.
2.3. Versöhnler ?
Der Kongreß drehte sich, hatten wir gesagt, um den Kampf gegen die
"Gefahr von rechts". Bucharin selbst kündigte das dem Kongreß an:
"Nach der Niederlage der trotzkistischen Opposition, die ein Block der Rechten und Ultralinken war, (ist) die Hauptgefahr zweifellos die rechte Gefahr..."
(A.a.O., S. 547)
Deshalb überraschte es nicht, daß mehrere inneren Kämpfen ausgesetzte Delegationen in ihren Beiträgen diese Kämpfe in den Rahmen der
"Gefahr von rechts" hineinstellten. Etwas Licht auf die dem Kongreß zur Billigung unterbreitete
"Linie" zu werfen, trugen jedoch in einem gewissen Maße die Reden einiger Delegierten bei: so fand man auf der rechte Flanke Pepper, den berüchtigten
"Gauchisten" Pogany vom III. Kongreß, der gerade mit Lovestone gegen die Führung der Partei in den Vereinigten Staaten disziplinarisch vorging, Ewert, Ercoli, auf der linken Flanke Losowski, Lominadse, Thälmann, Neumann. Das größte Interesse galt wieder den Interventionen der deutschen Delegierten. Der Essener Kongreß der KPD vom März 1927 war einmütig gewesen. Im Zusammenhang jedoch mit der von der KI eingeleiteten Wendung zeigten sich Differenzierungen. Eine Strömung, nicht eine ausgesprochene Tendenz, war aufgetreten, die von ihren Gegnern als
"Versöhnler" gegenüber der Rechten bezeichnet wurde. Der Wortwechsel auf dem Kongreß der KI zwischen ihrem führenden Mann Ewert und jenen, die ihn angriffen, Ulbricht und Thälmann, war bezeichnend für das, was noch auf kleiner Flamme schmorte. Zuerst einmal Ewert:
"Einige Worte zur Analyse, die im Referat und in den Thesen des Genossen Bucharin gegeben worden ist. Kann man hier sagen: es gibt schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über diese Frage? Man müßte mit Nein antworten, obgleich unzweifelhaft feststeht, daß eine ziemlich große Anzahl deutscher Genossen der Auffassung ist, daß die Perspektive, wie sie in diesen Thesen gegeben ist, zu pessimistisch ist, daß sie - wie
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manche Genossen andeuten - eine Sumpfperspektive ist. (Zwischenruf des Genossen Thälmann: Auf wen bezieht sich das?) Ich erinnere an die Diskussion in der Delegationssitzung. (Zwischenruf des Genossen Thälmann: Das ist eine falsche Auffassung!) (A.a.O., S. 345)
Trotzdem begannen sich Tendenzen eines Kampfes gegen Kräfte in der Partei zu entwickeln, die die Linie der Partei, wie sie auf dem Essener Parteitag beschlossen wurde, aktiv vertreten und durchführen. Es kam so weit, daß die Auslegung jenes Beschlusses, der die Duldsamkeit gegenüber den Trägern der rechten Abweichungen als unzulässig erklärt - er wurde nach dem neunten Plenum gefaßt -, in der Richtung erfolgte, daß es notwendig ist, auch organisatorische Maßnahmen gegen diese die Linie der Partei aktiv vertretenden Kräfte durchzuführen, indem man sie fälschlich der ´Duldsamkeit' beschuldigte...
Es ist klar, daß auch eine Mehrheit in der Führung zu einer Gruppe entarten kann. Wir haben das in verschiedenen Parteien bereits gehabt. Es ist klar, daß diese Gruppenideologie auch von einer Mehrheit herausgearbeitet werden kann, und wie ich schon sagte, ist diese Gefahr bis zu einem gewissen Grade in der deutschen Partei vorhanden... (A.a.O.,S. 352-353).
Ich glaube, daß es notwendig ist, auf diesem Kongreß auszusprechen, daß besonders zwei Voraussetzungen notwendig sind, um in den zukünftigen Kämpfen die Massen zu sammeln und die Kämpfe erfolgreich zu bestehen. Die erste Voraussetzung ist die Einheitlichkeit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auf der Grundlage der stets von ihr aufrechterhaltenen Politik des Bündnisses der Arbeiter und der Dorfarmut mit den Massen der Mittelbauern als eine der wichtigsten Garantien für die Einheit der Komintern und ihrer Sektionen. Die zweite Voraussetzung ist die Durchführung einer Politik in den kapitalistischen Ländern, insbesondere Europas, die den Durchbruch der Kommunistischen Partei zu neuen Schichten, insbesondere zu den sozialdemokratischen Arbeitern und die Führung des Kampfes der Arbeiterklasse zur höheren Form gewährleistet."
(Ewert, a.a.O., S. 345, 352ff)
Ulbricht und Thälmann erwiderten auf die Intervention Ewerts mit großer Selbstsicherheit und Aggressivität:
"Bei der Durchführung dieser Aufgaben zeigt es sich, daß eine Gruppe von Genossen, die Anhänger der rechten Fraktion, systematisch versuchen, die Partei an der Erfüllung dieser Aufgaben zu hindern und daß weiterhin eine Strömung, die wir als die ´Duldsamen' bezeichnen, eine versöhnlerische Strömung, vorhanden ist, die die Überwindung dieser rechten Fraktionsarbeit behindert...
Durch die Rede des Genossen Ewert ist bekannt geworden, daß es Genossen gibt, die versuchen, die Thesen so auszulegen, daß der Inhalt der Thesen an eine Sumpfperspektive herankommt. Ich glaube, diese Unterlegungsversuche des Genossen Ewert stehen im Widerspruch nicht nur zum Inhalt der Thesen, sondern ebenso zu den Ausführungen des Genossen Bucharin."
(Ulbricht, a.a.O., S. 409 - 411)
"Die russische Delegation hat festgestellt, daß die Hauptgefahr die rechte Gefahr ist, daß es aber notwendig ist, die versöhnlerische Strömung entschieden zu bekämpfen… Genosse Thälmann hat klar und eindeutig darauf gesagt: Wir sind einverstanden, die rechte Gefahr ist die Hauptgefahr. Aber gegen die Anhänger der versöhnlerischen Strömung, die mehr oder weniger diese Rechte für sich auszunutzen suchen und umgekehrt von den Rechten ausgenutzt werden und die Partei hindern, die Rechten so zu bekämpfen, wie es notwendig ist, muß ebenfalls der Kampf mit ideologischen Mitteln, aber auch durch organisatorische Maßnahmen geführt werden."
(Ulbricht, a.a.O., S. 414)
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"Wenn der Genosse Ewert bei dieser Lage seinen politischen und innerparteilichen Kurs fortführt, so wird er das, was ihm der Genosse Stalin in der gemeinsamen Sitzung der russischen und deutschen Delegation gesagt hat, der Sammelpunkt aller Unzufriedenheit und aller... Rechten..."
(Thälmann, a.a.O., S. 556)
Bei diesem Austausch von Freundlichkeiten handelte es sich recht wenig um echte politische Differenzen, die über die einzuschlagende Linie gegenüber den sozialistischen Organisationen vorhanden waren: man bedachte nur die Mechanik innerhalb der kommunistischen Partei. Die
"Versöhnler" waren gewarnt worden, daß die Rechte beseitigt wird, und sie ebenfalls, wenn sie eigene Wege gehen würden. Die Warnung - Thälmann sagte es offen - stammte von Stalin selbst. Am peinlichsten berührt war Bucharin, dem weder die Intervention Stalins noch die Kontroverse zwischen den deutschen Delegierten unbekannt war, und der sich sehr vorsichtig bemühte, Ewert zu verteidigen:
"In Deutschland haben wir eine rechte Gefahr. Wir fordern in den Thesen auf, diese rechte Gefahr energisch zu bekämpfen. Wir fordern in den Thesen auf, die versöhnlerische Stimmung gegenüber den rechten Gefahren systematisch zu überwinden. Gleichzeitig müssen wir aber in jeder Weise und mit allen Mitteln die Genossen zusammenschließen, die auf der Plattform des Essener Parteitages, der Beschlüsse der Kommunistischen Internationale und der Versprechungen stehen, einen rücksichtslosen Kampf gegen die rechte Gefahr zu führen... Die Delegation der KPSU hat mich z.B. beauftragt - was die deutsche Partei anbelangt - zu erklären, daß wir gegen die Versuche sind, den Genossen Ewert aus der Parteileitung zu verdrängen. Ich muß aber sagen, daß die deutschen Genossen keine solchen Absichten haben. Wir wollen hier auf dem Kongreß die Voraussetzungen für eine Lage schaffen, die jede Spaltung innerhalb der gegenwärtig führenden Organe unmöglich machen soll... Das EKKI unterstützt voll und ganz den historisch entstandenen Kern des Pol-Büros des ZK mit Thälmann an der Spitze."
(Bucharin, a.a.O., S. 550 - 551)
Wer traf die Entscheidung, Bucharin, als er vor dem Kongreß derartig verlegen sprach, oder Stalin, der sich in den Kulissen ohne Umschweife äußerte? Keiner wußte es besser als Bucharin. Anscheinend ohne jeden Zusammenhang mit dem, was mehrere Tage lang diskutiert worden war, berief sich Bucharin in seinem Schlußwort folgendermaßen auf Lenin:
"Disziplin ist unser höchstes Gebot. Ich möchte aber, Genossen; einen unveröffentlichten Brief des Genossen Lenin erwähnen, den er an mich und Sinowjew richtete. Genosse Lenin schrieb uns: Werdet Ihr alle nicht besonders gefügigen, aber klugen Leute wegjagen, und Euch nur die gehorsamen Dummköpfe lassen; so werdet Ihr die Partei bestimmt zugrunde richten."
(A.a.O., S. 552)
An wen richtete sich insbesondere diese in die Kulisse gesprochene Warnung, wo der Name Sinowjews unter dem Mantel eines Briefes Lenins erwähnt wurde? Man braucht sich nur daran zu erinnern, was Bucharin etwa zwanzig Tage zuvor bei seinem Treffen mit Kamenew geäußert hatte, um ganz sicher zu gehen. Das aber war alles, was er gegen Stalin auf diesem Kongreß der KI zu
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tun wagte, wo er vor mehr als 500 aus allen Erdteilen erschienenen Delegierten eine große Parade abhielt. Er wollte keine Führer, die
"gehorsame Dummköpfe" waren, wo er doch in den vergangenen Jahren dazu beigetragen hatte, ein Regime zu schaffen, das eine derartige Auswahl traf, und das er, selbst in dem Augenblick, wo er diese Worte sprach, in diesem Zustand erhielt.
In dem Streit, der die deutsche Partei entzweite, verdient ein besonderer politischer Punkt, der nicht die Sozialdemokratie betraf, Erwähnung, die Frage der Übergangsforderungen und vor allem die Losung der Arbeiterkontrolle. Die Rechte in der deutschen Partei, die noch einige wichtige Positionen bei der Gewerkschaftsarbeit bekleideten, verteidigten ganz besonders diese Losung, wenn auch nicht genau als eine Übergangslosung, das heißt in der Perspektive einer revolutionären Situation; sie betrachteten sie als ein Mittel, die Rechte der Arbeiterdelegierten in den Unternehmungen auszuweiten. Thälmann und die anderen beschuldigten sie aus diesem Grunde, Reformisten zu sein und gaben diese Losung auf. Sie sagten sich von ihr gerade in dem Augenblick los, wo sie der
"dritten Periode" die Bedeutung einer ganz besonders revolutionären Periode zulegten. Das trug dazu bei, daß diese Losung und die Übergangslosungen in der KI verschwanden.
2.4. Der Kampf gegen die Kriegsgefahren
Da der britische Imperialismus zur damaligen Zeit die treibende Kraft bei allen antisowjetischen Feldzügen war, blieb es einem Engländer, Bell, vorbehalten, den Bericht über die Kriegsgefahren zu erstatten. In seinem Bericht wie auch in den zahlreichen auf ihn folgenden Interventionen fand sich eine Unmenge von Beispielen, Informationen, Einzelheiten, über die Wirtschaftskonkurrenz, die Rüstungen, die Bündnisse, die Abrüstungsverhandlungen — und alles war im allgemeinen richtig, wurde jedoch zumeist in einer etwas übertriebenen Art und Weise gebracht, um den Anschein eines sehr nahegerückten, unmittelbar bevorstehenden neuen Weltkrieges zu erwecken, eines Krieges gegen die Sowjetunion. Doch hatten die internationalen Beziehungen keine derartige Zuspitzung erreicht. Als eine der Formen der Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion prangerten der Bericht und die Reden, die sich entwickelnden und von der Sozialdemokratie genährten pazifistischen Illusionen an. Die Übertreibungen dieser ganzen Propaganda der kommunistischen Parteien und der KI hatten zur Folge, daß sie einen großen Teil dessen einbüßten, was sie an Erzieherischem über die Kriegsfrage hätten enthalten können. Aber das entsprach der Gesamtpolitik, die es darauf abgesehen hatte, die Sozialdemokratie, und insbesondere die linke Sozialdemokratie als Hauptfeind der kommunistischen Bewegung anzuprangern.
Was bei der Atmosphäre des Kongresses auffiel, war die verbreitete Angst vor einem nahen Kriege. Die Delegierten waren pessimistisch in Hinblick darauf, ob sie den nächsten Kongreß in Friedenszeiten abhalten könnten.
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Die angenommenen Thesen nahmen die Losung Lenins vom Jahre 1914 wieder auf: den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Das Exekutivkomitee wurde beauftragt, internationale Aktionstage gegen den Krieg zu organisieren. Der Widerspruch zwischen der Politik der Sowjetregierung des
"Sozialismus in einem Lande" und einer revolutionären Politik gegen den Krieg war noch wenig zu spüren. Der Kreml hatte zum Beispiel seine Unterschrift unter den vom State Department vorgeschlagenen
"Kellogg-Pakt" gesetzt; damit begannen die allerersten Schritte, deren schließliche Folgen noch in weiter Ferne lagen. Zu diesem Zeitpunkt hatte keine der kommunistischen Parteien vor - auch wenn sie die Schritte der Sowjetregierung billigten -, mit ihrer Bourgeoisie in den imperialistischen Ländern oder auch nur mit einer ihrer politischen Fraktionen zusammenzuarbeiten.
2.5. Billigung der Beschlüsse des 15. Kongresses
Die Situation in der Sowjetunion und in der KPSU waren Gegenstand zweier Berichte, einer von Varga über die allgemeine Situation im Lande, der zweite von Manuilski über den Kampf gegen die linke Opposition. Der Bericht Vargas stellte die Situation in der Sowjetunion so dar, als wäre dort alles in Ordnung und würde offensichtlich immer besser1. Die Plattform der Vereinigten Opposition hatte erwähnt, daß die Bedingungen für die Arbeiter sich seit Ende 1925 verschlechtert hätten:
"Unsere Periode des Wiederaufbaus brachte bis zum Herbst 1925 ein genügend schnelles Anwachsen der Löhne. Aber die beträchtliche Abnahme der Reallöhne, die 1926 begann, wurde erst mit Beginn des Jahres 1927 überwunden... Es sind also die Reallöhne im gegenwärtigen Jahr ungefähr auf der Höhe vom Herbst 1925 stehen geblieben... Überdies bezeugen alle Statistiken, daß das Anwachsen der Löhne hinter der zunehmenden Produktivität der Arbeiter zurückbleibt..."
(A.a.O., S. 346 - 347)
Während also die Tendenz auf eine Verschlechterung der Bedingungen der Arbeiterklasse hinauslief, behauptete Varga, daß sich - sehe man von den Landarbeitern einmal ab — die Bedingungen der Proletarier immer mehr bessern würden. Er sprach von dem am Vorabend des 15. Kongresses versprochenen Siebenstundentag, als wenn er bereits verwirklicht sei. Er ging über die Krise der Getreidebeschaffung hinweg und stellte sie als eine erledigte und nicht mehr wiederkehrende Angelegenheit hin:
"Es gibt Schwierigkeiten, besser gesagt, es gab Schwierigkeiten in der Getreidebeschaffung, es gibt ein Problem der Getreidewirtschaft. Aber es gibt keine Krise der Sowjetwirtschaft..."
(Protokoll, Bd. II, S. 520)
"Von irgendeiner Gefährdung des Einvernehmens zwischen dem Proletariat und dem mittleren Bauern kann keine Rede sein. Die Ausdehnung der bebauten Fläche der Frühjahrssaat in sehr starkem Maße durch den mittleren Bauern beweist, daß es keine Gefahr irgend eines Bruches zwischen dem Proletariat und der mittleren Bauernschaft
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gibt. Um dies noch besser zu sichern, wurde beschlossen; daß in diesem Jahr keinerlei außergewöhnliche Maßnahmen bei der Getreideaufbringung angewendet werden sollen."
(A.a.O., S. 523)
In naher Zukunft wird von diesen Erklärungen nichts mehr übrig sein. Vom Bericht Manuilskis erwarteten die Delegierten sehr viel mehr als von dem Vargas. Er nahm alle seit Jahren vorgebrachten Argumente wieder auf. Er griff Trotzki in der chinesischen Frage an (der indessen als besonderer Punkt der Tagesordnung behandelt werden sollte) und beschuldigte ihn des Menschewismus, wofür dessen Position über die
"demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" herhalten mußte. Ein sehr wichtiger Teil seiner Rede befaßte sich mit der Erwiderung auf die Beschuldigung, der
"Sozialismus in einem Lande" stelle einen Verrat an der Weltrevolution dar:
"Nur ein Verrückter oder ein unverbesserlicher Sozialdemokrat kann darin (in dem ´Sozialismus in einem Lande') einen ,Messiasglauben' sehen, d.h.. eine Überzeugung von der Mission des eigenen Landes, die Guesde und Kautsky während des Krieges zum Sozialpatriotismus brachte. Es wäre überflüssig und unserer Partei unwürdig, auch eine Beleidigung für den Kongreß, auf dem VI. Weltkongreß an Hand von Dokumenten jene Abc-Wahrheit für jeden Kommunisten zu beweisen, daß die Partei sowohl vor dem Sieg der Revolution in unserem Lande, als auch nach ihrem Siege stets sich als Teil der internationalen proletarischen Revolution und unseren sozialistischen Aufbau als den ersten Stein zum Fundament des Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt betrachtet hat..."
(Manuilskis, a.a.O., S. 538)
Wenn auch Manuilski und andere Trotzki verleumdeten, so meinten sie doch in diesem Zeitpunkt, daß sie nicht zum Sozialpatriotismus und Reformismus abglitten. Eine große Zahl sowjetrussischer Kommunisten und andere erkannten durchaus nicht die Konsequenzen, die sich auf lange Sicht unvermeidlich aus ihren Gedankengängen ergaben. Der
"Sozialismus in einem Lande" trennte die Entwicklung der Sowjetunion von dem Schicksal der Weltrevolution; sie konnte sich deshalb in einem gegebenen Augenblick in einen Gegensatz zu ihr stellen. Die unerbittliche Zwangsläufigkeit von Ideen in einer gegebenen Situation, die Trotzki damals aufdeckte, stieß auf Unglauben nicht nur bei vielen von denen, die die von ihm vertretene Politik verurteilt hatten, sondern auch bei nicht wenigen Oppositionellen.
Der Bericht Manuilskis enthielt ebenfalls eine Arbeitsperspektive in Bezug auf die Bauernschaft, die etwas schwierig, aber nichtsdestoweniger idyllisch war:
"Wir machen gegenwärtig einen großzügigen Versuch und wollen inmitten des dörflichen Lebens ebensolche Stützpunkte der Vergesellschaftung schaffen, wie wir sie bisher nur in der Stadt in Gestalt der Kommandohöhen hatten. Diese Aufgabe ist sehr schwer und kompliziert, sofern wir individualistische Vorurteile, die sich im Verlauf unzähliger Jahre herausgebildet haben, zerstören und Millionen Bauern hartnäckig und systematisch, von Jahr zu Jahr von den Vorzügen der Kollektivform der Wirtschaft
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gegenüber der individuellen Form überzeugen müssen: Diese Etappe des Angriffes gegen den Kapitalismus in unserem Lande wird von langer Dauer sein. In dieser Etappe dürfen wir auch nicht für einen Augenblick vergessen; daß unser Prinzip in der Folgezeit auch weiterhin einzig und allein die Erhaltung und Festigung der proletarischen Diktatur sein muß. Das, was diese Etappe kennzeichnen wird, ist, daß wir die Formen unseres Bündnisses mit der Bauernschaft in stärkerem Maße differenzieren müssen, als es bisher der Fall war. Von den Marktverhältnissen der NEP ausgehend, schaffen wir durch Zügelung der Anarchie der Marktverhältnisse durch unsere Kommandohöhen und Schlüsselstelhingen einerseits und durch Vergenossenschaftung unserer Bauernwirtschaft andererseits, durch Verstärkung unserer Arbeit zur Kollektivisierung der armen und der untersten Gruppen der Mittelbauern, durch Schaffung von Mustersowjetwirtschaften eine Reihe von Kanälen zur Einwirkung des Proletariats auf die Bauernschaft zwecks Festigung des Bündnisses mit ihr..."
(Manuilski, a.a.O., Unterstreichungen von uns, S. 545 - 546)
Manuilski äußerte nichts anderes, als was das Zentralkomitee der KPSU vom Juli 1928 noch einmal bestätigt hatte, nämlich daß
"der Zusammenschluß und die Umwandlung der individuellen Kleinbauernwirtschaften in kollektive Großwirtschaften" auf der Grundlage
"freiwilliger Vereinigungen, die auf einer neuen Technik beruhen", erfolgen sollten. Stalin selbst, in seinem Bericht über die Arbeiten des Zentralkomitees in Leningrad, erklärte am 13. Juli:
"Wie soll der Bauer umgemodelt werden? Bei Lenin finden wir folgende Anwort: ,Die Ummodelung des kleinen Landwirts, die Ummodelung seiner ganzen Mentalität und seiner Gewohnheiten ist eine Sache, die Generationen erfordert. Diese Frage in Bezug auf den kleinen Landwirt lösen; kann nur die materielle Basis, die Technik, die massenhafte Verwendung von Traktoren und Maschinen in der Landwirtschaft, die weitgehende Elektrifizierung´..."
(Das Leninzitat steht in Werke, Bd. 32, - Anm. d. Übers., S. 219)
Und Stalin fügte hinzu:
"Nur auf diese Weise wird die dauerhafte und wirkliche Eroberung der aber Millionen Bauern für die Arbeiterklasse und den Sozialismus gesichert sein"
(Stalin, Internationale Pressekorrespondenz, Nr. 70, 28. Juli 1928)
All diese Worte waren im nächsten Jahre vergessen. Handelte es sich um absichtlich lügenhafte Erklärungen? Obwohl es Stalin nicht auf eine Lüge ankam, glauben wir dies nicht für diesen konkreten Fall: die stalinistische Fraktion ging empirisch vor, sie entfernte jeden, der sich nicht fügsam zeigte und trat ihm furchtlos entgegen, aber sie hatte zu diesem Zeitpunkt keine klaren Perspektiven und festgelegte politische Orientierung, nicht mehr, als sie in den vorangegangenen Jahren gehabt hatte. Sie wußte absolut nicht, wo sie endigen würde.
Die Frage der Sowjetunion rief keinerlei Debatte im Kongreß hervor. Den Berichten folgten nur zahlreiche zuvor vorbereitete Erklärungen, die von Gruppierungen kommunistischer Parteien unterzeichnet waren und alle ihr Einverständnis mit der KPSU und ihre Billigung der Ausschlüsse ausdrückten. Die angenommene Resolution erkannte ausdrücklich die Rolle der führenden Partei in der KI der KPSU zu:
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"Der VI. Weltkongreß stellt fest, daß die Erfolge des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion... die KPSU in jene Leninsche Vorhut verwandeln, deren kolossale Erfahrungen die Grundlage ist, auf der sämtliche Sektionen der Kommunistischen Internationale ideologisch erzogen werden und aus der sie praktisch lernen."
(A.a.O., Bd. II, Thesen, Resolutionen..., S. 203)
Der Kongreß lehnte die Appellationen ab, die an ihn von Trotzki und Hunderten Oppositioneller gegen die Ausschlüsse, von denen sie betroffen wurden, gerichtet waren. Er verwarf gleichfalls die von Maslow, Ruth Fischer und anderen aus der KPD ausgeschlossenen Genossen an ihn gerichtete Appellationen. In den Berichten, Reden, Erklärungen und der Resolution fehlte ein Wort gänzlich, das von der Bürokratie. Diese lehnte es ab, sich zu erkennen zu geben.
2.6. Die koloniale Frage
Die Lage in den kolonialen und halbkolonialen Ländern war der einzige Punkt der Tagesordnung, bei dem es vorübergehend bei einer Abstimmung zu keiner Einigkeit kam, als es sich darum gehandelt hatte, den vorgelegten Text der Kommission zur Fertigstellung zu überweisen; aber die Einstimmigkeit stellte sich bei der Endabstimmung der 41 Thesen ein, die er nach Abschluß der Arbeiten in der Kommission enthielt. Während der Diskussion waren sehr zahlreiche Interventionen seitens der Delegierten erfolgt, die Gelegenheit hatten, zum ersten Mal die Situation ihres Landes einem Weltkongreß darzulegen. Von der Beschreibung her waren die Interventionen von großem Interesse. So zeigten zum Beispiel die aus Lateinamerika gekommenen Delegierten, wie im Laufe der letzten Jahre der britische Imperialismus — der in diesem Erdteil lange dominierend gewesen war — durch den Yankee-Imperialismus ersetzt wurde. Ein indonesischer Delegierte, Samin, gab eine besonders ergreifende Schilderung von der Erhebung, die sich in Java im November 1926 ereignet hatte. Die indonesische Partei hatte daran teilgenommen, aber die KI hatte nicht die geringste Rolle gespielt; trotz aller möglichen gegen sie gerichteten Beschuldigungen war sie, zehn Jahre nach ihrer Gründung, weit davon entfernt, hervorragend zu funktionieren:
"Unsere Partei hat bis jetzt nur eine sehr lose Verbindung mit der Komintern und mit den anderen Bruderparteien..."
(A.a.O., Bd. II, S. 74)
Differenzen kamen über die Entwicklungsperspektiven der kolonialen und. halbkolonialen Länder zum Vorschein. Seit einigen Jahren zeigte sich eine zweifache Erscheinung: zum einen der Niedergang des britischen Imperialismus, der vor dem Ersten Weltkrieg weitaus der dominierende Faktor in der Kolonialwelt gewesen war, zum andern hatte eine begrenzte aber unbestreitbare industrielle Entwicklung einer gewissen Zahl von Ländern kolonialen Typs während des Krieges stattgefunden. Manche Delegierte der britschen Partei waren dieser
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Doppelerscheinung gegenüber besonders hellhörig, die jedoch der ihnen zur Diskussion vorgelegte Thesenentwurf kaum beachtete. Sie tendierten zu der Auffassung, diese Länder würden zu guter Letzt auf eine bürgerliche Entwicklung herauskommen, ähnlich der, die sich in den alten kapitalistischen Ländern zugetragen hatte. Sie wurden in einer Weise angegriffen, die sie überraschte; man beschuldigte sie, einen
"Dekolonialisations"prozeß zu sehen und objektiv auf die Sozialdemokratie hin abzugleiten. War das hier nicht eine Äußerung der
"rechten Gefahr"? Läßt man die ganze Polemik beiseite, so tendierten die einen dahin, die ökonomische Entwicklung einiger kolonialer oder halbkolonialer Länder zu überschätzen; die anderen leugneten sie praktisch.
Der von Kuusinen erstattete Hauptbericht wurde von einem, Ercoli anvertrauten Sonderbericht ergänzt, der der Aktivität der Sozialdemokratie in Bezug auf die kolonisierten Länder gewidmet war. Diese hatte bemerkt, daß in mehreren dieser Länder, China, Indien usw., Bewegungen aufgetreten waren — und wollte dort Fuß fassen. Es fiel leicht, sie in dieser Frage anzuprangern, und Ercolis Bericht rief kaum Diskussion hervor. In dieser Hinsicht ist es interessant zu vermerken, daß der IGB seinen 3. Kongreß in Brüssel vom 5. bis 11. August, also während des Kongresses der KI, abgehalten hatte, und in einem Manifest, das vom IGB an die Arbeiter der ganzen Welt gerichtet war, konnte man diese den kolonialen Völkern gewidmeten Zeilen lesen:
"Aber unser Aufruf richtet sich auch an die unterdrückten Völker des Ostens. Wir begrüßen ihre Befreiungskämpfe. Wir begrüßen den Erfolg der nationalen Revolution in China über den Weltkapitalismus. Wir verlangen von den imperialistischen Regierungen, ihre Truppen und ihre Kriegsschiffe aus China zurückzuziehen, das Recht Chinas auf seine Souveränität anzuerkennen, ihm die volle Freiheit der Erhebung von Zöllen zuzugestehen, auf die Privilegien der Exterritorialität zu verzichten, die Konzessionen zurückzugeben und die Nationalregierung anzuerkennen...
Wenn wir aber den nationalen Befreiungskampf der unterdrückten Völker des Ostens unterstützen, so verkennen wir indessen nicht, daß der nationale Kampf, obwohl er für den sozialen Kampf den Boden vorbereitet, in sich noch nicht die soziale Befreiung bedeutet. Die blutigen Gemetzel von Schanghai und Kanton haben gezeigt, daß das Proletariat des Ostens heute die gleichen blutigen Erfahrungen wie das Proletariat Europas im 19. Jahrhundert macht. Die Bourgeoisie nutzt die Aufstände des Proletariats aus, aber sie wendet sich gegen die Albeiter, sobald diese ihren Anteil an den Flüchten der gemeinsam errungenen Siege verlangen.
Die junge Arbeiterbewegung des Ostens sollte aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse der industriell fortgeschrittenen Länder Europas Nutzen ziehen und ihre Kampfmethoden anzuwenden lernen. Deshalb richten wir an die Arbeiter des Ostens unseren Appell, sich uns anzuschließen..."
(Manifest IGB)
Wir haben diese Stellen zitiert, um die reservierte und leisetreterische Haltung der Sozialdemokraten gegenüber den kolonisierten Massen zu zeigen, sowie ihre Vorstellung einer Parallelentwicklung dieser Länder zu den kapitalistischen Ländern Europas. Die KI der damaligen Zeit machte die Kämpfe dieser Massen zu den ihrigen, aber sie befand sich in einer Verwirrung, die die so
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blutige Erfahrung mit der chinesischen Revolution noch gesteigert hatte, statt sie zu zerstreuen. Die Thesen nahmen eine allzu schematische Einteilung der kolonisierten Länder, der Stadien ihres Kampfes usw. vor, die von zahlreichen Delegierten mißverstanden wurde. Der Berichterstatter Kuusinen gestand ein, daß vor einigen Wochen, als ihm dieser Bericht zugeteilt wurde, er noch über die Verhältnisse in so wichtigen Ländern wie Indien nichts wußte (A.a.O., Bd.II, S. 9). In seinen recht mittelmäßigen Ausführungen ging er oft mit summarischen Behauptungen vor, denen Erklärungen oder Beweisführungen fehlten:
"Die Frage, ob der Anschluß der Kommunisten an die Kuomintang richtig war oder nicht, ist in dem Resolutionsentwurf bejahend beantwortet worden. Daß aber die Unvermeidlichkeit der Spaltung dieses Blocks von den Kommunisten nicht früh genug und nicht deutlich genug gesehen wurde, ist uns jetzt klar..."
(A.a.O., Bd. II, S. 24)
"Seitens einiger Genossen hat man eine Zeitlang an Arbeiter- und Bauernparteien als Ersatz solcher organisatorischer (vorsowjetischer) Formen gedacht. Wir sehen jetzt klarer als früher, daß diese Form nicht zu empfehlen ist, besonders in kolonialen und halbkolonialen Ländern. Allzu leicht könnten die Arbeiter- und Bauernparteien sich zu kleinbürgerlichen Parteien verwandeln, die sich vom Einfluß der Kommunisten freimachen und ihnen sehr wenig helfen, mit den breitesten werktätigen Massen in Kontakt zu kommen..."
(A.a.O., S. 26)
Deshalb stellten eine Reihe von Delegierten — mit diesem Bericht recht wenig zufrieden — einige unbequeme Fragen. So erklärte der britische Delegierte Bennett:
"Genosse Kuusinen behauptet in seinen Thesen, daß unsere Linie in bezug auf die Kuomintang im großen und ganzen richtig war. Ich weiß, daß viele chinesische Genossen gegen den Anschluß, gegen den Eintritt in die Reihen der Kuomintang waren. Ihr wißt auch, daß die Komintern den Eintritt empfahl und daß dieser Eintritt dann auch erfolgt ist. Nun möchte ich wissen, ob wir in unserer Literatur und in unseren Instruktionen es den Genossen, d.h. den Kommunisten in China, hinreichend klar gemacht haben, daß sie, wenn sie der Kuomintang beitreten, diese Organisation nicht nur als wahrscheinlichen, sondern als unvermeidlichen Feind der Zukunft werden zu betrachten haben?..."
(Bennett, a.a.O., S. 170)
Eine solche Verlegenheit bereitende Frage erhielt keine Antwort. Weit davon entfernt, Gegenstand einer unerbittlichen Selbstkritik zu sein, wurde die in China befolgte Politik theoretisiert und in das Programm eingeschlossen. Sie sollte die in zahlreichen kolonialen und halbkolonialen Ländern einzuschlagende Politik im Laufe der kommenden Jahre beeinflussen.
Die Kolonialfrage wurde ebenfalls während der Programmdiskussion von einem indonesischen Delegierten, Alphonso, aufgeworfen:
"Es scheint mir, daß der Verfasser des Programmentwurfs uns nicht an den Früchten der Erfahrung der chinesischen Revolution profitiert lassen will..., der Erfahrung eines Blocks zwischen der chinesischen Kommunistischen Partei und der kleinbürgerlichen Kuomintang."
(Alphonso)
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Unter Zurückweisung des Teils des Programms, in dem von einer Periode gesprochen wurde, in der die Bourgeoisie revolutionär war und die Partei sich an sie anschließen müsse, um auf den Moment zu warten, wo sie aufhören würde, es zu sein, fügte er hinzu:
"Das ist kein kommunistisches Programm, sondern ein wahrhaft opportunistisches Programm. Das läuft darauf hinaus, den kolonialen Parteien die Wiederholung dessen zu empfehlen, was in China getan wurde, das heißt ein Bündnis mit der Bourgeoisie zu schließen, bis unsere Partei zerstört ist."
Als Erwiderung beschuldigte Bucharin ihn des
"Trotzkismus", worauf sich der von der übrigen indonesischen Delegation im Stich gelassene Alphonso folgendermaßen verteidigte:
"Genosse Bucharin hat in seiner gestrigen Schlußrede auf meine Kritik an dem Programm der Kommunistischen Internattonale Bezug genommen und erklärt, daß ich geheime Propaganda für den Trotzkismus betrieben habe. Das ist nicht richtig. Ich habe das nicht getan und tue es nicht. Ein Genosse aus den Kolonien hat eine besondere Sitzung zur Behandlung des Kolonialprogramms sowie zur Behandlung der Theorie Trotzkis über das Bündnis der Arbeiter und Bauern, mit dem er sich in seinem Gegenprogramm befaßte, vorgeschlagen. Wie mir dieser Genosse mitgeteilt hat, ist dieser Vorschlag vom Sekretariat des Kongresses abgelehnt worden.
Zweitens hat mich der Genosse Bucharin beschuldigt, ein Trotzkist zu sein. Er hat damit nicht recht. Ich habe nichts mit dem Trotzkismus zu tun. Ich war niemals ein Trotzkist, sondern gehöre dem linken Flügel an...
Viertens hat Genosse Bucharin gesagt, ich hätte in meiner Rede erklärt, daß alles an dem Programm falsch sei. Ich habe vielmehr gesagt, daß am Programm meiner Meinung einige Teile falsch sind."
(Alphonso, a.a.O., S. 98 - 99)
Dieser Zwischenfall ist ein Zeugnis für das autoritäre und terrorisierende Regime, das auf dem Kongreß und in der KI herrschte. Es genügte, die Diskussion über einen von Trotzki vorgelegten Text zu verlangen, um des Trotzkismus verdächtigt oder beschuldigt zu werden. Fügen wir noch hinzu, was Trotzki - nach der Lektüre des Protokolls in der
Prawda (Nr. 191) — schrieb:
"In der Programmfrage war der Delegierte Alphonso aus Indonesien der einzige, der deutlich in unserem Sinne sprach."
(Trotzki)
2.7. Das Programm der KI
Das Programm hätte nicht nur das Hauptdokument des Kongresses, sondern auch das Hauptdokument in der Geschichte der KI sein sollen. Man erinnere sich, zu welcher Vorsicht Lenin bei dieser Frage während seiner letzten Rede auf einem Kongreß der KI gemahnt hatte (s. 1. Band, Teil II, Kapitel 4). Nach dem IV. Kongreß hatte man die Frage wieder von vorne aufgerollt. Thalheimer, der einen Entwurf vorgelegt hatte, schrieb damals:
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"... Jetzt, wo sozusagen wieder tabula rasa für das allgemeine Programm geschaffen ist..."
(Die Internationale, Nr. 1, 6. Januar 1923, S. 23)
Was für den V. Kongreß vorbereitet wurde, war ebenfalls zum Zwecke einer gründlicheren Überarbeitung zurückgewiesen worden. Plötzlich und unerwartet wurde ein wenig mehr als ein Monat vor der Eröffnung des VI. Kongresses ein neuer Programmentwurf vorgelegt, der die Unterschriften Bucharins und Stalins trug
(La Correspondance Internationale, Sondernummer 53, 7. Juni 1928). Er wurde also nicht in den Sektionen diskutiert, wahrscheinlich nicht einmal auf der Stufe der Zentralkomitees. Auf dem Kongreß nahm das Programm den Platz von fünf Sitzungen und zahlreichen Kommissionsdiskussionen ein. Die fünf Kongreßsitzungen (von der 24. bis zur 28. einschließlich) sind nicht im offiziellen
Protokoll veröffentlicht worden. Große Auszüge davon befinden sich in
Der Internationalen Pressekorrespondenz. J. Humbert-Droz, der zum Kongreßsekretariat gehörte, erklärt das Weglassen mit dem Wunsch Stalins, die von Bucharin auf dem Kongreß eingenommene Position zu schwächen; er führt auch an, daß verschiedene Interventionen überarbeitet wurden. In jedem Fall verabschiedete der Kongreß ein Programm, das die Sektionen recht schnell vergessen sollten und die gegenwärtigen kommunistischen Parteien kaum erwähnen. Die Geschichte der KI, die im Jahre 1969 vom Institut für Marxismus-Leninismus — einer vom Zentralkomitee der KPSU abhängigen Institution — veröffentlicht wurde, widmet ihm nur einige Seiten, als handle es sich um ein vielen anderen vergleichbares Dokument.
Alles, was in diesem Programm die revolutionären Lehren der ersten Kongresse wiederholte, ist offensichtlich von den heutigen kommunistischen Parteien über Bord geworfen worden, mitunter sogar ganz ausdrücklich wie die Diktatur des Proletariats seitens einer großen Zahl dieser Parteien. Aber zwei
"theoretische" Neuerungen des Programms sind im Gepäck der kommunistischen Parteien geblieben, trotz aller seit 1928 erfolgten Wendungen und Ausrutschern. Alle sind dem
"Sozialismus in einem Lande" treu geblieben. Die andere Erneuerung bestand in der Verallgemeinerung, der Theoretisierung der in China praktizierten Politik. Bucharin zufolge gab es drei Ländertypen:
- die großen kapitalistischen Länder, für die die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats in Frage kommt,
- die Länder kolonialen oder halbkolonialen Typs, wo sich die Probleme einer bürgerlich-demokratischen Revolution und einer demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern stellen,
- und schließlich solche Länder wie der Balkan zwischen den beiden Kriegen, die eine Zwischengruppe mit einem eher unbestimmten Schicksal bilden.
Für die zweite Ländergruppe — wo nach einem Ausdruck Kuusinens in seinem Bericht über die kolonialen und halbkolonialen Länder eine
"Übergangsform zur sozialen Revolution" erfolgen soll (a.a.O., Bd. II, S. 23) — lasse überdies diese
"Übergangsrevolution" Unterteilungen zu, aufeinander folgende Phasen, eine, in der die Bourgeoisie ein Bündnispartner der arbeitenden Massen im Kampf
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gegen den Imperialismus sei, eine andere, wo sie ein Feind sein würde. Das war ein schlagendes Beispiel für einen Schematismus, der den Marsch der Geschichte in künstlich ausgedachte Abschnitte unterteilte. Wie war es einem Kommunisten möglich, den Augenblick zu erkennen, wo die Bourgeoisie aufhörte, ein Verbündeter zu sein, um zu einem Feind zu werden, wenn nicht an dem Tage, wo sie ein Gemetzel nach der Art Tschiang Kai-scheks anrichtete? Offen gestanden war eine der Thesen der Kolonialresolution so abgefaßt, daß sie fast so weit ging, den Arbeitern und Bauern eines dieser Blutbäder zur Last zu legen:
"Die selbständigen Aktionen der Arbeiter im Kampfe um die Macht und vor allen Dingen der weitere Aufschwung der Bauernbewegung, die sich zur Agrarrevolution auswuchs, trieben auch die Wuhan-Regierung, die unter der Führung des kleinbürgerlichen Flügels der Kuomintang gebildet worden war, ins Lager der Konterrevolution..."
(A.a.O., Bd. II, Thesen..., S. 155)
Wir hatten beobachtet, daß die Thesen des II. Kongresses über die nationale und koloniale Frage eine Lücke enthielten, was das zentrale Kampfziel der unterdrückten Völker der Kolonien und Halbkolonien betraf. Der VI. Kongreß schloß diese Lücke in katastrophaler Weise.
Hauptsächlich waren es die Delegierten der KPSU, die auf diesem Punkt beharrten, wobei sie sich auf Texte beriefen, die Lenin anläßlich der Revolution von 1905 geschrieben hatte. Keiner von ihnen hatte sich in die Oktoberrevolution vertieft, in die
"Aprilthesen", die die Perspektive dafür aufgezeigt hatte. Keiner von ihnen tat das — mit Ausnahme von Lominadse, der einen sonderbaren Vergleich zwischen den beiden russischen Revolutionen, der von 1905 und der Oktoberrevolution, brachte:
"Als unsere Partei 1905 gegen den Absolutismus gekämpft hat, war der Hauptfeind, der niedergeworfen werden mußte, gerade dieser Absolutismus. Doch in unserer Agitation und Propaganda richteten wir unser Feuer hauptsächlich auf die so genannten ´Kadetten', das heißt die liberale Bourgeoisie. 1917 war das Feuer unserer Kritik hauptsächlich gegen die Menschewiki gerichtet, denn im Jahre 1905 war die Bourgeoisie, im Jahre 1917 waren die Menschewiki die Hauptstützen jener Ordnung, die wir stürzen wollten..."
(Lominadse, a.a.O., Bd. II, S. 417)
Diese Gleichsetzung von dem
politischen Kampf, um den Menschewiki und den Sozialrevolutionären die Mehrheit der Arbeiterklasse zu entreißen, mit dem Kampf gegen den Kapitalismus war ein Schritt auf dem Wege, der zum
"Sozialfaschismus" führte.
2.8. Trotzki und der VI. Kongreß
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Während der Kongress tagte, verfolgte Trotzki — von seiner Verbannung in Alma-Ata aus — ihn nicht nur mit Hilfe der in der Prawda veröffentlichten Protokolle, sondern ganz aus der Nähe, denn er hatte zu Moskau zuverlässige Verbindungen aufrechterhalten, die es ihm ermöglichten, zu erfahren, was sich hinter den Kulissen des Kongresses und selbst in der Führung der KPSU zutrug. Wir erwähnten bereits die Informationen, die er über die Unterredung Bucharin-Kamenew erhalten hatte. Alle an diesem Kongreß Anwesenden, die später sich über ihn frei ausgesprochen haben, betonten die dort herrschende drückende Atmosphäre. Kein Delegierter wagte es, diese Gefühle von der Tribüne her zu zeigen, aber die Äußerungen in den Wandelgängen unterschieden sich erheblich von den Reden, die von ihr gehalten wurden. In den Archiven Trotzkis befinden sich zwei Briefe, von einem anonymen beim Kongreß anwesenden Korrespondenten geschrieben, der mehreren Delegierten hinreichend bekannt gewesen sein mußte, sodaß sie mit ihm in vollem Vertrauen persönlich gesprochen haben. Er schrieb Trotzki, Thorez habe ihm erklärt, der Kongreß befinde sich in einer Atmosphäre von
"Unbehagen, Unzufriedenheit, Skeptizismus"; er, Thorez, verstünde, daß die sowjetische Partei Trotzki habe bekämpfen müssen, aber er verstünde nicht, daß die KI gezwungen würde, die Theorie des
"Sozialismus in einem Lande" zu
"schlucken". Ercoli drückte sich unter vier Augen noch deutlicher aus:
"Die Tragödie - sagte er - besteht darin, daß es unmöglich ist, die Wahrheit über die wichtigsten, entscheidendsten laufenden Probleme auszusprechen. Wir können nicht reden. In dieser Atmosphäre hätte das Aussprechen der Wahrheit die Wirkung einer Bombenexplosion. Nicht als ob es ein Schaden wäre, wenn ein großer Teil der an diesem Kongreß Anwesenden von der Erdoberfläche verschwinden würde. Ich habe furchtbare Angst. Ich weiß nicht, was ich tun, was ich sagen soll, wie ich vorgehen soll, um die Situation zu ändern. Schade, daß Bordiga nicht da ist. Er hätte eine große historische Rolle übernommen. Er hätte uns allen die Wahrheit gesagt."
(Ercoli)
Thorez und Ercoli äußerten ebenfalls gegenüber diesem Korrespondenten, daß das Dokument Trotzkis, welches den Programmentwurf kritisierte — ein Dokument, das das Kongreßsekretariat ihnen ausgehändigt hatte — sie stark beeindruckt hätte. Aber weit davon entfernt, den Versuch einer Äußerung zu
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wagen,
"die Wahrheit auszusprechen", beteiligten sie sich an den rituellen Erklärungen und überschütteten die sowjetische Führung mit Lobeshymnen. Da Trotzki der KI weiterhin große Bedeutung zumaß, schätzte er sofort die Größe des Übels ein, die sie befallen hatte und setzte alle seine Kräfte daran, diese Parteien zu beeinflussen, die damals die Avantgarde der Arbeiterbewegung zusammenfaßten. Schonungslos äußerte er sich über ihre Führer, so zum Beispiel im Brief vom 9. September 1928, den wir bereits zitierten:
"In der KI ist Varga ein Theoretiker vom Typ des Polonius. Er ist bereit, theoretisch zu beweisen, daß die Wolken am Horizont einem Kamel gleichen, wie auch zudem einem Fisch, und, falls es dem Fürsten beliebt, dem Sozialismus in einem Lande, und ganz allgemein, wie es einem gefällt. Die KI besitzt bereits eine Armee von Poloniussen dieses Schlages."
(Trotzki, Brief vom 9. September 1928)
Um an die Delegierten und Parteien heranzukommen, hatte er im Laufe dieser Monate des Jahres 1928 — Tausende von Kilometern vom Kongreß entfernt, den nur seine Schriften erreichen konnten — beträchtliche Zeit aufgewandt, um mehrere Dokumente zu verfassen: sie befaßten sich mit den Ereignissen, die sich in den verflossenen vier Jahren abgespielt hatten (vor allem in der Sowjetunion und in China), mit dem Anglo-russischen Komitee, mit dem Programm usw. Unter dem Titel
Die KI nach Lenin zusammengefaßt, hat das Werk, das sie enthält, nicht die große Berühmtheit anderer wie
Die Geschichte der Russischen Revolution erreicht, aber seine historische, theoretische und politische Bedeutung ist enorm, vor allem für die Nutzanwendung revolutionärer Kader, die sich mit den für die sozialistische Revolution mehr denn je entscheidenden Problemen der Strategie und Taktik befassen.
Von den Dokumenten, die er der Führung der KI als Appellation gegen seinen Ausschluß übersandt hatte, ließ diese nur einen Teil der Kritik am Programmentwurf in einige Sprachen übersetzen. Die — mangelhafte — Übersetzung wurde nur den Mitgliedern der Programmkommission ausgehändigt, aber sie fand eine darüber hinausgehende Verbreitung. Wir haben bereits den Eindruck geschildert, den sie auf Ercoli und Thorez, wie auch auf den indonesischen Delegierten Alphonso machte. Das war nicht alles. Der Amerikaner J.P. Cannon und der Kanadier M. Spector waren so davon beeindruckt, daß sie aufhörten, sich weiter für den Kongreß zu interessieren, und beschlossen, dort nicht aufzutreten, da sie dies für nutzlos und vielleicht sogar gefährlich hielten. Es gelang ihnen, den Text aus der Sowjetunion herauszuschmuggeln und nach ihrer Rückkehr nach Amerika dort zu veröffentlichen. Nach ihrem Ausschluß gründeten sie die Linke Opposition in ihren Ländern. Die gleichen Texte gelangten auch in die Hände des ehemaligen Begründers und Generalsekretärs der chinesischen Partei Chen Tu-hsiu, und im Jahre 1929 schloß er sich der Linken Opposition an.
2.9. Der VI. Kongreß in der Geschichte der KI
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Wie auch der V. Kongreß war der VI. Kongreß während einer politischen Wendung der KI abgehalten worden, einer Wendung, die vorgenommen wurde, obwohl man versicherte, die objektive Situation habe sich nicht geändert. Kurz nach dem VI. Kongreß verschwand sein offizieller Leiter von der politischen Bühne, so wie es beim V. Kongreß der Fall gewesen war.
Der V. Kongreß fand nach der schweren Niederlage von 1923 in Deutschland statt; der VI. Kongreß tagte nach einer Reihe nicht minder schwerer Niederlagen. Weder der eine noch der andere dieser Kongresse übte eine ehrliche Selbstkritik, stellte eine gewissenhafte Untersuchung der begangenen Fehler an, die die Niederlagen verursacht hatten. Sie hatten höchstens nach Sündenböcken unter den Ausführenden geforscht. Überdies hatte der VI. Kongreß nicht nur die Aufgabe gehabt, die allgemeine Linie der sowjetischen Führung zu billigen — wie das bereits für den V. Kongreß der Fall gewesen war —, sondern auch und vor allem die Ausschlüsse und die gegen die sowjetischen Oppositionellen ergriffenen Repressionsmaßnahmen zu bestätigen.
Vom V. zum VI. Kongreß hatte sich das innere Regime der KI erheblich verschärft. In einem gewissen Maße hatte auf dem V. Kongreß ein großer Teil der Delegierten nicht geahnt, was die
"Bolschewisierung" auf der Ebene des Funktionierens der Organisation bedeuten würde, und die Position Sinowjews konnte als absolut sicher gelten. Das war auf dem VI. Kongreß durchaus nicht mehr der Fall. Schon nach dem Eingeständnis Ercolis, das wir weiter oben zitiert haben, wagte niemand, die Wahrheit zu sagen. Es bestehen selbst Zweifel, ob die Delegierten der Auffassung waren, Bucharin würde seinen Posten behalten. Keiner der Anwesenden konnte den Anspruch erheben, zu wissen, wohin der interne Kampf führen würde, der sich im Politbüro der KPSU abspielte, wohin er die KI und ihre Sektionen bringen würde. Niemand von ihnen, auch nicht die ins Exekutivkomitee Gewählten, war vor einem Ausschluß sicher.
Auf dem V. Kongreß überwog bereits der Einfluß der bürokratisierten Sowjetführung; immerhin sorgte sie sich noch um die sozialistische Revolution in der Welt. Es besteht kein Zweifel, daß auf dem VI. Kongreß die dort völlig dominierende Sowjetführung solche Sorgen nicht mehr hatte und die KI nur als Werkzeug ihrer Außenpolitik ansah.
Da schließlich ihre Tätigkeit von in hohem Maße pragmatischen Erwägungen diktiert wurde, hatte diese Sowjetführung in das Programm der KI
"theoretische" Neuerungen aufnehmen lassen: eine von ihnen näherte ihren Internationalismus dem der II. Internationale von vor 1914 an, während die andere die Kämpfe der breitesten unterdrückten Massen der Menschheit in die Irre führen sollte.
Somit befand sich die KI am Ausgang des VI. Kongresses in einer unvergleichlich gefährlicheren Situation als nach dem V. Kongreß. Indessen waren
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die kommunistischen Parteien noch revolutionäre Parteien, die sich aus ergebenen Genossen zusammensetzten, sich an die Spitze aller Klassenkämpfe stellten und nicht vor den blutigsten Repressionen zurückwichen. Die KI hatte bei ihrer Geburt ein politisches Kapital erhalten, ein Ansehen, das aus den Quellen der Oktoberrevolution selbst geschöpft war. Was blieb davon am Ende des VI. Kongresses? In seinem Brief an den VI. Kongreß hatte Trotzki den Delegierten ein Alarmsignal gegeben:
"Die KI wird unter einem solchen bürokratischen Regime keine weiteren fünf Jahre überleben"
, schrieb er ihnen.
Dieser Ruf wurde weder auf dem Kongreß noch während des verzweifelten Abenteuers, in das sich die KI kurz nach dem Kongreß stürzte, gehört. Fünf Jahre — das ist genau die Frist, die verstrich, bis dieses Kapital an revolutionären Kräften, die sich um die russische Revolution geschart hatten, endgültig vergeudet war, bis die KI ihre revolutionäre Rolle ausgespielt hatte. Damit sollte der VI. Kongreß der letzte Kongreß der KI sein. Der Kongreß, der den Namen eines VII. Kongresses trägt, wird — wir werden es sehen — nur die Vortäuschung eines Kongresses sein.
3. Die Ausschaltung der Rechten
Kaum war der VI. Kongreß beendet, als der Kampf zwischen der Bucharinschen Rechten und der Fraktion Stalins in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wieder aufgenommen wurde und in der KPD begann, bevor er sich in den anderen Sektionen der KI ausbreitete. Nachdem die Rechte in den beiden bedeutendsten Sektionen geschlagen war, schaltete das 10. Plenum sie aus der KI aus.
3.1. Bucharins Verurteilung durch die KP der Sowjetunion
Schon vor dem Zentralkomitee vom Juli hatte Stalin, aus scheinbar administrativen Gründen, Änderungen bei der Redaktion der
Prawda und des
Bolschewik veranlaßt und damit die Position, die Bucharin dort einnahm, in eine Minderheit verwandelt. Vom Monat September an entbrannte der Kampf von neuem, zuerst auf versteckte Weise zwischen den beiden Tendenzen in Form von Artikeln, wo jene, auf die gezielt wurde, nicht namentlich bezeichnet wurden. Der wichtigste Artikel stammte von Bucharin, der ihn ohne vorherige Erlaubnis des Politbüros am 30. September in der
Prawda veröffentlichte, ohne ihn jedoch mit seinem Namen zu zeichnen. Die Identität des Verfassers konnte
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einem jedoch nicht verborgen bleiben. Unter der Überschrift
"Bemerkungen eines Ökonomen" enthielt der Artikel eine Art Manifest der Rechten: auch wenn er offen die trotzkistischen Positionen angriff, so zielte Bucharin tatsächlich auf die Politik Stalins. Dieser letztere maß ihm nur wenig Bedeutung zu. Läßt man die politische Orientierung einmal beiseite, dürfte er nicht weit davon entfernt gewesen sein, die Meinung Trotzkis über diesen Text zu teilen:
"Die Rechten sind wohl oder übel gezwungen, sich ins kalte Wasser zu stürzen, das heißt ihren Streit mit Stalin jenseits des Apparates beizulegen. So erklärt sich das Erscheinen des Artikels Bucharins Bemerkungen eines Ökonomen. Das ist der Mut der Verzweiflung... Dieser Artikel ist nicht nur ein Dokument theoretischen Unvermögens, er ist auch ein Dokument einer äußersten politischen Verwirrung... Bucharin hat den Fuß ins kalte Wasser getaucht, hat aber Angst, hineinzusteigen. Er rührt kein Glied und hat Angst vor der eigenen Courage. Hinter ihm schauen Rykow und Tomski zu, woher der Wind weht und sind jeden Augenblick bereit, sich in die Büsche zu schlagen."
(Trotzki, 21. Oktober 1928)
Im Laufe des Januars 1929 schrieb Bucharin zum fünften Todestag Lenins einen Artikel
Das politische Vermächtnis Lenins und hielt eine Rede. Mit Hilfe von Zitaten Lenins (jedoch nicht von Zitaten des
"Testaments") verteidigte er von neuem seine Positionen in einer Weise, daß nur Eingeweihte es verstehen konnten. Zum Unterschied zur Linken Opposition, die trotz der wachsenden politischen Apathie der Massen eine Basis in der Arbeiterklasse anstrebte, suchte die Rechte nur beim Apparat Unterstützung. Auf diesem Gebiet war sie unwiderruflich verurteilt, vom Großmeister des Apparats, Stalin, geschlagen zu werden, der sich an keine bestimmte Politik band. Selbst der mit der Rechten eng verknüpfte Gewerkschaftsapparat verstand es nicht, an die Basis — die Arbeiterklasse — zu appellieren, wozu er berufen zu sein schien, und fühlte sich zum großen Teil bewogen, denen zu folgen, die an der Macht waren.
Zu heftigen Diskussionen kam es auf der Sitzung des Politbüros, die dem Zentralkomitee vom November 1928 voranging, aber dieses Letztere endete noch einmal mit scheinbarer Einmütigkeit. Frumkin, eine Persönlichkeit zweiten Ranges, wurde namentlich angegriffen, während die Gefahr von rechts, die das Zentralkomitee verurteilte, stets anonym blieb. Stalin ging weiterhin Schritt um Schritt vor: kurz nach der Zentralkomiteesitzung entfernte er Uglanow (Anhänger Bucharins) aus der Führung des Moskauer Komitees und ersetzte ihn durch Molotow, seinen treuesten Stellvertreter.
Darüber vergaß Stalin die linke Opposition nicht. Zum einen vervielfachte er seine zahlreichen Manöver, um Kapitulationen unter den Verbannten zu erzielen. Zum andern wollte er sich Trotzkis entledigen, dessen Aktivität ihn gehörig störte: nach Alma-Ata verbannt, von dem man in jenen Jahren etwa zehn Tage bis Moskau brauchte, bildete Trotzki mit unmittelbarer Hilfe seines Sohnes Leo Sedow ein Zentrum, das das politische Leben der Verbannten in zahlreichen Orten Sibiriens anregte, ebenso wie das der in Freiheit gebliebenen
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Oppositionellen, die weiterhin den Kampf in den großen Städten des Landes, in erster Linie in Moskau und Leningrad, konspirativ weiterführten. Diese Aktivität war noch recht beträchtlich. Stalin fürchtete sie umso mehr, als er sich dazu entschieden hatte, mit der Rechten zu brechen, was das Gewicht der Linken verstärken konnte. Deshalb beschloß er, mit dem
"Zentrum" in Alma-Ata Schluß zu machen, indem er Trotzki aus dem sowjetischen Territorium vertrieb. In seinem Denken, dessen Horizont auf den
"Sozialismus in einem Lande" begrenzt war, hoffte Stalin, daß Trotzki machtlos dastehen würde, wenn er, aus der Sowjetunion verbannt, ohne erhebliche Mittel in kapitalistischen Ländern leben würde, die dem Schöpfer der Roten Armee feindlich gesinnt waren. Stalin hatte niemals die emigrierten russischen Revolutionäre im Ausland sonderlich geschätzt, ihre Aktivität erschien ihm unbedeutend. Den Vertreibungsbeschluß erhielt er im Politbüro gegen die Proteste von Bucharin, Rykow und Tomski, Proteste, die nicht darüber hinausgingen und die außerhalb dieses Organs nur durch Indiskretionen bekannt wurden.
Trotzki kam in der Türkei in den ersten Februartagen 1929 an und begann alsbald, seine Aktivität in Richtung auf die Sowjetunion wie auch auf die KI und auf Kommunisten — Mitglieder oder Ausgeschlossene der kommunistischen Parteien — aufzunehmen.
Ende 1928 und Anfang 1929 fanden neue Begegnungen zwischen Bucharin und Kamenew statt, an denen Pjatakow teilnahm. Diese Begegnungen führten zu keinem Resultat. Das von Bucharin verteidigte Programm — in den
Bemerkungen eines Ökonomen enthalten — war nach dem Urteil Kamenews
"noch rechter" als die Thesen des gleichen Bucharins vom April 1925. Aber diese Begegnungen, ebenso wie die vom Juli, deren Inhalt in einem durch die Trotzkisten illegal verbreiteten Flugblatt aufgedeckt wurde, dienten Stalin als Vorwand, um einen Kämpf zu beginnen, dessen Ziel in der endgültigen Zerschlagung der Rechten bestand. Er zog es wie immer vor, sich auf organisatorische Gründe zu berufen, und keine ideologische Auseinandersetzung zu führen. Bei einer gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Präsidiums der Zentralen Kontrollkommission im Januar und Februar 1929, die einberufen wurde, um diese Begegnungen zu diskutieren, lehnte es Bucharin ab, zu Kreuze zu kriechen. Die dort angenommene Resolution verurteilte Bucharin, Rykow und Tomski mit harten Worten, weigerte sich jedoch, den Rücktritt Bucharins und Tomskis vom Politbüro zu akzeptieren und enthielt keine Maßnahmen gegen sie. Bei dieser Zusammenkunft wurde außerdem beschlossen, die Resolution nicht dem Zentralkomitee zu unterbreiten.
Die entscheidende Schlacht wurde erst im April, beim Zusammentreten des Zentralkomitees, geliefert, dessen Aufgabe es war, die 16. Parteikonferenz vorzubereiten, die im Laufe des gleichen Monats stattfinden sollte. Im Zentralkomitee wurden vor den Mitgliedern dieses Organs die Meinungsverschiedenheiten klar und deutlich ausgesprochen. Bucharin, Tomski und Rykow hielten lange Reden, und verteidigten vor allem ihre Orientierung in der Agrarpolitik.
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Stalin trat gegen Bucharin auf, nahm sich auf seine Art die ganze Vergangenheit des letzteren vor, wobei er zu diesem Zweck sorgfältig ausgewählte Zitate Lenins benutzte. Das Zentralkomitee verurteilte die Positionen der Rechten, bestätigte den Beschluß der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Präsidiums der Zentralen Kontrollkommission, enthob Bucharin der Posten, die er bei der
Prawda und in der KI bekleidete, sowie Tomski des Postens, den er an der Spitze des Generalrats der sowjetischen Gewerkschaften innehatte, und ersetzte ihn durch Schwernik. Aber das Zentralkomitee entfernte die Rechten nicht vom Politbüro und diese Resolution wurde damals nicht publik gemacht. Die Schlacht war innerhalb dieser geschlossenen Gesellschaft, die das Zentralkomitee darstellte, entschieden worden, so wie es zuvor im Politbüro und in der Leitung der Kontrollkommission geschehen war. Gegenüber der Außenwelt, an die Bucharin und seine Anhänger nicht daran dachten, sich zu wenden, blieb die Einheit an der Spitze der Partei und des Landes formell gewahrt. Die Aprilsitzung des Zentralkomitees bezeichnete in Wirklichkeit das politische Ende der rechten Tendenz. Bucharin konnte nicht einmal mehr im Juli am 10. Plenum des Exekutivkomitees der KI, das ihn verurteilen sollte, anwesend sein!
3.2. Die Affäre Wittorf
In der KPD gab es einen rechten Flügel, der in Wirklichkeit die Fortsetzung der Brandler-Thalheimer-Tendenz von 1923 war; er war zum Schweigen verurteilt, obwohl das 7. Plenum der KI teilweise die Beschlüsse des V. Kongresses rückgängig gemacht hatte . Die eigentlichen treibenden Kräfte der Leitung, die nach außen hin sich um Thälmann gruppierte, waren Remmele und Neumann; die Leitung stieß weiterhin innerhalb des Zentralkomitees auf den Widerstand derer, denen man den Beinamen die
"Versöhnler" gegeben hatte, das heißt Versöhnler gegenüber der Rechten. Diese
"versöhnlerische" Tendenz hatte keine wirkliche Sympathien für die Rechte, denn sie hatte den Oktober 1923 nicht vergessen, aber sie fürchtete sich sehr vor der Politik der Thälmann-Führung und schätzte nicht sehr die Linkswendung, die gerade eingeführt werden sollte; sie stand entschieden feindselig der Orientierung auf dem Gewerkschaftsgebiet gegenüber, wie sie auf dem 4. Kongreß der RGI festgelegt worden war . Sie hatte auf die Unterstützung Bucharins gerechnet, der seinerseits meinte, sich auf bedeutende Kräfte in den Leitungen der kommunistischen Parteien stützen zu können, vor allem auf die
"Versöhnler", die er in versteckter Form auf dem VI. Kongreß verteidigt hatte .
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Alle diese Rechnungen gingen infolge eines Versuches der
"Versöhnler", der Thälmann-Führung einen Schlag zu versetzen, nicht auf: sie wollten eine schmutzige Angelegenheit ausnutzen, die unter der Bezeichnung
"die Affäre Wittorf" bekannt wurde. Wittorf war der Hauptverantwortliche für die KPD-Organisation der Stadt Hamburg, also einer der wichtigsten lokalen Organisationen dieser Partei, die zugleich eine Hochburg Thälmanns war. Dieser war dort zum ersten Mal als KPD-Mitglied in Erscheinung getreten und hatte einen etwas übertriebenen Ruhm nach dem Hamburger Aufstand von 1923 erlangt, deren tatsächlicher Leiter Urbahns gewesen war, der aber — in stalinistischer Sicht — nicht mehr ein Held der proletarischen Revolution sein konnte, seitdem er sich der linken Opposition angeschlossen hatte. Wittorf war die rechte Hand, der Mann Thälmanns in Hamburg. Jedoch hatte er sich Betrügereien und Korruption zuschulden kommen lassen. Diese Tatsachen waren zur Kenntnis der Führung gelangt, aber Thälmann drohte den Parteikontrolleuren mit Ausschluß, wenn sie darüber sprechen sollten. Dies wurde trotzdem Eberlein hinterbracht, dem ehemaligen Spartakisten, der am Gründungskongreß der KI teilgenommen hatte und ein Mitglied der auf dem VI. Kongreß gewählten Kontrollkommission war. Eberlein, politisch mit den Versöhnlern verbunden, gab die Affäre dem Zentralkomitee der KPD, das Ende September 1928 zusammentrat, bekannt. Durch die Haltung Thälmanns aufgebracht, beschloß dieses Organ
einstimmig, ihn seiner Funktion als Parteivorsitzenden zu entheben: Thälmann wagte nicht, sich diesem Antrag zu widersetzen und stimmte für ihn.
Unter dem Mantel einer persönlichen Angelegenheit, ohne Verbindung mit der politischen Orientierung der Partei, versetzten die Rechten und die Versöhnler damit der Thälmann-Führung indirekt einen Schlag, der durchaus klar auf ihre Politik zielte . Thälmann und seine Freunde waren nicht imstande oder verstanden es nicht, sofort auf der Stelle zu reagieren; vielleicht hatten sie nicht genau die politische Tragweite der Maßnahme begriffen, die gegen Thälmann getroffen wurde. Wie dem auch sei, in Moskau unterschätzte Stalin nicht die Gefahren, die in diesem Vorgehen lagen.
Er war bereits schon mitten in der Schlacht gegen die Bucharinsche Rechte in der KPSU. Er erinnerte sich noch an die Unschlüssigkeiten, die Unbeständigkeiten, die auf dem VI. Kongreß in zahlreichen Sektionsleitungen vorhanden waren; er wußte, daß Thälmann und seine Fraktion in der KPD seine Hauptstütze in der KI waren. Thälmann einen Schlag versetzen zu lassen, selbst aus den erwähnten Gründen, hieße sich selbst schwächen. Wer konnte sagen, was
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sich im sowjetischen Zentralkomitee zutragen könnte? Er würde ihn also nicht im Stich lassen und beschloß, in einer Weise die Stirne zu bieten, die die Leute entweder zur Kapitulation oder zu einer Schlacht gegen die KPSU-Leitung zwang.
Am 6. Oktober veröffentlichte die
Prawda eine Resolution des Präsidiums der KI, die den Beschluß des Zentralkomitees der KPD verurteilte und Thälmann erneut an die Spitze seiner Partei stellte. In Wirklichkeit hatte das Präsidium damals formell nicht getagt; die Veröffentlichung in der
Prawda war demnach ein wirklicher Gewaltstreich Stalins, der den Namen der KI-Führung mißbrauchte. Das Präsidium trat erst im November zusammen, um die deutsche Frage zu diskutieren. Stalin hatte sich durch demokratische Erwägungen oder Formen nicht in Verlegenheit setzen lassen. Auf dem Gebiet des Apparats war er sich seiner Meisterschaft sicher und zweifelte nicht daran, daß sein Gewaltstreich bestätigt würde. Was er vorausgesehen hatte, traf ein. Das Präsidium fügte sich; die meisten von denen, deren erster Impuls gewesen war, Thälmann für seine Unterstützung Wittorfs zu verurteilen, überlegten es sich anders und hüteten sich, den Beschluß des Präsidiums anzugreifen . Andere, wie der Schweizer Humbert-Droz und der Italiener Serra (Tasca) waren mundtot gemacht worden. Bucharin, der nach Humbert-Droz nach Ende des VI. Kongresses nicht mehr zur KI zurückkehrte, opferte Ewert und die Versöhnler zugunsten dessen, was er als seine Fraktionsinteressen in der KPSU ansah. Die Rechten Walcher, Frölich, Enderle usw. wurden Anfang Januar 1929 aus der KPD ausgeschlossen. Da Thalheimer und Brandler in Moskau lebten, waren sie Mitglieder der KPSU und sahen sich aus ihr Ende Januar ausgeschlossen. Die
"Affäre Wittorf" endete somit für Stalin und Thälmann ganz ausgezeichnet. Auch in der KI war der Weg gebahnt, um sich der Rechten zu entledigen.
3.3. Der Erste Mai in Berlin
Weder der interne Kampf an der Spitze der KPSU, der von einer geringen Zahl kommunistischer Genossen in der KI verfolgt wurde, noch die Affäre Wittorf und ihre Folgen innerhalb der KPD hätten kaum etwas anderes als eine Verstärkung der Position Stalins in den Apparaten der kommunistischen Parteien bewirken können. Aber die vom Plenum von 1928 begonnene Wendung, vom VI. Kongreß weitergeführt, übertrug sich auch auf die Arbeitermitglieder
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der kommunistischen Parteien und beschleunigte ihre Schritte auf den ultra-linken Kurs hin; diesen gewaltigen Anstoß erhielt die Wendung dank eines Ereignisses, das Millionen Menschen in der ganzen Welt schockierte und das den Zorn, ja die Raserei aller Kommunisten auslöste: es handelte sich um die blutigen Zwischenfälle des Ersten Mai in Berlin.
Das damalige Deutschland war immer noch in Länder mit ihren eigenen Regierungen eingeteilt. Preußen hatte eine Regierung mit dem Sozialdemokraten Braun an der Spitze, dem Innenminister Severing, dem Leiter der preußischen Polizei Grzesinsky und dem Berliner Polizeipräsident Zörgiebel — alles Sozialdemokraten. Seit dem Zusammenschluß von Unabhängigen und Spartakisten war die Berliner Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit für die KPD - was der Sozialdemokratischen Partei außerordentlich mißfiel. Daraus ergab sich, daß die Beziehungen zwischen den beiden Organisationen in der Hauptstadt Deutschlands oft schwierige Zeiten durchmachten und daß die Sozialdemokratie ihre Regierungsstellung in Preußen zu ihren Gunsten gegen die KPD ausspielte. Die Linkswendung der KPD trug nicht zur Verbesserung dieser Beziehungen bei.
In den ersten Monaten von 1929, in einer politisch gespannten Lage in Deutschland, trafen der preußische Innenminister und der Berliner Polizeipräsident Vorkehrungen, die ihnen gestatteten, vorbeugend Demonstrationen und Versammlungen im Freien zu untersagen, die bis dahin unbehindert abgehalten worden waren. Solche Verbote konnten beschlossen werden, wenn die Behörden der Auffassung waren, diese Versammlungen könnten
"eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit" darstellen oder einen
"nichtfriedlichen Charakter" haben. Aus den gleichen Gründen hatten die Berliner Behörden das Recht, Versammlungen zu untersagen, selbst wenn sie in geschlossenen Räumen stattfinden sollten. Das Versammlungsrecht und das Demonstrationsrecht waren somit in Frage gestellt, wenn auch nicht völlig, so doch in der Praxis, um die Aktivität der KPD niederzuhalten. Die Polemiken, die über diese Maßnahmen ausgefochten wurden, erreichten ihren Höhepunkt, als die Berliner Polizei die Tageszeitung der KPD, die
Rote Fahne, juristisch zu verfolgen begann.
In den Wochen, die dem Ersten Mai vorausgingen, spitzten sich die Dinge außerordentlich zu. Bis dahin war dieser von den Gewerkschaften organisiert worden; die Arbeiterparteien schlossen sich der Demonstration nur an. Diesmal organisierten die Reformisten (SPD und Gewerkschaften) Versammlungen in Sälen, die gestattet wurden. Im Gegensatz dazu wurde eine von der KPD angekündigte Demonstration verboten, wobei sie von der Presse beschuldigt wurde, gewalttätige Zwischenfälle vorzubereiten. Offensichtlich mit dem Ziel, Zusammenstöße herbeizuführen, traf die Berliner Polizei gleichzeitig zahlreiche Maßnahmen und provozierende Anordnungen. Da die KPD in einer politischen Wendung begriffen war, die ihr durch die Simplizität ihrer Analyse sehr wenig taktischen Spielraum bot, appellierte sie an die Berliner Arbeiter, zu demon-
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strieren, koste es, was es wolle.
"Boykottiert die reformistischen Versammlungen in den Sälen! Heraus auf die Straßen!", so endete ihr Aufruf, während jedoch auch sie einige Anordnungen traf, um den Polizeikräften die Stirne zu bieten.
Gewiß waren Zwischenfälle voraussehbar und unvermeidlich, ohne indessen sehr ernste Folgen haben zu müssen. Aber in den preußischen sozialdemokratischen Behörden befanden sich zahlreiche Schüler Noskes und Eberts, die den Kommunisten eine ernsthafte Lektion geben wollten. So geschah es, daß am Ersten Mai, in Berlin, nicht nur einige harmlose Scharmützel geliefert wurden. Gleich von vornherein, ohne jede Provokation, schoß die Polizei auf Straßendemonstranten und protestierende Bewohner an den Fenstern. Der Erste Mai endete spät in der Nacht mit mindestens 27 Toten und 150 durch Schüsse Verwundete. Die Sozialdemokratie versuchte, den Charakter der Polizeiaktion aus dem Verlangen der Kommunisten nach Märtyrern zu erklären; das war eine armselige Verteidigung gegenüber einer derart großen Zahl von Opfern. Die Berliner Arbeiterklasse — die alles miterlebt hatte — wurde von dieser Argumentation nicht zum Narren gehalten. Die Sozialdemokratie konnte sich damit nicht rechtfertigen, so daß drei Monate später, am 1. August, die Berliner Polizei gezwungen war, den Rückzug anzutreten und die Straßendemonstration zu genehmigen, die von der KPD gegen die Kriegsgefahr organisiert wurde und die ohne irgendeinen Zwischenfall ablief.
Aber das Blutbad vom Ersten Mai in Berlin fand in der ganzen Welt Widerhall, vor allem bei den Mitgliedern der kommunistischen Parteien. Es gab ihnen eine
"Rechtfertigung" für die Wendung, für die
"dritte Periode", für alles, was sie ganz speziell bei den Beziehungen zu den sozialistischen Parteien anrichtete. War für sie nicht der Erste Mai der schlagendste Beweis vom
"Sozialfaschismus", von der
"Faschisierung" der sozialistischen Parteien? Mit einem derartigen Beweis konnte ihr Reagieren gerechtfertigt erscheinen. Alles, was bis dahin Punkt für Punkt in der Linkswendung angeführt worden war — oft in einem etwas groben Raster —, wurde von nun an in immer kräftigeren Umrissen geschildert. Das 10. Plenum, zwei Monate nach dem Blutbad in Berlin zusammengetreten, bestätigte die ultralinke Orientierung und sicherte gleichfalls die völlige und endgültige Oberhoheit Stalins über die KI.
3.4. Das 10. Plenum (3. bis 19. Juli 1929)
Das 10. Plenum war zweifellos die wichtigste Zusammenkunft der KI im Laufe ihres Niedergangs. Es beseitigte die politische Zweideutigkeit, die im vorangegangenen Jahr auf dem VI. Kongreß geherrscht hatte, und die dort gefaßten Beschlüsse diktierten der KI die Orientierung, der sie ungefähr drei Jahre lang Folge leisten sollte. Es sicherte und bestätigte den Einfluß Stalins über die KI. Bucharin war vom Zentralkomitee der KPSU der Zutritt zum 10. Plenum verwehrt worden, mehrere andere vom VI. Kongreß gewählte Mit-
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glieder des Exekutivkomitees waren inzwischen aus ihren Parteien ausgeschlossen worden oder erlitten das gleiche Schicksal wie Bucharin. Die Leitung des Plenums wurde von einem Kern von fünf Mitgliedern aufmerksam in die Hand genommen: Molotow, Manuilski, Kuusinen, Pjatnitzki und Thälmann; sie wachten darüber, daß sich alles wie vorausgesehen abspielte. An diesem Plenum nahmen etwas mehr als hundert Anwesende aus 30 Ländern teil, mit jedoch nicht mehr als 36 beschließenden Stimmen .
Infolge eines Antrags seitens einiger europäischer Parteien hatte das Präsidium beschlossen, einen internationalen Kampftag gegen Krieg und Faschismus für den ersten August 1929 aus Anlaß des 15. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zu organisieren. Über diese Frage fand eine Art kollektiver Selbstbezichtigungskampagne im Plenum statt; ein jeder bemühte sich, zwei oder drei Wochen vor dem festgelegten Termin, Fehler, Unzulänglichkeiten bei den Vorbereitungen aufzudecken, und verpflichtete sich, an diesem Tage gewaltige Dinge, Heldentaten zu vollbringen. Das Organisieren von Demonstrationen zu diesem Jahrestag war nicht verkehrt; in mehreren Ländern taten das die sozialistischen Parteien auch ungefähr am gleichen Datum. Verfehlt daran war jedoch der Rahmen der
"dritten Periode", in den das Plenum diese Demonstration hineinstellte -
"das nahe Bevorstehen des Krieges" - und der Charakter der Demonstrationen, die erwartet und empfohlen wurden.
Zwei Berichte waren dem ersten Tagesordnungspunkt gewidmet, der sich mit der ,internationalen Lage und den Aufgaben der KI" befaßte — einer von Kuusinen, der andere von Manuilski. Keiner von beiden machte eine ernsthafte Analyse der internationalen Lage, obwohl sich wichtige Ereignisse abgespielt hatten: so vor allem in Deutschland, wo zum ersten Mal seit den zwanziger Jahren eine Koalitionsregierung unter der Leitung des Sozialdemokraten Hermann Müller gebildet wurde, sowie in Großbritannien, wo einen Monat zuvor die Wahlen von neuem MacDonald an die Regierung gebracht hatten. Die einzige aus diesen Tatsachen entnommene Schlußfolgerung lautete: der
"Sozialfaschismus" gewinnt an Boden. Keiner der zwei Berichterstatter sagte über die Wirtschaftskonjunktur ein einziges Wort. Sie sahen in der Situation nur eine Bestätigung der
"dritten Periode": einen stürmischen Massenaufschwung und eine Verschärfung der Widersprüche in der kapitalistischen Welt angesichts der großartigen Verwirklichung des ersten Fünfjahresplans:
"Dieser Drang zum politischen Klassenkampf, diese Tendenz zur stürmischen Erweiterung des Kampfterrains, dieser Offensivgeist der proletarischen Massenkämpfe ist das wichtigste neue Moment... Die Massen fühlen instinktiv, daß jetzt der revolutionäre
[543]
Kampf möglich wird..."
(Kuusinen, Protokoll, S. 43, 45)
"Die Berliner Ereignisse haben die Frage des politischen Massenstreiks (von uns unterstrichen) als der wichtigsten Kampfwaffe des Proletariats in der jetzigen Etappe der Arbeiterbewegung auf die Tagesordnung gesetzt..."
(Manuilski, a.a.O., S. 75)
"Das Problem des politischen Massenstreiks ist für die kommunistischen Parteien das entscheidende Problem der ganzen nächsten Periode... Dies bedeutet aber, daß wir dicht vor neuen höheren Formen des Klassenkampfes stehen..."
(Molotow, a.a.O., S. 418)
Alle Formulierungen waren so gewählt, daß man sie für eine Truppe zum Beginnen eines großen Kampfes benutzen konnte: das Verlangen nach ihm, stürmische Erweiterung, Möglichkeit des revolutionären Kampfes, höhere Formen des Klassenkampfes, usw. Aus dieser
"Analyse" schlossen die Redner auf eine unmittelbare Kriegsgefahr.
Das 10. Plenum war der Auffassung, man befände sich noch in einer guten Wirtschaftskonjunktur: der Faschismus erschien relativ schwach; als faschistisch bezeichnete man im übrigen in Deutschland den
Stahlhelm, während die Hitlerbewegung als eine vergangene Gefahr — die von 1923 — angesehen wurde. Nachdem Martynow, ein ehemaliger Menschewik, nach dem Bürgerkrieg der bolschewistischen Partei beigetreten, ein
"Theoretiker" des
"Vierer-Blocks" in der chinesischen Revolution, aufgezeigt hatte, daß der Faschismus der
"Hitlerschen Spielart" demagogische Losungen in seinem Programm enthielt, fuhr er fort:
"Der Faschismus der ersten Periode, der vorwiegend kleinbürgerliche Faschismus aus der Zeit des wirtschaftlichen Verfalls, machte neuen Formen des Faschismus Platz. Der Stahlhelm verstärkte sich, er befreite sich von der von uns geschilderten Demagogie, die einen wirklich blutigen Kampf gegen das Proletariat verdeckte..."
(A.a.O., S. 228)
Für alle Redner war der
"Sozialfaschismus" das entschieden neue Element, das Hauptelement der Situation. Diese
"Faschisierung", dieser
"Sozialfaschismus", bildete das wesentliche Thema des 10. Plenums, und die Redner lösten einander ab, um diese Erscheinung besser
"theoretisch" zu definieren. Wir beschränken uns hier auf einige Zitate; man wird im Verlaufe der zwei kommenden Jahre noch viel Ärgeres hören:
"... Die Spaltung des deutschen Faschismus in zwei Lager: des Sozialfaschismus und die Deutschnationalen, zwischen denen sich eine zweckmäßige politische Arbeitsteilung gebildet hat..."
(Kuusinen, a.a.O., S. 25)
"Parallel mit der Faschisierung der bürgerlichen Klassenherrschaft geht auch der Prozeß der Faschisierung der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie und der Parteien der II. Internationale. Aus dem Reformismus und der Sozialdemokratie entwickelt sich der Sozialfaschismus..;"
(Kuusinen, a.a.O., S. 39)
"Auf unserem letzten Weltkongreß wurde gesprochen über ,Keime' der sozialfaschistischen Entwicklung der II. Internationale. Jetzt sind diese Keime bereits ganz üppig herangewachsen..."
(Kuusinen, a.a.O., S. 40)
"Wenn Italien das klassische Land des Faschismus ist, ist Deutschland das klassische
[544]
Land des Sozialfaschismus. Es gibt kein Land der Welt, in dem der Sozialfaschismus bereits eine solche Vollendung, eine solche Durchbildung, auch ideologisch, gefunden hat wie in Deutschland..."
(Neumann, a.a.O., S. 474)
Nachdem das Plenum immer wieder die Faschisierung der Sozialdemokratie bestätigt und sich an seinen eigenen Erklärungen berauscht hatte, zog es die taktischen Schlußfolgerungen, nach denen der Hauptfeind,
"der Sozialfaschismus", von den
"Linken Sozialdemokraten" beschützt würde, die man also deswegen als die gefährlichsten Leute ansehen müßte:
"Das Heranreifen des neuen Aufschwungs der revolutionären Arbeiterbewegung und der Regierungsantritt durch die Sozialdemokratie in Deutschland und in England stellt die Komintern und ihre Sektionen vor die sich mit besonderer Schärfe erhebende Aufgabe der entschiedenen Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, besonders gegen ihren ,linken' Flügel, der der gefährlichste Feind des Kommunismus in der Arbeiterbewegung und das Haupthindernis für die Steigerung der Kampfaktivität der Arbeitermassen ist..."
(Thesen über die internationale Lage und die nächsten Aufgaben der KI, a.a.O., S. 897 - 898)
Das Plenum bestätigte ebenfalls, man müsse sich völlig von einer
"Einheitsfront von oben" lossagen, sich auf eine Einheitsfront von unten" beschränken und zu diesem Zweck die sozialdemokratischen Arbeiter auffordern, mit ihren Führern zu brechen. Man dürfe sich, hieß es, über die Auswirkungen, welche die
"Sozialfaschisierung" hätte, keine Illusionen machen: ein Teil der sozialdemokratischen Arbeiter würde selbst zweifellos zu
"Sozialfaschisten" werden:
"Wir idealisieren keineswegs die unteren sozialdemokratischen Funktionäre im Betrieb (die so genannten ´Vertrauensleute', die Mitglieder der Betriebsräte usw.). Wenn diese Leute nicht den Willen in sich aufbringen konnten, mit der Partei des Arbeiterverrats zu brechen, nachdem sie die ganze blutige Erfahrung von Noske bis Zörgiebel und der langjährigen Koalitionspraxis ihrer Partei... hinter sich haben, so ist es schwer, sie in Wirklichkeit von jenem Apparatstab der sozialdemokratischen Funktionäre abzutrennen, die Agenten des Kapitals sind und in dessen Interesse Politik machen. Die Aufgabe der kommunistischen Parteien besteht darin, diese Elemente vor den Arbeitermassen im Betriebe an die Wand zu drücken, es nicht dahin kommen zu lassen, daß sie Illusionen säen können darüber, als wären sie, die mit der breiten Arbeitermasse zusammenhängen, qualitativ anders als ihre Spitzen, als wären sie fähig, ehrlich um die Nöte der Arbeiter zu kämpfen usw."
(Manuilski, a.a.O., S. 77)
"Es ist vor allem vollkommen klar, daß die Faschisierung (der Sozialdemokratie) nicht nur die Spitzenschichten berühren wird... Ich glaube, daß, wenn man sich das ansieht, was sich in allen sozialdemokratischen Parteien abspielt, daß man dann erkennt, daß es dort sehr bedeutende reaktionäre Schichten gibt, die sowohl die Spitzen als die mittleren und unteren Schichten der Funktionäre umfassen, die auch einen gewissen Teil der demoralisierten, korrumpierten Arbeiter unter ihrem Einfluß haben. Die Entwicklung der Sozialdemokratie im Sinne der Faschisierung wird... in der Richtung der Faschisierung ganzer Schichten mit Ausnahme einiger unbedeutender Gruppen... verlaufen..."
(Losowski, a.a.O., S. 390 - 391)
Die so genannte
"Sozialfaschisierung" eines Teils der Arbeiterklasse, vor
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allem der militanten sozialdemokratischen Arbeiter in den Unternehmen, fand in der
"Sozialfaschisierung" der Gewerkschaften eine direkte Fortsetzung: diese wurden in einer ganzen Reihe von Ländern von Sozialdemokraten geleitet, auch an den Arbeitsplätzen. Diese Schlußfolgerung hatte bei der Politik der kommunistischen Genossen innerhalb der Gewerkschaften taktisch unvermeidliche Folgen.
Sie schwächte auf der einen Seite ungeheuer die Position revolutionärer Genossen, die vom Gewerkschaftsapparat unterdrückt und aus den Gewerkschaften ausgeschlossen wurden; sie zielte andererseits auf die Gründung
"roter Gewerkschaften" ab, in Ländern, wo es, wie vor allem in Deutschland und England, Einheitsgewerkschaften gab.
Die Gewerkschaftsfrage bildete einen weiteren Tagungsordnungspunkt und wurde ebenfalls in zwei Berichten behandelt, einer von Thälmann, der andere von Losowski. Zu dieser Frage ergab sich eine eher verworrene Diskussion. Den Berichterstattern konnte die Logik ihrer ultralinken Positionen nicht verborgen bleiben, sie wußten, daß die Mitglieder der Sektionen sie besser als alle Deklarationen über die
"dritte Periode" verstehen und danach streben würden, sich ihr zu widersetzen; deshalb bemühten sie sich, zu beweisen, daß ihre Linie nicht das Ergebnis haben müsse, zu der sie unvermeidlich führte. Sie brachten zu diesem Thema eine Spitzfindigkeit nach der anderen, als ob es möglich wäre, falls man bei einer solchen Politik einen glatten Abhang herunterrutscht, Formulierungen zu finden, die es gestatten würden, an einem ganz bestimmten Punkt und in einem festgelegten Augenblick anzuhalten. Hier einige Erklärungen, in denen der Gewerkschaftseinheit recht übel mitgespielt wird:
"Gewerkschaftslegalität in der weiteren Entwicklung der Gewerkschaften zu Staatsorganen heißt Staatslegalität... Deshalb bedeutet die Durchbrechung des Gewerkschaftslegalismus und der reformistischen Gewerkschaftsgesetze... eine Durchbrechung der Staatslegalität..."
(Thälmann, a.a.O., S. 655)
"Heute propagieren wir nicht mehr den unterschiedslosen Eintritt aller Arbeiter in die reformistischen Gewerkschaften, sondern nur den Eintritt der klassenbewußten revolutionären Arbeiter zur Stärkung der revolutionären Opposition"
(Thälmann, a.a.O., S. 665)
"Wer die Einheit um jeden Preis und unter allen Umständen will, muß im Voraus erklären, daß er sich bedingungslos der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie fügt... eine Einheit auf der Grundlage einer völligen Lossagung der Kommunisten von ihren Ansichten... "
(Losowski, a.a.O., S. 40)
Die vom Plenum zur Gewerkschaftsfrage angenommene Resolution verhehlte im übrigen nicht, daß sich die Frage der Gründung neuer Gewerkschaften stellen könne:
"Ein anderer Mangel in diesen Ländern (wo es keine unabhängigen revolutionären Gewerkschaften gibt) ist die Angst, durch die Anwendung der neuen Taktik der revolutionären Gewerkschaftsopposition die eigenen Positionen innerhalb der reformistischen
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Gewerkschaften zu schwächen..."
(A.a.O., S. 911)
"Dieses Anschwellen der Arbeiterbewegung hat auch das neue Problem der Bildung neuer revolutionärer Gewerkschaften in gewissen Etappen und unter der Voraussetzung bestimmter Bedingungen entstehen lassen..."
(A.a.O., S. 919)
Diese Linie, die mit einer gewissen Vorsicht seit ungefähr sechs Monaten vertreten worden war, stieß innerhalb der kommunistischen Parteien auf starken Widerstand. Das Plenum hatte zum Ziel, diesen Widerstand zu brechen, nicht etwa mit Hilfe einer Diskussion mit denen, die dieser Linie feindlich gegenüberstanden oder zu einem Kompromiß bereit waren — denn kein Argument hätte einen irgendwie verantwortlichen aktiven Gewerkschafter davon überzeugen können, einer Politik der Verzweiflung zuzustimmen. Man warf ihnen also alles Mögliche und Unmögliche vor, alle Verbrechen, einschließlich des Trotzkismus. Das Amalgam mit den Trotzkisten war denn auch eine relativ leichte Sache, denn die von den Trotzkisten gegen diesen ultralinken Kurs vorgebrachte Kritik stimmte in vielen Punkten mit der Kritik und den Warnungen der Rechten und der Versöhnler überein .
Die allgemeinen, vom Plenum angenommenen Thesen erklärten offen, man müsse die kommunistischen Parteien von jedem befreien, der sich in irgendeiner Weise der Politik der
"dritten Periode" und ihren Implikationen widersetzen würde:
"Ohne die Säuberung der kommunistischen Parteien sowohl von den offen wie von den versteckt opportunistischen Elementen und ohne die Überwindung der versöhnlerischen Einstellung diesen gegenüber können die kommunistischen Parteien nicht erfolgreich vorwärts kommen auf dem Wege der Lösung der neuen Aufgaben, die durch den verschärften Klassenkampf in der neuen Etappe der Arbeiterbewegung aufgeworfen werden."
(A.a.O., S. 898)
Die führenden Leute des 10. Plenums fürchteten nicht allein die Rechten und die Versöhnler, die von dieser Zusammenkunft abwesend waren, sondern auch die Schweigsamen. Sie wußten recht gut, daß in dem seit mehreren Jahren herrschenden Regime eine Zahl von Mitgliedern, vor allem von führenden Mitgliedern, sich hütete, ihre Stellungnahmen, ihre Kritik offen auszusprechen, und stattdessen schwiegen..., indem sie auf die nahe bevorstehende Wendung hofften und warteten. Der Fall, der am meisten in die Augen sprang, war der von J. Humbert-Droz, der die Funktion eines Sekretärs des VI. Kongresses bekleidet hatte. Ein persönlicher und politischer Freund Bucharins, hatte er
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nach der Affäre Wittorf beim Präsidium interveniert und war dort in grober Weise von Stalin verurteilt worden. Kurz nach dem VI. Kongreß nach Lateinamerika geschickt, stellte er bei seiner Rückkehr fest, daß man die Führung seiner Sektion, der Schweizer Partei, verändert, und Bucharin die Büros der KI seit dem Weltkongreß nicht mehr betreten hatte. Er verzichtete deshalb darauf, am 10. Plenum anwesend zu sein, wohin er zitiert worden wäre, um den Sündenbock abzugeben.
Ein wichtiger Teil einer der Interventionen Manuilskis trug den Untertitel
"Gegen Rechte, Versöhnler und ´Schweiger'" (A.a.O., S. 576). Sie forderte die letzteren zum Reden auf:
"Wir haben jetzt eine Reihe von Genossen, die in einer ganzen Reihe dieser Grundfragen strenges Schweigen beobachten. Doch das Plenum möchte seht gern, daß diese Genossen endlich reden..."
(A.a.O., S. 581)
Einer der ehemaligen Rechten, Ercoli, brach das Schweigen. Er hatte auf dem VI. Kongreß die Gefahr gewittert und es vorgezogen, Moskau nach dem Kongreß zu verlassen und Serra in dieser Stadt zu lassen, wo er wegen seiner Stellungnahme bei der Affäre Wittorf angeprangert wurde. Ercoli wartete mit seinem Losgehen auf Bucharin, bis er wußte, woher der Wind wehte. Als Teilnehmer am 10. Plenum hielt er eine typische Rede, in der er in einer Nebenbemerkung seine frühere Haltung mit seinem
"mangelnden Verständnis" oder einem
"Verkennen" der Situation und der Menschen rechtfertigte und weitgehend der Linie der
"dritten Periode" beipflichtete. Da er nicht schweigsam geblieben war, verzieh man ihm seine Vergangenheit, und man erwies ihm die Gunst, die Schlußrede des Plenums halten zu dürfen, wo er sich in den stalinistischen Stil
"gegen die opportunistischen Elemente, die Rechten, die Verbreiter wilder Gerüchte" einfügte.
Bucharin war die Anwesenheit am Plenum durch das Zentralkomitee der KPSU verboten worden, aber bis dahin hatte man keinen der ihn betreffenden Beschlüsse dieses Zentralkomitees in der Sowjetunion oder in den kommunistischen Parteien öffentlich bekannt gemacht. Weder zur Eröffnung des Plenums, noch bei den Reden der Berichterstatter über die internationale Lage war ein Wort über Bucharin geäußert worden, sein Name wurde nicht erwähnt. Erst auf der elften Sitzung, am 9. Juli, sprach Molotow vom Fall Bucharin. Was er vorbrachte, war offensichtlich den am Plenum Anwesenden durchaus bekannt, aber von jetzt ab wurde in der KI folgende Gewohnheit angenommen: zur Behandlung einer anstößigen Angelegenheit mußte man abwarten, bis dazu die Erlaubnis gegeben wurde.
Die Rede Molotows gab also das Startzeichen; andere Redner, Neumann, Thälmann usw. und natürlich Manuilski in seinem Schlußwort lieferten ihren Beitrag zur Anklagerede Molotows. Das Plenum gab schließlich seine Zustimmung zu einer Resolution
"über den Genossen Bucharin". Der Nachfolger
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Sinowjews in der KI erfuhr ein noch traurigeres Schicksal als dieser. Die Resolution des Plenums wurde in der
Prawda vom 21. August gebracht. Erst an diesem Tage also wurden die Sowjetbürger und die Mitglieder der Sektionen der KI offiziell darüber informiert, was man Bucharin vorgeworfen hatte. Die relativ lange Resolution hatte den Zweck, eine Debatte abzuschließen, die sich hinter verschlossenen Türen abgespielt hatte; es war besser, einen Vorsprung zu haben, um zu vermeiden, daß unangenehme Fragen gestellt würden. Alles, was man Bucharin anlasten konnte, war in der Resolution angeführt:
- auf dem VI. Kongreß der KI war es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen;
- seine Positionen stellten eine opportunistische Plattform, eine rechte Opposition zur Politik der KPSU dar (welche mit dieser Resolution gebilligt wurde);
- er hatte sich geweigert, den Kampf gegen den Kulaken zu führen, und sich im Gegenteil für das "Hineinwachsen des Kulaken in den Sozialismus" ausgesprochen. (Damit wurde an die Positionen erinnert, die er im Namen der Führung Bucharin-Stalin im Jahre 1925 verteidigt hatte);
- er widersetzte sich der Industrialisierung;
- er griff die Politik der KPSU und die Partei selbst an, unter dem Deckmantel, die Bürokratie anzuprangern;
- er verteidigte die Perspektive einer Stabilisierung des Kapitalismus;
- durch seine Positionen kapitulierte die Strömung, die er zusammen mit Humbert-Droz, Serra, Ewert bildete, vor Hilferding;
- er hatte konspirativ versucht, einen Block mit ehemaligen Trotzkisten zu machen.
Als Schlußfolgerung bestätigte das Plenum den Beschluß des Zentralkomitees und der Zentralen Kontrollkommission, ihn seiner Aufgaben in der KI zu entheben. Stalin verurteilte seinen gestrigen Verbündeten auf die gleiche Weise, wie er Sinowjew, ohne ihn anzuhören, kaltgestellt hatte. Das 10. Plenum führte als sozusagen offizielles Prinzip dieses Vorgehen ein: man prangerte einen mundtot gemachten Menschen an, indem man willkürlich Wortfetzen von ihm zitierte, die man aus vollständig nie veröffentlichten Texten sorgfältig ausgewählt hatte.
Die Leute Stalins ritten auch bei diesem Plenum noch einige scharfe Attakken gegen Varga, die jedoch nicht zum Ausschluß führten. Dieser hatte sich geschickt ein wenig von der offiziellen Linie distanziert, allerdings nicht bei der zu befolgenden Taktik — das war nicht sein Gebiet, und er hütete sich seit langem, sich mit ihr zu befassen — sondern bei der Analyse der Wirtschaftslage. Er hatte zuerst etwas heimtückisch erklärt, es fehle im Bericht Kuusinens die Analyse der Wirtschaftslage, und hatte ebenfalls ganz nebenbei einige grobe Schnitzer Kolarows allein auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie gerügt. Er hatte angedeutet, daß die Wirtschaftslage gut sei und sich in vorsichtigen Ausdrücken über die Wirtschaftsperspektiven geäußert. Er hatte gezeigt, daß, selbst wenn sich der Anteil der Löhne am Nationaleinkommen verringert hätte, die Reallöhne nicht gesunken wären — was nicht besonders überraschend war: in einer guten Konjunktur steigen die Löhne ein wenig, die Profite stark. Aber ihm bekam es schlecht, eine Bemerkung gemacht zu haben, die nicht zu der
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Logik der
"dritten Periode" paßte. Man beschuldigte ihn, in den Statistiken, in die er versunken war, nicht die Verelendung der Massen, ihre Radikalisierung usw. zu erkennen.
Einige besondere Punkte kündigten sich im Laufe der Debatten an, die in der Zukunft von Interesse sein sollten. Gegner der
"dritten Periode" in den Parteien außerhalb der Sowjetunion äußerten Kritik — selten in offener Form, häufiger in Gesprächen hinter den Kulissen — an dem Verlassen der Einheitsfronttaktik, wie sie auf dem III. Kongreß formuliert worden war, sowie an dem Einsatz der Staatsmacht gegen die Oppositionellen in der Sowjetunion.
Manuilski zögerte nicht, in einer Rede zu erklären, er wisse sehr wohl von einer solchen Kritik, und er wies sie in folgender Weise zurück:
"Die NEP war eine Art Einheitsfronttaktik mit den Millionen individueller Bauernwirtschaften, sie ist aber keine ein für allemal gegebene Form des Bündnisses des Proletariats und der Bauernschaft, die ausschließlich auf Marktverhältnissen fußt... Wer uns in der Frage der Einheitsfront zurück auf den III. Weltkongreß ruft, der ruft uns zur NEP von 1922..."
(Manuilski, a.a.O., S. 575)
"In einem Lande (die Sowjetunion), wo jede Abweichung die Tendenz hat, sich unvermeidlich in einen Klassenzusammenstoß auszuwachsen, ist es ein Glück für das Proletariat, daß es eine solche Waffe (Methoden staatlicher Gewalt)... in der Hand hat..."
(A.a.O., S. 580)
Manuilski unterschied sich von anderen bereits ziemlich rücksichtslosen Rednern nur dadurch, daß er zynischer als die anderen ausführenden Organe Stalins auftrat.
Eine weitere interessante Information: in einer Rede, in der er die Bewegungen bei den Arbeitern hervorhob, die damals in den chinesischen Städten trotz der Diktatur Tschiang Kai-scheks auftraten, erklärte der Delegierte Chang Piau:
"Die Partisanengruppe von Chu Teh und Mao Tse-tung in einer Stärke von 6.000 Kämpfern hat seit zwei Jahren unter dieser Hauptlosung gekämpft (Verwandlung des Krieges der Kuomintang-Generäle in einen Krieg der Arbeiter- und Bauernmassen zum Sturz der imperialistischen und der Kuomintang-Herrschaft)."
(A.a.O., S. 156)
Zu diesem Zeitpunkt wies der chinesische Delegierte auf die Existenz von Partisanen, auf Bauernarmeen, nur in einem Nebensatz hin, der Name Mao Tse-tungs wurde beiläufig erwähnt.
Das 10. Plenum schloß mit der Annahme einer Reihe von Resolutionen, die aus dem Plenum oder der KI mehrere auf dem VI. Kongreß Gewählte ausschloß und andere kooptierte. Solche Maßnahmen gingen nach diesem Plenum weiter. Auf Rechte und Versöhnler wurde bereits seit Jahresbeginn Jagd gemacht, die KPD wegen der von ihr ergriffenen Maßnahmen als für die Bolschewisierung vorbildliche Partei hingestellt, als eine Partei, von der man versicherte, sie würde den großen Ereignissen, die auf sie zukämen, gewachsen sein. Hier eine
unvollständige Liste der bei dieser Linkswendung auf der Strecke Gebliebenen:
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Die tschechoslowakische Partei verlor mehrere Führer — Jilek, Neurath, Hais —, den größten Teil ihrer Parlamentsfraktion und vor allem die meisten Gewerkschaftskader; diese letzteren befanden sich an der Spitze einer der seltenen bedeutenden Gewerkschaftszentralen der RGI in einem kapitalistischen Land.
Nach dieser
"Säuberung" besaß die RGI, außerhalb der Sowjetunion, nur noch nennenswerte Mitgliederzahlen in der CGTU in Frankreich, die ihrerseits stagnierten oder im Rückgang begriffen waren. Es handelte sich in Wirklichkeit um eine tiefgehende Spaltung in der tschechoslowakischen Sektion. Zwei Führer, Smeral und Kreibich, der Rechten oder den Versöhnlern nahe, verdankten ihr Verbleiben in der Partei nur dem gleichen Vorgehen wie Ercoli, indem sie nämlich unterwegs von dem Zuge Bucharins absprangen, um ihn im Zuge Stalins — wohin er ebenfalls unterwegs war — wieder zu treffen.
Durch Ausschlüsse wurde auch die von einem Kongreß der Partei der Vereinigten Staaten gewählte Führung abgesetzt. Lovestone, Gitlow, Wolf hatten gerade Cannon wegen seines Trotzkismus ausgeschlossen, als sie selbst aus der KI kurz nach einem Kongreß verjagt wurden, auf dem sie (auf eine Art, über die wir nicht reden wollen) 90% der Mandate erhalten hatten. Pepper wurde ausgeschlossen, nachdem er vor die Internationale Kontrollkommission gebracht worden war.
Die italienische Partei schloß Serra (Tasca), ein Mitglied des Exekutivkomitees, aus. Sie zögerte nicht lange und schloß aus ihren Reihen Bordiga kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis aus. Im Jahre 1930 kam es zum Ausschluß der
"Drei" (Tresso, Leonetti, Ravazolli), die der internationalen linken Opposition beitraten; danach erfolgte der Ausschluß Tranquillis(Silone). Im Gefängnis von Turin wurde Antonio Gramsci, der der
"dritten Periode" feindlich gegenüberstand, von den der Führung treu gebliebenen Mitgliedern in die Acht erklärt: dies war ein De-Facto-Ausschluß (G. Fiori, Antonio
Gramsci,
Vie d'un Revolutionnaire.)
Die schwedische Führung wurde von fast ihrer gesamten Führung gesäubert: Kilboom, Flyg, Sanwalson usw. Auch dort kam es zu einer massiven Spaltung.
In Frankreich übte Doriot Selbstkritik und beugte sich. Andere jedoch, so Bernard, ein wichtiger führender Mann bei den Eisenbahnern, Huber, Bürgermeister von Straßburg, die Stadträte von Paris wurden ausgeschlossen oder verließen die Partei; ebenso eine ganze Reihe von Gewerkschaftern, insbesondere Dommanget, Bouet, Serret usw., welche die Federation Unitaire de l'Enseignement (Einheitsverband der Lehrkräfte) leiteten.
In Österreich wurde ein wichtiger Journalist, Willy Schlamm, und andere Funktionäre ausgeschlossen.
Der Inder M. N. Roy, lange Zeit eine der Stützen der KI, wurde wegen Mitarbeit an der Brandlerschen Zeitschrift ausgeschlossen.
In anderen Parteien (in der polnischen, der schweizerischen...) kam es zu beträchtlichen Veränderungen bei den Führungen oder zu Austritten und Ausschlüssen (so in Belgien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Rumänien, der Türkei, Argentinien...).
In einem Artikel der Zeitschrift
L´ Internationale Communiste (November 1931) hieß es:
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"Als Ergebnis dieser Umgruppierungen in der Periode, die vom Anfang des 10. Plenums der Exekutive bis zum Ende des 11. Plenums reicht..., sind sieben Mitglieder der Exekutive wegen opportunistischer Abweichungen von der Linie der KI und wegen Verletzungen der Parteidisziplin ausgeschlossen worden; außerdem wurde die Führung von einem Dutzend kommunistischer Parteien völlig ausgewechselt."
(L´ Internationale Communiste)
Wenige nur schlossen sich der linken Opposition an, die Trotzki von seiner Ankunft in der Türkei an zu sammeln begann. Während einiger Jahre sammelte sich um Brandler eine bedeutendere aber wenig homogene internationale Organisation rechter Oppositioneller.
In einer 1932 erschienenen Broschüre, die von der Organisationsabteilung der KI stammte, mit dem Titel
L´ Internationale Communiste et ses sections, unterschrieben mit 0. Bewer (?), befinden sich die folgenden Zahlen über die Mitgliedschaft in den kommunistischen Parteien und der Kommunistischen
Jugend:
Für die Genauigkeit dieser Zahlen — auch wenn sie auf die Stelle hinter dem Komma angegeben sind — übernehmen wir keine Garantie, aber die von ihnen gezeigte Tendenz ist klar: außer in Deutschland — über das Warum sprechen wir weiter unten — gab es einen bedeutenden, zuweilen beträchtlichen Mitgliederverlust der Parteien, und es gab wenig, sogar sehr wenig Aussichten auf eine Verstärkung von seiten der Jugend.
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Das 10. Plenum bestätigte die völlige Unterjochung der KI durch Stalin. Von jetzt ab ernannte und verjagte er — je nach seinen politischen Wendungen oder dem Verdacht, den er gegen diesen oder jenen Menschen hegte — die führenden Leute der Parteien. Die KI war nur noch ein Apparat, dessen er sich bediente. Dieses Plenum ebnete vollständig den Weg zur Entwicklung einer Politik, die die Entartung der KI und ihre politische Ohnmacht gewaltig beschleunigte. Während nun das Plenum alle seine Geschütze auf den
"Sozialfaschismus" gerichtet hatte, begann der Aufstieg des wahren, des Hitlerschen Faschismus, der dank der von Stalin und den von ihm an die Spitze der KI gestellten Leute beschlossenen politischen Orientierung
"unwiderstehlich" wurde.
Ohne hiermit am Ende der Geschichte der KI angelangt zu sein, halten wir es an diesem Punkt für notwendig, uns weiterhin der Frage der
Stalinisierung der kommunistischen Parteien zuzuwenden, die soeben auf dem 10. Plenum vollzogen wurde. Wie und warum konnte sie vor sich gehen? Was hatte sie ermöglicht und sollte in der Folgezeit viele weitere Überraschungen ermöglichen? Der Stalinismus hat zu einer Menge Spekulationen Anlaß gegeben. Wie überraschend er auch gewesen ist — er läßt sich auf eine Art erklären, die nichts Geheimnisvolles an sich hat. Betrachten wir kurz die wesentlichen Gründe und Umstände, die die Stalinisierung der kommunistischen Parteien bewirkt haben.
3.5. Die Stalinisierung der kommunistischen Parteien
Die objektiven Bedingungen, die zur bürokratischen Entartung der Sowjetunion geführt haben,
- waren das Zurückfluten der sozialistischen Revolution, vor allem in Europa,
- sowie die Rückständigkeit und die Isolierung des Landes.
Die Bürokratie
- wurde von der Gesellschaft, insbesondere von der Arbeiterklasse, unabhängig,
- erhob sich über sie
- und bemächtigte sich völlig des Staates.
Der im Jahre 1923 begonnene Entartungsprozeß
- hat sich über mehrere Jahre erstreckt
- und endete mit der Zerstörung der bolschewistischen Partei als Partei des sowjetischen Proletariats
- und ihrer Umwandlung ín ein politisch-polizeiliches Instrument der Bürokratie.
Die stalinistische Entartung, die die bolschewistische Partei zerstört hat,
- hat die kommunistischen Parteien in anderer Weise, aber nicht weniger brutal getroffen.
- Dieses Stalinisierungsphänomen der kommunistischen Parteien war mit dem ersteren verbunden, jedoch von ihm unterschieden.
- Es läßt sich nicht direkt aus den spezifischen Bedingungen der Sowjetgesellschaft erklären.
- Es folgte den Fußstapfen der Entfaltung des Stalinismus in der Sowjetunion, hat sich auf ihn gestützt, aber die kommunistischen Parteien befanden sich nicht in den gleichen Umständen wie die bolschewistische Partei. Sie standen nicht an der Spitze eines Staates;
- da sie gegen die Anpassung der sozialistischen Parteien an die kapitalistische Gesellschaft begründet worden waren, standen sie im
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Gegenteil im Widerspruch zu ihm.
- Während der ersten Jahre der bürokratischen Entartung - also noch zur Zeit des 10. Plenums - führten sie mutig einen revolutionären Kampf (selbst wenn er politisch nicht fehlerfrei war).
- Dieser Kampf brachte ihnen keine Privilegien, sondern eine sehr harte Unterdrückung.
- Es ist verständlich, daß ihnen die eingetretene Entartung in der Sowjetunion ganz zu Beginn verborgen blieb, wie vielen Anhängern und Freunden der Sowjetunion;
- immerhin hat weder Sinowjew noch Bucharin sie damals recht begriffen.
- Diese Erscheinung ist erst nach Ablauf einer gewissen Zeit spürbar geworden.
- Jene kommunistischen Parteien, die in ihren Reihen die kritischsten und rebellischsten Geister aufwiesen, hätten, so scheint es, auf die Bürokratisierung in der Sowjetunion reagieren und von ihr nicht angesteckt werden müssen; jedoch ist gerade das Gegenteil eingetreten.
- Man kann auch nicht die Entartung, die diese Parteien befiel, mit ähnlichen Gründen erklären, wie sie Lenin für die sozialistischen Parteien gegeben hatte, zum Beispiel das Gewicht, das in diesen Parteien eine Arbeiteraristokratie und -bürokratie hatte, die mit der Zeit diese Parteien beherrschte und dort ihre Interessen dominieren ließ.
- Die kommunistischen Parteien faßten keineswegs eine "0ber"schicht der Arbeiterklasse zusammen.
- Andererseits gab es bei ihnen nicht, als ihre Entartung begann, einen erstickenden bürokratischen Apparat; dieser fing im Gegenteil erst in der Form der "Bolschewisierung" an, dessen wesentliches Element gerade die Schaffung eines Apparates gewesen ist, der sich in der Folgezeit ungeheuerlich entwickelte, mit allen wohlbekannten Folgen.
Wir schieben gleich von vornherein die vulgärste und vielleicht noch verbreiteste
"Erklärung" des Stalinismus beiseite, nämlich die Korruption dieser Parteien durch materielle, finanzielle Mittel, durch das
"Geld aus Moskau", diese
"Erklärung", auf die sich die Bourgeoisie und die Sozialdemokratie in der Vergangenheit so oft berufen haben, und auf die sich manche noch heute berufen. Wir streiten nicht ab, daß den kommunistischen Parteien seitens der KI materiell geholfen wurde, das heißt im Grunde vom Kreml, und wir sind darüber prinzipiell durchaus nicht entrüstet . Auch die anfangs als Zeichen internationaler Solidarität gegebene Hilfe ist durch die stalinistische Entartung in bezug auf ihre politischen Ziele angetastet worden. Die finanzielle Korruption ist zweifellos ein Mittel der Politik, aber sie wirkt sich nur auf den einzelnen Menschen aus, auch im Falle bürgerlicher oder reformistischer Organisationen. So erhebliche politische Umwandlungen, wie sie der Stalinismus hervorgerufen hat, das heißt der Übergang einer revolutionären Partei zum Reformis-
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mus, können nur Resultat historischer Umstände sein. Das
"Gold" aus Moskau hat Einzelne innerhalb des Apparats der kommunistischen Parteien korrumpiert und damit zum Aufstieg des Stalinismus beigetragen, aber es kann nicht die Umwandlung erklären, die sich in ganzen Parteien vollzogen hat, in Parteien, die in ihrer erdrückenden Mehrheit weit davon entfernt waren, aus dieser finanziellen Hilfe Vorteil zu ziehen, und die selber oft große Opfer, auch finanzieller Art, gebracht haben. Wenn wir diese
"Erklärung" verwerfen, weisen wir auch zur gleichen Zeit die Behauptung zurück, daß sich die Kommunistischen Parteien durch ihre Ausrichtung auf die Politik Moskaus in einfache
"Agenturen des Kreml" verwandelt hätten; sie sind Arbeiterparteien geblieben, entartete Parteien, aber nichtsdestoweniger Arbeiterparteien.
Die Entartung dieser Parteien ging
- — wie es der Fall bei den sozialistischen Parteien vor 1914 gewesen war — im Verlaufe eines Prozesses vor sich, der sich über ungefähr ein Dutzend Jahre erstreckte.
- Die KI diente als Transmissionsriemen der Entartung, die in der Sowjetunion eintrat.
- Der Prozeß vollzog sich während einiger Jahre langsam und wurde von breiten Schichten der Parteimitglieder nicht wahrgenommen.
- Nur kleine Minderheiten widersetzten sich ihm.
- Ein Teil der alten in den Parteien verbleibenden Mitglieder gewöhnte sich langsam an ihren wechselnden Kurs und paßten sich ihren Wendungen an.
-
Andererseits erneuerten sich diese Parteien ganz erheblich und rekrutierten auf der Basis der neuen Politik neue Anhänger, die die Vergangenheit ihrer Partei nicht kannten, darüber nichts erfuhren oder nur in lügenhafter Form.
- Auf diese Weise vollzog sich allmählich, fast unmerklich, außer in Augenblicken einer krisenhaften Zuspitzung, eine radikale Umwandlung.
Zum Unterschied von den Meinungsverschiedenheiten über die Politik in der Sowjetunion, die in den kommunistischen Parteien wenig verstanden wurden, schockierten die im Jahre 1923 gegen Trotzki angewandten antidemokratischen Methoden — Methoden, die auf die KI übergriffen und sich danach verallgemeinerten — eine ganze Reihe kommunistischer Führer (polnische, französische, italienische, tschechoslowakische, belgische usw.). Aber die Einwände oder die Anmerkungen, die sie formulierten, drückten nicht eine von der sowjetischen Führung politisch unterschiedliche Linie aus und fanden in den Parteien selbst nur ein geringes Echo. Deshalb lief es am Ende darauf hinaus, daß die Führer, die diese Parteien nicht verließen, sich fügten und später sich nach der Sowjetführung richteten.
Die Basis der kommunistischen Parteien war offensichtlich nicht in der Lage, so verwickelte Probleme wie die der Sowjetunion besser als die Führer zu begreifen. Das bürokratische System, das von oben her eindrang, ließ ihnen schließlich nur die Wahl, der Partei zu folgen oder sie zu verlassen, jedoch nicht ihre Politik zu ändern, ob es sich nun um die Sowjetunion oder die Politik in ihrem Lande drehte. Sie waren nun an der Gründung dieser Parteien beteiligt gewesen oder waren ihnen beigetreten, weil sie für sie die Fortsetzung des Wegs der Oktoberrevolution, der Sowjetunion bildeten. Als die revolutionäre Welle
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zurückflutete, war gerade die Sowjetunion und sie allein die einzige große Errungenschaft, die aus dieser Periode großartiger Kämpfe übriggeblieben war.
Ihr Verlust hätte außerordentlich finstere Zeiten für die Arbeiterbewegung eröffnet, wie man sie in der Vergangenheit noch nie erlebt hatte. Diese völlig begründete Auffassung entsprach zutiefst den Gefühlen der militanten Kommunisten. Sie mußten deshalb die Sowjetunion um jeden Preis verteidigen und zogen daraus die Konsequenzen, daß sie einig in der Partei bleiben müßten. Die Mitglieder der kommunistischen Parteien identifizierten in ihrer Mehrheit die Sowjetunion mit ihrer Führung. Es handelte sich hier — in einer sehr viel stärkeren Form — um das gleiche Phänomen, das man tagtäglich in allen Massenorganisationen feststellen kann, selbst in denen, wo die Missetaten der bürokratischen Führungen buchstäblich von ihren Mitgliedern mit Händen zu greifen sind. Die Führungen gebrauchen und mißbrauchen das Argument, wer sie kritisiere, greife auch die Organisation an. Stalin verstand es, geschickt das Gefühl auszunutzen, man müsse die Reihen um die Sowjetunion schließen und sich als
"Antisowjetismus" und
"Antikommunismus" gegen jede Kritik wenden, auch wenn sie nicht ausdrücklich gegen die Kreml-Führung gerichtet war. Wurde dieses
"Argument" insbesondere gegen die Oppositionellen in der Sowjetunion und in den kommunistischen Parteien ausgenutzt, so wird es heute immer noch vorgebracht, wenn es auch weniger von Erfolg gekrönt ist. Dieses
"Argument" war in den ersten Jahren des Stalinismus umso durchschlagender, als niemand — nicht einmal seine heftigsten Gegner — damals voraussah, daß er eine derartig ununterbrochene Reihe von Niederlagen der Arbeiterbewegung bewirken sollte, noch daß er der Sowjetunion ein so verabscheuungswürdiges Regime bescheren würde.
Gewiß gab es auch Führer kommunistischer Parteien, die vor ihrer Gewöhnung an den Stalinismus und ihrer vollständigen Entartung von den bürokratischen Lügen über die Lage in der Sowjetunion nicht getäuscht wurden, aber sie resignierten, weil sie ihrer innersten Überzeugung nach glaubten, man dürfe dem Feind nicht in die Hände arbeiten, die UdSSR sei eine isolierte Festung deren Schwierigkeiten riesig waren, es ließe sich kaum etwas Besseres anfangen usw. Das war eine trügerische und gefährliche Argumentation, denn nichts war der Sache des Sozialismus abträglicher, als den Arbeitern die Wahrheit zu verschweigen.
Wir bemühen uns um eine Erklärung, gewiß nicht um eine Rechtfertigung: die Identifizierung der Sowjetführung mit der Oktoberrevolution und der Sowjetunion hat am meisten zum außerordentlichen Anwachsen des Stalinismus während der trüben Jahre eines revolutionären Zurückflutens und eines Aufschwungs des Faschismus beigetragen. Als die Jahre vergingen, übten die sich häufenden Niederlagen — von Deutschland bis Spanien — einen so schweren Druck auf eine Menge Genossen aus, daß sie keine andere Lösung mehr erblickten, als der Verteidigung der Sowjetunion in dem Kriege, den sie mit Recht für unvermeidlich hielten, den Vorrang zu geben. In diesem Falle gab es für sie nur
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die Wahl: Hitler oder Stalin.
Die Sowjetunion erschien weiterhin allen denen, die ein antikapitalistisches oder antiimperialistisches Bewußtsein bewahrten, als der einzige revolutionäre Pol in der Welt. Ein Land, das von feindlichen kapitalistischen Ländern umgeben war, ein zurückgebliebenes Land, das sich mit eigener Kraft industrialisierte und zu einer Großmacht wurde — diese gewaltigen Erscheinungen beeindruckten Millionen menschlicher Wesen. Sie weigerten sich, den Aussagen der großen Presse über dieses Land Glauben zu schenken, selbst wenn sie stimmten, und hörten nicht auf die winzigen revolutionären Oppositionen. Die ungeheuren Opfer der Sowjetunion beim Kampf gegen den Nationalsozialismus wurden später ebenfalls von Stalin und vom Stalinismus ausgenutzt.
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Man könnte einen Einwand erheben: war es, vor allem zu Beginn, wirklich schwierig zu erfassen, was der Stalinismus in der Sowjetunion war, so konnte doch die Bürokratisierung der kommunistischen Parteien und ihre politischen Wendungen, die oft im Gegensatz zu den tatsächlichen Erfordernissen, den Interessen der nationalen Arbeiterbewegung standen, ihren Mitgliedern nicht verborgen bleiben. Das ist richtig, und deshalb kam es innerhalb dieser Parteien öfters über interne Probleme als über Probleme der Sowjetunion zu Krisen.
Schließlich jedoch übte der Faktor
"Verteidigung der UdSSR" zu den verschiedensten Zeitpunkten einen größeren Druck auf die Mehrheit der Mitglieder aus als andere Erwägungen. Die Sowjetunion nahm bei ihren Überlegungen den ersten Platz ein. Dies galt insbesondere für die kleinen, ohne Massenbasis dastehenden kommunistischen Parteien, besonders dort, wo sie sozialdemokratischen Parteien gegenüberstanden, die an bürgerlichen Regierungen teilnahmen und sich bei den antisowjetischen Kampagnen beteiligten.
In den wenigen kommunistischen Parteien, die eine relativ beträchtliche Massenbasis hatten, trat ein anderer Faktor auf, der auch in den sozialistischen Organisationen und in den reformistischen Gewerkschaften eine Rolle spielt:
die Arbeiter sind nicht bereit, leichten Herzens starke und zentralisierte Organisationen zu verlassen. Das entspricht einem echten Bedürfnis, denn ohne derartige Organisationen können sie nicht tagtäglich mit dem Kapitalismus und seinem Staat, beide mächtig und zentralisiert, kämpfen. Eine starke, wenn auch bürokratisierte Organisation erschien vielen Arbeitern als ein stumpfes, mangelhaftes Werkzeug, das jedoch vor kleinen revolutionären, im allgemeinen wenig stabilen Organisationen den Vorzug verdiente, die sich auch lange Zeit hindurch hauptsächlich hinter einer Propagandatätigkeit verschanzen mußten. Die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung beweist, daß Generationen, die eine Partei geschaffen haben oder in ihr groß geworden sind, wenig geneigt sind, eine neue zu gründen.
Die Kombination der verschiedenen oben erwähnten Faktoren — die von
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Land zu Land wechselt — hat es dem Stalinismus erlaubt, sich der kommunistischen Parteien zu bemächtigen, sie zusammenzuhalten und sie in einigen sehr seltenen Fällen weiterzuentwickeln. Dieser Prozeß hat sich — wir wollen es wiederholen — zuerst unmerklich schleichend, dann auf stets brutalere Weise und rascher vollzogen.
4. Die Politik der ´dritten Periode´ auf dem Höhepunkt
Nach dem 10. Plenum gab es für die Anwendung der Politik der "dritten Periode" kein Hindernis mehr, weder für Stalin in der Sowjetunion, noch für die KPD, deren Führung alle Anstrengungen machte, das beste Beispiel einer bolschewisierten Partei zu geben. Die eintretenden Ereignisse waren nicht dazu angetan, um den Schaden und die Verheerungen, die diese "dritte Periode" anrichten sollte, in Grenzen zu halten. Während in der Sowjetunion der erste Fünfjahresplan unter großen Entbehrungen realisiert wurde, erlitten die Massen der kapitalistischen Länder die gleichfalls schmerzhaften Konsequenzen der großen Wirtschaftskrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach vom 29. Oktober 1929 ausbrach.
4.1. Die ,dritte Periode´ in der Sowjetunion
Bei der Durchführung des ersten Fünfjahresplans in der Sowjetunion veranlaßte die
"dritte Periode" eine entsetzliche Tragödie auf dem flachen Lande — deren Ergebnisse noch in unseren Tagen spürbar sind — sowie eine Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen der Arbeitermassen im ganzen Lande.
Erwähnen wir zuerst die letzten Zuckungen der Bucharinschen Rechten. Mit der Veröffentlichung der Resolution des 10. Plenums in der sowjetischen Presse wurde das Land offiziell über die politische Verurteilung und die gegen Bucharin und seine Tendenz ergriffenen Maßnahmen informiert. Im November des gleichen Jahres wurde Bucharin durch das Zentralkomitee der KPSU aus dem Politbüro entfernt und die anderen Rechten, Rykow und Tomski, gerügt.
Einige Tage später, am 26. November, veröffentlichte die
Prawda eine von diesen drei Männern unterzeichnete Erklärung, in der sie eingestanden, daß sie achtzehn Monate lang gegen das Zentralkomitee eine falsche Politik verteidigt hatten und sich verpflichteten, von jetzt ab dessen richtige Linie zu unterstützen. Damit endete eine Schlacht, die in Wirklichkeit außer in relativ engen Kreisen — wenn man die Ausdehnung des Landes in Betracht zieht — gar keine gewesen ist. Die Kapitulationen werden sich noch wiederholen, zuerst diejenigen Tomskis und Rykows auf dem 16. Kongreß der KPSU (Juni 1930), von
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dem Bucharin — wahrscheinlich auf Anordnung — abwesend war, danach einige Monate später die Bucharins selbst. Tomski beging in der Periode der
"Moskauer Prozesse" Selbstmord.
Die Art und Weise, wie der erste Fünfjahresplan realisiert wurde, gehört mehr zur Geschichte der Sowjetunion als zu der der KI. Sie ist von mehreren Historikern behandelt worden und ist durch zahlreiche Berichte und Artikel bekannt ; deshalb wollen wir sie nur in großen Zügen zusammenfassen.
Nach den langen Jahren einer feindseligen Einstellung gegenüber Planung und Industrialisierung, einer Ermutigung der reichen und mittleren Bauern auf dem flachen Lande, hätte die durch die Annahme des ersten Fünfjahresplanes eingeleitete Wendung schrittweise durchgeführt werden müssen. Da aber Stalin und seine Fraktion einerseits durch das Versagen ihrer früheren Politik erschrocken waren, zum andern durch die ersten günstigen Ergebnisse der neuen Politik überrascht wurden und ihrem bürokratischen Charakter treu blieben, stürzten sie sich rasch Hals über Kopf in die Realisierung des Planes, wobei sie die einzigen ihnen bekannten Mittel, die bürokratischen und administrativen, anwandten. Sehr bald wurden die Losungen aufgestellt:
"Realisierung des Fünfjahresplans in vier Jahren",
"100%-ige Kollektivierung auf dem Lande",
"Liquidierung der Kulaken als Klasse"
Man kennt die Tragödien, die sich aus dieser irrsinnigen Politik ergaben. Auf dem Lande wurden mehrere Dutzend Millionen, vielleicht einhundert Millionen Männer und Frauen von Haus und Hof vertrieben, die einen nach Sibirien verschickt, die anderen in die Städte oder an Orte, wo Städte entstehen sollten, an denen nichts zu ihrem Empfang vorbereitet war. Als Reaktion darauf schlachteten die Bauern massenweise ihr Vieh, ließen die Felder brachliegen. Der Fünfjahresplan sah anfangs vor, daß die Kollektivierung knappe 20% des Grundbesitzes während der fünf Jahre, über die er sich erstreckte, betreffen sollte; das Grundeigentum von fünfundzwanzig Millionen Kleinbauern, also fast die Hälfte, wurde während dieser Zeit kollektiviert, die andere Hälfte während des zweiten Fünfjahresplans. Nach den Jahren einer langsamen aber tatsächlichen Besserung der Lebensbedingungen in den Städten folgte plötzlich zwischen 1928 und 1932 eine ungefähr 50%-ige Verschlechterung des Lebensstandards; die Versprechungen zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution waren völlig vergessen. Die Schwerindustrie wurde gegen alle Vernunft begünstigt, während die Konsumgüter sowohl der Quantität wie der Qualität nach vernachlässigt wurden. Die Produktionskosten wurden kaum kalkuliert, es galt, um jeden Preis zu produzieren und sich über die Planbestimmungen hinwegzusetzen, ohne die Schäden zu berücksichtigen, die sich daraus ergeben konnten. Um die Produktivität zu steigern, wurden die egalitären Ten-
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denzen, an die sich die Hoffnungen der Oktoberrevolution knüpften, erbarmungslos unterdrückt, und man ließ ehemaligen kapitalistischen Methoden freien Lauf: Akkordarbeit und andere individuelle Anreize, die die Differenzierung in der Gesellschaft im allgemeinen und innerhalb der Arbeiterklasse, auf Kosten des Klassenbewußtseins, begünstigten, wurden wieder eingeführt. Der individuelle Egoismus wurde ermutigt, auch wenn dies zum Schaden der Gesundheit und des Wohlbefindens der Arbeiter gereichte.
Es konnte den Anschein erwecken, als ob Stalin den kriminellen Fehler seiner Politik begriffen hatte, als er im März 1930 eine Rede über
"die Erfolge" hielt, die manchen der mit der Ausführung Beauftragten
"in den Kopf gestiegen wären". Aber ganz abgesehen von dem fest eingeführten System, alles, was nicht so lief, wie es sollte, auf Fehler bei der Ausführung einer stets richtigen Politik zurückzuführen, bedeutete diese Rede nur ein kurzes Zwischenspiel. Die Politik der
"dritten Periode" wurde bald wieder aufs schönste in der Sowjetunion vorangetrieben. Sie wurde blindlings durchgeführt, ohne Ausweichmöglichkeit angeordnet und von Repressionen aller Art begleitet. Richtige bewaffnete Expeditionen wurden auf dem Lande unternommen, die zuweilen über das hinausgingen, was man in der Zeit des
"Kriegskommunismus" erlebt hatte. Der
"individuelle Paß" wurde in den Städten eingeführt, Verbannungslager geschaffen, usw.
Die Unterdrückung nahm die Gestalt von Prozessen an, die von
"Geständnissen" begleitet wurden, um den leidenden Massen Sündenböcke zu liefern. In dem
"Industriepartei"prozeß wurden hohe Wirtschaftspersönlichkeiten verurteilt. In dem
"Menschewistenprozeß" wurden ehemalige Menschewiki der Verbindung mit dem Auslande zum Zwecke der Vorbereitung einer bewaffneten Invasion beschuldigt .
Die Partei war endgültig erstickt worden. Stalin war weder mehr ein Führer unter anderen, noch auch nur der
von seiner Mannschaft anerkannte
Primus inter pares: der Persönlichkeitskult war bereits stark entwickelt, als der 17. Parteikongreß (Juni 1930) stattfand. Die Meinungsverschiedenheiten, die sich nnerhalb des Politbüros zeigen konnten, blieben nach außen hin unbekannt und er, Stalin, setzte sich in letzter Instanz durch.
Unter solchen Umständen konnte es nicht überraschen, daß mehr oder weniger spontan sich bildende Gruppen in der KPSU entstanden, die nach Mitteln suchten, dieser Situation ein Ende zu bereiten. Aber der Polizeiapparat war so mächtig geworden, daß diese Gruppen schnell entdeckt und vernichtet wurden. Unter fadenscheinigen Vorwänden vervielfachten sich die Ausschlüsse. So wurden im Dezember 1930 zwei Männer aus der Partei ausgeschlossen: sie
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waren glühende Anhänger Stalins gewesen, der eine, Syrtsow, war kurz zuvor zum Kandidaten beim Politbüro ernannt worden, der andere, Lominadse, an dessen Rolle auf dem VI. Kongreß der KI man sich erinnern wird. Der Leiter des Marx-Engels-Instituts Rjasanow, ein marxistischer Gelehrter von Weltruf, dessen 60. Geburtstag die Sowjetpresse im März 1930 feierte, wurde im Februar 1931 unter dem Vorwand von Verbindungen zu den Menschewiki ausgeschlossen. Im Jahre 1932 wurde Rjutin, ein ehemaliger Führer der Moskauer Partei, der an der Spitze der Gruppen stand, die die Oppositionellen terrorisiert hatten, verhaftet, weil er eine Plattform geschrieben und in Umlauf gesetzt hatte, die mit der Forderung der Absetzung Stalins schloß. Rjutin entging damals gerade noch der Hinrichtung. Nach seiner Verhaftung wurde ein neuer Berg von Ausschlüssen verkündet, darunter — zum zweiten Mal — die von Sinowjew und Kamenew. Im Jahre 1932 erreichte die Krise im Lande ihren Höhepunkt. Durch Informationen, die Trotzki damals, wahrscheinlich von I.N. Smirnow stammend, erhielt, erfuhr er, daß Mitglieder des Zentralkomitees vorgeschlagen hatten, er solle in das Land zurückgerufen werden. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, die Stalin dazu bestimmten, Trotzki und denjenigen Angehörigen, die ihm ins Ausland gefolgt waren, die sowjetische Staatsangehörigkeit abzuerkennen.
In dieser Periode wurden zahlreiche, darunter einige Aufsehen erregende Selbstmorde verübt. So handelte im April 1930 Majakowski, der
"Dichter der Revolution". Auch die Frau Stalins, Tochter eines Arbeiterbolschewiken, beging nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem
"Vater des Volkes" über die Folgen seiner Politik Selbstmord. Ein anderer Aufsehen erregender Selbstmord war der Skrypniks, Bolschewik seit 1909 und Zentralkomiteemitglied seit 1923; er war einer jener Ukrainer, von denen Bucharin Kamenew gegenüber geäußert hatte, sie seien von Stalin durch die Abberufung von Kaganowitsch aus der ukrainischen Regierung für sich gewonnen worden; er hatte auf dem 10. Plenum eine für die
"dritte Periode" sehr typische Intervention gemacht. Auch begann sich in diesen Jahren 1931-1932 der Gedanke auszubreiten, daß die Oppositionellen oder sogar jene, die an der politischen Linie zweifelten, entweder mit Polizeispitzeln in Verbindung oder ganz einfach selber Spitzel waren. Alle Giftpflanzen des Stalinismus waren in dieser Periode bereits in der Entfaltung begriffen.
Während dieser Jahre lebte das Land — das galt ebenso für seine Führer — vom Ausland abgeschlossen: in der kapitalistischen Welt wütete die Wirtschaftskrise; in der Sowjetunion
"errichtete" man den Sozialismus in einem Lande und feierte dort immer mehr den
"genialen" Stalin. Dabei handelte es sich nicht um die erzwungene Autarkie der vergangenen Jahre auf Wirtschaftsebene allein, als die kapitalistischen Staaten die Beziehungen mit der Sowjetunion mieden oder einschränkten. Hier handelte es sich um eine von der Staatsmacht auferlegte Autarkie auf Gebieten, wo sie nicht wollte, daß die Massen Vergleiche mit dem Ausland anstellen sollten, vor allem mit der Arbeiterbewegung
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der kapitalistischen Länder, trotz der Krise, die in diesen Ländern wütete. Die KI hatte die vom Kreml bestimmten Positionen übernommen, und dieser informierte die Sowjetrussen über die Arbeiterbewegung mittels der KI. Die internationalen Berichte auf Kongressen und Konferenzen der KPSU wiederholten bis zum Überdruß die Themen der
"dritten Periode", während die Hitlersche Gefahr ignoriert wurde. Anscheinend hat die deutsche Frage nicht ein einziges Mal auf der Tagesordnung der Sitzungen des Zentralkomitees der KPSU gestanden.
4.2. Die große Wirtschaftskrise von 1929
Die große Wirtschaftskrise zwischen den beiden Weltkriegen ist fest dem Gedächtnis eingeprägt geblieben, deshalb braucht man nur an die Hauptaspekte zu erinnern. Die Zeit nach dem Kriege hatte unmittelbar nach seinem Ende einige kurze Krisen aufzuweisen, die mit der Wiederaufbauperiode zusammenhingen. Danach hatte sich die kapitalistische Wirtschaft
"stabilisiert", sie durchlief also eine relativ
"normale" Entwicklung der Produktion und des Handels. Es ist richtig, daß Großbritannien eine Dauerarbeitslosigkeit von über einer Million Betroffenen hatte, aber das war eine Ausnahme. In Deutschland sah man erst 1928 ein leichtes Anwachsen der Arbeitslosigkeit. In den Vereinigten Staaten betrug die Arbeitslosigkeit in den ersten Monaten von 1929 nur 0,9%, einer der niedrigsten Prozentsätze, die dieses Land je gehabt hatte.
Urplötzlich wurde die Welt in eine Katastrophe gestürzt.
- Die New-Yorker Börse brach am 29. Oktober zusammen.
- Die Produktion verlangsamte sich,
- der internationale Handel nahm ab,
- die Bankrotte,
- darunter sehr großer Bankinstitute, vervielfachten sich.
- Den Währungen wurde ein Schlag versetzt: Großbritannien löste im September 1931 das Pfund Sterling von der Goldwährung, die Vereinigten Staaten gaben ihn erst im April 1933, nachdem Roosevelt Präsident geworden war, auf.
- Der Niedergang der Industrieproduktion in allen Ländern zog eine erhebliche Arbeitslosigkeit nach sich,
- eine "industrielle Reservearmee" phantastischen Umfangs.
- Die meisten Arbeitslosen hatten keine Hoffnung mehr, wieder Arbeit zu finden;
- sogar die schulentlassene Jugend, von Volks- oder anderen Schulen, fand keine Beschäftigung.
- In den Vereinigten Staaten stieg die Zahl der Arbeitslosen
von 429.000 im Jahre 1929 auf 7 Millionen 1931 und auf fast 14 Millionen im März 1933, dem Zeitpunkt, in dem Roosevelt die Verwaltung des Landes übernahm.
In Großbritannien überstieg die Zahl der Arbeitslosen 2.700.000.
Auf dem europäischen Kontinent wurde Deutschland am härtesten getroffen.
Von einer Zahl von 2.900.000 im Jahre 1929 erreichte die Arbeitslosenziffer 1932 6 bis 8 Millionen.
Die Statistiken des ADGB (des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes) nannten für September 1932 folgende Zahlen: auf 100 Arbeiter gab es 44 Vollarbeitslose, 22 waren zeitweise, 32 voll beschäftigt. Beinahe die Hälfte des deutschen Proletariats stand außerhalb der Betriebe.
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- Die Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz behalten hatten, machten die Erfahrung, daß ihre Löhne viel schneller als die Preise der Konsumgüter fielen. In den Vereinigten Staaten verringerten sich die Nominallöhne um fast 40%, weitaus mehr als die Preise.
- Die Einnahmen der Landwirte, die damals, selbst in den Vereinigten Staaten, einen beträchtlichen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachten, nahmen dort, wo sie weiterhin ihren Boden bearbeiten konnten, um mindestens ein Viertel ab.
- Die Zahl der Kleinhändler, und ganz allgemein der ruinierten, bankrotten Mittelklassen — auch sie der Not und Verelendung ausgesetzt — war gewaltig.
Niemals hatte die kapitalistische Welt in ihrer Geschichte eine derartig tiefe und lange Krise durchgemacht.
- Weniger als zwölf Jahre nach den nicht vergessenen riesigen Menschenverlusten des Krieges brachte diese Krise fast in gleichem Maße, wie es der Krieg getan hatte, Elend, Hunger, Verzweiflung als Folge mit sich.
- Krieg und Krise spielten zusammen, um die gnadenloseste Verurteilung des Kapitalismus zu liefern.
- Indessen lag zwischen der historischen Verurteilung und der politischen Vollstreckung dieses Urteils ein gewisser Abstand.
- Die arbeitenden Massen wollten ihn überbrücken und hätte ihn überbrücken können, wenn ihnen ihre Führungen den Weg gezeigt hätten.
Die Sozialdemokratie war durch diese Krise völlig verwirrt.
- Sie hatte endgültig alles vergessen, was sie vor dem Kriege über die kapitalistische Wirtschaft geäußert hatte.
- Sie überlegte nur, wie sie helfen konnte, die Krise zu überwinden, so wie sie bei der Kriegsführung geholfen hatte.
- Sie suchte bei Fraktionen der Bourgeoisie Halt.
- In Großbritannien zog MacDonald sogar mit Sack und Pack ins Lager der Bourgeoisie ab, führte eine Spaltung in der Labour Party herbei und stellte sich an die Spitze einer Regierung der so genannten nationalen Einheit. Die Reihen der britischen Gewerkschaften wurden davon wenig berührt, aber die Labour Party brauchte immerhin einige Jahre, um die Folgen dieser Fahnenflucht zu überwinden.
- In Deutschland hängte sich die Sozialdemokratie, über den Aufstieg des Nazismus genau so erschrocken wie über die indessen geringen Fortschritte der KPD, an den Rockzipfel der bürgerlichen Parteien oder selbst eines Hindenburg als dem "kleineren Übel", unter dem Vorwande, das Schlimmste zu verhüten.
- Sie rechnete mit den Fähigkeiten des Parlamentarismus, den Faschismus gefügig zu machen.
- Damit vergaß oder ignorierte sie, daß die bürgerliche Demokratie das Produkt eines Kapitalismus in seiner Blütezeit war;
- in einer solchen Krise war sie zu einem Luxusartikel geworden, dessen sich der Kapitalismus entledigen mußte, um Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen.
- Die unvermeidliche politische Polarisierung brachte der revolutionären Partei — und dies war die kommunistische Partei — unabhängig von ihrer Politik Gewinne.
- Wie aber sahen diese Gewinne im Vergleich zu denen der Hitleranhänger aus, und vor allem, was machte sie aus ihnen? Darin lag das ganze Problem; es hing zwar offensichtlich nicht alles von der KI und den kommunistischen Parteien ab, aber doch ein großer Teil.
Und zuerst einmal, wie sahen ihre Analyse der Krise aus und welche Konse-
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quenzen zogen sie daraus?
4.3. Die Krisenanalyse
Das 10. Plenum hatte sich über die Wirtschaftslage ausgeschwiegen und Varga, der offizielle Ökonomist der KI, hatte sich vorsichtig gezeigt. Jedes Quartal lieferte er einen Bericht über die Weltwirtschaftslage, der in der
Internationalen Pressekorrespondenz veröffentlicht wurde und der stets Interesse erregte. Sehen wir uns diese Berichte einmal an. Vor dem Börsenkrach der Wall Street, in seinem das zweite Quartal 1929 betreffenden Bericht, schrieb er:
"Die gegenwärtige Hochkonjunktur wird im Sommer eine gewisse Abschwächung erfahren... Es ist aber wahrscheinlich, daß die Hochkonjunktur bis in den Herbst, vielleicht bis Ende des Jahres andauern wird... Es ist nach der alten Erfahrung wahrscheinlich, daß der sehr starken Konjunktur eine tiefe Krise folgen wird. Wann, läßt sich nicht genau bestimmen; sie wird aber kaum später als nach einem Jahre eintreffen."
(INPREKORR, Nr. 70, vom 8.8.1929, S. 1634)
Am 20. Oktober 1929 schrieb er in seinem Bericht für das 3. Quartal:
"Das allgemeine Bild der Weltwirtschaft zeigt konjunkturmäßig im letzten Vierteljahre wenig Veränderungen... Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß die Elemente des Aufschwungs, die wir im ersten Halbjahr konstatieren konnten, keine weitere Entwicklung erreicht haben, andererseits aber auch jene Krisenelemente, die wir aufzeigen konnten, sich bisher zu keiner akuten Krise entwickelt haben. Das Endergebnis ist ein Verharren auf der früher erreichten Basis mit der Wahrscheinlichkeit einer nahen Verschlechterung."
(INPREKORR, Nr. 107, vom 18.11.1929, S. 2537)
Diese Zeilen wurden etwa
eine Woche vor dem schlagartigen Auslösen der Krise geschrieben.
- Als guter Kenner der Wirtschaftsprobleme sah Varga durch verschiedene Anzeichen ihr relativ nahes Eintreten voraus, er drückte sich jedoch in bezug auf die Frist vorsichtig aus, was man ihm nicht anlasten kann.
- Die Krise brach für alle unerwartet aus, auch für die angesehensten bürgerlichen Ökonomisten, die über den Krieg die zyklischen Krisen der Vergangenheit vergessen hatten.
- Der Ausbruch der Krise ermöglichte es, manche ökonomische, politische und soziale Erscheinungen, die ihr vorangegangen waren, besser zu verstehen, so das Börsenfieber der Sommermonate 1929, ein oft zutreffendes Indiz für das Ende eines Booms.
- Seit ungefähr einem Jahre gab es Anzeichen für ein Erwachen der Arbeiterklasse, das man richtig einschätzen mußte.
- Die erdrückende Mehrheit der Kämpfe wurden auf streng ökonomischer Ebene geführt und verwandelten sich noch nicht, entgegen den Behauptungen des 10. Plenums, in politische Kämpfe.
- Soweit von einer Politisierung der Arbeiterklasse die Rede sein konnte, wirkte sie sich hauptsächlich zugunsten der sozialistischen Parteien aus (wie die Wahlen in Großbritannien und Deutschland bezeugten) und in einem geringeren Maße zugunsten der kommunistischen Parteien.
- Als jedoch die Krise ausgebrochen war, schrieb Varga in seinem
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Bericht über das 4. Quartal 1929:
"Es wäre aber unrichtig zu glauben, daß die ganze kapitalistische Weltwirtschaft gleichzeitig die gleiche Bewegung durchmachen... müßte..."
(INPREKORR, Nr. 12, vom 3.2.1930, S. 286)
Zu Ende des 1. Quartals wurde er deutlicher:
"Mit einer unerwarteten Geschwindigkeit sind in diesen letzten drei Monaten alle Länder der Welt in die Weltwirtschaftskrise hineingezogen worden... (Es trat) von neuem eine für die ganze Welt geltende gemeinsame Phase des Industriezyklus auf... Der Charakter der gegenwärtigen Krise (ist der) einer allgemeinen Krise des Kapitalismus..."
(Inprecor Nr. 49, vom 10. Juli 1930)
In dem Bericht über das 3. Quartal, nachdem er die Verschärfung der Krise unterstrichen hatte, ohne indessen eine Prognose zu stellen, fügte er hinzu:
"Die Analogien aus dem Gang der industriellen Zyklen aus der Vorkriegsperiode können auf die gegenwärtige Niedergangsperiode des Kapitalismus keinesfalls ohne weiteres angewendet werden..."
(INPREKORR, Nr. 94, vom 11.11.1930, S. 2301)
Nach dem 3. Quartal 1932 erwähnte er zum einen die Überlagerung und gegenseitige Verstärkung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und der zyklischen Krise, und wies daraufhin, daß der ökonomische Wiederaufstieg von einem sehr niedrigen Niveau aus stattfinden würde. Zu diesem Zeitpunkt war ihm die von Trotzki ganz am Anfang des Jahres 1930 geschriebene Broschüre
"Die ,Dritte Periode' der Irrtümer der Kommunistischen Internationale" nicht unbekannt, und er erinnerte sich daran, daß er auf dem III. Kongreß mit ihm zusammengearbeitet hatte, um den Ultralinken der damaligen Zeit — die die proletarischen Kämpfe
"elektrisieren" wollten — ökonomische Probleme zu erklären. In seiner Broschüre hatte Trotzki die Verknüpfung hervorgehoben, die sich in einer solchen Krise
- zwischen der allgemeinen Krise des Niedergangs des Kapitalismus, der durch den Weltkrieg 1914-1918 eröffnet wurde, herstellt,
- und einer zyklischen Krise, die ein unabwendbares Element des Funktionierens der kapitalistischen Wirtschaft bildet.
- Die Berichte Vargas waren mit der Anmerkung versehen, sie stellten allein seine persönliche Meinung dar, und die Führung der KI würde durch sie nicht gebunden.
- Diese vermied peinlich, auf das Gebiet der politischen Orientierung vorzudringen, es sei denn, sie wiederholte einige Phrasen aus den offiziellen Thesen.
- Nicht also bestimmte die Analyse mehr die zu befolgende Politik,
- sondern es war umgekehrt die von der Führung beschlossene Politik,
- die die ökonomische Analyse diktierte.
- Aus den immer schärferen Widersprüchen des Kapitalismus mußte es erst zu revolutio-
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nären Ausbrüchen kommen, damit sie automatisch die Politik der "dritten Periode" bestimmen sollten.
4.4. Der Aufstieg des Nationalsozialismus
Eine ernsthafte Analyse der durch die Wirtschaftskrise geschaffenen Lage hätte sicherlich die kommunistischen Parteien dazu geführt, eine Wendung in ihrer Politik vorzunehmen, die nicht automatisch, mechanisch aus dem Ausbruch der Krise gefolgert werden konnte. Man hätte ebenfalls die Situation der kommunistischen Parteien und ihre Beziehungen zu den Massen und den anderen Arbeiterparteien in Betracht ziehen müssen. Man hätte deshalb nicht eine starre Linie festlegen dürfen, sondern eine Orientierung geben müssen, die die vergangenen Fehler behoben und die Bindungen an die Arbeiterklasse wieder gefestigt hätten; und dann hätte man entsprechend den durch die Korrekturen erzielten Resultaten vorgehen müssen. Genau darauf hatte Trotzki unmittelbar nach den Wahlen hingewiesen, die zum ersten Mal die faschistische Gefahr in Deutschland völlig klar zutage treten ließ:
"... Es gibt keine abstrakte, von vornherein festgelegte Taktik für eine ´zweite' und eine ,dritte' Periode.
- Gewiß, man kann ohne bewaffneten Aufstand nicht zum Sieg und zur Eroberung der Macht kommen.
- Aber wie kommt man zum bewaffneten Aufstand?
- Mit welchen Methoden, in welchem Tempo soll man die Massen mobilisieren?
- Das hängt nicht nur von der allgemeinen objektiven Lage ab,
- sondern vor allen Dingen von dem Zustand, in dem sich das Proletariat beim Eintritt der sozialen Krise befindet,
- von den Verhältnissen zwischen Partei und Klasse,
- zwischen dem Proletariat und dem Kleinbürgertum usw.
- Der Zustand des Proletariats am Vorabend der ,dritten' Periode hängt seinerseits von der Taktik ab, die die Partei in der vorhergehenden Periode eingeschlagen hat.
- Eine normale und natürliche Veränderung der Taktik, wie sie der gegenwärtigen Veränderung der Lage in Deutschland entspräche, müßte in einer Beschleunigung des Tempos, einer Verschärfung der Kampfparolen und Methoden bestehen.
-
Aber diese taktische Wendung wäre nur dann normal und natürlich gewesen, wenn das politische Tempo und die Kampfparolen von gestern die Bedingungen der vorhergehenden Periode entsprochen hätten.
- Davon aber kann keine Rede sein!
- Der scharfe Widerspruch zwischen der ultralinken Politik und der stabilisierten Lage war das Motiv der taktischen Wendung.
Im Augenblick, als die Veränderung der objektiven Lage parallel zu der ungünstigen allgemeinen Umgruppierung der politischen Kräfte dem Kommunismus einen großen Stimmengewinn brachte, war dann die Partei strategisch und taktisch mehr desorientiert, verwirrt und unklar als je zuvor."
(26. September 1930, Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, in Schriften über Deutschland, Bd. I, Frankfurt (M) 1971, S. 86)
Weit davon entfernt, eine ernsthafte Korrektur ihrer Orientierung und des internen Regimes der Sektionen vorzunehmen, kapselte sich die KI noch mehr in die
"dritte Periode" ein. Die katastrophalsten Ergebnisse stellten sich in Deutschland ein und wirkten sich auf die ganze Welt aus. Rückblickend erscheint der Gang der Ereignisse in Deutschland wie vom Schicksal im Ablauf
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einer antiken Tragödie unentrinnbar diktiert; aber kein geheimnisvolles Verhängnis hatte diese Verkettung unglückseliger Umstände herbeigerufen.
Die Partei Hitlers — die NSDAP - errang ihre ersten Erfolge bei den preußischen Gemeindewahlen im Dezember 1929, kurz nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise.
Im März 1930 machte die unter sozialdemokratischer Führung stehende Regierung Müller einer vom Zentrumsführer Brüning geleiteten Regierung Platz.
Der Durchbruch der Hitlerpartei erfolgte bei den Wahlen zum Reichstag vom 14. September 1930 - mit folgenden Ergebnissen:
KPD 4.590.000 Stimmen (+ 1,3 Millionen gegenüber Mai 1928)
SPD 8.640.000 Stimmen (- 0,6 Millionen gegenüber Mai 1928)
NSDAP 6.400.000 Stimmen (+ 5,6 Millionen gegenüber Mai 1928)
Am 9. August fand in Preußen ein Volksentscheid statt, in dem die KPD und die NSDAP gemeinsam gegen die vom Sozialdemokraten Braun geleitete Regierung stimmten.
Einen weiteren Schritt vorwärts machte Hitler bei den Präsidentschaftswahlen, für die der erste Wahlgang am 13. März 1932 und der zweite am 10. April stattfand. Hier folgen die Ergebnisse (in Millionen Stimmen):
1.Wahlgang 2.Wahlgang
KPD 5,0 3,7
Hitler 11,3 13,4
Hindenburg 18,6 19,3
Am 31. Mai 1932 wurde Brüning als Reichskanzler durch von Papen — einen Konservativen, Monarchisten, Hindenburg persönlich nahe stehend - ersetzt.
Am 20. Juli wurde die preußische Regierung des Sozialdemokraten Severing durch einen Mini-Staatsstreich von Papens abgesetzt.
Neue Reichstagswahlen fanden am 6. November 1932 statt — mit folgenden Ergebnissen:
KPD - 5.980.000 Stimmen
SPD - 7.250.000 Stimmen
NSDAP - 11.750 000 Stimmen
(nochmals als herunterladbares Bild für eure Tabellen/Graphensammlung - mxks 2007)
Am 2. Dezember wurde von Papen durch den General Schleicher, den wichtigsten Führer der Reichswehr, ersetzt, die versuchte, ein letztes Hindernis gegen die Ernennung Hitlers zum Kanzler zu errichten, denn die Junker sahen in ihm nur einen Demagogen, einen Emporkömmling, und waren nicht davon überzeugt, daß die Arbeiterklasse seinen Aufstieg zur Macht akzeptieren würde - sie würde, meinten sie, den Bürgerkrieg hervorrufen.
Am 30. Januar 1933.
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jedoch berief Hindenburg Hitler auf den Posten des Reichskanzlers.
Am 6. März, nach dem Reichstagsbrand, ergaben die Wahlen immer noch die folgenden Resultate:
KPD 4.800.000 Stimmen
SPD 7.100.000 Stimmen
NSDAP 17.200.000 Stimmen
Aber sie gaben eine überholte politische Situation wieder, ohne daß Hoffnung bestand, sie würde auf lange Zeit hinaus wiederkehren.
4.5. Die Politik der KI und der KPD zwischen 1930 und 1933
Es existiert eine Fülle von Texten, die die ganze Schädlichkeit der von der KI und der KPD in Deutschland eingeschlagene Politik beweisen, ohne großer Kommentare zu bedürfen. Unseres Wissens gibt es im übrigen heute niemanden in den kommunistischen Parteien, der eine Rechtfertigung dieser Politik versuchen würde; im Gegenteil haben sich manche der Überlebenden bemüht, einige Zeilen wieder zu finden, die sie einst geschrieben hatten, um sagen zu können, sie hätten sich von ihr geschickt distanziert, soweit es die in der KI herrschenden Zustände ihnen erlaubt hätten. Aber diese Rechtfertigungsversuche sind erst nach dem 20. Kongreß aufgetaucht, als Stalin einige Jahre tot war. Keiner der Führer der kommunistischen Parteien während der
"dritten Periode" kann sich auch nur im geringsten aus der Verantwortung für die größte Niederlage, die die Arbeiterbewegung je erlitten hat, herauswinden.
Die Versuche, sich dieser Verantwortung zu entziehen, sind nicht von einer Erklärung dafür begleitet gewesen, warum Stalin diese Politik einschlug. Man kann sie nicht einer gewissen unerklärlichen Geisteskrankheit Stalins zuschreiben, wenn man nicht auch das System Breschnews übernehmen will, für den jeder, der nicht in der Sowjetunion das gleiche wie er denkt, in eine psychiatrische Klinik gehört. Um Stalin in dieser Frage zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß Großbritannien damals der Hauptfeind war, daß er in den Sozialdemokraten Leute in dessen Diensten sah, daß ihm die Gegenwart einer deutschen sozialdemokratischen Regierung Angst einjagte, und daß er ebenfalls meinte, eine Hitler-Regierung wäre eine schwache, wenig stabile, also für die Sowjetunion wenig gefährliche Regierung. Diese Stellungnahme hatte er bereits zum Teil 1923 abgegeben: sollen die Herren Faschisten zuerst angreifen... .
In weiten Kreisen wurde damals der Nationalsozialismus nicht durchschaut. Wir beschränken uns auf nur wenige Zitate, um die von KI und KPD eingeschlagene Politik näher zu beleuchten. Man sollte vielleicht anmerken, daß
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Stalin während dieser ganzen Jahre nicht ein einziges Wort über die Lage in Deutschland und den Aufstieg des Faschismus geäußert hat. Nicht ein einziges Wort! Im Präsidium der KI hatte er im Dezember 1929 zum letzten Mal ein Deutschland betreffendes Problem angesprochen, die Folgen nämlich der Affäre Wittorf in der KPD. Von dieser Periode an schränkte Stalin aufs äußerste die Zahl seiner Reden in der Öffentlichkeit ein und begnügte sich oft mit orakelhaften Andeutungen. Er schwieg sich über Deutschland aus, obwohl er damals keinen eigentlichen Regierungsposten im Sowjetstaate bekleidete. Er konnte als Generalsekretär der KPSU und Mitglied des Exekutivkomitees der KI sprechen. Ehe wir es vergessen, wir haben doch noch einige Zeilen von ihm über Deutschland gefunden, in einem Interview versteckt, das er am 31. Dezember 1931 dem deutschen Schriftsteller Emil Ludwig gewährte:
"Achtet man etwa jetzt in Deutschland die Gesetze? Brechen etwa dieselben Nationalsozialisten, die, wie es scheinen sollte, mehr als alle anderen auf der Wacht der bürgerlichen Gesetzlichkeit stehen, nicht diese Gesetze, zerstören sie nicht Arbeiterclubs und töten sie nicht ungestraft Arbeiter?"
(Stalin im Interview mit Emil Ludwig, Dezember 1931)
Eine merkwürdige Analyse der Nationalsozialisten. Wenn indessen Stalin während dieser Jahre über Deutschland stumm geblieben ist, muß man ihm doch zuerst zu Worte kommen lassen, denn ein Text von ihm aus dem Jahre 1924 legte die Grundlage für eine Politik, die angewandt wurde und auf die sich zu wiederholten Malen alle ihre Verteidiger in Artikeln, Reden usw. beriefen:
"Der Faschismus ist die Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die Kampf Organisation der Bourgeoisie ohne aktive Unterstützung der Sozialdemokratie ausschlaggebende Erfolge in den Kämpfen oder in der Regierung des Landes zu erzielen vermag... Ebenso wenig Grund besteht zu der Annahme, daß die Sozialdemokratie ausschlaggebende Erfolge in den Kämpfen oder in der Regierung des Landes zu erzielen vermag, ohne die aktive Unterstützung der Kampforganisation der Bourgeoisie. Diese Organisationen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander. Es sind nicht Antipoden, sondern Zwillinge. Der Faschismus ist ein formloser Block dieser beiden Organisationen..."
(Stalin, Zitiert nach der Internationale, Februar 1932, S. 68)
Molotow, Manuilski, Pjatnitzki, Thälmann, Remmele, Neumann, Gottwald, Thorez, Ercoli und viele andere haben im Laufe dieser drei bis vier Jahre diese Zeilen Stalins wörtlich zitiert und sie haben sie auch sehr oft erläutert. Keiner von ihnen hätte das getan, wenn er sich nicht sicher gefühlt hätte, von Stalin Beistand gegenüber jedem zu erhalten, der gewagt hätte, an der Richtigkeit dieses Gedankens zu zweifeln. Im Hintergrund der eingeschlagenen Politik stand bei den kommunistischen — und ebenso, wir werden es sehen, bei den
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sozialdemokratischen — Führern die Tatsache, daß sie absolut nicht verstanden, was der Faschismus wirklich war. Die einen wie die anderen erblickten in ihm eine Form der Reaktion, die sich ein wenig, aber nicht zu sehr von den diversen Formen der Reaktion unterschied, die bis dahin in der kapitalistischen Gesellschaft vorgekommen waren. In der bürokratischen Nacht waren alle Katzen grau. Deshalb war für die KPD-Führung zuerst Brüning, dann von Papen der Faschismus gewesen:
"Die nach dem 20. Juli (1932) in Deutschland errichtete faschistische Diktatur... Die faschistische Papen-Regierung..."
(Die Kommunistische Internationale, 15. Dezember 1932, Heft 17/18)
"In allen Broschüren und Aufsätzen, wo er von Faschisten und dem Faschismus in Deutschland spricht, bezeichnet Trotzki damit nur Hitler und den Nationalsozialismus. Für ihn ist nur Hitler und der Nationalsozialismus die Faschistische Bewegung und die einzige faschistische Gefahr in Deutschland... Diese Definition ist aber grundfalsch und aus dem Arsenal der Sozialdemokratischen Partei entnommen..."
(Münzenberg, Roter Aufbau, 15. Februar 1932, S. 151)
Der Faschismus war also eine Form der Reaktion, die zur Regierung gelangen, in der Folgezeit aber durch Wahlen und parlamentarische Mittel aus ihr wieder entfernt werden konnte. In einem nicht unbeträchtlichen Maße bestand die Meinung, die Regierungsübernahme der Nationalsozialisten wäre der Anfang vom Ende, weil sie die demagogischen Versprechungen ihres Programms nicht erfüllen könnten. In seinem Bericht auf dem 11. Plenum erklärte Thälmann:
"Nach dem 14. September (1930), nach dem sensationellen Erfolg der Nationalsozialisten, erwarteten ihre Anhänger in ganz Deutschland Großes von ihnen. Wir ließen uns damals von den Panikstimmungen, die zum Teil im werktätigen Volk und jedenfalls unter den Anhängern der Sozialdemokratischen Partei vorhanden waren, nicht beirren. Daß sogar in unseren eigenen Reihen einige Genossen die große Gefahr dieser Entwicklung des Faschismus nicht nur signalisierten, sondern diese Gefahr sogar überschätzten, wissen die meisten Genossen. Wir aber stellten nüchtern und ernst fest, daß der 14. September gewissermaßen Hitlers bester Tag gewesen sei, dem keine besseren, aber schlechtere folgen werden. Unsere Charakteristik, die wir über die Entwicklung dieser Partei gegeben haben, ist bereits eingetreten und bestätigt worden... Heute haben die Faschisten nichts mehr zu lachen..."
(INPREKORR, Nr. 52, 1931, S. 1210 - 1211)
Am 14. Oktober 1931, in seiner Reichstagsrede, äußerte Remmele den gleichen Gedanken:
"Wenn die (Faschisten) erst einmal an der Macht sind, wird die Einheitsfront des Proletariats Zustandekommen und wird alles wegfegen... Wir sind die Sieger von morgen, und die Frage: wer wird wen schlagen? ist bereits entschieden. Die Frage lautet nur noch: zu welchem Zeitpunkt werden wir die Bourgeoisie vernichten?... Die faschistischen Herrschaften schrecken uns nicht. Sie werden rascher abwirtschaften als jede andere Regierung..."
(Remmele)
Die KPD hielt es gleichfalls für möglich, mit der faschistischen Demagogie in
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Konkurrenz zu treten: sie nahm den Teil jener Demagogie auf, der sich an die nationalistischen und chauvinistischen Empfindungen wandte. Daher stellte die KPD für die Wahlen vom 14. September ein
"Programm zur nationalen und sozialen Befreiung" auf, in dem man lesen konnte:
"Wir Kommunisten bringen den Werktätigen das Programm ihrer sozialen Befreiung vom Joche des Kapitals. Wir werden die Begeisterung der Massen zum Siege über die Bourgeoisie, zur sozialen und zugleich zur nationalen Befreiung des werktätigen deutschen Volkes entfachen... Deshalb rufen wir alle Werktätigen, die sich noch im Banne der abgefeilten faschistischen Volksbetrüger befinden, auf, entschlossen und endgültig mit dem Nationalsozialismus zu brechen, sich in das Heer des proletarischen Klassenkampfes einzureihen. Daher fordern wir Kommunisten alle Arbeiter, die noch mit der verräterischen Sozialdemokratie gehen, mit dieser Partei der Koalitionspolitik, des Versailler Friedens, des Young-Plans, der Knechtung der werktätigen Massen Deutschlands zu brechen, die revolutionäre Millionenfront mit den Kommunisten zum Kampf für die proletarische Diktatur zu bilden..."
(Reichstags-Handbuch, IV. Wahlperiode 1928, S. 164 - 171)
Diese Äußerungen erweckten den Anschein eines Zweifrontenkrieges der kommunistischen Partei — gegen den Faschismus und gegen die Sozialdemokratie. In Wirklichkeit sahen die Dinge anders aus. Unter bestimmten Umständen führte sie
de facto einen gemeinsamen Kampf mit den Faschisten gegen die Sozialdemokratie. Die Bildung der Regierung Brüning hatte die Sozialdemokratie ihre Positionen in der Zentralregierung Deutschlands verlieren lassen. Von da an wurde ihre wichtigste Position im Staate durch die Preußenregierung gebildet, die in den ersten Monaten des Jahres 1931 noch von Braun geleitet wurde. Die Nationalsozialisten verlangten einen Volksentscheid, der die Auflösung des preußischen Landtags und als Folge den Sturz der sozialdemokratischen Regierung dieses Landes bewirkt hätte. Mehrere Monate lang wandte sich die KPD in der Öffentlichkeit gegen dieses Referendum. Ungefähr einen Monat aber vor der Abstimmung änderte sie ihre Position und beschloß, ganz wie die Nationalsozialisten, für die Auflösung des preußischen Landtags zu stimmen. Es gab keine praktische Möglichkeit, die kommunistischen von den faschistischen Stimmen zu unterscheiden; die Faschisten hätten daraus den Vorteil gezogen, denn sie hatten die Initiative ergriffen. Die KPD beschloß ganz einfach, die bisher als
"braunen Volksentscheid" bekannte Abstimmung in einen
"roten Volksentscheid" umzutaufen. Die Begründung für den Positionswechsel war recht dürftig:
"Breite Massen noch nicht klassenbewußter Arbeiter, die Kleinbauern, die ärmsten Schichten des städtischen Kleinbürgertums und der Angestellten, von den faschistischen Parteien zur Abstimmung aufgerufen, lernten dank der Einmischung der Kommunisten während der Kampagne für den Volksentscheid die Verteilung der Klassenkräfte verstehen und die Demagogie der Nationalsozialisten von den revolutionären kommunistischen Losungen unterscheiden..."
(Die Kommunistische Internationale, 23. Juli 1931, Heft 27)
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Erst die Intervention der KI hatte die KPD bewogen, ihre Stellungnahme zum Volksentscheid zu revidieren, wie Pjatnitzki es offen auf dem 12. Plenum aussprach, wobei er das Wort
"gemeinsam" dort anwandte, wo es sich allem Anschein nach um einen Befehl handelte:
"Ihr wißt..., daß die KPD sich gegen die Teilnahme am Volksbegehren zur Auflösung des Preußischen Landtags ausgesprochen hatte. Einige Parteizeitungen veröffentlichten Leitartikel gegen die Teilnahme an diesem Volksbegehren. Nachdem jedoch das ZK gemeinsam mit der Komintern zu der Schlußfolgerung gelangt war, daß man an dem Volksbegehren aktiv teilnehmen muß, haben die deutschen Genossen innerhalb einiger Tage die gesamte Partei auf die Beine gebracht... Das beweist, daß die KPD manövrierfähig ist..."
(Die Kommunistische Internationale, 1932, S. 1176)
Das theoretische und politische Gepäck der Sozialdemokratie in Hinsicht auf den Faschismus war ebenso armselig wie das der KPD. Sie setzte ihre ganze Hoffnung auf all die traditionellen bürgerlichen Kräfte, stimmte für Hindenburg unter dem Vorwand, Hitlers Wahl damit zu verhindern. Als die Hitler-Partei bei den Parlamentswahlen vom November 1932 einen Stimmenverlust gegenüber den Reichspräsidentenwahlen, die einige Monate zuvor stattgefunden hatten, verzeichnete, glaubte sie — genau wie das Zentralkomitee der KPD, das erklärte,
"die Nationalsozialistische Partei hat die größte politische Niederlage erlitten" — , der faschistische Aufschwung sei gebremst und es begänne seine Ebbe. Diese Illusion wurde auch stark von der internationalen Sozialdemokratie geteilt. Leon Blum schrieb:
"Hitler ist von nun an von der Macht ausgeschlossen; er ist sogar, könnte ich sagen, von der Hoffnung auf die Macht ausgeschlossen."
(Le Populaire, 8. November 1932)
Weniger als drei Monate, nachdem diese Zeilen geschrieben wurden, befand sich Hitler an der Macht.
- Die Führungen der großen Arbeiterparteien haben selten ihre politische Blindheit derart unter Beweis gestellt wie gegenüber dem deutschen Faschismus während seines Aufstiegs zur Macht.
- Das mangelnde Verständnis gegenüber dem Nationalsozialismus äußerte sich auch hinsichtlich seiner Außenpolitik.
- Offen gestanden täuschte sich die Weltbourgeoisie nicht, wenn sie in ihm den Streiter gegen die Sowjetunion erblickte, ihn gern sah: er würde Deutschland und die Welt vom Bolschewismus befreien; aber sie täuschte sich über den Preis, den er als Bezahlung für diese Arbeit verlangen würde.
- Die Sowjetführung erblickte im Nationalsozialismus nur ein schwaches, labiles Regime, von sehr begrenzter Dauer;
- sie maß den unzählige Male wiederholten Warnungen Trotzkis während des Aufschwungs des Nationalsozialismus keine Bedeutung bei: Hitler, so sagte er, würde ein "Ober-Wrangel" werden,
- Hitler an der Macht würde den Krieg gegen die Sowjetunion bedeuten.
- Dies zu behaupten wäre — den Stalinisten zufolge - so gut wie den Krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten.
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4.6. Vertreibt die ´Sozialfaschisten´!
- Sich über das Wesen des Feindes zu täuschen, war bereits außerordentlich bedenklich;
- noch schlimmer jedoch war unter diesen Umständen die Politik gegenüber der Sozialdemokratie.
- Deren Haltung seit 1914 war verwerflich und rechtfertigte die Schaffung der KI.
- Es mußte trotzdem klar sein, daß die Sozialdemokratie — selbst wenn sie sich dessen nicht wirklich bewußt war — alles durch den Sieg des Faschismus zu verlieren hatte;
- infolgedessen mußte man ihr gegenüber eine Politik führen, die darauf abzielte, mit ihr die Einheitsfront der ganzen Arbeiterklasse zu realisieren.
Aus den Texten Trotzkis, die die Wesenzüge des Faschismus herausstellten, aus denen zwingend eine Einheitsfrontpolitik der Kommunistischen Partei mit der Sozialdemokratischen Partei und den reformistischen Gewerkschaften hervorgingen, bringen wir hier nur ein kurzes Zitat:
"
- Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft.
- Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde,
- sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.
- Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend.
- Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern,
- alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören
- und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten.
- Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei.
"
(Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, op. cit, Bd. I, S. 182)
Aber die Politik der KI und der KPD trachtete danach, den
"Sozialfaschisten" den
"Hauptstoß" zu versetzen. Da die Propagandisten der KPD in diesem Punkte auf wenig Verständnis stießen, häuften sie Behauptungen über Behauptungen, um sich zu rechtfertigen. Ein Zitat:
"Und doch gibt es solche Stimmungen, die vor den nationalsozialistischen Bäumen den sozialdemokratischen Wald nicht sehen wollten... Darin drückten sich unzweifelhaft Merkmale eines Abweichens von der politischen Linie aus, die uns verpflichtet, den Hauptstoß gegen die SPD zu richten... Die Faschisten können überhaupt nur geschlagen werden, wenn man die SPD (besiegt)..."
(Thälmann, Die Internationale, November-Dezember 1931, S. 490)
Es durfte keinesfalls von der Einheitsfront zwischen KPD- und SPD-Organisationen gesprochen werden:
"Je stärker wir die Frage der Einheitsfrontpolitik von unten stellen, desto leichter werden wir die vorhandenen rechten Fehler in der Verschiebung der Einheitsfrontpolitik nach oben ausmerzen, die manchmal... in dem Glauben gemacht werden, als könnte das unsere Position in den Massen stärken... Trotzki will allen Ernstes ein gemeinsames Zusammengehen der Kommunisten mit den Mördern von Liebknecht und Rosa, ferner mit Herrn Zörgiebel und mit jenen Polizeipräsidenten, die das Papen-
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regime zur Unterdrückung des Proletariats im Amte läßt. Trotzki versuchte mehrfach in seinen Schriften, die Arbeiterklasse nach der Richtung hin zu irritieren, daß er Spitzenverhandlungen zwischen der KPD und der SPD forderte…"
(Thälmann, Schlusswort auf dem 12. Plenum, Kommunistische Internationale, Heft 17/18, 15. Dezember 1932, S. 1307 und 1329)
Münzenberg, der ehemalige Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale, der sehr hohe Funktionen bei der Agitations- und Propagandaarbeit der KI bekleidete, drückte sich, wenn möglich, noch unumwundener aus:
"Entweder wird die Kommunistische Partei mit der Sozialdemokratischen Partei zusammen einen Block bilden oder die deutsche Arbeiterklasse ist auf 10-20 Jahre verloren. Das ist die Theorie eines völlig verlorenen und konterrevolutionären Faschisten. Diese Theorie ist die schlimmste, gefährlichste und verbrecherischste Theorie, die Trotzki in den letzten Jahren seiner konterrevolutionären Propaganda aufgestellt hat..."
(Roter Aufbau, 15. Februar 1932)
Die Erklärungen über den
"Hauptstoß" betrafen nicht nur die Spitzen, sondern auch die Basismitglieder der SPD und der Gewerkschaften, was dazu führen mußte, tragische Zwietracht in der Arbeiterklasse zu stiften. Es kam selbst zu Schlägereien. Der bürokratische Apparat der KPD, der außerhalb jeder Kontrolle der Arbeiter stand, hatte sich sehr bald derartig abgeschirmt, daß die KPD-Führer in einem gewissen Moment meinten, man müsse dem, was sie als
"Auswüchse" ansahen, ein Ende bereiten. In einer Rede äußerte sich Remmele folgendermaßen:
"´Verjagt die Sozialfaschisten aus den Funktionen in Betrieb und Gewerkschaften'... Dem nächsten... ist das nicht radikal genug, und er schreibt: ,Verjagt die kleinen Zörgiebels aus Betrieb und Gewerkschaft!'... Aber auch die vollendete Dummheit genügt noch nicht. So finden wir, nachdem man sich in der Parteipresse so ausgetobt hat, in der Jungen Garde endlich die Losung: ,,Vertreibt die Sozialfaschisten aus den Betrieben,, aus den Arbeitsnachweisen, aus den Berufsschulen!' Es ist nicht zu ersehen, warum man bei den Berufsschulen aufhören soll, und so liest man endlich in der Trommel: Schlagt die kleinsten Zörgiebel aus den Schulen und Spielplätzen!'... In einem Artikel ´Betriebsrätewahlen'... heißt es: Man muß beweisen, daß die sozialfaschistischen Betriebsräte und Funktionäre im Betrieb die Statthalter der blutbefleckten Noske-Severing-Zörgiebel-Politik sind... Diese Tatsachen werden beweisen, daß die sozialfaschistischen Betriebsräte nicht nur in gewerkschaftlicher Hinsicht Verräter sind, sondern daß sie ebensolche Bluthunde sind wie die Noske, Severing und Zörgiebel.."
(Remmele, Die Internationale, 1/15 März 1930, S. 151 - 152)
Bewies man, daß sie Verräter, Bluthunde waren, die man aus ihren Gewerkschaftsfunktionen vertreiben müßte - dann bewegte man sich auf der Linie; wollte man sie jedoch aus dem Unternehmen verjagen, dann übertrieb man! Diese Nuance machte sich gedruckt vielleicht ganz gut, in den Betrieben aber konnte man sie nur schwer begreifen. Das
"Schlagt die kleinen Zörgiebels in den Schulen" blieb nicht immer eine gedruckte Parole und trug dazu bei, einen schwierig zu überbrückenden Abgrund zwischen kommunistischen und sozial-
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demokratischen Arbeitern zu schaffen. Die Politik des
"Hauptstoßes" gegen den
"Sozialfaschismus" fand ihre Fortsetzung in den Gewerkschaften, die sich in Deutschland von oben bis unten unter Führung von Mitgliedern der Sozialdemokratie befanden. Die Politik der
"dritten Periode" führte zur Gründung von
"roten Gewerkschaften" in dem Augenblick, wo die von der Arbeitslosigkeit getroffene Arbeiterklasse enorme Schwierigkeiten hatte, ökonomische Kämpfe zu führen. Im Januar 1931 nahm das Zentralkomitee der KPD eine Resolution an, die über die Orientierung der Gewerkschaftsarbeit der Parteimitglieder folgendes erklärte:
"Der Weg der Herausbildung selbständiger Gewerkschaften als Massenorganisationen, die mit der Gründung des Einheitsverbandes der Berliner Metallarbeiter und des Einheitsverbandes der Bergarbeiter Deutschlands eingeschlagen wurde, muß unter genauer Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse mit unbeugsamer Konsequenz weiter beschritten werden... (Es) eröffnen sich neue riesenhafte Entwicklungsmöglichkeiten für die Stärkung der revolutionären Gewerkschaftsbewegung, die als führende Kraft in den bevorstehenden Wirtschaftskämpfen einen neuen mächtigen Zustrom sowohl aus den Reihen der organisierten als der unorganisierten Arbeitermassen erhalten wird..."
(Die wichtigsten Beschlüsse der KI und der KPD nach dem VI. Weltkongreß im Zitat, Hrsg. von der KPD, Berlin 1932, S. 31/32)
Man solle die
"konkreten Verhältnisse" in Betracht ziehen, bevor man neue Gewerkschaften gründete: was besagte das, wenn man vor sich als Betriebsvertreter einen
"Sozialfaschisten", einen
"Bluthund" hatte? Zu der politischen Spaltung trat bald auch im Großen und Ganzen eine ökonomische Spaltung, die für die KPD ebenfalls unheilvolle Konsequenzen hatte. Bei seiner Rede auf dem 11. Plenum zeigte sich Pjatnitzki, der Leiter der Organisationsabteilung der KI, mit Zahlen besonders freigebig und vermittelte das folgende Bild von den Prozentsätzen der KPD-Mitglieder, die in Fabriken arbeiteten:
1928 - 62,3
1929 - 51,6
1930 - 32,2
1931 - 20,2
Mit anderen Worten war die große Mehrheit der beschäftigen Arbeiter Sozialdemokraten; die große Mehrheit der kommunistischen Arbeiter war arbeitslos. Die Einheitsfront zwischen beschäftigten und unbeschäftigten Arbeitern war auf ökonomischer Ebene außerordentlich schwer zu realisieren, während der Kampf gegen den Faschismus sie zusammenbringen konnte, jedoch nur, wenn man die Organisationen, denen sie folgten, berücksichtigte. Man muß noch hinzufügen, daß sich die KPD-Führung nicht damit begnügte, zur
"Einheitsfront von unten" aufzurufen; sie setzte dabei oft noch die Anmerkung
"unter der Führung der KPD" hinzu. Die Beispiele, die zeigten, wie ihrer Auffassung nach die Anwendung der Einheitsfront auszusehen hatte, bestanden in einer Einheitsfront mit
"sozialdemokratischen" Arbeitern, die bereits die SPD verlassen hatten.
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4.7. Ein Einheitsfront-Ersatz
Die deutsche Arbeiterklasse war über den Vormarsch Hitlers sehr beunruhigt. Die Wendungen von KPD-Führern, die wir zitiert haben:
"einige Genossen überschätzen diese Gefahr",
"jene, die nicht den Wald sehen wollen",
"die rechten Fehler, die die Einheitsfront nach oben verlagern" — alle diese Wendungen zeugen indirekt für den Wunsch — der in breiten Schichten vorhanden war — nach einer Einheitsfront der beiden Parteien. Auch in der Sozialdemokratie war dieser Wunsch stark, und es hatte sich sogar ein linker Flügel gebildet, der eine kämpferische Politik gegen den Faschismus wollte. 1931 brach diese Tendenz mit der SPD und gründete die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), aber diese Partei wurde genau so mit Beleidigungen überhäuft, weil auch sie für die Einheitsfront zwischen Organisationen eintrat. Das Sehnen nach einer Einheitsfront war stark genug, um auf beiden Seiten, in der Führung der KPD wie auch der SPD, überraschende politische Eigenwilligkeiten hervorzurufen, die diesem Sehnen entsprachen. Im November 1931 machte der SPD-Führer Breitscheid während einer Rede der KPD den Vorschlag, gemeinsame Aktionen mit seiner Partei durchzuführen. Die
Rote Fahne wies ihn wütend ab:
"Nicht das mindeste Vertrauen in die Erklärungen Breitscheids... Die Einheitsfront wird nicht von oben, sondern von unten geschmiedet werden." (17. November). Am 20. Juli 1932, nach dem Staatsstreich von Papens gegen die sozialdemokratische Regierung Preußens, erklärte die KPD öffentlich, sie
"stelle der SPD, dem ADGB und dem Afabund die Frage, ob sie bereit seien, gemeinsam mit der KPD den Generalstreik für die proletarischen Forderungen auszurufen". Jetzt stellte sich die sozialdemokratische Führung ihrerseits taub. Diese unerwarteten Vorschläge, die weniger als Scheinmanöver als aus Verwirrung angesichts plötzlicher Verschlechterungen der Lage gemacht wurden, waren bei zwei Organisationen, die beide der Einheitsfront politisch feindlich gegenüberstanden, vergebens und trugen nicht dazu bei, den Arbeitern Auftrieb zu geben.
Außerhalb Deutschlands rief die Hitler-Gefahr ebenfalls Unruhe hervor; der Gedanke an eine Einheitsfront reifte bei den Arbeitern und auch bei den Schichten der Kleinbourgeoisie, die sich an ihrer Peripherie befinden (vor allem bei den Intellektuellen). Die Politik des
"Sozialfaschismus" kam schlecht an. Die Schriften Trotzkis über die Faschismusfrage beeinflußten eine Zuhörerschaft, die über die an den Problemen der Sowjetunion Interessierten hinausging. Hierauf griff die KI-Führung — tatsächlich der Kreml — ohne sich in den Vordergrund zu stellen, zu einer List. Zu diesem Versuch hatte es bereits Präzidenzfälle gegeben. Im Februar 1927, im Kielwasser der chinesischen Revolution, hatte sie eine
"Liga gegen den Imperialismus und für die nationale Unabhängigkeit" gegründet, die das Abhalten einiger öffentlicher Versammlungen — als Kongresse bezeichnet — bewerkstelligten, die jedoch ohne Wirkung blieben.
Dieses Mal organisierte sie von neuem durch Mittelspersonen
"Kongresse". Die
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Initiative war von Romain Rolland und Henri Barbusse ergriffen worden, ihr Appell fand bei Einzelpersonen und Organisationen aller Art ein lebhaftes Echo. Die Kommunisten, die roten Gewerkschaften trugen sich in die Liste ein, aber der Apparat der KI arbeitete hinter den Kulissen. Die große Mehrheit der Teilnehmenden waren gutgläubig und gutwillig, aber sie waren nicht an Organisationsfragen interessiert. Der sich darum kümmernde Apparat filterte sorgfältig die Redner, und die Reden wurden gut kontrolliert; wer eine Einheitsfront von Organisationen verlangt hätte, wurde geschickt daran gehindert — soweit wie möglich mit Hilfe von Manövern, und wenn es nicht anders ging, auf brutale Weise. Diese Versammlungen zogen durch die Namen der Teilnehmer eine imposante Schau ab, hatte jedoch für die Aktionen keine weiteren Folgen. Die sozialistischen Parteien und die reformistischen Gewerkschaften, die von dieser Operation nicht getäuscht wurden, lehnten die ihnen gemachten Einladungen ab; nur einige diesen Organisationen angehörende Einzelpersonen nahmen als Person teil. Die Führer der kommunistischen Parteien bedienten sich ihren Mitgliedern gegenüber dieser Beispiele, um zu behaupten, ihre Politik begänne, Erfolge zu zeigen. In Wirklichkeit setzte die KI an die Stelle einer die Massen zu Aktionen mobilisierender Politik ein Scheinmanöver, etwas, was man heutzutage als eine arrangierte Show bezeichnen würde. Der Impresario dieser
"Politik" war Willy Münzenberg. Aus Arbeiterkreisen stammend, hatte er den deutschen Sozialistischen Jugendverbänden seit 1906 angehört. Während des Krieges hatte er in der Schweiz gelebt, wo er unter den Einfluß Lenins kam. Er war Begründer der Kommunistischen Jugendinternationale und der Internationalen Roten Hilfe. Zentralkomiteemitglied der KPD und Reichstagsabgeordneter, war er durch seine Begabung auf dem Gebiet der Propaganda und der Agitation Leiter eines Publikationshauses mit hohen Auflagen geworden; er war auf seine Art ein
"Pressebaron". Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, führte er die gleiche Tätigkeit im Exil weiter, geriet aber 1937 in einen Konflikt mit der KPD-Führung unter Ulbricht, der ihn trotz seiner Treueerklärungen gegenüber Stalin aus der Partei ausschloß. Zu Kriegsbeginn wurde er in Frankreich wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit in ein Lager gesteckt; in dem durch den deutschen Vormarsch erzeugten Durcheinander konnte er entfliehen und man fand ihn kurz darauf ermordet auf. Zahlreiche Indizien weisen auf NKWD-Agenten als Urheber dieses Verbrechens hin.
Die diversen
"Kongresse", die als Ersatz für die Einheitsfront organisiert wurden, haben den Kampf gegen den Faschismus keinen Zollbreit vorwärts bringen können.
4.8. Das 11. Plenum (25. März bis 13. April 1931
Während sich das Unwetter der ultralinken Politik der KI austobte, fanden zwei Plenumssitzungen der KI statt, denen die Führung der KI selbst keine
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große Bedeutung beimaß und worüber sie auch nur einige magere Broschüren veröffentlichte. Wir haben bereits das Wesentliche geschildert, was dort über Deutschland gesagt wurde. Als sich bedeutsame Ereignisse in der Welt abspielten, sagte die KI nicht viel dazu, die politische Linie blieb unangreifbar und man suchte bei den Abweichungen der anderen oder bei Organisationsfehlern die Ursachen für den Rückgang der Sektionen.
Ungefähr zwanzig Monate nach dem Plenum, das Stalin die vollständige Beherrschung der KI gesichert hatte, trafen sich zum 11. Plenum 180 Teilnehmer aus 25 Ländern; nur 50 hatten beschließende Stimme. Zwei Hauptpunkte standen auf der Tagesordnung, die folgendermaßen lauteten:
- die Aufgaben der Sektionen im Zusammenhang mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und das Heranreifen der Voraussetzungen einer revolutionären Krise in bestimmten Ländern
- die Verschärfung der Gefahr eines Interventionskrieges gegen die Sowjetunion und die Aufgaben der Kommunisten.
Dieser zweite Punkt wurde in einem Bericht Cachins behandelt, der eine ganze Reihe von Tatsachen und Erklärungen aufzählte, aus der sich keinerlei klare Linie für eine Aktion ergab. Es war überhaupt keine Rede von der Kriegsgefahr, die sich aus der Möglichkeit einer Machtergreifung Hitlers ergeben würde.
Zum ersten Punkt wurde der von Manuilski erstattete Hauptbericht durch Sonderberichte Thälmanns über Deutschland, Lenskis über Polen und von Tschemodanow, des Sekretärs der Kommunistischen Jugendinternationale, ergänzt. Manuilski erklärte,
"die rechte Gefahr sei und bliebe die Hauptgefahr" innerhalb der Sektionen. Vergleicht man die Reden und die angenommenen Texte des 11. Plenums mit denen des vorhergehenden, dann kann man feststellen, daß der Ausdruck
"dritte Periode", der seit dem VI. Kongreß eine so große Rolle gespielt hatte, vollständig aus dem Vokabular verschwunden war. Er wurde von nun an durch eine systematische Gegenüberstellung einerseits von Wirtschaftskrise und Zersetzung des Kapitalismus, und andererseits des wachsenden Aufschwungs des Sozialismus in der Sowjetunion ersetzt. Die Wirtschaftskrise des Kapitalismus war zur rechten Zeit gekommen, um bei den Mitgliedern der kommunistischen Parteien und den arbeitenden Massen in allem, was an ihr konkret war, an die Stelle des dunklen Begriffs der
"dritten Periode" zu treten, der niemals seit seiner Einführung recht begriffen worden war. Wenn von diesem Gesichtspunkt her jetzt die Analyse der KI besser begründet schien als die undefinierbare
"dritte Periode", die aus dem Vokabular verschwunden war, so wurde im Gegensatz dazu die ultralinke Politik, die ihren Inhalt ausmachte — vor allem der
"Sozialfaschismus" — beibehalten; deshalb ist es statthaft, dieses Plenum und das folgende in die
"dritte Periode" einzuschließen. Manuilski behauptete, der revolutionäre Aufschwung in der ganzen Welt fände in bezug auf Europa
"seine größte Entfaltung" in Deutschland und präzisierte:
"Das faschistische Regime stellt keinen neuen Regierungstyp dar, es ist nur eine der
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Formen der Diktatur der Bourgeoisie in der imperialistischen Epoche..."
(Manuilski)
und Thälmann ergänzte:
"Wir erleben in Deutschland die Realisierung des faschistischen Regimes..., während der Massenfaschismus deutlich von der Macht ausgeschlossen ist..."
(Thälmann)
In der Sowjetunion wurde der erste Fünfjahresplan durchgeführt, und Informationen trafen über manche Greueltaten ein, die sich auf dem Lande abgespielt hatten, und über die Verschlechterung der Bedingungen für die Arbeiter.
Die Mitglieder der kommunistischen Parteien glaubten jedoch weder der bürgerlichen Presse noch etwa den Oppositionellen. Die KI wiederholte, die Sowjets würden große wirtschaftliche Fortschritte machen und stellten diese der Lage in den kapitalistischen Ländern gegenüber. Sie führte Kampagnen, in denen sie die Sowjetunion in rosigen Farben ausmalte.
4.9. Das 12. Plenum (27. August bis 15. September 1932)
Achtzehn Monate danach trat das 12. Plenum zusammen. Es kamen 174 Teilnehmer aus 35 Ländern, aber es gab nur 38 beschließende Stimmen. Vier Hauptpunkte standen auf der Tagesordnung:
- die internationale Situation und die Aufgaben der Sektionen — Berichterstatter Kuusinen,
- die wirtschaftlichen Streiks und der Kampf der Arbeitslosen — Berichterstatter Thälmann, mit Sonderberichten Lenskis (Polen) und Gottwalds (Tschechoslowakei),
- die Aufgaben der Kommunisten gegen den imperialistischen Krieg und die bewaffnete Intervention, im Zusammenhang mit dem Krieg, der im Fernen Osten ausgebrochen war (Berichterstatter — der Japaner Okano),
- der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion (Berichterstatter Manuilski).
Über die Sowjetunion nahm das Plenum eine
"Grußadresse an die kommunistische Partei und die Arbeiter der Sowjetunion" an, in begeisterte Worte gefaßt; man feierte die
"grandiosen Resultate" des ersten Fünfjahresplans, man versicherte,
"der Wohlstand der Arbeiter und der arbeitenden Bauern" steige von Jahr zu Jahr. Keine Anspielung auf das, was auf dem Lande vorgegangen war. Der zweite Fünfjahresplan, hieß es, würde erlauben, noch größere Ziele zu erreichen, die klassenlose sozialistische Gesellschaft aufzubauen, völlig die Ursachen zu beseitigen, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen entstehen lassen. Dieses Werk würde innerhalb von zehn Jahren unter der Führung des
"besten Schülers und Kampfgefährten Lenins, des Genossen Stalin" verwirklicht werden, in
"einem hartnäckigen Kampf gegen alle Abweichungen von der bolschewistischen Generallinie".
Über die internationale Situation und die Aufgaben hörte das 12. Plenum bis zum Überdruß die Wiederholung aller Klischees der
"dritten Periode", ohne daß von der Hitlerschen Drohung in Deutschland viel die Rede war, zu einer Zeit, als diese einen ungeheuren Umfang annahm und sich die Nationalsoziali-
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sten weniger als sechs Monate vor der Machtübernahme befanden. Was den Bericht wie auch die angenommene Resolution anbetrifft, so müssen zwei Dinge hervorgehoben werden.
Zuerst einmal unterstrichen die Texte die Notwendigkeit, daß sich die kommunistischen Parteien und ihre Mitglieder den unmittelbaren Tagesforderungen der beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter anschließen sollten. Das war eine Korrektur der vorherigen Politik in dem Sinne, daß bisher diese Forderungen in vielen Fällen vernachlässigt wurden, da man sich nur an der Vorbereitung des
"politischen Massenstreiks" beteiligen wollte. Jetzt jedoch fand man keine politische Verbindung, keine logische Entwicklung, die — beim Ausgehen von Kämpfen für elementare Forderungen der Arbeiterklasse — zum Kampf um die Macht geführt hätte. Es waren keine
Übergangsforderungen vorhanden, auf deren Notwendigkeit der III. und IV. Kongreß hingewiesen hatten. Die unmittelbaren Forderungen und der Kampf um die Macht wurden ganz einfach nebeneinander gesetzt, ohne daß die kommunistischen Parteien über eine Politik verfügten, die von den einen zum anderen führte.
Der Grund dafür, daß man so beharrlich auf die Frage der unmittelbaren Forderungen Wert legte, bestand in der wachsenden Isolierung, in der sich die kommunistischen Parteien befanden. Dies ließ sich unbestreitbar im Wortlaut der Plenum-Texte, trotz der sie verhüllenden Phrasen, entdecken; die Thesen signalisierten die
"Hauptfehler und -schwächen" der Parteien:
"Der Hauptteil unserer Genossen ist von den reformistischen Arbeitern und anderen nichtkommunistischen Arbeitern abgeschnitten."
Die Resolution über die Lehren der wirtschaftlichen Streiks und des Kampfes der Erwerbslosen war sehr viel deutlicher:
"Die Gründe für die ungenügende Entfaltung der Wirtschaftskämpfe des Proletariats bestehen hauptsächlich in der bis heute noch ungenügenden Durchführung des Kurses auf selbständige Leitung der Wirtschaftskämpfe auf der Basis der Einheitsfronttaktik von unten, in der Unterschätzung der Teilkämpfe, in der schwachen Verbindung mit den Massen in den Betrieben und mit den Erwerbslosen, in der Schwächung der revolutionären Positionen in den reformistischen Gewerkschaften, in dem Unvermögen, die Manöver der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie zu entlarven, sowie in dem offenen oder durch ,linke' Phrasen verschleierten Kapitulantentum vor der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie..."
(Thesen, Beschlüsse, Resolutionen, INPREKORR Nr. 85, 1932, S. 2733)
"...das XII. EKKI-Plenum (konstatiert) in der übergroßen Mehrzahl der Sektionen der Komintern bedeutende Mängel sowie eine Reihe bedenklicher opportunistischer Fehler in der Durchführung der Einheitsfront von unten..."
(A.a.O., S. 2733)
"Der Kampf der Arbeitslosen wurde von der kommunistischen Avantgarde bisher noch
weniger vorbereitet und organisiert als der Streikkampf des Proletariats ..."
(A.a.O., S. 2734)
"... die schwache Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften..."
(A.a.O., S. 2734)
"... die meisten der roten Gewerkschaften (waren nicht imstande), die wachsende
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Empörung der Massen gegen die Kapitaloffensiven auszunützen, um an die Spitze der Streikkämpfe, sowie der Erwerbslosenbewegung zu treten..."
(A.a.O., S. 2735)
So sah es, nach Eingeständnis selbst des 12. Plenums, mit diesen Parteien aus, die aus Leibeskräften bolschewisiert und noch einmal bolschewisiert worden waren. Gleichzeitig verlangten die Beschlüsse des 12. Plenums von ihnen:
"Unversöhnlicher Kampf gegen alle Entstellungen des Marxismus-Leninismus, für die Reinheit der Parteitheorie im Sinne der im Briefe des Genossen Stalin enthaltenen Weisungen..."
(A.a.O., Nr. 82, 1932, S. 2633)
In einer Kommentierung der Arbeiten des Plenums heißt es in einem Leitartikel der Prawda:
"Das XII. Plenum des EKKI hat die gesamte KI zum weiteren entschiedenen Kampf sowohl gegen die rechten Tendenzen in einigen Parteien (Humbert-Droz) als auch gegen die ,Links' sektiererischen (Vereinigte Staaten) und anarcho-syndikalistischen (Spanien) Tendenzen sowie gegen die Versuche einer Vereinigung aller Splitter verschiedener Oppositionen unter der ,ideologischen' Führung Trotzkis (Polen) aufgerufen."
(A.a.O., Nr. 86, S. 2779)
Für die einfachen Mitglieder, denen es bereits so schwer fiel, die
"Linie" anzuwenden, war es wirklich schwierig, sich bei diesen in den vier Himmelsrichtungen und anderswo aufgeführten Gefahren zurechtzufinden. Die Lage rief bei manchen Führern Unbehagen und gar noch mehr hervor. Im darauf folgenden Plenum erinnerte man die Eingeweihten daran und machte öffentlich bekannt, daß Remmele und Neumann auf dem 12. Plenum
"falsche Positionen" verteidigt hätten. Das Wesentliche lag nicht bei diesen Warnungen, deren Wiederholung ebenso langweilig wie die der anderen Klischees des ultralinken Kurses war. Das Wesentliche bestand in der Lage der kommunistischen Parteien nach dreijährigem Kampfe gegen den
"Sozialfaschismus". Am Vorabend von Hitlers Machtübernahme, als die Krise des Kapitalismus es ihnen möglich gemacht haben müßte, innerhalb der Arbeiterklasse bedeutende Fortschritte zu machen, waren sie isoliert, machtlos, von Erschöpfung und Verwirrung im Innern befallen. So sah das Ergebnis der von der KI unter der Führung Stalins befolgten
"richtigen Linie" in Wirklichkeit aus.
5. Die Linie war richtig...
Anfang 1933 übernahm Hitler die Macht und Roosevelt die Leitung der Verwaltung in den Vereinigten Staaten. Die Weltwirtschaft befand sich an ihrem Tiefpunkt; die ersten Anzeichen eines Wiederaufstiegs, die sich ganz
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allmählich und außerordentlich schwach ankündigten, machten sich bemerkbar. Der von Roosevelt eingeführte, sich auf die Lehren von Keynes basierende New Deal regte die wirtschaftliche Wiederbelebung etwas an; zur gleichen Zeit setzte eine gewaltige Organisierung der amerikanischen Arbeiterklasse in Gewerkschaften ein.
Die Machtergreifung Hitlers übte alsbald einen erheblichen Schock auf die Arbeiterklasse und ihre Organisationen in der ganzen Welt aus. Das ganze Jahr 1933 über suchten aktive Mitglieder und Organisationen zu begreifen, was sich ereignet hatte, was geschehen konnte und was man tun müßte. Die Gesamttendenz schien auf eine Generalrevision hinauszulaufen, aber diese Tendenz fand ihre Grenzen in dem außerordentlich starken passiven Widerstand der Arbeitermassenorganisationen, vor allem ihrer Führungen. Waren die Gefahren — wenn auch spät — erkannt worden, so wurden hingegen die Mittel zur Bekämpfung des Faschismus nicht begriffen. Die Spaltung zwischen den Arbeitern, die so viel zum Siege der Nationalsozialisten beigetragen hatte, sollte — nicht ohne Schwierigkeiten und Verzögerungen, die das ganze Jahr 1933 und einen Teil des Jahres 1934 ausmachten — einer Tendenz zu einer Einigung der Kräfte der Arbeiter Platz machen, einer Einigung jedoch, in der die politische Verwirrung und Unzulänglichkeit sowohl hinsichtlich der Perspektiven wie des Programms andauerten.
Die Politik der Führungen der KI und der Sozialistischen Internationale im Verlauf der vergangenen Jahre lösten in den Reihen der Arbeiterparteien gewisse Reaktionen aus. Politische, von diesen beiden Führungen unabhängige Organisationen wurden gegründet oder waren in Entwicklung begriffen. Man stellte hier mehr als anderswo Überlegungen über die Ereignisse an, aber zu guter Letzt gelang es ihnen nicht, die Arbeiterbewegung von den beiden für die Niederlage verantwortlichen Führungen zu befreien. Der Schlag, den der Hitlersieg versetzte, wirkte sich damals viel schwerer aus als die damals unternommenen Versuche, aus ihm die Lehren zu ziehen.
5.1. Einige entscheidende Wochen
Hitler war am 30. Januar von Hindenburg zum Reichskanzler benannt worden. An seiner Regierung waren Hugenberg und von Papen beteiligt, Vertreter der seit eh und je reaktionärsten politischen Organisationen im Dienste des Großkapitals und der Junker. Diese hofften, Hitler zur Unterjochung der Arbeiterbewegung zu benutzen, ohne ihm auf den Gebieten der Wirtschaft, der Außenpolitik, der Armee freie Hand zu lassen. Hierbei irrten sie sich gewaltig! Die so zusammengesetzte Regierung diente Hitler nur als Vorstufe, um in Deutschland die faschistische Diktatur zu errichten und die Politik des Landes ungeteilt zu bestimmen. Vom ersten Tage seines Regierungsantritts an, trat die Repression gegen die Arbeiterbewegung immer deutlicher hervor. Die entschei-
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dende Stunde nahte, noch aber war die Niederlage nicht endgültig und unwiderruflich eingetreten. Die neue Regierung Hitlers war heterogen, die Partner Hitlers waren der Koalition nur aus Verzweiflung beigetreten, da sie die Entfesselung eines Bürgerkriegs befürchteten. Durch seinen Aufstieg zum Regierungschef hatte sich Hitler einer wichtigen Position — die entscheidend werden konnte — bemächtigt, aber sie war noch nicht konsolidiert. Er brauchte noch etwas Zeit — einige Wochen —, die von den Organisationen der Arbeiterklasse zu ihrem Vorteil hätten ausgenutzt werden können, um den Kampf zu beginnen.
Nach so vielen einschläfernden Sprüchen hatten die Arbeiter einen schweren Schlag erlitten, aber er hatte wie ein Peitschenschlag gewirkt und neue Energien geweckt. Wenn in diesem Moment der Kampf ausgelöst worden wäre, hätte man nicht mit Sicherheit auf einen Sieg rechnen können — vor dem Kampf kann man das nie — aber in jedem Falle wäre für die Zukunft eine Niederlage im Kampf besser als eine kampflose Niederlage gewesen.
Die KPD rief zum Generalstreik auf, aber ihre Möglichkeit, etwas alleine zu unternehmen, war auf dem Tiefpunkt angelangt: welchen Widerhall konnte sie in den Unternehmen finden, in denen sie, wie wir festgestellt haben, praktisch nicht vorhanden war? Außerdem hatte sie sich völlig mit den sozialdemokratischen Arbeitern überworfen. Diese indessen wollten sich schlagen. Wir haben die kriminellen Aspekte der KPD-Politik in weitem Umfange aufgedeckt; wir müssen ebenfalls zeigen, welchen gewaltigen Anteil in dieser entscheidenden Lage die Sozialdemokratie an der Verantwortung für den Sieg Hitlers und für die kampflose Kapitulation der deutschen Arbeiterklasse trägt. Zu diesem Zweck genügt es, einen Autoren zu zitieren, der keineswegs kommunistischer Sympathien verdächtigt ist: wir sprechen von Julius Braunthal, einem langjährigen sozialdemokratischen Journalisten, Teilnehmer an allen sozialistischen Kongressen zwischen den beiden Weltkriegen, Mitarbeiter Fritz Adlers im Sekretariat der Sozialistischen Internationale in den Jahren, die dem Zweiten Weltkrieg vorangingen, und zwischen 1949 und 1956 in der Funktion eines Sekretärs dieser Internationale. Hier seine Beschreibung dessen, was sich damals in der deutschen Sozialdemokratie abspielte:
"Die Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie vor dem Faschismus erschien um so rätselhafter, da die Berufung Hitlers zum Reichskanzler in der Tat die eindrucksvollsten Manifestationen des Widerstandswillens der deutschen Arbeiterklasse ausgelöst hatte.
Am Nachmittag und Abend des 30. Januar kam es in den deutschen Großstädten zu gewaltigen spontanen Massendemonstrationen der Arbeiter. Delegationen der Großbetriebe und Bezirksfunktionäre der Partei waren aus dem ganzen Lande noch am selben Tag in Berlin eingetroffen, um Kampfweisungen einzuholen, und noch in derselben Nacht trat der Bundesausschuß des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes gemeinsam mit dem Parteivorstand und der Reichstagsfraktion der SPD und den Führern des Reichsbanners und der Eisernen Front zu einer Beratung zusammen, in der prinzipiell entschieden wurde, den Kampf gegen Hitler aufzunehmen. In Erwartung des Kampfsignale s der Zentralleitung der Partei und Gewerkschaften wurden
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fieberhafte Vorbereitungen getroffen. Die Arbeiter in den Betrieben wurden angewiesen, sich für die Ausrufung des Generalstreiks bereit zu halten, die Arbeiter bewaffneten sich, so gut sie konnten, ,die Massendemonstrationen der Eisernen Front waren von überwältigender Wucht' und nach einer ungeheuren Massenkundgebung im Berliner Lustgarten am 7. Februar verkündete der Vorwärts unter dem Eindruck der Kampfentschlossenheit der Arbeiter und ihrer siegeszuversichtlichen Stimmung: ,Berlin ist nicht Rom. Hitler ist nicht Mussolini. Berlin wird niemals die Hauptstadt eines Faschistenreiches werden. Berlin bleibt rot!'...
Aber schon in den Beratungen der Parteileitung in der Nacht des 30. Januar überwogen die Argumente der Vorsicht und der Zurückhaltung jene, die für die ungesäumte Eröffnung des Kampfes eintraten. Die Parteileitung betrachtete die Berufung Hitlers zum Reichskanzler keineswegs als Hitlers Machtergreifung. Das neue Kabinett war keine nationalsozialistische, sondern eine... Koalitionsregierung; nur drei der zwölf Regierungsmitglieder waren Nationalsozialisten... Auch hatte Hitler in die Hand des Reichspräsidenten den Eid auf die Verfassung von Weimar abgelegt, und der nationalsozialistische Reichsinnenminister Wilhelm Frick hatte verkündet, das Reichskabinett habe ein Verbot der Kommunistischen Partei abgelehnt und würde die Freiheit der Presse nicht antasten. Solange sich jedenfalls Hitler auf dem ,Weg der Verfassung' bewegte, so begründete Rudolf Breitscheid die Taktik der Partei, stünde er ,an der Spitze einer Rechtsregierung', die, wie er sagte, ,wir bekämpfen können und müssen:.., aber es ist dann eben eine verfassungsmäßige Rechtsregierung'.
Gegen diese Auffassung der Lage wurde in der Sitzung eingewendet, daß, wenn Hitler einmal seine Macht befestigt hätte, er nicht zögern würde, einen Staatsstreich zu unternehmen, und für den Widerstand wäre es ,dann... zu spät'.
Diesen Einwand suchte Breitscheid mit der Bemerkung zu entkräften, daß die Partei natürlich alles unternehmen müßte, ,um für den Augenblick dieses Verfassungsbruches gerüstet zu sein'. Aber, so fügte er hinzu: Wenn wir heute etwas unternehmen, glaubt ihr nicht, daß in derselben Minute von Seiten der Regierung altes geschehen würde, um uns durch das Verbot von Zeitungen und Versammlungen, durch Hindernisse aller Art unserer Aktionsfähigkeit zu berauben?'
So beschloß die Parteileitung, im Augenblick nichts zu unternehmen, sondern die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. ´Gegenüber dieser Regierung der Staatsstreichdrohung', so hieß es im Vorwärts, ,stellt sich die Sozialdemokratie und die ganze Eiserne Front mit beiden Füßen auf den Boden der Verfassung und Gesetzlichkeit. Sie wird den ersten Schritt von diesem Boden nicht tun.´.."
(Braunthal (SPD-Journalist))
Einen so niederdrückenden Bericht zu schreiben und die Kapitulation der Sozialdemokratie gleichzeitig als
"rätselhaft" zu empfinden, müßte tatsächlich überraschen, würde man dabei vergessen, daß Braunthal selber ein Sozialdemokrat war (ein linker offensichtlich, aber trotzdem ein Sozialdemokrat), der also nicht imstande war, das Wesen sozialdemokratischer Politik zu erfassen: im Moment, wo die Arbeiterklasse auf das Signal zum Kampf wartete, was tat da die SPD-Führung? Fest an die Weimarer Verfassung angebunden, wartete sie darauf..., daß Hitler sich in Marsch setzt, um angeblich dann dieses Signal zugeben, in Wirklichkeit jedoch, um den Rückzug anzutreten.
Die Möglichkeiten einer Aktion waren für die KPD, die von den sozialdemo-
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kratischen Arbeitern isoliert war, schwach — hätte sie nicht trotzdem den Kampf beginnen müssen, komme was wolle?
Sie hätte es zweifellos tun müssen. Hätte sie so gehandelt, dann wären vielleicht durch ihr Beispiel ein Teil der Arbeiter, die noch der Sozialdemokratie folgten, die kämpferischsten, vor allem die der Eisernen Front, zur Aktion mitgerissen worden; sie hätte eine Lehre gegeben, die nicht ohne Folgen für die Zukunft geblieben wäre. Nach gewissen von der KI später angenommenen Texten, die sich gegen einen solchen Vorschlag wandten, hat man allen Grund, anzunehmen, daß er gemacht und verworfen wurde.
Aus welchen Gründen?
Mit recht großer Wahrscheinlichkeit kann man annehmen, daß für die getroffene Entscheidung nicht nur die
schwachen Handlungsmöglichkeiten der KPD, sondern auch das mangelnde Verständnis des Faschismus, das die Führungen von KPD und der KI hatten, den Ausschlag gegeben haben: die Auffassung, er sei nur eine von den anderen bürgerlich-reaktionären Formen (auch sie
"faschistisch") nicht so sehr unterschiedliche Erscheinung, die von Hitler geführte Regierung sei sehr wenig stabil, muß in dem Sinne gewirkt haben, es sei am besten, im Augenblick Gewehr bei Fuß zu stehen, mit der Aussicht auf eine in nicht sehr weiter Ferne liegende Aktion.
Hatten die KPD-Führer nicht öfters erklärt, nach dem Faschismus kämen die Kommunisten an die Reihe?
Man wiederholt das nicht jahrelang, ohne nicht selbst diese Überzeugung zu gewinnen — wenn man nicht schon vorher davon überzeugt war. Unterdessen, mußten sie denken, genüge es, sich in der Illegalität zu organisieren, wie es die KPD drei- oder viermal hintereinander seit 1919 gemacht hatte, und wo sie dann jedes Mal wieder ganz gut herausgekommen war.
Neue Wahlen zum Reichstag waren für den 5. März festgelegt worden. Würden sie so wie die vorhergehenden verlaufen? Sozialisten und Kommunisten hielten eine Zeitlang große Versammlungen ab, ohne seitens der Regierung oder der NSDAP auf Hindernisse zu stoßen. Am 27: Februar jedoch wurde das Reichstagsgebäude angezündet. Das war ein von den Nationalsozialisten selbst vorbereiteter Streich. Sowie die ersten Flammen loderten, riefen Hitler und seine Leute aus vollem Halse, es handle sich um ein kommunistisches Attentat, und die KPD wurde sofort für illegal erklärt. Anscheinend wurde am 5. März unbehindert gewählt, mit dem Ergebnis von 4.800.000 Stimmen für die KPD, 7.100.000 für die SPD und 17.200.000 für die Nationalsozialisten. Die Arbeiterklasse zeigte durch ihre Stimmabgabe ihre Treue zum Sozialismus, aber diese Zahlen drückten die frühere Kraft der Arbeiterparteien, nicht ihre gegenwärtige aus. Die Wahl der kommunistischen Abgeordneten wurde alsbald für ungültig erklärt. Der faschistische Terror nahm sofort größere Ausmaße an. Bald sollten die Nationalsozialisten alle anderen Parteien auflösen. Der Kanzler Hitler des zweiten Reichs wurde zum Führer des Dritten Reiches. Die wenigen Wochen, die noch eine Änderung der Lage hätten ermöglichen können, waren jetzt verstrichen, ohne daß irgendetwas versucht worden wäre.
5.2. Der Aufruf vom 5. März
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Diese doch mehr als bedeutsamen Ereignisse genügten indessen noch nicht, um den sozialistischen und kommunistischen Führern die Schwere der Nederlage und die erhebliche Veränderung bewußt zu machen, die sich soeben für die Lage in Deutschland wie auch in internationaler Hinsicht ergeben hatte. Die ersten Erklärungen seitens der kommunistischen Bewegung zum Zeitpunkt der Wahlen zeugten von einer geradezu verblüffenden Gedankenverwirrung. Als der Reichstag angezündet wurde, prangerten die kommunistischen Organisationen und Veröffentlichungen zu Recht die faschistische Provokation an. Aber noch am 4. März geschah das in der
Prawda in einem Artikel mit der Überschrift
"Die Narren an der Regierung" — die Narren, das waren Hitler und die Seinen!
Als die Wahlresultate bekannt wurden, trug der Leitartikel der
Prawda (7. März) die Überschrift:
"Ein gewaltiger politischer Sieg der deutschen Kommunistischen Partei". Am 15. März, zehn Tage nach den Wahlen, als Thälmann einerseits, Dimitroff, Popoff, Tanneff, drei Bulgaren, die in Deutschland im Dienste der KI standen andererseits, bereits verhaftet waren, veröffentlichte das Zentralkomitee der KPD eine Erklärung, in der es hieß:
"Trotz der hochtrabenden Erklärungen der Regierung ist der 5. März kein Sieg des Faschismus..."
(Zentralkomitee der KPD)
Diese Prahlereien waren so wenig angebracht, die Erschütterung in Deutschland so gewaltig, daß weder die sozialistischen noch die kommunistischen Führer es lange dabei bewenden lassen konnten. Das Büro der Sozialistischen Internationale unter Leitung des linken Sozialdemokraten Fritz Adler, der als Österreicher besonders empfänglich dafür war, was sich soeben in Deutschland ereignet hatte, hatte am 19. Februar einen Aufruf herausgegeben, in dem die dieser Internationale angehörigen sozialistischen Parteien erklärten, sie wären bereit, eine Einheitsfront mit den Kommunisten zum Kampfe gegen den Faschismus zu bilden. Aber diese Erklärung war öffentlich geschehen, ohne von einem Brief oder irgendeiner direkten anderen Intervention bei der KI-Führung begleitet zu sein. Unter den obwaltenden Umständen konnte diese nicht Stillschweigen bewahren, und am 5. März veröffentlichte das Exekutivkomitee ebenfalls einen Appell, der genau so wenig direkt an die Sozialistische Internationale geschickt wurde. In ihm hieß es:´
"Das Haupthindernis auf dem Wege der Bildung der Einheitskampffront der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiter war und ist die von den sozialdemokratischen Parteien — die heute das internationale Proletariat den Schlägen des Klassenfeindes ausgesetzt haben — betriebene Politik der Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie...
Dessen ungeachtet fordert das EK der Kommunistischen Internationale... alle kommunistischen Parteien auf, noch einen Versuch zur Herstellung der Einheitskampffront mit den sozialdemokratischen Arbeitermassen durch Vermittlung der sozialdemokrati-
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schen Parteien zu machen... Mit Rücksicht... (auf die) Eigenart der Verhältnisse, sowie der Verschiedenheit der vor der Arbeiterklasse in dem einzelnen Land entstehenden konkreten Kampfaufgaben... empfiehlt das EKKI den kommunistischen Parteien der einzelnen Länder, an die Zentralvorstände der der SAI angehörenden sozialdemokratischen Parteien mit Vorschlägen über gemeinsame Aktionen gegen den Faschismus und gegen die Offensive des Kapitals heranzutreten... Bei der Annahme und praktischen Durchführung... hält das EKKI es für möglich, den kommunistischen Parteien zu empfehlen, sich für die Zeit des gemeinsamen Kampfes gegen das Kapital und den Faschismus der Angriffe auf die sozialdemokratischen Organisationen zu enthalten..."
(Die Kommunistische Internationale, 1933, Heft 5, S. 11 - 13)
Beiderseits bemühte man sich also nicht, miteinander zu sprechen, man griff zu einer List. Ein weiterer kleiner Trick: der Appell der KI wurde nicht wie in der Vergangenheit zuerst in Moskau, wo sie ihren Sitz hatte, veröffentlicht, sondern in Paris in der
Humanite, aus der sie die Sowjet-Presse als Meldung der Tass-Agentur nachdruckte. In den folgenden Tagen richtete jede der kommunistischen Parteien, entsprechend den von der KI erhaltenen Direktiven, einen Appell an die betreffende sozialistische Partei. Auf beiden Seiten hatte man nicht aus wirklicher Überzeugung, sondern wie eine unter einem schweren Schock stehende Person gehandelt. Die unmittelbaren Ergebnisse beider Appelle waren gleich Null. In Deutschland unternahm die sozialdemokratische Führung noch Anstrengungen, die Parteilegalität zu erhalten, indem sie vor Hitler buckelte: sie weigerte sich, ihm unbeschränkte Vollmachten zu geben, verpflichtete sich aber, eine legale gewaltlose Opposition zu betreiben. Verlorene Liebesmühe — die Sozialdemokratische Partei wurde ebenfalls aufgelöst.
Die Gewerkschaftsführer demütigten sich noch tiefer als die SPD-Führung. Sie baten Hindenburg flehentlich um Hilfe und appellierten an die Arbeiter, den Ersten Mai gemeinsam mit den Nationalsozialisten in den Straßen zu feiern. Das hatte noch weniger Erfolg: am 2. Mai wurden sie aus ihren Büros verjagt und manche von ihnen verhaftet. Der deutsche Faschismus zeigte noch brutaler und schneller als der italienische Faschismus, daß er die Existenz irgendeiner Arbeiterorganisation, und sei ihre Unabhängigkeit noch so gering, nicht dulden würde.
Der Aufruf des Exekutivkomitees der KI wies bestimmte Züge auf, die im Widerspruch zu dem standen, was die Politik der kommunistischen Parteien gewesen war. Er wälzte weiterhin die Verantwortung für die nicht existierende Einheitsfront auf die sozialistischen Parteien ab und enthielt nicht die geringste Selbstkritik an der Politik der KI. Auf einmal jedoch
"empfahl" der Aufruf den kommunistischen Parteien, sich an die sozialistischen Parteien zu wenden, um ihnen Vorschläge zu unterbreiten und sogar während der Aktion auf
"Angriffe" gegen sie zu verzichten. Das einfache Nahelegen, solche Vorschläge zu machen, war noch kurz zuvor zumindest als eine rechte oder linke Abweichung angeprangert worden, zumeist jedoch wurde gesagt, es käme von Leuten her, die endgültig in das Lager der Bourgeoisie; des Faschismus oder des
"Sozialfaschismus" übergegangen seien. Der Aufruf konnte den Eindruck erwecken,
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als enthalte er die Verneinung der Theorie des
"Sozialfaschismus", der
"Zwillingsbrüder", usw. Die Dinge waren nicht so einfach. Der Aufruf war keineswegs das Resultat einer bewußt vorgenommenen politischen Wendung. Lange Monate hindurch, praktisch bis Mitte 1934 konnte man noch von Seiten der kommunistischen Parteien Bekundungen der Politik der
"dritten Periode"feststellen. Zu gleicher Zeit gab es bei der Führung der Sowjetunion und bei den Spitzen, der KI Diskussionen, wofür bestimmte Anzeichen sprechen, aber niemals haben diese Diskussionen einen öffentlichen Charakter angenommen, und niemals sind sie zur Kenntnis der Mitglieder der kommunistischen Parteien gebracht worden. Was nun die KI anbetrifft, so kann man annehmen, daß solche Diskussionen außerhalb der regulären Gremien zwischen gewissen Führern allein, den wirklichen Führern der KI, stattgefunden haben. Was trug sich während dieser Zeit dort zu?
5.3. Der Heckert-Bericht
Das Präsidium trat am 1. April zusammen, das heißt mit einer gewissen Eile im Vergleich zu dem, was sonst geschah, bevor man wichtige politische Fragen behandelte. Man hatte sehr wahrscheinlich begriffen, daß es gefährlich wäre, die Sektionen und ihre Mitglieder zu lange sich selbst zu überlassen; man mußte ihnen sehr bald eine Erklärung liefern und diese überall zum Beschluß erheben lassen. Das Präsidium vernahm einen Bericht über die Lage in Deutschland, der von Fritz Heckert gegeben wurde. Seine Wahl zum Berichterstatter war nicht zufällig: als alter Arbeitergenosse, der an der Revolution von 1918 teilgenommen hatte, einer der Gründer der Kommunistischen Partei, Mitglied des Zentralkomitees seit 1920, bei Zusammenstößen mit den Nationalsozialisten schwer verwundet, war er zu jener Zeit einer der wenigen Überlebenden aus den Anfängen der Partei, außerdem einer, dem man persönlich nichts vorwerfen konnte. Eine solche Autorität war notwendig, um zu versuchen, die KI nach der von der Partei erlittenen Katastrophe abzuschirmen: war doch die KPD, nach der KPSU, die wichtigste Sektion, die Partei, auf die alle Hoffnungen der deutschen und internationalen sozialistischen Revolution gegründet worden waren.
Der Heckert-Bericht und seine Annahme stellen ein entscheidendes Moment in der Geschichte der KI dar. Nach einer für die internationale Arbeiterbewegung beispiellosen Katastrophe, enthält er nicht die mindeste Selbstkritik an der früheren Politik der KPD und der KI; er billigte im Gegenteil ohne jede Einschränkung die ganze ultralinke Linie, die die Katastrophe herbeigeführt hatte. Die angenommene Resolution bestätigte ohne weiteres die frühere Politik:
"Das Präsidium des EKKI konstatiert nach Entgegennahme des Referats des Genossen Heckert über die Lage in Deutschland, daß die politische Linie und die organisatorische
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Politik, die das ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands mit dem Genossen Thälmann an der Spitze bis zum Hitlerschen Umsturz befolgte, vollständig richtig war"
(Die Kommunistische Internationale, 1933, S. 59)
"Vollständig richtig", aber noch war es nötig, zu erklären, warum und unter
welchen Umständen sich die Niederlage vollzogen hatte:
"Angesichts der außerordentlichen Zuspitzung der wirtschaftlichen und politischen Lage in Deutschland, unter der einerseits die Kommunistische Partei bereits zu einer gewaltigen Macht in der Arbeiterklasse geworden ist und die revolutionäre Krise rasch heranreift, während andererseits unter den herrschenden Klassen selbst tiefe Gegensätze zutage traten und die faschistische Diktatur in Gestalt der Regierung Papens und Schleichers sich als unfähig erwies, das Wachstum des Kommunismus aufzuhalten und irgendeinen Weg aus der sich immer mehr verschärfenden Wirtschaftskrise zu finden, hat die deutsche Bourgeoisie dem Faschisten Hitler und seiner ,Nationalsozialistischen' Partei die Durchführung der offenen faschistischen Diktatur übertragen..."
(Die Kommunistische Internationale, 1933, S. 59)
In dieser Weise wurde noch immer kein Unterschied zwischen der
"faschistischen Diktatur" Papens und Schleichers und der Hitlers gemacht — wenn man für diese von der Bezeichnung
"offene" absieht —, kein Unterschied also, wo doch die Ereignisse während der letzten Wochen eine deutliche Sprache gesprochen hatten. Wenn aber die KPD dauernd gewachsen war, wie ließ es sich erklären, daß sie sich der Machtübernahme Hitlers nicht hatte widersetzen können? Zuerst einmal hielt die Resolution eine lange Anklagerede gegen die Sozialdemokratie; es war offensichtlich bequem, an jede konterrevolutionäre Aktion von ihr seit November 1918 zu erinnern:
"Die deutsche Sozialdemokratie, die die Mehrheit des Proletariats in der Novemberrevolution von 1918 hinter sich hatte, spaltete die Arbeiterklasse und hat, statt die Revolution zur Diktatur des Proletariats und zum Sozialismus vorwärts zu treiben, wie das die Pflicht einer proletarischen Partei gewesen wäre, im Bündnis mit der Bourgeois sie und den wilhelminischen Generälen den Aufstand der revolutionären Massen niedergeschlagen und die tiefe Spaltung der Arbeiterklasse Deutschlands eingeleitet... Die kommunistischen Arbeiter organisierten und führten den Kampf gegen die Offensive des Kapitals und des Faschismus...
Doch die sozialdemokratischen Arbeiter, hinter denen die Mehrheit der Arbeiterklasse Deutschlands steht, haben — gefesselt durch ihre sozialdemokratische Führung, die gegen die revolutionäre Einheitsfront und für die Beibehaltung ihrer reaktionären Einheitsfront mit der Bourgeoisie ist — jedes Mal in ihrer großen Masse die Einheitsfront mit den Kommunisten abgelehnt und so den Kampf der Arbeiterklasse gesprengt..."
(A.a.O., S. 59, 61)
Die
"vollständig richtige" Linie der
"Einheitsfront von unten" wurde beibehalten, und die
sozialdemokratischen Arbeiter wurden für schuldig befunden, nicht mit ihren Führern gebrochen zu haben. Die Vorschläge vom 20. Juli 1932 und vom 30. Januar 1933 waren also nur Zufallshandlungen, durch einen Augenblick der Verzweiflung hervorgerufen, und entsprachen nicht einer
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beharrlichen Einheitsfrontpolitik. Die Resolution des Präsidiums enthielt noch mehr. Obwohl sie mit Zitaten Lenins über die erforderlichen Vorbedingungen für einen bewaffneten Aufstand verziert war, gab sie auf Fragen Antwort, die sich bestimmt viele Mitglieder der kommunistischen Parteien stellten:
"Als Folge dessen erwies sich die Avantgarde des revolutionären Flügels des deutschen Proletariats — die Kommunistische Partei — der Unterstützung seitens der Mehrheit der Arbeiterklasse beraubt. Unter solchen Umständen erwies sich das Proletariat in einer Lage, in der es nicht imstande war und tatsächlich auch nicht vermochte, die sofortige und entschlossene Abwehr gegen den Staatsapparat zu organisieren, der in seinen Bestand die Kampforganisationen der faschistischen Bourgeoisie, die Sturmabteilungen, ´Stahlhelm', und Reichswehr... mit einbezogen hatte...
Die charakteristische Besonderheit der Situation im Moment des Hitler-Umsturzes besteht darin, daß sich diese Voraussetzungen für den siegreichen Aufstand zu jener Zeit noch nicht auszureifen vermocht hatten, sie waren lediglich im Keimzustand vorhanden. Was die Avantgarde des Proletariats, die Kommunistische Partei betrifft, so konnte sie, da sie nicht in Abenteurertum verfallen wollte, diesen mangelnden Faktor natürlich nicht durch ihre Handlungen ersetzen..."
(A.a.O., S. 61, 62)
In Wirklichkeit handelte es sich nicht darum, einen
"siegreichen Aufstand" zu beginnen, sondern einen Verteidigungskampf gegen den Aufstieg der Faschisten zur Macht zu fuhren. Diese Zeilen waren, allem Anschein nach, eine Polemik gegen namentlich nicht Genannte, die Anhänger eines solchen, als
"Abenteurertum" qualifizierten Kampfes gewesen waren. Der Wunsch nach einem Kampf seitens der sozialdemokratischen Arbeiter wurde in dem weiter oben zitierten Text Braunthals beschrieben, aber jener der kommunistischen Arbeiter war gewiß nicht geringer und konnte nicht verfehlen, sich bis hinauf ins Zentralkomitee bemerkbar zu machen. Gerüchte über diese Frage verbreiteten sich, wurden jedoch von der KI erst sehr viel später, auf dem 13. Plenum, bestätigt.
Wie sahen schließlich die in dieser Resolution enthaltenen Perspektiven und Aufgaben aus? Nachdem noch ein weiteres Mal versichert wurde,
"die Kommunisten hatten recht, als sie die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten kennzeichneten", brachte sie Folgendes zum Ausdruck:
"Jeder neue Tag der Regierung Hitler wird immer klarer den Betrug offenbaren, dem die Massen, die Hitler Gefolgschaft leisteten, zum Opfer gefallen sind. Jeder neue Tag wird immer klarer aufzeigen, daß Hitler Deutschland in die Katastrophe hineintreibt.
Die augenblickliche Stille nach dem Sieg des Faschismus ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Der revolutionäre Aufschwung in Deutschland wird trotz des faschistischen Terrors unvermeidlich ansteigen. Die Abwehr der Massen wird zwangsläufig zunehmen. Die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur, die alle demokratischen Illusionen in den Massen zunichte macht und sie aus dem Einfluß der Sozialdemokratie befreit, beschleunigt das Tempo der Entwicklung Deutschlands zur proletarischen Revolution... Es gilt, die Partei zu festigen und alle Massenorganisationen des Proletariats zu stärken,
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die Massen auf die entscheidenden revolutionären Kämpfe, auf den Sturz des Kapitalismus, auf den Sturz der faschistischen Diktatur durch den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen billigt das Präsidium des EKKI das vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands vorgesehene praktische Arbeitsprogramm."
(A.a.O., S. 64)
Man konnte es nicht klarer ausdrücken, daß die Hitlerdiktatur nur ein Test sein würde, ein schwerwiegender gewiß, jedoch von kurzer Dauer, der — noch dazu — den revolutionären Prozeß in Deutschland
"beschleunigen würde", da er zugleich die Illusionen in die faschistische Demagogie wie auch in die bürgerliche Demokratie, und auch den Einfluß der Sozialdemokratie zerstören würde.
Wollte man dieser Resolution Glauben schenken, dann würde der Faschismus, als
"Lokomotive" der Geschichte, genau das Gegenteil tun, wofür ihn der Kapitalismus an die Macht gestellt hätte! Diese Resolution bestätigte von A bis Z die ganze Linie der
"dritten Periode". Mit einem Wort — alles war richtig gewesen und würde gut enden, nur die Gegenwart bereitete Verdruß. Diese Resolution sollte zugleich verschiedenen Zwecken dienen: sie sollte die Moral der Genossen wiederaufrichten, ihre Besorgnisse zerstreuen und sie wieder zur Aktion bringen. Aber mit solchen Beschwörungsformeln konnte der Faschismus nicht ausgetrieben werden.
Die gleiche Linie wurde in dem Aufruf, den das Exekutivkomitee der KI gelegentlich des Ersten Mai 1933 herausgab, vertreten:
"Die Einheitsfront von unten und nicht Spitzenverhandlungen mit Wels und Renaudel brauchen wir jetzt. Für die Führer der II. Internationale sind Spitzenverhandlungen nur das Mittel, um die Einheitsfront der Arbeiterklasse zu verzögern, zu verhindern und zu sprengen. Nur die Initiative der Arbeitermassen selbst, ihr wirksames Eingreifen, ihre Kontrolle auf der Grundlage einer echten Arbeiterdemokratie, nur die Einheitsfront von unten werden den Erfolg der Erfüllung dieser im gegenwärtigen Moment zentralen Aufgabe der internationalen Arbeiterbewegung gewährleisten. Nur der Kampf der Massen selbst unter der Führung der Kommunistischen Partei wird Schluß machen mit der Ausnutzung der Arbeiter durch die Sozialdemokratie zur Festigung der reaktionären Einheitsfront des Kapitals..."
(Die Kommunistische Internationale, 1933, S. 57)
Die Einheitsfront von unten unter Führung der Kommunistischen Partei — das also wurde immer noch einige Monate nach dem Sieg des Faschismus von den kommunistischen Arbeitern verlangt.
5.5. Das 13. Plenum (28. November bis 13. Dezember 1933)
Gegen Ende des Jahres 1933 war diese gleiche Linie noch in Kraft, und das 13. Plenum bestätigte sie. Auf seiner Tagesordnung stand ein Bericht von Kuusinen über den Faschismus, die Kriegsgefahr und die Aufgaben der kommunistischen Parteien, dem zwei weitere Berichte folgten, einer von Pieck über die Aktivität der KPD, der andere über die Taktik der Einheitsfront in Großbritannien; dieser letzte Punkt hatte nur nebensächliche Bedeutung.
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Das offizielle Kommunique des politischen Sekretariats des Exekutivkomitees erwähnte, daß auf Grundlage des Berichts des Genossen Pieck
"das Plenum die Arbeit der KPD nach dem Machtantritt der Faschisten billigte", ebenso wie
"den von ihr vorgelegten Plan ihrer weiteren Tätigkeit". In den Thesen über
"den Faschismus, die Kriegsgefahr und die Aufgaben der Kommunistischen Parteien", die vom Plenum angenommen wurden, fand sich ausdrücklich eine Bestätigung des Heckert-Berichts:
"Das Plenum billigt restlos die Resolution des Präsidiums des EKKI vom 1. April 1933 über die Lage in Deutschland und die politische Linie, die das ZK der KP Deutschlands, mit dem Genossen Thälmann an der Spitze, bis zum und im Augenblick des faschistischen Umsturzes durchführte..."
(XIII. Plenum des EKKI/Dezember 1933, Thesen und Beschlüsse, Moskau-Leningrad 1934, S. 16)
Man braucht nicht den Einführungsbericht von Kuusinen, noch die hauptsächlichen Interventionen, die diesen Bericht vervollständigten — die von Manuilski, Knorin und Pieck — zu zitieren. Das war immer wieder dasselbe: der neue Aufstieg in Deutschland, die neue Periode von Revolutionen und Kriegen, die Faschisierung der Demokratie und der Sozialdemokratie, die Einheitsfront von unten, und einmal mehr, der Faschismus, der durch sein Ausschalten des Sozialfaschismus die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse durch die Kommunistische Partei erleichtert, usw. Es gab keinen Mißklang. Die Reden glichen, sogar fast wörtlich, den auf vorangegangenen Zusammenkünften Gehaltenen. Zitieren wir trotzdem eine neue Perle: Der Amerikaner Weinstone erklärte, durch den New Deal von Roosevelt
"beschleunige der Kapitalismus die Errichtung des Faschismus in den Vereinigten Staaten, wo er unter der Maske der Demokratie marschiert"! Das Plenum wandte sich ebenfalls gegen die Organisationen, die weder die Sozialistische noch die Kommunistische Internationale anerkannten und sich in Paris im Sommer 1933 getroffen hatten. Ihre Zusammenkunft hatte indessen nicht zum Ziele geführt. Die linken Sozialdemokraten waren immer noch
"die gefährlichsten Feinde des Kommunismus". Manche Angriffe gingen bereits weiter. Ein Delegierter, der Pole Krajewsky, sprach ganz selbstverständlich von der
"Polizeirolle der sozial-faschistischen Führer und aller möglichen Renegaten mit Trotzki an der Spitze".
Die Linie war
"völlig richtig", aber da war etwas in der KPD, was das Plenum der KI abstellen mußte. Zwei der wichtigsten Führer der Partei, oder die es zumindest noch kürzlich gewesen waren, die lange Zeit hindurch waschechte Stalinisten waren, Remmele und Neumann, wurden ins Gebet genommen. Tatsächlich hatte man das mit ihnen schon auf dem 12. Plenum gemacht, aber das geschah bei geschlossenen Türen, und die Parteimitglieder wußten nichts davon. Weder Remmele noch Neumann waren auf dem 13. Plenum anwesend. Vor der Sitzung hatte Remmele
"sein Mandat als Mitglied des Präsidiums und des Exekutivkomitees zurückgegeben", was Andre Marty auf dem Plenum
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ankündigte, wo er im Namen des Präsidiums eine sie betreffende
"Mitteilung" machte, man würde besser sagen, eine Anklagerede gegen sie hielt. Einige Wochen später gab Remmele seine
"Fehler", seine
"fraktionelle Arbeit" zu, und Neumann machte ihm das kurz darauf nach.
Was waren, nach der von Marty verlesenen Mitteilung, die von den für schuldig Befundenen formulierten Divergenzen auf dem 12. Plenum? Es ist schwierig, ihre allgemeinen Auffassungen aus einigen aus dem Zusammenhang gerissenen Wortfetzen abzuleiten, die noch von denen, die sie verurteilten, verdreht wurden. Marty schrieb ihnen den Gedanken zu, der Machtantritt des Faschismus bedeute eine Veränderung des Herrschaftssystems des Kapitalismus, ein Gegensatz zum System der bürgerlichen Demokratie; sie hätten falsche Positionen bei der Frage des Kampfes um die Einheitsfront, in der Frage der Streiks gehabt und hätten falsche Vorstellungen über die Volksrevolution geäußert. Remmele hätte einen 80 Seiten langen Brief an das KI geschrieben, in dem sich die
"konterrevolutionäre Theorie" eines
"westlichen Kommunismus" zeigte und der Faschismus als
"Diktatur des Lumpenproletariats" definiert worden wäre. Da man die 80 Seiten Remmeles nicht kennt, ist es nicht möglich, ihre Gesamtauffassung zu rekonstruieren. Man weiß zum Beispiel nicht, was sie anstelle der Politik der KPD, die sie für falsch erklärten, vorschlugen. Aber über bestimmte genau festgelegte Punkte kann es keinen Zweifel geben. Sie schreiben, der Sieg der Nationalsozialisten habe
"die größte Niederlage des Proletariats seit 1914" bewirkt. In seiner Anklagerede gab Marty an, diese Stelle wörtlich zu zitieren, und zeigte durch die von ihm geäußerten Worte, wieweit das Plenum davon entfernt war, diese Auffassung zu teilen:
"Hätte Remmele mit seiner Behauptung recht, so würde die Machtergreifung des Faschismus in Deutschland nicht nur eine Niederlage des deutschen Proletariats sein, sondern auch den Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale bedeuten, deren Erfolg ihr nicht nur in der UdSSR und in China seht..."
(Rundschau, Basel 1934, Nr. 11, S. 419)
Wenn man die in Deutschland erlittene Niederlage so einschätzt, dann versteht man, daß Remmele und Neumann ebenfalls der Auffassung waren, man müsse im Januar 1933 den Kampf beginnen, selbst auf die Gefahr hin, geschlagen zu werden. Dieser Gedanke löste eine grenzenlose Entrüstung bei der KI-Führung aus. Gerade dabei, in der Hierarchie in hohe Positionen aufzusteigen, wandte sich Ercoli mit einer seltenen Anhäufung von Spitzfindigkeiten dagegen:
"Jene defaitistischen Tendenzen, die sich nach dem Regierungsantritt des Faschismus in Deutschland in mehreren Parteien gezeigt haben, stützten sich auf zweierlei Argumente.
Erstens wird behauptet, die KPD hätte dem Faschismus eine Entscheidungsschlacht liefern, d.h. die Losung des bewaffneten Aufstandes ausgeben müssen in einem Augen-
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blick, da die Voraussetzungen, die eine solche Losung rechtfertigen, überhaupt nicht vorlagen.
Zweitens aber wird ein Argument ins Feld geführt, das vielleicht noch gefährlicher ist als das erste, weil es trotz seiner noch größeren Sinnlosigkeit unter der Maske ,linker' Demagogie auftritt. Man behauptete nämlich, daß wenn die KPD nicht die Losung des bewaffneten Aufstandes, um dem Faschismus den Weg zu verlegen, aufstellen konnte, sie doch wenigstens hätte ,etwas tun' müssen; um ,ein Beispiel zu geben', um ,die Ehre der Arbeiterklasse zu retten', selbst auf die Gefahr hin, vom Gegner zerschmettert zu werden. Es verlohnt sich, noch einmal auf die widerspruchsvolle Natur und die Sinnlosigkeit dieser Argumentation hinzuweisen; Es sind die gleichen Elemente, die einerseits ,Alarmrufe' ausstoßen, weil die deutsche Arbeiterklasse und die deutsche Partei vom Feind angeblich zerschlagen sind, die aber andererseits behaupten, die Partei hätte sich schlagen und zerschmettern lassen müssen; um ,die Ehre zu retten!' Es ist klar, daß solche Argumente nur geeignet sind, dem Faschismus zu helfen, in die Reihen der Arbeiterklasse Verwirrung und Demoralisierung zu tragen, der Sozialdemokratie in ihrem Kampf gegen die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse durch die KPD Material zu liefern.
Was bedeutet in Wirklichkeit eine Niederlage der Arbeiterklasse? Bei uns (in Italien) bedeutet es, daß nicht nur die Arbeiterklasse genötigt war, verschiedene von ihr bisher behauptete Positionen aufzugeben, sondern daß auch jede Gruppe der Arbeiterklasse aufs Haupt geschlagen, zersetzt, zerrieben, daß die ganzen Verbindungen der Partei mit den Massen auf eine lange Zeit hinaus vernichtet und jede Möglichkeit ihrer Wiederherstellung abgeschnitten wurde. Alles, was wir über die Lage in Deutschland, und besonders über die Lage der Partei und ihre Arbeit nach dem Regierungsantritt Hitlers wissen, zeigt uns, daß die Lage dort eine ganz andere ist, als sie bei uns nach dem Machtantritt Mussolinis war. Die Lage der KPD zeigt uns ein in der Geschichte der Arbeiterbewegung einzig dastehendes Beispiel einer Partei, die binnen so kurzer Frist ihre Verbindungen wieder hergestellt, ihre Kräfte gesammelt und unter den schwierigsten Verhältnissen an der Spitze der Arbeitermassen den revolutionären Kampf aufgenommen hat.
Es ist die in der Geschichte der Arbeiterbewegung beispiellose Tatsache, daß eine absolut illegale Partei es vermocht hat, eine so große Masse aktiver Mitglieder in ihren Reihen zu organisieren und sogar in einzelnen Orten ihre Mitgliederzahl nach dem Übergang in die Illegalität zu erhöhen. Diese Tatsache ist der beste Beweis der unerschütterlichen Kraft des deutschen Proletariats und seiner Partei, die nach dem Regierungsantritt Hitlers zwar zum Rückzug gezwungen, aber nicht zerschlagen wurde"
(Ercoli, Rundschau 1934, Nr. 5, S. 152)
Man konnte sich nicht unverfrorener ausdrücken. Ercoli mußte wissen, wie die Lage der deutschen Arbeiterbewegung war, als er redete — die ganze Welt wußte Bescheid — und er wußte auch, als er das italienische Beispiel heranzog, daß Hitler für die Illegalisierung der Arbeiterbewegung und der demokratischen Parteien in vier bis fünf Monaten dort angelangt war, wozu Mussolini vier bis fünf Jahre brauchte. Betrachtet man sich seine Argumentation für den Beweis, eine kampflose Niederlage sei im Vergleich zu einer im Kampf erlittenen gerechtfertigt, so war gerade er einer der im Plenum Anwesenden, der mehr als einmal Plechanow für seine Äußerung nach der russischen Revolution von 1905 angeprangert hatte, man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen, und er hatte ebenfalls den italienischen Sozialisten Turati verurteilt, der damals beim Marsch Mussolinis auf Rom erklärt hatte, unter solchen Umständen müsse man den Mut haben, ein Feigling zu sein.
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Im Übrigen unterstrich das Plenum mehr noch als in der Vergangenheit die ökonomischen Fortschritte der Sowjetunion, ohne mit einem Wort die Tragödie, die durch die 100%-ige Kollektivierung auf dem Lande hervorgerufen wurde, zu erwähnen. Die Sowjetunion wurde als ein Paradies gegenüber der kapitalistischen Hölle dargestellt. Die Lobeshymnen für Stalin übertrafen die der vergangenen Jahre, der Kult seiner Persönlichkeit nahm immer mehr zu.
"Unser Führer, unser Meister, unser bewährter Militärchef, der große Stratege der Weltrevolution, der Genosse Stalin", rief Manuilski schwungvoll aus, was, nach dem Protokoll,
"stürmischen Beifall" hervorrief.
Außer den von Kuusinen vorgelegten Thesen, nahm das Plenum einen
"Aufruf gegen den weißen Terror" an, der sich seit dem Sieg des Faschismus in Deutschland in der ganzen Welt verstärkt hatte. In diesem Aufruf wurde zum ersten Mal der Name des Konzentrationslagers Dachau genannt, der — mit vielen anderen — in der Geschichte der Menschheit in schrecklicher Erinnerung bleiben soll.
Das Plenum faßte gleichfalls den Beschluß, den VII. Kongreß der KI für die zweite Hälfte des folgenden Jahres einzuberufen; man zog jedoch später diesen Termin zurück, denn die KI bereitete sich inzwischen auf eine neue Wendung vor.
Obwohl die
"Linie" auf dem 13. Plenum bestätigt wurde, konnte man einige neue Besonderheiten bei der Frage der Kriegsgefahren wahrnehmen. Auf die erste Stelle setzte das Plenum, wie in der Vergangenheit, die Gefahr im Fernen Osten, und setzte die Außenpolitik Hitlers auf den zweiten Platz; aber die Außenpolitik der Sowjetunion, seine
"Friedenspolitik", sprach vom Völkerbund in einem anderen Tone:
"Der Völkerbund, den Japan und Deutschland bereits verlassen haben, und aus dem Italien im Begriff ist, auszutreten, der Völkerbund, der ein weiteres Mal nur noch als Grundlage einer Verständigung zwischen Frankreich und Großbritannien dienen kann, der beiden imperialistischen Staaten, die sich am stärksten auf ihn stützen, hört bereits auf, die Rolle einer Maske zur wahnwitzigen Vorbereitung des Krieges zu sein."
Während also die Politik der Sowjetunion hinsichtlich des Völkerbunds eine Entwicklung durchmachte, zog sie in der Politik der kommunistischen Parteien noch keine Veränderungen nach sich. Das wird erst später eintreten.
5.6. Bilanz der ´dritten Periode´
Die
"dritte Periode" näherte sich auf diesem 13. Plenum stark ihrem Ende. Die Mischung aus tönenden Erklärungen, Prahlereien und heftigen Anklagereden gegen jene, die wie Remmele, meinten, man hätte
"etwas tun" müssen, geschah aus tieferen Gründen. In den Thesen, in verschiedenen Reden, vor allem in der von Pjatnitzki, dem für die Organisation der KI Verantwortlichen, fand sich neben der Versicherung
"die Linie ist richtig" eine Masse von Anga-
-595-
ben, die belegten, daß die kommunistischen Parteien nicht wuchsen, sondern sogar zurückgingen, daß sie sich in riesigen äußeren und inneren Schwierigkeiten befanden. Pjatnitzki, der mitteilte, in der KI wären
"16 Parteien legal, 7 halblegal und 38 in völliger Illegalität", zeichnete ein außerordentlich trübes Bild dreier von ihnen, von der französischen, der norwegischen und der tschechoslowakischen Partei, die alle drei legal waren. Er sprach nicht über andere, nicht als ob dort die Dinge in Ordnung wären. Auf gewerkschaftlichem Gebiet war die Lage schlimmer als je; die Politik der
"roten Gewerkschaften", die an die
"dritte Periode" gebunden war, hatte katastrophale Folgen gehabt. Hinter allen Zahlen zeigten sich die Umrisse eines jämmerlichen inneren Zustandes. Lesen wir noch einmal den weiter oben zitierten ersten Satz aus der Rede Ercolis:
"Jene defaitistischen Tendenzen, die sich nach dem Regierungsantritt des Faschismus in Deutschland in mehreren Parteien gezeigt haben, stützen sich..."
(Ercoli)
Das Eingeständnis war wahrscheinlich unfreiwillig, aber nach den Worten Ercolis selber gab es in den Sektionen der KI
"defaitistische Tendenzen". Sie traten ein — aber er sprach es nicht aus — nach mehreren Jahren einer zügellosen ultralinken Politik. Die Redner auf dem Plenum konnten einer nach dem anderen die Äußerungen Kuusinens wiederholen:
"Trotzki hat geschrieben, daß eine ´Katastrophe' vor sich gegangen sei... Aber die gewaltige Mehrheit der Werktätigen Deutschlands denkt ganz anders..."
(Kuusinen, XIII. Plenum, S. 69 - 70)
Die Methode Coue erwies sich in einer Lage als unwirksam, wo sich die Arbeiter in der ganzen Welt bewußt waren, eine sehr schwere Niederlage erlitten zu haben. Wenn die unsinnige Gymnastik der
"Dritten Periode" nur zahlenmäßige Auswirkungen gehabt hätte, dann wären sie durch eine absolutehrliche und offene Wendung nach einer größeren Zeitspanne vielleicht überwunden worden; jedoch die seit dem Heckert-Bericht bestätigten Positionen schlossen diese Möglichkeit völlig aus. Die Folgen waren schlimmer und schwerwiegender, als es sich in den Zahlen ausdrückte: die Moral der Genossen war angegriffen. Sie waren erschöpft, politisch verwirrt und enttäuscht in ihren revolutionären Hoffnungen, die sich im Laufe der Jahre verflüchtigt hatten, und im jetzigen Zeitpunkt völlig geschwunden waren. Anstatt den Kranken zu behandeln — falls dies noch möglich war —, versuchte die KI-Führung nur, ihn über seinen Zustand zu täuschen. Sie konnte ihn damit nur mit der Zeit zugrunde richten.
Sowie der Heckert-Bericht in den kommunistischen Parteien ohne wirklichen Widerstand gebilligt worden war, erklärte Trotzki klar und deutlich, die Weigerung, die Wahrheit über die von der Arbeiterklasse der Welt erlittene
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Niederlage auszusprechen oder anhören zu wollen, zeige das Ende der KI als revolutionäre Organisation an. Das deutsche Proletariat wäre damals der Angelpunkt des internationalen Klassenkampfes. Diese Stellungnahme trug ihm, auch auf dem Plenum, massive verleumderische Angriffe ein:
"Trotzki, der Diener der konterrevolutionären Bourgeoisie, sucht vergeblich durch seine kläglichen Machenschaften zur Schaffung einer IV. Internationale und durch Verbreitung sowjetfeindlicher Verleumungen das Übergehen der sozialdemokratischen Arbeiter auf die Seite des Kommunismus aufzuhalten"
(Thesen; I., Nr. 3)
Während der
"dritten Periode" hatten die Besorgnisse über die inneren Probleme der Sowjetunion die Kreml-Führer immer mehr mit Beschlag belegt. Plötzlich tauchte vor ihnen die Bedrohung durch Hitler auf. Infolgedessen neigte Stalin noch weniger als zuvor dazu, den kommunistischen Parteien und der internationalen sozialistischen Revolution Vertrauen entgegenzubringen.
Mehr als je suchte er, sich durch Manöver mit den kapitalistischen Regierungen, auch mit der Deutschlands, zu verständigen. Die Politik der kommunistischen Parteien sollte ihm bei diesen Manövern nur als Wechselgeld, oft niedrig im Kurse, dienen. Die Zahl von im Exil in Moskau befindlichen Parteiführern nahm zu, aber Stalin hatte niemals auf die im Exil befindlichen Rücksicht genommen. Die von uns erwähnte Tatsache, daß der Aufruf der Exekutive der KI vom 5. März zuerst in Paris, und nicht in Moskau, veröffentlicht wurde, ist dafür kennzeichnend. Stalin konnte kommunistische Parteien für zweitrangige Operationen der Kreml-Diplomatie gebrauchen, aber die KI hatte schon keinen großen Nutzen mehr für ihn. Es war noch zu früh, um sich ihrer zu entledigen. Unter seiner Fuchtel verzichteten die Parteien bald auf jede revolutionäre Politik. Hinsichtlich der KI sollte er es so einrichten, daß sie in Zukunft nur noch eine unbedeutende Rolle spielen würde. In den Jahren, die auf den Sieg Hitlers folgten, fanden sehr bedeutende internationale Ereignisse statt. Die einst mit Erklärungen und Aufrufen so produktive KI, manchmal bei Demonstrationen oder Kämpfen, die kaum nationale Bedeutung erlangten, hüllte sich immer mehr in Schweigen. Nach den Tobsuchtsanfällen der
"dritten Periode" geriet die KI in einen Zustand, der immer mehr dem eines Schlafsüchtigen ähnelte, dessen ungleichmäßige Kurve seiner Hirnaktionsströme bald ganz flach wurde. Die
"dritte Periode" war das letzte plötzliche Aufbäumen, die letzte Zuckung vor dem Verschwinden der revolutionären Internationale. Revolutionär tot, intellektuell zugrundegerichtet, wird die KI noch mehrere Jahre dahinvegetieren.
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Resolutionen und Beschlüsse, Neuntes Plenum des EKKI.
S. A. Neuberg, Der bewaffnete Aufstand, Frankfurt 1971
S. Trotzki, The Third International after Lenin, op.cit. S.284 - 292.
S. das Bulletin Contre le Courant (Paris, April 1929)
In diesem Bericht bezieht sich der Vorschlag eines Bündnisses mit der Linken auf Sinowjew und Kamenew; es ist keineswegs die Frage eines Bündnisses mit Trotzki. Bei der verbannten Opposition rief dieser Vorschlag Diskussionen hervor. Trotzki teilte mit, für ihn käme es nicht in Frage, mit der Rechten einen politischen Block zu bilden, da tiefe politische Meinungsverschiedenheiten bestanden, aber er würde sich nicht weigern, ein spezifisches Bündnis mit ihr einzugehen, um die Demokratie wieder in die Partei einzuführen. Die weiteren Ereignisse ließen keine Realisierung eines Blocks Bucharins mit Sinowjew und Kamenew zu, ganz zu schweigen von einem Bündnis nach den Vorstellungen Trotzkis.
Thesen/ Resolutionen/Programm/ Statuten, Protokoll des VI. Weltkongresses der KI, Reprint in 2 Bänden, Erlangen 1972.
Diese Worte konnten nicht von irgend jemandem erfunden worden sein. Sie wurden von Trotzki zu Lebzeiten von Thorez und Ercoli-Togliatti veröffentlicht und verschiedentlich nachgedruckt. Weder der eine noch der andere hat sie jemals abgestritten oder bestätigt. Nach dem 20. Kongreß hat Togliatti sich von einem in der Versenkung verschwundenen Stalin distanziert, er habe in dieser düsteren Vergangenheit in gutem Glauben gehandelt; diese Erklärung während des VI. Kongresses läßt, neben vielen anderen, stark an seinem guten Glauben zweifeln.
Vor dem VI. Kongreß der KI abgehalten, hatte er eine Orientierung angenommen, die zur Gründung "Roter Gewerkschaften" rührte, wie sich das klar zeigen sollte, als die Politik der "Dritten Periode" im vollen Gange war (Teil V, 4. Kapitel).
S. voriges Kapitel (Teil V, 2. Kapitel).
Es ist zweifelhaft, ob das ganze Vorgehen - dessen Initiatoren bestimmt der Wen¬dung gegenüber feindliche Absichten hatten - reiflich auch nur allein auf der Ebene der KPD, und noch viel weniger auf internationaler Ebene vorbereitet worden war, denn jedermann war von ihm höchst überrascht.
In seinen Memoiren De Lenine a Staline gibt Jules Humbert-Droz eine Schilderung dessen, was im Präsidium der Exekutive der KI vorging, die auf von ihm damals verfaßten Texten beruht und infolgedessen den sich dort abspielenden Ereignissen entspricht. Abgesehen von seiner falschen Einschätzung der Politik Stalins, die er als "trotzkistisch" bezeichnete, erfährt man, daß Clara Zetkin noch zu jener Zeit wagte, innerhalb des Präsidiums gegen die Stellungnahme Stalins zu stimmen, aber das waren dort ihre allerletzten Regungen von Unabhängigkeit.
Die Bedeutung, die diesem Plenum seitens der KI-Führung zugelegt wurde, läßt sich auch aus der Tatsache herleiten, daß im Unterschied zu den vorangegegangenen Plenumssitzungen das sehr umfangreiche Protokoll ungekürzt veröffentlicht wurde. Für die folgenden Sitzungen war dies nicht mehr der Fall.
Es gab beim Plenum niemanden, der sich zur Rechten bekannte, mit der Ausnahme eines Schweden, Flyg, der die Politik seiner Partei zu verteidigen suchte, ohne anscheinend zu begreifen, worum es ging. In der Delegation der britischen Partei, die für die Texte stimmte, ohne die Folgen zu sehen, die sie nach sich zogen, fehlte ebenfalls weithin das Verständnis für diese Fragen.
Sollte dies jemanden schockieren, so antworten wir ihm, daß die deutsche Sozialdemokratische Partei dem portugiesischen Sozialisten Soares Gelder besorgt hat, daß die Gewerkschaft Force Ouvriere in Frankreich erhebliche finanzielle Unterstützung seitens der amerikanischen Gewerkschaften erhalten hat. Wir hegen den Verdacht, daß diese Spenden nicht ohne Wissen (um nicht mehr zu sagen) der CIA gemacht wurden. - Aber das ist eine andere Geschichte.
Für die Fragen des flachen Landes, siehe vor allem M. Lewin, La paysannerie et fe pouvoir sovietique 1928 - 1930 (Editions Mouton).
Der Vorgang war so neu, daß Trotzki seinerzeit an die "Geständnisse" der Angeklagten der "Industriepartei" und sogar, wie er später schrieb, an die der ehemaligen Menschewiki glaubte.
Die erste vollständige deutsche Ausgabe in A. Losowski, Die Rote Gewerkschaftsinternationale, ISP-Verlag Frankfurt, 1978.
Siehe 1. Band, Teil III, 2. Kapitel.
Internationale Presse-Korrespondenz, 1932, Nr. 45, S. 1420.
Geschichte der Internationale, Hannover 1974, Bd. 2, S. 399 - 400
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