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Seminar-AG - KB (Nord) |
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Sowjetunion 1921 - 1939 - von Lenin zu Stalin - Teil I: Sowjetische Frauenpolitik 1917 - 1939
( Original )
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Status |
1989 - Materialsammlung |
Letzte Bearbeitung |
08/2004 |
Home |
www.mxks.de
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1. Zur Einführung
2. Chronologie
3. Sowjetische Frauenpolitik 1917 bis 1939 - Kritische Vorbemerkung zum klassischen marxistischen Theorieansatz zur Lösung der Frauenfrage
4. Die Frauen- und Familienpolitik der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 und in den zwanziger Jahren
1. Frauen in der Produktion
2. Familie und Ehe
3. Einbeziehung der Frauen in die Politik
5. Wandel in der sowjetischen Frauen und Familienpolitik der dreißiger Jahre
1. Einbeziehung der Frauen in die Produktion
2. Rollback im Bereich des Überbaus
3. Das Familiengesetz von 1936
7. Dokument 1: Alix Holt: Die Bolschewiki und die Frauenunterdrückung
0 Einleitung
I. Die Diskussionen über die Familie und die Hausarbeit
II. Wirtschaft und Politik
IV. Die Moral und die sexuellen Beziehungen
8. Dokument 2: Leo Trotzki: Familie, Jugend, Kultur
8. Dokument 3: Über die Zivilehe, die Kinder und die Führung der standesamtlichen Bücher vom 31.12.1917
10. Dokument 4: Kodex mit den Gesetzen über Ehe, Familie und Vormundschaft vom 1.1.1927
11. Dokument 5: Über die Heranziehung der Frauen zum wirtschaftlichen Aufbau. (Beschluß vom 28. Dezember 1920).
12. Dokument 6: Fannina W. Halle: Stellungnahmen zum Entwurf eines neuen Ehegesetzes (vor 1932)
13. Dokument 7: Lenin: Briefe an Ines Armand - geschrieben Januar 1915 in Bern - als Mittel des ideologischen Klassenkampfes erstveröffentlicht 1939
14. Dokument 8: Fannina W. Halle: Einsatz der Frauen bei der Erfüllung des Fünfjahresplans (vor 1932)
15. Dokument 9: Gesetzentwurf über das Abtreibungsverbot und den Mutterschutz (1936)
16. Dokument 10: Stellungnahme der Krupskaja zum Abtreibungsgesetzentwurf (1936)
1. Zur Einführung
Der vorliegende Reader ist in Vorbereitung eines Seminar des KB im Herbst 1989
entstanden. Er hat u.E. allerdings einen darüber hinausgehenden Gebrauchswert.
Deshalb haben uns nicht Umfang und (trotz allem günstiger) Preis geschreckt, da
der Band eine solche Fülle an Materialien beinhaltet, daß ein weitergehendes
Studium der Texte lohnenswert ist, und zahlreiche Anregungen und Hinweise auf
mehr enthalten sind.
"Stalinismus", das "Phänomen Stalin" sind besonders in der
bürgerlichen Öffentlichkeit scheinbar untrennbar mit Sozialismus und Kommunismus
verbunden. Aktuell erhält diese Verknüpfung durch das Pekinger Massaker neue
Propagandanahrung. Doch im Zuge der Aufweichung der verkrusteten Strukturen in
der Sowjetunion beginnt in Teilen der Linken - bis auf Restbestände der
ML-Bewegung - eine erneute Diskussion des "Stalinismus". Das war auch
für uns der Anlaß, tiefer in die sowjetische Geschichte einzusteigen, um uns ein
materialistisches Verständnis von den Ursachen und Grundlagen von
Fehlentwicklungen des realen Sozialismus zu erarbeiten.
So faszinierend die Ereignisse im Oktober 1917 waren, so faszinierend die
Vorstellung, das erstemal eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, frei von
Ausbeutung und Unterdrückung - so widerlich und grausam waren die Großen
Säuberungen und die Moskauer Prozesse. Doch wie man es auch wendet: diese Teile
der sowjetischen Entwicklung gehören zusammen. 30 Jahre unter Stalin als
Generalsekretär der KPdSU können nicht einfach als Betriebsunfall der
(sozialistischen) Geschichte oder Phase des "Personenkult" erledigt
werden, wie dies in Teilen der aktuellen Stalin-Bewältigung erneut versucht
wird.
Uns hat daher die Frage nach den inneren Zusammenhängen dieser Entwicklung
interessiert. Mit den vorliegenden Texten und dem Seminar wollen wir den Versuch
unternehmen, uns dieser Wahrheit ein Stück weiter anzunähern. Dabei muß es darum
gehen, einen tieferen Einblick in die historischen Verhältnisse zu bekommen und
ihre realen Schwierigkeiten zu erkennen. Diese sollen nicht äls Entschuldigung
für offensichtliche Mißstände und Entartungen herhalten, sondern sind für ihre
Erklärung notwendig. Der Versuch des sozialistischen Aufbaus in einem ökonomisch
rückständigen Land, nicht eingebunden in die erwartete Weltrevolution, hat das
fehlentwickelte Gesicht dieses Sozialismus mitgeprägt. Es ist für die Annäherung
an die rätionale Durchdringung dessen, was als "System des
Stalinismus" zu bezeichnen ist wenig hilfreich, wenn in Teilen der
heutigen Geschichtsaufarbeitung in der Sowjetunion Stalin zur absoluten
Negativfigur aufgebaut und und seiner Person und einigen Bösewichtern die Schuld
für die Ereignisse der Vergangenheit anlastet, und dabei das Herrschaftssystem
als Ganzes vernachlässigt wird. So werden auf neue Weise die Geschehnisse
verschleiert und Veränderungen blockiert.
Uns erschien es unumgänglich, uns den historischen Tatsachen von verschiedenen
Seiten aus zu nähern. Die Quellenlage ist seit den dreißiger Jahren aufgrund der
totalen staatlichen Kontrolle äußerst schwierig, und wenn wir es im Text nicht
an jeder Stelle angemerkt haben, dann schreiben wir es hier pauschal: nach wie
vor sind viele der Informationen über die dreißiger Jahre mit Vorsicht zu
genießen. Das ist nicht die Schuld derjenigen, die nach Informationen suchen
(deren Veröffentlichung unter Sozialisten eine Selbstverständlichkeit sein
sollte), sondern liegt ausschließlich in der Verantwortung sowjetischer Stellen,
die endlich ihre Archive öffnen müssen. Und soweit uns bekannt, gehen die
neuzeitlichen sowjetischen Veröffentlichungen über die Zeit der SU unter Stalin
(insbesondere über die Säuberungen) in aller Regel nicht über längst Bekanntes
aus verschiedenen westlichen Quellen hinaus, auch wenn von der DKP diese
Erkenntnisse deswegen als neu verarbeitet werden, weil sie mittlerweile die
sowjetische Weihe erhalten haben. Das ist immer noch ein trauriger Stand der
Geschichtsaufarbeitung.
Im vorliegenden Reader sind daher Texten unterschiedlicher Autorinnen
zusammengestellt, deren Bandbreite von bürgerlichen Historikern über Mao bis zu
Stalin und Lenin reicht. Zusätzlich finden sich eigene Erarbeitungen wieder, in
denen versucht wird, das Abgelaufene zusammenzufassen, zu bewerten und
einzuordnen. Dennoch beanspruchen wir nicht, eine Analyse zu liefern. Das mag
einer weitergehenden Bearbeitung überlassen bleiben. Wir wollen in diesem Fall -
wie schon in unserem ersten Textreader "Roter Oktober", von der
Revolution bis zur NEP - eine Hilfe zum Einlesen und zur Schulung geben. Einiges
fehlt, nicht weil wir es nicht wichtig fanden, sondern weil es unsere
Kapazitäten überstieg: die sowjetische Nationalitäten-, Außen, und
Kominternpolitik. Schon deshalb muß trotz schätzungsweise 900 Buchseiten das
Gesamtbild unvollständig bleiben. Dafür haben wir erstmals einen
zusammenhängenden Teil der sowjetischen Frauenpolitik von 1917 - 1939
erarbeitet.
Die Redaktion dieser Materialsammlung: as, 10, hr. Juni 1989
(Stellvertretend für alle, die hieran mitgearbeitet haben: Alfred, Andreas,
Anita, Bernd, Buschi, Björn, Christa, Corinna, Flo, Gabi, Gerd, Heiner, Inge,
Ingrid, Jo, Jupp, Kay, Lollo, Margot, Otto, Renate, Ursel.)
2. Chronologie
1917
23. Februar (8. März) "Internationaler Frauentag" mit
Protestdemonstrationen gegen die katastrophale Versorgungslage in Petrograd.
Beginn der Aufstände, die zur Februarrevolution führen.
28. Februar(13. März) Gründung des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates.
2. März(15. März) Der Zar dankt ab.
26.Oktober(8.Nov.) Erstürmung des Winterpalais: Oktoberrevolution!
24. November Dekret zum Acht-Stunden-Tag, enthält für Frauen das Verbot der
Nachtarbeit, der Arbeit untertage und der Überstunden; 1918 werden diese Verbote
zusammengefaßt unter dem Verbot von gesundheitsgefährdenden Arbeiten für Frauen.
29. Dezember Dekret über die Ehescheidung
31. Dezember Dekret über die Zivilehe, die Kinder und die Führung der
standesamtlichen Bücher
1918
Dekret über die Krankenversicherungen, Frauen erhalten 4 Monate bezahlten
Schwangerschaftsurlaub und geregelte, bezahlte Stillpausen. Verbot der Adoption
wegen Mißbrauchs von Kindern als Arbeitskräften und Erbschleicherei. Januar
Gründung der Abteilung für Mutterschutz
18. - 19. Januar Erste und letzte Sitzung der Konstituierenden Versammlung; sie
wird vom Zentralen Exekutivkomitee aufgelöst.
3. März Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk.
8. März Die bolschewistische Partei nimmt den Namen "Kommunistische Partei
Rußlands (Bolschewiki)" an. 15. März Weil der Sowjetkongreß den Vertrag
von Brest-Litowsk ratifiziert, treten die Linken Sozial revolutionäre aus dem
Rat der Volkskommissare aus.
31.Mai Verordnung über die Einführung des obligatorischen
Gemeinschaftsunterrichtes.
Mitte Juni Ausschluß der SozialrevoIutionäre und Menschewiki aus dem Zentralen
Exekutivkomitee des Allrussischen Sowjetkongresses.
6. Juli Sozialrevolutionäre ermorden den deutschen Botschafter Mirbach und
versuchen einen Aufstand.
30.August Attentat von Sozialrevolutionären auf Lenin.
November 1. Allrussische Arbeiterinnen- und Bäuerinnenkonferenz, Einrichtung der
Frauenabteilung (Shenotdel) - Erste Vorsitzende bis 1920 Inessa Armand, danach
bis 1922 Alexandra Kollontai.
1919
Verkündung der Grundsätze zur Vergesellschaftung der Hausarbeit auf dem 4.
Allrussischen Kongreß der Arbeiterinnen und Bäuerinnen.
25. Februar Die Sozialrevolutionäre werden wieder zu den Sowjets zugelassen.
18.- 23. März Der VII. Parteitag der KPR(B).
1920
17. Januar Dekret zur Abschaffung der Todesstrafe.
3.Februar Beschluß über die allgemeine Arbeitspflicht.
18. Februar Dekret über den Schutz der Gesundheit der Frauen (Legalisierung der
Abtreibung).
29. Mäiz- 5.April Der IX. Parteitag erörtert die Wirtschaftspolitik und die
Rolle der Gewerkschaften.
26. November Beginn des gewaltsamen Versuchs der Roten Armee, die
Partisaneneinheiten Machnos zu entwaffnen.
28. Dezember Beschluß des Allrussischen Rätekongresses "über die
Heranziehung der Frauen zum wirtschaftlichen Aufbau".
1921
Legalisierung der Adoption (wegen der allgemeinen Not wird diese Regelung der 2.
Fassung des Ehegesetzes vorgezogen).
Gründung eines Institutes zur Forschung über Empfängnisverhütung.
Aufhebung der Arbeitspflicht.
1. Jahreshälfte Zunehmende Bauernaufstände.
Mitte Februar Beginn von Demonstrationen und Streiks in Petrograd (in geringerem
Ausmaß auch in anderen Städten).
2. März Ausbruch des Kronstädter Aufstandes.
8- 16. März Der X. Parteitag beschließt die Naturalsteuer sowie eine Straffung
der Partei und legt die Rolle der Gewerkschaften fest.
26. - 28. Mai Die X. Parteikonferenz beschließt eine "Reinigung" der
Partei und diskutiert über eine "neue ökonomische Politik".
Sommer/Herbst Mißernten und Hungersnot, der mehrere Mjllionen Menschen zum Opfer
fallen.
1922
Zivilgesetz über Erbschaft und Testament (progressive Erbschaftssteuer).
27. März - 2.April Der XI. Parteitag richtet ein Generalsekretariat ein, das
Stalin übernimmt.
31. Oktober Die Staatliche Politische Verwaltung (GPU) erhält das Recht, die
Todesstrafe und Deportationen zu verhängen.
23.27.Dezember Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).
1923
Einschränkung der Abtreibung (Abortus-Troika, 3 Monatsfrist, keine Abtreibung
beim 1. Kind, Abtreibung nicht öfter als zweimal im Jahr, Gebühren).
9.März Ein dritter Schlaganfall schaltet Lenin endgültig aus dem politischen
Leben aus.
17.- 25.April Auf dem XII. Parteitag wird über die drohende
"Scheren"krise diskutiert.
8. Oktober Mit einem Brief Trotzkis an Zentralkomitee und Zentrale
Kontrollkommission beginnt die Debatte um den "neuen Kurs".
1924
Registrierung der Abtreibung.
21.Januar Lenin stirbt
29.- 31.Januar "Leninaufgebot" zur Werbung neuer Parteimitglieder
1925
26. Januar Trotzki wird Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates und als
Volkskommissar für das Kriegswesen durch M. V. Frunze abgelöst.
1. März Frauen erhalten das Recht, bei der Eheschließung ihren Familiennamen
weiterzuführen; die Partner müssen sich vor der Ehe für einen Namen entscheiden.
Frühjahr Höhepunkt der bauern-freundlichen Politik: Wiederzulassung von
Bodenpacht und landwirtschaftlicher Lohnarbeit sowie Steuersenkung.
20.August Vorlage der ersten "Kontrollziffern" (für das
Wirtschaftsjahr 1925/26)
31.August Verordnung über die Einführung des allgemeinen Grundschulunterrichts
in der RFSSR.
Herbst Die "Warenhunger"-Krise offenbart erneut die unzureichenden
Beziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft.
l8.- 31.Dezember Niederlage der Opposition um Sinowjew und Kamenew auf dem XIV.
Parteitag.
1926
4.Januar S. M. Kirow löst Sinonjew als Leningrader Parteisekretär ab.
6. - 9.April Erstes öffentliches Auftreten der "Vereinigten
Opposition" um Trotzki, Sinowjew und Kamenew auf dem Plenum des
Zentralkomitees.
14. - 23. Juli Auf einer gemeinsamen Plenarsitzung von Zentralkomitee und
Zentraler Kontrollkommission wird in der "Erklärung der Dreizehn" das
Programm der Opposition vorgelegt und von der Mehrheit abgelehnt.
1. August Alle Steuern aus der Landwirtschaft sind von nun an ausschließlich in
Geld und nicht mehr in Naturalien zu entrichten.
16. Oktober Die Führer der Oppositin üben Selbstkritik.
23. - 26. Oktober Trotzki wird aus dem Politbüro ausgeschlossen, Kamenew
verliert die Stellung eines Kandidaten des Politbüros und Sinowjew, der im Juli
seinen Platz im Politbüro verloren hatte, muß als Vorsitzender des
Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationalen abtreten.
19. November Neues Familiengesetzbuch der RSFSR.
1927
Bau einer kleinen Präserfabrik
1. Januar Das neue Ehegesetz tritt nach einjähriger Diskussion in Kraft.
21.- 23. Oktober Trotzki und Sinowjew werden aus dem Zentralkomitee
ausgeschlossen.
2.- 19. Dezember Der XV. Parteitag beschließt ein Industrialisierungsprogramm
und billigt die Direktiven zur Ausarbeitung eines Fünfjahresplanes. Zahlreiche
Sympathisanten der Opposition werden aus der Partei ausgeschlossen.
1928
Ende Januar Stalin ordnet "außerordentliche Maßnahmen" zur Bekämpfung
der "Getreide"-Krise an, die im Juli wieder aufgehoben werden.
16. Mai - 6.Juli Schachty-Prozeß gegen Ingenieure und Techniker
Herbst/Winter Während der Getreidekampagne werden erneut Zwangsmaßnahmen
angewendet: trotzdem verschärft sich die Krise. In zahlreichen Städten wird der
Lebensmittel-verbrauch rationiert.
Ende September N. I. Bucharin kritisiert in der "Prawda" die
überhöhten Planansätze des Obersten Volkswirtschaftrates.
16. - 24. November Das ZK-Plenum beschließt eine Resolution über die
beschleunigte Industrialisierung. Stalin erklärt die "rechte
Abweichung" (mit Bucharin als führendem Kopf) zur Hauptgefahr.
10.- 24.Dezember Auf dem VIII. Allunions-Gewerkschaftskongreß werden die
Grundlinien des Fünfjahresplanes erläutert. Umbesetzung der Gewerkschaftsspitze
eingeleitet.
1929
18. Januar Das Politbüro beschließt (gegen die Stimmen der "Rechten")
die Ausweisung L. D. Trotzkis aus der Sowjetunion. Dieser muß in der Nacht vom
10. - 11. Februar das Land verlassen.
23.- 29.April Die XVI. Parteikonferenz verurteilt die Bucharin-Gruppe und
billigt den ersten Fünfjahresplan 1928/29 bis 1932/33. Bucharin als Herausgeber
der "Prawda" abgelöst.
20.- 28.Mai Rücktritt von M. P. Tomskij als Vorsitzenden des Zentralrates der
Gewerkschaften. Sieg der Stalinlinie.
9. Mai ZK-Resolution über den sozialistischen Wettbewerb.
Juni Werbungskampagne für die Gründung von Kolchosen.
5.Juni Durch Erlaß des Rates für arbeit und Verteidigung wird die - 1928
eingeleitete - Gründung von Maschinen-Traktoren-Stationen (im staatlichen
Eigentum) forciert.
22. Oktober Das Politbüro beschließt, daß die Kompaktkollektivierung noch
während des 1. Fünfjahresplanes durchgeführt werden soll.
November Bucharin und Tomskij aus dem Politbüro entfernt.
21. Dezember Der 50. Geburtstag Stalins wird zur großen Demonstration des
Stalinkultes.
29. Dezember Stalin fordert die "Liquidation der Kulaken als Klasse".
Ende Dezember Das Auslaufen des 1. Fünfjahresplanes vom 30. September 1933 auf
den 31. Dezember 1932 vorverlegt.
1930
Auflösung der Frauenabteilungen. 26.Juni - 13. Juli XVII. Parteitag
("Parteitag der vollentfalteten 0ffensive des Sozialismus").
10. September Prozeß gegen Kondratlev und andere Ökonomen. Verstaatlichung der
Maschinen-Traktoren-Stationen.
Herbst Die Kompaktkollektivierung, durch eine Stalinrede vom 2. März vorerst
gebremst, wird erneut vorangetrieben.
25. November - 7. Dezember Prozeßgegen die sog. Industriepartei.
19. Dezember Rykow als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare abgelöst durch
Molotow. Mit Rykow verläßt der letzte Vertreter der "rechten
Opposition" das Politbüro.
1931
1.- 9.März Prozeß gegen das angebliche "Bundesbüro der Menschewiki"
(mit N. G. Groman u. a.).
5. September ZK-Beschluß über die Grund- und Mittelschule, der die pädagogischen
Experimente der frühsowjetischen Periode endgültig beendet und die Entwicklung
zur autoritären Lern- und Leistungsschule einleitet.
1932
Sommer Eine Mißernte führt zu einer schweren Hungersnot.
10. Oktober Dnjeproges, das größte Wasserkraftwerk der Welt, in Betrieb
genommen.
Ende November Ein oppositionelles Manifest von M. N. Rjutin, das in
Parteikreisen zirkuliert, fordert einen neuen politischen Kurs.
1933
2.August Nach 20 Monaten Bauzeit wird der 227 km lange Weißmeer-Ostseekanal
eröffnet.
1934
26. Januar- 10. Februar XVII. Parteitag der KPdSU. 2. Fünfjahresplan
(rückwirkend vom 1. Januar) angenommen. Stalin werden drei weitere
Parteisekretäre (darunter S. M. Kirow) an die Seite gestellt, mehrere
Oppositionelle zu Mitgliedern bzw. Kandidaten des ZK gewählt. Auf
Parteitagsbeschluß wird die Zentrale Kontrollkommission der KPdSU zur Kommission
der Parteikontrolle beim ZK (ohne Aufsichtsbefugnis gegenüber dem ZK)
umgewandelt.
17.August- 1.September 1. Allunionskongreß der Schrifsteller:
"Sozialistischer Realismus" als Programm.
Dezember Nach dem Mord an dem Leningrader Parteisektretät S. M. Kirow (1.
Dezember) veranlaßt Stalin eine Massenverhaftung ehemaliger Oppositioneller.
1935
17.Februar Auf dem 2. Allunionskongreß der Kolchos-Stoßarbeiter wird ein
Musterstatut für Kollektivwirtschaften angenommen.
7.ApriI Nach einer Entscheidung des Rats der Volkskommissare können schon
Zwölfjährige mit dem Tode bestraft werden.
15. Mai Erste Strecke der Moskauer Untergrundbahn eröffnet.
25.August Die "Gesellschaft der Alten Bolschewiki" löst sich auf.
30.- 31.August Der Hauer A. G. Stachanow übertrifft in einem Kohleschacht am
Donez die Schichtnorm um 1.300 %: Auftakt der "Stachanow Bewegung".
Herbst Lebensmittelrationierung gänzlich eingestellt.
1936
27.Juni Die Verordnung "über das Verbot der Abtreibung, die Verbesserung
der materiellen Hilfe der Wöchnerinnen, Festsetzung einer staatlichen Hilfe für
kinderreiche Familien, Erweiterung des Netzes der Entbindungsanstalten,
Kinderkrippen und Kindergärten, Verschärfung der Strafsanktionen für die
unterlassenen Unterhaltszahlung und über einige Anderungen der
Ehescheidungsgesetze" bringt eine Neuorientierung der Ehe-und
Familiengesetzgebung in der UdSSR. Die Familie wird wieder als Grundlage des
Staates anerkannt und gefördert.
August Als Auftakt des Massenterrors Erster Moskauer Schauprozeß ("Prozeß
der Sechzehn") gegen das "Trotzkistisch- Sinowjewistische
Terroristenzentrum".
23. August Selbstmord von Tomskij.
26.September An der NKWD-Spitze wird Jagoda durch Jeschow abgelöst.
5. Dezember Der außerordentliche III. Rätekongreß verabschiedet die "Große
Stalinsche Verfassung" der UdSSR. Sie ist von N. 1. Bucharin entworfen und
löst die Konstitution von 1924 ab.
1937
23. - 30.Januar Zweiter Moskauer Schauprozeß ("Prozeß der Siebzehn")
gegen das "Sowjetfeindliche Trotzkistenzentrum".
18. Februar Selbstmord von Ordschonikidse.
11. Juni Marschall Tuchatschewski und sieben weitere hohe militärische Führer
verhaftet, später nach einem Geheimprozeß liquidiert. Bis Anfang 1938 lichtet
der Terror in den Streitkräften besonders die oberen Ränge des Offizierskorps.
August Die Wahl eines Stalin nicht genehmen Politbüros der Ukrainischen KP (3.
Juni) führt im August zu einem vernichtenden Schlag gegen die führenden
ukrainischen Kommunistenkader.
10. September Der Abbruch der Strafverfolgung von N. 1. Bucharin und A. I. Rykow
bekanntgegeben.
1938
1. Januar Beginn des 3. Fünfjahresplanes
2. - 13. März Dritter Moskauer Schauprozeß ("Prozeß der
Einundzwanzig") gegen das "Antisowjetisch rechte
Trotzkistenzentrum" (Bucharin, Rykow u.a.).
Jahresmitte Abflauen der Terrorwelle.
8. Dezember L P. Berija, Stellvertretender Innenkommissar seit Juli, löst
Jeschow als NKWD-Chef ab.
1939
10.- 21.März Der XVIII. Parteitag der KPdSU ("Parteitag des Kampfes für den
Sieg des Kommunismus in der Sowjetunion") nimmt den 3. Fünfjahresplan an.
Stalin gibt das Endes der "Parteisäuberung" bekannt.
3. Sowjetische Frauenpolitik 1917 bis 1939 - Kritische Vorbemerkung zum klassischen marxistischen Theorieansatz zur Lösung der Frauenfrage
Die Oktoberrevolution war die erste Revolution der Weltgeschichte, die sich die Aufgabe stellte, auch die Frauen zu befreien und sie in die Idealvorstellung der Menschenrechte von "Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit" - mit denen bis dahin konkret nur der Mann gemeint war - einzubeziehen, In diesem Sinne wurde die sowjetische Frau dem Manne nach der Revolution nicht nur juristisch und politisch gleichgestellt, es sollte ihr auch die Möglichkeit gegeben werden, dies für sich zu nutzen.
Als das entscheidende Element sahen die Bolschewiki den Kampf für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen an. Sie legten deshalb ihr Hauptaugenmerk auf zwei Elemente: die Einbeziehung der Frauen in die Produktion bei gleichzeitiger Sicherung ihrer Gleichstellung durch Schutzgesetze und - um ihr dafür Raum zu geben und sie zu entlasten - die Vergesellschaftung der Haus- und Erziehungsarbeit. Angestrebt war zugleich die Auflösung der althergebrachten bürgerlich kapitalistischen Familienstruktur ("Absterben der Familie"), ohne allerdings genau zu wissen, was an deren Stelle zu setzen war. Sie handelten damit ganz im Sinne der bis zu diesem Zeitpunkt erarbeiteten marxistischen Vorstellung.
Gemäß der klassischen marxistischen Theorie kann die Frauenfrage nicht isoliert von der gesellschaftlichen Situation gelöst werden. Die Emanzipation der Frau wird - wie die jeder anderen unterdrückten "Gruppe" - als Teil der allgemeinen sozialen Frage begriffen, die nur durch gesellschaftliche Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse - letztlich in einer kommunistischen Gesellschaft endgültig gelöst werden kann. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft aber ist bestimmt von den wirtschaftlichen Beziehungen und hängt letztlich von der Rolle ab, die sie in dieser Wirtschaft (sprich: Produktionsprozeß) einnimmt. Der erste praktische Schritt - und so auch von Marx und.Engels (teilweise gegen Widerstände aus der proletarischen Bewegung) propagiert - bestand deshalb darin, das gesamte weibliche Geschlecht in die Industrie einzugliedern und über diesen Akt die auf wirtschaftlicher Überlegenheit begründete Herrschaft des Mannes zu beenden.
Wahrhaft revolutionäre Gedanken bezogen auf den damaligen Zustand der herrschenden Gesellschaftsordnung! Denn die Rolle der Frau war im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Mutter-rolle und ihrer ausschließlichen Festlegung auf Ehe und Familie bestimmt. Selbst in der ihr naturgemäß zugeschriebenen Sphäre der Familie war sie dem Manne untertan und ökonomisch abhängig.
In Rußland galt der Ehemann als Vormund seiner Gattin, sie besaß keinen eigenen Ausweis. Dies alles war im Zivilrecht verankert und galt natürlich erst recht im täglichen Leben.
Wenn es auch bereits durch die Industrialisierung Auflösungserscheinungen der Familie gab, besonders dort, wo in der Zusammenballung der großen Städte die Proletarierinnen berufstätig waren, wenn sich auch bereits vereinzelte privilegierte Frauen den Zugang zu Bildung und Universitäten erkämpft hatten, so war doch der Masse der Frauen die Teilnahme an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, an Bildung und Wissenschaft verschlossen. Dies war in diskriminierenden Gesetzen festgelegt, so untersagtez.B. bis 1908 in Deutschland das Vereinsgesetz den Frauen den Zutritt zu jeglicher politischen Partei, ebenso war juristisch die patriarchalische Struktur des häuslichen Leben abgesichert.
Rückblickend zeigt sich aber, daß das Erringen der wirtschaftlichen Unabhängigkeit - wenn auch eine entscheidende Voraussetzung - jedoch keineswegs das einzige Hindernis auf dem Weg der Frauen zur Emanzipation war.
Die aus der allseitigen Unterdrückung der Frau resultierenden Probleme, die die moderne Frauenbewegung heute als "die besondere Unterdrückung und Ausbeutung der Frauen" bezeichnet, wurden von den Sozialisten und Kommunisten der damaligen Zeit kaum oder nicht genügend reflektiert bzw. waren nur ungenügend wissenschaftlich erarbeitet. Sie wurden von daher unterschätzt - auch wenn es dafür bereits Ansätze z.B. von A. Kollontai und L. Trotzki gab. Phänomene wie das Festhalten an geschlechtsspezifischen Rollenmustern, Beharrungsvermögen von überkommenen Vorurteilen, psychologische Momente der Irrationalität, nicht zuletzt die Privilegien, die Bequemlichkeit des Mannes, wurden nicht zum Gegenstand einer breiten Auseinander9
Setzung gemacht. Von daher war der unvollkommene Theorieansatz der Sozialisten und Bolschewiki, der angesichts des damaligen Standes der Psychologie und der Soziologie durchaus erklärlich ist, letztlich auch nicht geeignet, die patriarchalischen Strukturen der Ehe und Familie in der Praxis zu überwinden, eine geschlechtsspezifische Arbeits- und Rollenverteilung zu bekämpfen und schließlich aufzuheben.
Die Kritik an der totalen Identifizierung mit der geschlechtsspezifischen, konventionellen Frauenrolle und dem Dasein als Mutter, die sich z.B. u.a. in der Forderung nach "Selbstbestimmung" ausdrückt, ist (von einzelnen Ansätzen abgesehen) ein neuer Gedanke, der von der modernen Frauenbewegung der siebziger Jahre in die gesellschaftliche Debatte eingebracht wurde.
So konnten nach der Oktoberrevolution zwar wichtige Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung verzeichnet werden, letztlich aber blieben die Ansätze stecken. Die Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kindererziehung konnten - nicht zuletzt auch wegen mangelnder ökonomischer Möglichkeiten - nicht realisiert werden. Die inzwischen in hoher Zahl erwerbstätigen Frauen blieben zur alleinigen Bewältigung der Hausarbeit und der Kindererziehung verurteilt, die daraus entstehende Doppel- und Dreifachbelastung aber nahm ihrer Berufstätigkeit einen großen Teil ihrer emanzipatorischen Bedeutung. Die volle Einbeziehung der Frauen in das gesellschaftliche und politische Leben fand nicht statt.
4. Die Frauen- und Familienpolitik der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 und in den zwanziger Jahren
Direkt nach der Oktoberrevolution und in den zwanziger Jahren wurden erste Maßnahmen für die Gleichstellung der Frau ergriffen und diverse Experimentedurchgeführt: auf der juristischen Ebene wurden über
"Dekrete" den Frauen gleiche Rechte zugestanden wie den Männern, über die Öffnung sämtlicher Bildungswege für Frauen hatten sie Zugang zu allen Berufen, es wurden außerdem Anstrengungen unternommen, die Frauen in die Produktion einzubeziehen und sie über die
"Frauenabteilung" für den politischen und den sozialen Kampf zu gewinnen.
Als eines der ersten Dekrete wurde bereits 1917 die Ehe dem Zugriff der Kirche entzogen, die Scheidung wurde erleichtert und 1926 die registrierte Ehe der nichtregistrlerten gleichgestellt. Anfang 1918 wird in allen Schulen der Gemeinschaftsunterricht zur Pflicht, die Noten werden abgeschafft, der Zugang zu den Universitäten von keinerlei Schulabschlüssen abhängig gemacht. Besonders während der Zeit des Kriegskommunismus wird versucht, Frauen für die Arbeit in allen, auch den
"männerorientierten" Branchen zu gewinnen. Die Einrichtung von Kantinen und Kind erkrippen wird zur Entlastung und Freisetzung der Frauen für die Arbeit gefordert. Diskussionen um das
"Novyj byt", um
"neue Formen des Alltagslebens", nahmen einen breiten Raum ein, auch wenn eine
"Mangelwirtschaft" die vorherrschende alltägliche Erfahrung der Bevölkerung war. Zwar wurde die Ehe dabei in Frage gestellt, es gelang jedoch nicht, z.B. an ihre Stelle etwas anderes zu setzen. Ansätze einer
"neuen sozialistischen Moral", wie sie z.B. von Alexandra Kollontai entwickelt wurden, waren stark umstritten, teilweise auch demagogischen Angriffen ausgesetzt und verschwanden Ende der zwanziger Jahre ganz aus der gesellschaftlichen Diskussion.
In den ersten Jahren nach der Revolution wurden verschiedene Experimente durchgeführt, die die Frauen von der Hausarbeit befreien und von der Kindererziehung entlasten sollten. Ziel sollte sein, die Frau aus ihrer
"stumpfsinnigen Kleinarbeit" zu befreien und ihr so Freiraum zu verschaffen, damit sie sich in das gesellschaftliche Leben und in die Produktion einbringen konnte. Die alten Verhältnisse sollten revolutioniert - tatsächlich verändert werden: So sollte an die Stelle von Haushalt, Kindererziehung etc. ein System von öffentlichen sozialen Einrichtungen gestellt werden.
Die wirtschaftliche Lage ließ allerdings nur einen geringen Spielraum für die Einrichtung all der Strukturen, die notwendig gewesen wären, um die Frauen wirklich von ihrer Doppel belastung zu befreien. Man muß sich auch fragen, ob das vorherrschende Bewußtsein dafür ausreichend war und auch entwickelt wurde, um diesen Maßnahmen den notwendigen Nachdruck zu verleihen. So waren es während der NEP, einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit insgesamt sehr hoch war, als erste die Frauen, die in übermäßig hohem Maß davon betroffen waren. Proteste bzw. Maßnahmen dagegen sind uns nicht bekannt.
In einer kleinen Untersuchung über die
"Fragen des Alltagslebens" kommt Trotzki 1923 zu dem Ergebnis:
"Eine politische Idee einerseits und das Alltagsleben andererseits ist aber zweierlei. Die Politik ist elastisch, das Alltagsleben aber ist unbeweglich und widerspenstig."(S. 36)
"Das Alltagleben ist viel konservativer als die Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es noch weniger bewußt anerkannt wird als letztere."(S. 55) Sein Fazit:
"Die politische Gleichheit zwischen Mann und Frau im Sowjetstaat herzustellen - das war eine Aufgabe, die einfachste. Die Gleichheit des Arbeiters und der Arbeiterin innerhalb der Produktion Inder Fabrik, im Werk, in den Gewerkschaften herzustellen, so daß der Mann nicht die Frau verdränge - diese Aufgabe ist bereits eine viel schwierigere. Aber die wirkliche Gleichheit zwischen Mann und Frau innerhalb der Familie herzustellen - das ist eine unermeßlich schwierigere Aufgabe, die die größten Anstrengungen in der Richtung der Revolutionierung unseres ganzen Lebens erfordert"
(S. 56)
Im folgenden wollen wir, soweit es die uns zugängliche, nicht sehr umfangreiche Literatur zuläßt, die Frauen- und Familienpolitik der zwanziger Jahre darstellen.
1. Frauen in der Produktion
Bereits 1914 waren 30 Prozent der Beschäftigten in der russischen Industrie Frauen. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg stieg ihr Anteil bis 1917 sogar auf 40 Prozent.
Im Oktober 1917 führte die Revolutionsregierung den Achtstundentag ein sowie eine Reihe von Frauenschutzbestimmungen: das Verbot der Nachtarbeit, der Arbeit unter Tage und das Verbot von Überstunden. Frauen wurde ein sechzehnwöchiger bezahlter Mutterschaftsurlaub gewährt und geregelte bezahlte Stillzeiten. Jessica Smith berichtet aus dieser Zeit, daß die Dekrete "einen größeren Eindruck auf die Arbeiterinnen gemacht zu haben (scheinen) als jede andere Veränderung seit der Revolution."
Zugleich bestand Arbeitspflicht. Während des Kriegskommunismus wurde die bestehende Arbeitspflicht noch verschärft: z.B. zwangsweiser Einzug zum Ernteeinsatz, Straßenbau etc. Diese Verpflichtung, entstanden vorrangig aus der wirtschaftlichen Notlage, brachte den Frauen aber auch eine stärkere Anerkennung im Produktionsprozeß. Im Dezember 1920 faßte der Allrussische Rätekongreß einen Beschluß, der die effektivere Ausnutzung der weiblichen Arbeitskräfte zum Thema hatte. Er liest sich aus heutiger Sicht fast wie ein Förderungsprogramm zur Gleichstellung der Frau. Nachdem festgestellt wird, "daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Räterepublik aus Frauen, Arbeiterinnen und Bäuerinnen, besteht, und daß die Durchführung der vorgesehenen ... wirtschaftlichen Pläne nur bei entsprechenderNutzung weiblicher Arbeitskräfte möglich ist" , werden als Maßnahmen die Einbeziehung von Frauen in verantwortungsreiche Bereiche - die Wirtschaftsplanung und -organisierung, die Werkkomitees und die Verwaltung der Gewerkschaften - vorgeschlagen. Als weiteres wird die Unterstützung von Projekten, die Arbeiterinnen in Selbstinitiative eingerichtet hatten (Wohnkommunen, Flickstuben, Genossenschaften für das Saubermachen, Kinderkrippen etc.) von den örtlichen Sowjets verlangt. Diese Projekte werden als "Reformen eines Lebensstils auf kommunistischer Grundlage" bezeichnet und damit als allgemein erstrebenswert anerkannt. Ferner wird das Allrussische Zentrale Vollzugskomitee, das für alle Republiken zuständig ist, damit beauftragt, selbst aktiv zu werden und Vorgaben zur Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kindererziehung auszuarbeiten.
Auf dem Hintergrund der lediglich gesetzlich garantierten Gleichstellung von Mann und Frau ist die Begeisterung, mit der A. Kollontai diesen Beschluß aufgenommen haben soll, verständlich. Er verpflichtete staatliche Organe, im Sinne der Gleichberechtigung aktiv zu werden, und wertete die Eigeninitiative der Arbeiterinnen auf.
Andererseits enthielt der Beschluß des Rätekongresses aber auch Formulierungen wie die, daß Frauen von ihrer "unproduktiven Arbeit im Haus und bei der Sorge für die Kinder" befreit werden müßten, weil sie für den wirtschaftlichen Aufbau des Landes gebraucht würden.
Solange Hausarbeit und Kindererziehung allzusehr als inder Verantwortung der Frau stehend gesehen und nur in bestimmten Situationen - Arbeitskräftemangel - zur Gemeinschaftsaiifgabe wurden, konnte die alte Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau nicht überwunden werden. Jede Änderung der wirtschaftlichen Prioritäten konnte zur Umkehrung der emanzipatorischen Tendenz führen.
Arbeitslosigkeit
Mit Beginn der NEP setzte sich das alte Rollenverhalten in der Gesellschaft wieder weitgehend durch.
Die Rote Armee wurde demobilisiert, durch die Wiederbelebung der Industrie strömte die Bevölkerung vom Dorf zurück in die Städte, durch die Einführung der wirtschaftlichen Arbeitsführung wurden Betriebe geschlossen. Die entstehende Arbeitslosigkeit traf besonders die Frauen, jedoch waren sie in die Aufwärtsentwicklung, die Mitte der zwanziger Jahre einsetzte, kaum einbezogen. Während bei den Männern sich die Beschäftigungszahlen gegen Ende 1928 im Vergleich zur Vorkriegszeit verdoppelten, pendelten sie sich bei den Frauen erst 1928 wieder bei den Vorkriegszahten ein! Dabei gingen den Frauen in der Zeit der NEP auch die Plätze wieder verloren, die sie sich in den "männerorientierten" Branchen erorbert hatten, z.B. Leichtmetall 1921 17,8% Frauen, 1928 10,3 %. In der traditionell Frauen zugeordneten Textilindustrie konnten sie ihren Anteil halten, jedoch nicht steigern. Da die Arbeitslosigkeit vor allem die unqualifizierten Arbeiter betraf, waren die Frauen davon stärker betroffen, die Zahl der arbeitslosen Frauen war z.B. 1923 genauso hoch wie die der arbeitslosen Männer, ihr Anteil an der Beschäftigung betrug jedoch nur 29%.
Abbau von Arbeitsschutzrechten
Von seiten der Regierung wurde in dieser Zeit unserer Kenntnis nach nichts zum Schutz der Frauen getan, im Gegenteil. Auf Anraten des 6. Gewerkschaftstages wurde 1925 als eine Maßnahme gegen die Massenarbeitslosigkeit von Frauen die Auf hebung des Verbots von Nachtarbeit beschlossen. Aus anderen Quellen geht hervor, daß in der Praxis schon lange die Schutzbestimmungefl für Frauen aufgehoben waren. So mußte z.B. per Resolution auf dem 8. Gewerkschaftstag 1928 durchgesetzt werden, daß "schwangere und stillende Mütter nicht zur Nachtarbeit zugelassen werden." Ebenfalls 1928 machte eine Parteiresolution darauf aufmerksam, daß in den Bergwerken im Donbassbecken Frauen unter Tage arbeiteten. Es hat den Anschein, daß besonders in den Gewerkschaften Frauen als Konkurrentinnen für die Männer gesehen wurden und, da die Gewerkschaften in den Betrieben großen Einfluß hatten, Frauen benachteiligt wurden. 1923 erschien von A. Rjasanowa ein Buch "Frauenarbeit", in dem den Frauen angeraten wurde, gerade in "Männerberufen" nicht übereifrig zu sein und keine "Uberlegenheit" gegenüber den Männern zu demonstrieren, da dies nur "Verärgerung unter den Männern hervorrufe." Sie wandte sich auch gegen die Überprüfung der Liste der für Frauen nicht zugelassenen Arbeiten durch das Volkskommissariat. Leider ist dieses Buch nur in Auszügen über eine Rezension von 1933 bekannt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß viele Ansätze, Frauen in die Produktion einzubeziehen, in der Zeit der NEP zurückgenommen wurden bzw. sich gar nicht entwickeln konnten. Nimmt man noch hinzu, daß der durchschnittliche Lohn von Frauen grundsätzlich 1/5 geringer als der der Männer war, soerhalten wir eine sehr negative Bilanz. Inwieweit die noch bis 1927 bestehenden Frauenräte sich in die schlechten Bedingungen für Arbeiterinnen eingemischt haben, konnten wir der uns zugänglichen Literatur nicht entnehmen.
2. Familie und Ehe
Die Befreiung der Familie von äußeren Zwängen durch das Dekret vom Dezember 1917 zur Erleichterung der Scheidung, die Trennung von Familie und Religion - hinzu kam 1926 die Anerkennung der Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft - bildeten die Grundlagen der neuen Familie in der Sowjetunion.
Eheschließung wird zur Formalität
Das Dekret über die Scheidung stellte es den Ehepartnern frei, sich aus der Ehe zu lösen. Bei einer einseitigen Willenserklärung zur Scheidung wurde der Partner vom Gerichtstermin benachrichtigt. War er unbekannt verzogen, reichte es, wenn die Scheidungswillige den Termin 2 Monate vorher im Regierungsanzeiger (z.B. der Iswestija) anzeigte. Um eine Ehe zu schließen, mußte lediglich der Wille der beiden Eheleute gehört werden, auch das wurde kostenlos registriert. Der Name der Frau konnte zum Familiennamen erklärt werden, was jedoch selten geschah. Der Wunsch, sich kirchlich trauen zu lassen, wurde zur Privatsache der beiden Personen erklärt. Während dies auf dem Lande noch häufig geschah, verzichteten z.B. 1924 in Moskau 71 % der Paare auf die kirchliche Zeremonie. Damit wurde die Eheschließung und -scheidung zur bloßen Formalität und hatte nicht mehr die Funktion, der Familie Stabilität zu verleihen.
Aufhebung des kirchlichen Sittenkodex
Einher mit der Gleichstellung von Mann und Frau in den Dekreten ging die Entmachtung der Kirche. Auch die Revolution von 1905 hatte daran nichts geändert, daß nur kirchlich geschlossene Ehen anerkannt wurden. Bis 1917 konnten die Ehen nur mit Einwilligung der Eltern oder eines Vormunds geschlossen werden. Die Ehefrau besaß keinen eigenen Paß. Eheschließungen mit
"Juden, Heiden und Ketzern" waren verboten. Entsprechend dieser Bestimmung waren die Frauen dem Ehemann total ausgeliefert. Das Recht des Ehemannes, seine Frau zu schlagen war im Domostroj, einem Sittenkodex aus dem 16. Jahrhundert, schriftlich festgehalten und wurde juristisch nicht verfolgt. Im zaristischen Rußland waren uneheliche Kinder weder mit dem Vater noch mit der Mutter verwandt und hatten entsprechend keine Rechte. Selbst die Registrierung der Ehen, der Geburten und der Todesfälle lag ausschließlich in den Händen der Kirche. Der Staat hatte damit nichts zu tun und also auch keinen. Überblick.
Die Ehe wird zur Privatsache
Nach dieser einschneidenden Einflußnahme auf die Ehe erklärten die Bolschewiken sie weitgehend zur Privatsache und griffen über die Liberalisierung der Gesetzgebung hinaus nicht mit einer neuen Moral ein. 1923 sammelte Trotzki Erfahrungsberichte zum Alltagsleben und stellte fest, daß sich das Privatleben relativ resistent gegenüber Veränderungen zeige und das trägeste Element der Revolution sei. (Siehe auch in der Diskussion um das neue Ehegesetz bei F. Halle im Dokumentenanhang )
Anerkennung der Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft
Das Ehegesetz von 1917 sah zunächst eine Gütertrennung mit Unterhaltspflicht gegenüber dem schwächeren Partner und den Kindern vor. Bei unehelichen Kindern konnte die Vaterschaft eingeklagt werden. Es zeigte sich beim Ansteigen der Arbeitslosigkeit, daß die ledigen Mütter besonders schutzbedürftig waren und ihre schwierige Situation nach der Scheidung nicht berücksichtigt worden war. Dies wurde 1926 in einem Gesetzentwurf für ein neues Ehegesetz aufgegriffen, der vom Volkskommissar für Justizwesen Kursky vorgelegt wurde. Er enthielt hauptsächlich die Gleichsetzung der registrierten und der De-facto-Ehe und die Einführung der Gütergemeinschaft in die Ehe. Damit sollte der Anteil der Hausarbeit während der Ehe am gemeinsam erwirtschafteten Vermögen anerkannt werden.
Da auch innerhalb der Partei Widersprüche zu der Neuregelung des Ehe-gesetzes bestanden, wurden die Entwürfe ein Jahr lang auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Einrichtungen diskutiert. Es zeigte sich, daß Widersprüche unterschiedlicher Art vorhanden waren. Auf dem Lande befürchteten die Bauern eine Aufteilung des Besitzes durch die Anerkennung der Hausarbeit bei der Erwirtschaftung des gemeinsamen Eigentums. Außerdem argwöhnten sie, daß bei einer Schwächung der Familie durch die Erleichterung der Scheidung und die Anerkennung der De-facto-Ehe die Zahl der Erbberechtigten zunehmen würde. Es setzte sich die fortschrittliche Tendenz gegenüber den konservativen Positionen der Bauernschaft durch.
"Wir wollen nicht am Schwanzende hinterherbummeln", entschied der Richter Vinokurows . Die am Besitztum festgemachte Bindung an die Familie konnte die sowjetische Gesetzgebung überwinden. Vor den ökonomischen Vorteilen, die die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau oder auch die Doppelbelastung der Frau bringt, machte auch sie, nicht zuletzt gezwungen durch die wirtschaftlichen Bedingungen, halt, indem sie die Familie als Wirtschaftseinheit anerkannte.
Die Kinder waren der Grund die Familie zu erhalten
A. Kollontais Vorstellungen der wirtschaftlichen Absicherung über einen Versicherungsfonds, die eine weitere Auflösung der Familie bewirkt hätten, fanden in der Diskussion 1926 keine Mehrheit. Eingehend auf die teilweise ungeregelten Familienverhältnisse, regte sie einen allgemeinen Versicherungsfonds aus Beiträgen der arbeitsfähigen Bevölkerung an, der die individuellen Alimente ersetzen und die Frauen zunächst bis zum ersten, später bis zum vierten Lebensjahr des Kind es unterstützen sollte. Sie wollte die Kindererziehung nicht der sich auflösenden Familie überlassen.
Statt dessen wurden, wie im Familienkodex von 1917 festgelegt, die ehelichen und die unehelichen Kinder durch Anspruch auf Alimente und Erbschaft ihren Vätern gegenüber gleichgestellt. Die Registrierung der Ehen und die Vaterschaftsfeststellungefl dienten im wesentlichen dieser Absicherung der Kinder. Sie waren der Grund, die Familien zu erhalten. Die Alimente Verpflichtung machte ein Drittel des Lohnes aus, bei Nichtzahlung drohten Gefängnis und Geldbußen.
"Solange aber der Staat die Sorge um die Kinder noch nicht übernehmen kann, hält die Ehe an der Form eines Wirtschafts-Vertrages fest, die das Gesetz bekräftigt", stellte damals Staatsanwalt Krylenko fest.
Entsprechend reagierten die Frauen in Leserbriefen und Delegierten - Versammlungen um die Reform des Ehegesetzes. Sie bestanden auf den Alimeflten und forderten sie lieber direkt von den Männern, als sich von einer abstrakten Konstruktion, wie die Verstaatlichung der Alimente über einen Versicherungsfonds, abhängig zu machen. Die Ablehnung zeigte das noch bestehende Mißtrauen der Frauen: Statt sich auf neue Perspektiven und Strukturen einzulassen, griffen sie lieber auf bekannte Mechanismen zurück. Die Alimente waren wohl auch ein notwendiger Schutzschild gegenüber den Mannem, um nicht ganz allein mit den Kindern dazustehen. Sie lehnten Kollontais Vorschlag ab, weil sie eine größere Verantwortungslosigkeit der Männer fürchteten:
"Was haben alle Männer mit der Zeugung eines Kindes zu tun? ... Wozu soll eine verlassene Mutter der Allgemeinheit zur Last fallen?" (Siehe Auszug aus F. Halle im Dokumentenanhang )
Die Frauen bleiben in der Familie
Auf jeden Fall verlagerte das am 1.1.1927 in Kraft getretene Gesetz über Ehe, Familie und Vormundschaft die wirtschaftliche Absicherung der Frau und der Kinder in die Familie - ein zu der Zeit wahrscheinlich wichtiger Schutz der Frauen.
Die ökonomische Absicherung der Frau sah so aus, daß für die Dauer der Ehe gegenseitige Unterhaltspflicht bestand. Hinzu kam, daß auch nach der Scheidung für den ökonomisch schwächeren Teil, meistens die Frau, bei Arbeitsunfähigkeit ein Jahr und bei Arbeitslosigkeit ein halbes Jahr die Unterhaltspflicht fortbestand. Die Höhe legte ein Gericht fest. Dieses Recht wurde per Antrag auch De-facto-Ehen zugestanden.
Berichtet wird von einer relativen Autonomie der Volksgerichte gegenüber den festgelegten Rechten. Ihre Entscheidungen folgten dem damaligen Rechtsempfinden, so wurden die Kinder in der Regel den Frauen zugesprochen.
Moralvorstellungen
Alexandra Kollontai entwarf in ihren Romanen eine utopische Moral. Sie ließ die Shenja in ihrer Erzählung
"Die Liebe der drei Generationen" mit folgender Position zu Wort kommen:
"Nun, da merkt man eben, daß irgendjemand einem besonders gut gefällt. Aber zu verlieben, verstehen Sie, dazu hat man keine Zeit! Denn kaum, daß man sich dessen bewußt geworden ist, schon wird er an die Front abberufen oder in eine andere Stadt versetzt. Oder man ist selber so beschäftigt, daß man den Mann vergißt..."
Eine neue Moral für Berufstätige
Durch den Krieg, den Bürgerkrieg und wahre Völkerwanderungen in den Hungerjahren waren die Familien auseinandergeriSSen worden. Schon vor dem Krieg hatte der hohe Anteil der Frauen an der Arbeiterschaft tendenziell zur Auflösung der Familie geführt. Im Krieg war dieser Anteil noch weiter angestiegen. Durch die Stadtflucht nach dem Krieg blieb ein Arbeitskräftemangel in den Städten, der die Beschäftigungschancen der Frauen erhohte.
Diese Erscheinung griff Kollontai auf und beeinflußte die gesellschaftliche und politische Diskussion 1918 durch ihre Theorie zur
"freien Liebe" in
"Die neue Moral und die Arbeiterklasse". Die Frauen sollten jederzeit zwischen einer intensiven Beziehung und anderen wichtigen Dingen alternativ wählen können. Das Hauptanliegen dieser Zukunftsvision war das Aufbrechen der Geschlechterrollen. Alexandra Kollontai entwarf das Bild der ledigen Frau, die sich nicht in Liebesgeschichten verliert, sondern Selbstbestatigung auch in anderen Bereichen, speziell der Berufstätigkeit, sucht und manchmal wählen muß. Sie greift diesen Konflikt in ihrer Erzählung
"Die Frau im Umbruch" auf. Hierin macht der Mann der Frau folgenden Antrag:
"Also morgen nach dem Essen fahren wir deine Bücher holen. Die Regale stellen wir hier auf. Und du wirst meine kleine Hausfrau sein. Hörst Du? Ja, kommt es verzagt. Die Bücher holen. Das bedeutet ganz hierher zu ziehen. ... Und die Bibliothek? Das ist das Ende der wissenschaftlichen Arbeit. Bis zum Januar wird sie es nicht schaffen."
Durchaus widersprüchlich und ohne den Frauen Vorschriften zu machen, eröffnet Alexandra Kollontai ihnen eine Spannbreite von Lebensmöglichkeiten: von der Askese bis zur sexuellen Freizügigkeit.
"Damals dieser Monat. Das war Glück. Was hatte das Glück ausgemacht? Seine Liebe oder ihr Schreiben. Damals dachte, fragte man nicht. Es war einfach nur schön erhebend froh. Und man fühlte das Sein mit allen Fasern, ..."
Mit der Schwierigkeit, realem Leben vorzugreifen, entwirft sie eine neue Moral, die zwar kaum konkrete Umsetzungschancen hatte, aber bis zum heutigen Tag Gesprächsstoff bietet.
Die alte Moral hat Bestand
Anfang der zwanziger Jahre wurde die Diskussion hauptsächlich auf der Roman- und Leserbriefebene geführt. Es läßt sich kaum etwas über mutige Interpretinnen sagen. In gewisser Weise müssen wir die Ungerechtigkeit der Geschichte an den Frauen wiederholen, indem aus Unkenntnis das Vergessen und Übersehen bestätigt wird. Die Lebensfähigkeit von A. Kollontais Vorstellungen kann auch deshalb nicht überprüft werden, da sie zwar Anfang der zwanziger ein Massenpublikum hatte, ihre Bücher aber in den dreißiger Jahren nicht mehr aufgelegt wurden. Bis heute sind ihre Schriften nicht vollständig erhältlich.
Alexandra Kollontai wurde 1922 in der Leitung der Frauenabteilung der KPdSU von Frau Ssmidowitsch abgelöst. Diese sah die Notwendigkeit, in die Diskussion einzugreifen und einige Auswirkungen der Freizügigkeit zu kritisieren:
"Jede kleine Komsomolka, weibllches Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes, ... auf die die Wahl dieses oder jenes Burschen oder Männchens fällt, muß ihm zu Willen sein, sonst ist sie Kleinbürgerin." Ein anderes Mitglied der Frauenabteilung:
"Winogradskaja zählt eine lange Reihe von Problemen sowjetischer Frauen auf: die konkreten Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen, die langsame Lösung von der Rellgion, die Beteiligung des Mannes an der Hausarbeit, die beunruhigende Zahl der Abtreibungen sowie der Scheidungen, die bittere Armut von Frauen mit Kindern, die von ihren Männern verlassen wurden, die Prostitution. Aber all diese Licht- und Schattenseiten unseres proletarischen Alltags (byt) interessieren Genossin Kollontai nicht. ... Des Rätsels Lösung liegt darin, daß wir eine Kommunistin mit einer tüchtigen Prise feministischen Plunders vor uns haben". .
Diese Warnungen scheinen eher vorbeugend gewesen zu sein, denn konkrete Daten aus einer Untersuchung Batkis 1922 an der Universität Moskau zeigen ein bekanntes Bild, daß 90 % der Frauen der Geschlechtsverkehr gleichgültig war, 1/3 davon ihn sogar eklig fand. 70 % der Frauen wollten Beziehungen aus Liebe und 55 % lebten aus Mangel daran enthaltsam. Mag ein Teil dieser Antworten durch die Art der Fragestellung hervorgerufen worden sein, so kann man doch feststellen, daß die Erwartungen und Reaktionen der Frauen eher traditionell blieben. Vordergründig das Verhalten der Männer, aber auch eine spezielle Ideologie, die z.B. die Sexualität der Frau stark mit der Mutterschaft verband, verhinderten die sexuelle Entfaltungsmöglichkeit der Frauen. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine neue Herangehensweise und Moral waren noch nicht gefunden (Siehe auch Lenins Brief an Ines Amand im Dokumentenanhang).
Sexualmoral und Wohnungsnot
Überschattet wurden alle Überlegungen und Versuche, das Familienleben neu zu organisieren von der schlechten Wohnsituation in der Sowjetunion. Die Wohnungen waren so überbelegt, daß jedes Zimmer von einer Familie bewohnt wurde, also oft 3, 4 oder mehr Personen in einem Zimmer lebten.
Jede Familie wirtschaftete für sich, hatte ihren Primuskocher in der Küche und viele Reibungspunkte mit den Nachbarn. In den Kommunen wurde versucht, diese Ordnung zu durchbrechen, indem die Wohnungen anders aufgeteilt und zusammen gewirtschaftet wurde. Aber auch hier war die enge Belegung prägend für viele Auseinandersetzungen. Wo sollten sich beispielsweise Paare lieben, wenn es nur Gemeinschaftsräume gab, was wenn die Ehepaare Kinder bekamen? Es standen jedem vor dem Gesetz nur 3 qm Wohnraum zu. (Bei uns sind es 10 qm, der Durchschnitt liegt aber in der heutigen BRD bei 25 bis 3O qm).
Auch in den Planungen der Wohnkombinate ging man von nicht mehr als 5 bis 9 qm pro Kopf aus, da das private Wohnen reduziert, die Hausarbeit vergesellschaftet und die Kinder entweder in Kinderetagen oder Kindersektoren in den Wohnhäusern untergebracht werden sollten. Nadeshda Krupskaja, Mitglied im Volkskommissariat für Bildung, entwickelte dieses Modell, da die elterlichen Gefühle nicht unterdrückt werden sollten, sondern die Eltern zusammen mit den Pädagogen zur Erziehung befähigt werden sollten.
Eine totale Neuordnung der Städte wurde 1920 vom ZK der KPdSU aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt. Es sprach sich gegen eine vollständige und unverzugliche Vergesellschaftung aller Seiten des Alltagslebens aus, wie Ernährung, Wohnraum, Erziehung der Kinder, Alltagsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern sowie gegen ein Verbot der individuellen Speisezubereitung. Es griff
"linke Phrasen" in der Presse an, die künstliche Lebenskommunen planten, und sah sich vielmehr vor der Aufgabe, zunächst die 500.000 Obdachlosen in Moskau mit Wohnraum zu versorgen .
Tatsächlich gab es wegen der Raumknappheit keine abgeschlossenen Wohnungen mehr. Aber eine Überbelegung mit 3,34 Quadratmeter Raum pro Person läßt auch in organiserten Kommunen keine lebbaren Wohnverhältnisse entstehen. Erklärbar, daß bis heute das Ergattern einer Wohnung in aktuellen Interviews mit Sowjetbürgern eine wichtige Rolle spielt.
Mutterschaft und Erziehung
Schon vor der Revolution konzentrierten sich die Forderungen der russischen Arbeiterinnen auf den Bereich des klassischen Mutterschutzes. A. Kollontai schrieb 1916 ihr Buch
"Gesellschaft und Mutter". Es blieb die einzige theoretische Arbeit zu diesem Thema. Nach der Revolution wurden umgehend entsprechende Dekrete erlassen. In einer Regierungserklärung wurde die Sozialversicherung für Schwangere angekündigt. Im Dekret zum Acht-Stundentag im Oktober 1917 war das Verbot der Nachtarbeit, der Untertagearbeit und von Überstunden fur Frauen enthalten. Drei Wochen später wurde im Dekret über Krankenversicherungen 4 Monate Schwangerschaftsurlaub und Stillpausen beschlossen.
Das Dekret vom 28.12.1919 schrieb fest: Das Gebären von Kindern ist eine soziale Funktion der Frau. Im Januar 1918 gründete A. Kollontai in ihrer Funktion als Volkskommissarin für Wohlfahrtspflege die Abteilung für den Säuglings- und Mutterschutz, die Verordnungen mit umfangreichen Ergänzungen im Sinne des klassischen Mutterschutzes erließ. Auf der 1. Allrussischen Arbeiterinnenkonferenz 1918 war neben der Gründung der Frauenabteilung der Mutterschutz das Hauptthema. Die Mütter wurden ermutigt, die angebotenen Hilfen nicht als Gnade aufzufassen. Kinder seien keine Strafe Gottes, sondern gewollt, und die Mütter seien Bürgerinnen, denen die Sorge um die Kinder abgenommen werden müßte. Die sehr weitgehenden Verordnungen wurden nicht immer eingehalten. Kampagnen warben für sie.
Mutterschaft
Die Gleichstellung der Frau in der Erziehung stärkte die Mutterrolle. Auch das Ehegesetz enthielt einige Schutzfunktionen direkt für die Mütter. Z.B. konnte eine uneheliche Mutter den Vater innerhalb einer Frist registrieren lassen. Er hatte einen Monat Zeit, Einspruch einzulegen, und mußte innerhalb eines Jahres klagen, wenn erdie Vaterschaft nicht anerkannte, Nichtreagieren wurde als Zustimmung ausgelegt. Scheidungsverfahren liefen meist am Wohnort der Mutter. Hinzu kamen die schon erwähnten Alimenteregelungen.
Die Aufhebung des Adoptionsverbotes schon 1920/21, das zunächst erlassen worden war, um Mißbrauch mit Kindern als Arbeitskräften und in Erbschaftsangelegenheiten zu verhindern sowie den Ansatz der gesellschaftlichen Erziehung gegenüber der Kleinfamilie zu stärken, wirkte ebenfalls wie
"ein Sieg der Mutterliebe". Nur durch sie konnten die vielen verwahrlosten Kinder nach dem Krieg und Bürgerkrieg wieder versorgt werden.
Tatsächlich hatten die spärlichen Maßnahmen zur Kollektiverziehung die Familie in dieser Hinsicht kaum ersetzen können. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten gab es 1927 erst 150.000 Kindergartenplätze (die Angaben variieren in den verschiedenen Veröffentlichungen) bei 10 Millionen Kindern. Auch zögerten die Frauen, die oft zu den Kindern die einzigen
"befriedigenden Beziehungen" (vergl. A. Holt, S. 96 - im Dokumentenanhang) hatten, sie wegzugeben, und bremsten die Entwicklung zur Vergesellschaftung der Erziehungsaufgaben. Lediglich die Sommercamps, die die Familienerziehung nicht in Frage stellten, hatten einen Boom.
Matriarchalische Entwicklung?
Die Mütter erhielten in der Realität auch noch die bisherigen Vaterfunktionen dazu, die Väter sollten durch den Staat ersetzt werden. Fast bekamen die Vorstellungen von Kollontai durch die verzögerte Entwicklung der Kollektiverziehung eine matriarchalische Tendenz. Ihre Idee der Mutterschaftsversicherung, mit der der Konflikt Beruf und Mutterschaft im Übergang zur Neuen Zeit gelöst werden sollte, war eine Art Verstaatlichung der Alimente. Gleichzeitig sah sie darin eine Vorreiterolle für die neue Gesellschaft, die einen neuen Menschentypus hervorbringen würde.
Der Mutterschutz sollte den Übergang von der Individuell- zur Kollektiverziehung erleichtern. Die freie Mutterschaft sollte der Frau keine Last sein, die sie darin auf unwürdige Art mit den Männern zu teilen suchte. Pflichtgefühl, Scham und Abhängigkeit bevölkerten immer noch die Ehen, die von dieser Art Berechnung befreit werden sollten. Dabei hatte sie nicht die Selbstbestimmung der Frau im Blick. Auch für sie war das Kindergebären keine autonome Angelegenheit der Frau, sondern zählte zu den mütterlichen Pflichten an der Gesellschaft. Eine neue Generation sollte den Sozialismus weiterführen, deshalb wurde auch der Entwicklung der Geburtenrate große Aufmerksamkeit geschenkt.
Kaum Entlastung durch die Kollektiverziehung
Das jahrelang währende Problem der Besprosonyi (verwahrloste Kinder), die in Banden organisiert zu überleben versuchten, zeigte, daß der grundsätzliche Konflikt Beruf - Familie nicht gelöst werden konnte bzw. die Kollektiverziehung nicht entsprechend entwickelt wurde. Zwar wurde auf das häusliche Milieu zurückgegriffen und Familienpatronagen für Heimkinder gefördert, doch waren die Familien durch die Berufstätigkeit der Eltern soweit aufgelöst, daß sie diese Kinder nicht mehr beaufsichtigen konnten. Da aber auch die herkömmliche Mutterrolle nicht in Frage gestellt wurde, war der Weg für Lösungsmöglichkeiten verstellt.
Freigabe der Abtreibung aus wirtschaftlicher Berechnung
Die Freigabe erfolgte 1920 durch die Verordnung
"Über den Schutz der Gesundheit der Frau" aus ganz pragmatischen Gründen. Es war den Frauen nicht zuzumuten, Kinder zu gebären, die später nicht ernährt werden konnten. Die Abtreibung wurde vom Gesundheitskommissar unter maßgeblichem Druck von Kollontai erlassen. Sie war nicht in dem Sinne wie der Mutterschutz eine Forderung der russischen Arbeiterinnen gewesen. Abtreibung freigeben oder das Abtreibungsverbot aufheben hieß nicht, sie fordern. In der Verordnung
"Über den Schutz der Gesundheit der Frauen" hieß es:
"Aber, solange die überkommenen moralischen Gewohnheiten der Vergangenheit und die schweren wirtschaftllchen Bedingungen der Gegenwart einen Teil der Frauen zwingen, sich zu einer Operation zu entschließen, bestimmt das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz und das Volkskommissariat für Justiz, indem sie die Gesundheit der Frauen und die Interessen der Massen vor unwissenden und gewinnsüchtigen Räubern schützen und indem sie die Methode der Bekämpfung auf diesem Gebiete als absolut zwecklos ansehen:
- Die unentgeltliche Vornahme der Operation zwecks Unterbrechung der Schwangerschaft wird in den Sow]etkrankenhäusern, wo ihre größte Unschädlichkeit gesichert ist, zugelassen.
- Die Vollziehung dieser Operation wird bedingungslos allen, außer Ärzten, verboten.
- Die Hebamme oder weise Frau, die sich der Vornahme dieser Operation schuldig macht, verliert das Recht, ihren Beruf auszuüben, und wird den Volksgerichten übergeben.
- Ein Arzt, der die Operation der Fruchtabtreibung in seiner Privatpraxis in gewinnsüchtiger Absicht vorgenommen hat, wird gleichfalls den Gerichten übergeben.
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Im Gegenteil, die Verordnung ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Abtreibung als vorübergehend notwendiges Übel, das bei mehr Wohlstand überflüssig würde, anzusehen war. Auch enthielt der knappe Text kein Wort zur Empfängnisverhütung. Der Mangel an Diskussion einerseits und die ständigen Hinweise auf schädliche Folgen der Abtreibung andererseits zeigten die widerstrebende Haltung und Gefühle.
Die Aufklärung blieb in den Ansätzen stecken
Neben der praktischen Nutzung gab es auch Ansätze für eine andere Sichtweise, die Abtreibung nicht als moralischen Verfall, sondern als Bestätigung der weiblichen Persönlichkeit verstand. Kollontai wies auf die befreiende Wirkung der Empfängnisverhütung hin. In dem Staatlichen Institut für Mutter- und Säuglingsschutz wurde 1921 eine wissenschaftliche Zentralkommission zum Studium der Empfängnisverhütung eingesetzt. (vergl. Holt, S. 106 ff im Dokumentenanhang). Dieses Institut erstellte auch Auf klärungsmaterial. Alle Einrichtungen des Mutterschutzes waren diesem Institut unterstellt. Die Mittel wurden allerdings zusehends knapper. Obwohl die Frauen der Aufklärung wenig Scheu entgegenbrachten, blieb der Kenntnissstand niedrig. Auch die Arzte waren oft nicht informiert. Die Freigabe der Abtreibung hatte wenig Einfluß auf die Geburtenrate. Bei vielen Männern stieß sie allerdings auf Ablehnung, vor allem die Verhütungsmittel reichten nicht aus. Es gab zwar finanzielle und technologische Schwierigkeiten, aber auch das Machbare wurde nicht ausgeschöpft. So gab es erst ab 1927 eine kleine Präserfabrik, die ihren Umsatz von 250 auf 70.000 Rubel im Jahr 1930 steigern konnte.
Nach 3 Jahren wird die Abtreibung wieder eingeschränkt
1923 wurde das Recht auf Abtreibung wieder eingeschränkt. Eine Beratungskommission, die Abortus-Troika, entschied über den Abbruch, er mußte in den ersten drei Monaten liegen, wurde beim ersten Kind gar nicht, und nicht mehr als zweimal im Jahr durchgeführt. Ab 1924 wurde die Abtreibung registiert und kostete eine Gebühr. 1929 gab es erneut eine Diskussion um die Abtreibung. In Moskau wurden 1930 170.000 Abtreibungen durchgeführt, dies entsprach ca. einem Viertel der Geburten.
Vergesellschaftung der Hausarbeit - Arbeitsteilung
Im Parteiprogramm von 1919 wurde die Befreiung der Frauen von der veralteten häuslichen Wirtschaft als Ziel formuliert. Die Vergesellschaftung der Hausarbeit war das meist diskutierte Thema in der Frauenzeitschrift
"Die Arbeiterin" (mehr noch als die Frage der kollektiven Kindererziehung). Diese Forderung hatte eine breite Basis in der bolschewistischen Partei. Zur Bestimmung der Frauenarbeit formulierte Lenin in einer Rede
"Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik" auf dem vierten allrussischen Kongreß der parteilosen Arbeiterinnen 1919 folgende Grundsätze:
"Solange die Frau von der Hauswirtschaft völllg in Anspruch genommen ist, bleibt ihre Lage immer noch beengt. Zur vollständigen Befreiung der Frau und ihrer wirtschaftlichen Gleichstellung mit dem Mann bedarf es gesellschaftlicher Einrichtungen, bedarf es der Teilnahme der Frauen an der allgemeinen produktiven Arbeit. Dann wird die Frau die gleiche Stellung einnehmen wie der Mann..."
Vermutlich auch aufgrund der Erfahrungen der Frauen auf dem Lande wurde die Rolle der Hausarbeit in der sowjetischen Bevölkerung viel diskutiert und nicht schweigend als Selbstverständlichkeit hingenommen. Kollontai forderte sogar ihre Bezahlung in der Diskussion um das neue Ehegesetz, bei der dann aus wirtschaftlichen Gründen nur die Gütergemeinschaft eingeführt wurde. Selbst in den Überlegungen zur Rationalisierung lag ja eine Anerkennung der Hausarbeit als Arbeit. Daß eine Aufhebung der isolierten Arbeitsplätze und Zusammenfassung möglichst vieler dieser Arbeiten sinnvoll war, wird auf der abstrakten Ebene den meisten eingeleuchtet haben. Arbeitsspezialisten würden rationell statt zersplittert die Hausarbeit, Ernährung, Erziehung und das Waschen übernehmen.
Keine konkreten Alternativen zur Hausarbeit
Man ging von einer raschen Realisierung der Vergesellschaftung der Hausarbeit aus. Übergangslösungen wie die Aufhebung der Arbeitsteilung in der Familie wurden gar nicht erst aufgegriffen. Auch in den ersten praktischen Ansätzen im Kriegskommunismus griffen die Bolschewiki auf die traditionellen Fähigkeiten der Frauen zurück und setzten sie in den Bereichen der früheren Hauswirtschaft ein. Alix Holt sieht hierin heute eine Schwächung der Forderung nach Vergesellschaftung der Hausarbeit, weil den Männern die Notwendigkeit der Übernahme der Hausarbeit - ob im gesellschaftlichen oder im privaten Bereich - nicht deutlich gemacht wurde. Für Lenin war dies der Ausgangspunkt für Veränderungen:
"Um die Schaffung all dieser Einrichtungen ist eine Arbeit, die hauptsächlich von Frauen zu leisten ist... Wir sagen, die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbefter selbst sein, und genauso muß die Befreiung der Arbeiterinnen das Werk der Arbeiterinnen selbst sein. Die Arbeiterinnen selbst müssen sich um die Schaffung solcher Einrichtungen kümmern, und diese Tätigkeit wird dazu führen, daß die Frau eine völlig andere Stellung einnimmt als in der kapitalistischen Gesellschaft."
Leider gab es über diese allgemeinen Forderungen hinaus kaum konkrete Vorstellungen und Ideen. Die Menschen waren in dem traditionellen Denken noch so befangen, daß ihnen z.B. in den Kommunen zur Lösung der Hausarbeit oft auch wieder nur Putzfrauen einfielen. Darüber hinaus fehlte der wirtschaftliche Spielraum. Die Arbeitspflicht und der heroische Kampf ums Überleben im Kriegskommunismus hatten zunächst zu einer Kollektivversorgung und zur vorläufigen Übernahme von Teilen der Hauswirtschaft geführt.
Aus der Notwirtschaft werden keine Gemeinschaftseinrichtungen
Mit viel Enthusiasmus und befördert durch die Not wurden Volksküchen und andere gesellschaftliche Einrichtungen aufgebaut. 1919/20 wurden insgesamt 12 Millionen Menschen, 90% der Petersburger und 60% der Moskauer, in Volksküchen ernährt. 75.000 Frauen waren in diesen Jahren in der Kollektivversorgung tätig. Mit der Einführung der NEP wurden die meisten Fonds für solche Projekte aufgelöst. Es wurden nur noch Genossenschaften gefördert. Trotzki z.B. sprach sich gegen überstürzte administrative Versuche der Kollektivierung der Lebensweise aus und hielt das Netz der öffentlichen Versorgungseinrichtungen schon 1923 für gescheitert und empfahl den Frauen die Gründung von Haushaltskooperativen. Waren einerseits die Finanzen in diesem Bereich sehr knapp, so fehlte es andererseits auch an organisatorischen Möglichkeiten. Allein mit einem Durchschütteln der Bürokratie und der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, wie Polina Winogradskaja, Mitglied der Frauenabteilung, meinte, war die Vergesellschaftung der Hausarbeit nicht durchzusetzen. Ein Großteil der Bevölkerung hatte die Gemeinschaftseinrichtungen nur als Notmaßnahme akzeptiert und griff nach Beendigung des Kriegskommunismus lieber wieder zur traditionellen häuslichen Versorgung. Die Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten sank beständig. 1925 waren es noch 500.000 und 1926 nur noch 300.000 Mahlzeiten täglich .
Die Konsumbedürfnisse werden zurückgestellt
Aufgrund des Mangels war die Qualität des Essens oft nicht hinreichend gewesen. Auch wurde die Arbeitsweise beklagt, Mißwirtschaft und Schlamperei, der rücksichtslose Gebrauch des Arbeitsmaterials, das nicht gebraucht, sondern verbraucht wurde, war zu beobachten. Einen Eindruck von solchen Problemen gibt folgende Schilderung aus dem Jahr 1923 von Larissa Reissner:
"Aber alles, was das Alltagsleben der Arbeiter betrifft, ist entsetzlich vernachlässigt. Strengste Disziplln und Verantwortungsgefühl gehen Hand in Hand mit einer geradezu phantastischen Schlamperei, mit einer alle Grenzen übersteigenden Sorglosigkeit gegenüber den Bedürfnissen und elementarsten Forderungen der Arbeiter. Es soll kein Vorwurf sein, der sich nur gegen Kytlym richtet - Kytlym ist in dieser Hinsicht nicht schlimmer als die Industriemetropole des Urals, als das herrliche Nadeschdinsker Werk. Aber die Partei riskiert durch diese Politik jeden polltischen Kredit einzubüßen ... Die Konsumgenossenschaft. Jeder Arbeiter weiß sehr gut ... daß in Gorlowka in diesem Jahr Schlangen vor den Bäckereien stehen; daß die Bergleute, von der Arbeit zurückgekehrt, herumlaufen müssen, um den Mann zu suchen, der verpflichtet ist, ihnen ihr Pfund Brot zu geben. Sie wissen auch, daß man in der ganzen Siedlung viele Brotverkaufsstellen errichtet hat, die aber geschlossen bleiben mußten, weil es angebllch an den notwendigen Waagen fehlte. Jeder Arbeiter würde doch mit Vergnügen seine eigene Waage hergegeben haben, überdies gibt es Waagen im Magazin der Zechenvetwaltung. Zum Teufel wenn der Arbeiter seine Pflichten ebenso leicht nehmen würde, dann würde man ihn sofort hinauswerfen! Es geht doch wirkllch nicht an, daß man das Hungerjahr 1918 dort wieder in Szene setzt daß man Frauen und Kinder die Nächte vor der Schwelle des Brotladens verbringen läßt. In den Stollen und Strecken, in allen Versammlungen steht ein Wutgeheul über alle diese empörenden Kleinigkeiten."
()
Berechnungen über die Unwirtschaftlichkeit der Privathaushalte (siehe auch Fanina Halle im Dokumentenanhang) konnten die Frauen angesichts dieser Probleme kaum noch erreichen. Ihnen dürften praktische Zusammenschlüsse in Genossenschaften zur Beschaffung von Lebensmitteln und Konsumgütern, wie F. Halle sie auch beschreibt, nähergelegen haben. Gesellschaftlich überwog die Begeisterung für den industriellen Aufbau, zumal über diesen Weg durch die Einrichtung von Werkskantinen und großen Nahrungsmittelkombinaten die werktätige Bevölkerung ernährt werden sollte. Kritik an der geringen Mittelzuweisung für Gemeinschaftseinrichtungen z.B. beim ersten Fünfjahresplan fanden kaum noch Gehör.
Kommunebewegung
Ein anderer Ansatz, in dem nach Lösungen für die Haushaltsführung gesucht wurde, war die Kommunebewegung. In ihr wurde eine Teilung der Hausarbeit versucht, sei es durch abwechselnden Tagesdienst für Männer und Frauen oder in der AMO-Kommune (Betriebskommune des Autowerkes), die 24 Mitglieder hatte, durch die Beschäftigung von 2 Köchinnen. Teilweise waren die Kommunen von einer Überorganisierung des Alltagslebens durch genaue Stundenpläne gekennzeichnet. Wegen asketisch puritanischer Haltungen - bedingt durch die Wohnungsnot lebten 8 bis 10 Personen in drei Zimmern - begegnete die Jugend den Kömmunen teilweise skeptisch, glichen sie doch einem Mönchsorden. Charakteristika dieser Kommunen waren Gemeingut, Tagebuch führen, Tagesdiensthabende, Kommissionen für verschiedene Probleme, auch legten die Kommunen sich Kampfaufgaben zurecht. Sie entstanden als Zusammenschlüsse in einem Haus, um die Ernährungsschwierigkeiten zu lösen, aufgrund von Wohnungslosigkeit oder infolge von Aufenthalten in Erziehungs- oder Erholungsheimen. Ansonsten war festzustellen, daß die Geselligkeit infolge von Mangel an Zeit und Raum reduziert wurde. Bei einem Leben unter permanentem Einfluß des Arbeitsprozesses zerrissen persönliche Bindungen und führten zu einem Abbau des Privatlebens.
Kapitel 4.1 und 4.2: chr. und urs im Juni 1989
3. Einbeziehung der Frauen in die Politik
Die Einbeziehung der breiten Masse der Frauen für die Ziele des Sozialismus war eine wesentliche Aufgabe für die bolschewistische Partei.
Dabei ging es im wesentlichen um die Gewinnung der parteilosen Arbeiterinnen und Bäuerinnen, denn Frauen waren nach der Revolution kaum in Parteiführung, Regierung und Sowjets vertreten. Zwar gab es eine Reihe bedeutender und politisch anerkannter Frauen wie Alexandra Kollontai (sie war Volkskommissarin für soziale Fürsorge von Oktober 1917 bis zum Frühling 1918 - Rücktritt wegen des Friedensabkommens von Brest-Litowsk), Nadeshda Krupskaja (Mitglied im Volkskommissariat für Bildung), Vera Figner, Jelena Stassowa, Iness Armand u.a., jedoch waren 1917 nur 7,1% der Mitglieder der KPR Frauen, 1927 waren es in der KPdSU 13%.
Für die Einbeziehung der Frauen sollte es zwar getrennte Diskussionszirkel, Gruppen, Konferenzen, Schriften und Zeitungen geben, eine
"Sondervereinigung für Frauen", eine
"selbständige Organisationsform" aber galt als Relikt der bürgerlichen Frauenbewegung und wurde von den Bolschewiki ausgeschlossen. Diese Position teilte auch A. Kollontai, die dazu 1921 folgendes schrieb:
"Eine selbständige Frauenbewegung existiert in Räterußland nicht. Der Kampf um die Diktatur des Proletariats und ihre Festigung, die ganze schöpferische Arbeit einer neuen werktätigen Gesellschaft wird von russischen Proletariern beider Geschlechter gemeinsam geführt." Im November 1918 wurde von den Frauen der bolschewistischen Partei die 1. Gesamtrussische Arbeiterinnenkonferenz einberufen, an der 1.147 Frauen aus allen Republiken teilnahmen.
Über den inhaltlichen Grundtenor der Konferenz berichtet F. Halle in ihrem Buch:
"In der Resolution ... wird vor allem betont, daß die Arbeiterinnen - da die Bedingungen, die zu ihrer Befreiung führten, ganz die gleichen seien wie diejenigen, welche die Befreiung des Proletariats im ganzen voraussetzten - keine spezifischen Frauen fra gen zu lösen hätten, die von allgemeinen Fragen des Proletariats verschieden wären. So war es auch im Lande der Sowjets nicht notwendig, spezielle Frauengesellschaften zu organisieren."
Die Konferenz war der Ausgangspunkt für die Organisierung der Frauen. Es wurden Kommissionen für Agitation und Propaganda unter den Frauen gebildet und zusätzlich die Konferenz der Delegierten geschaffen. A. Kollontai benennt die Aufgaben:
"Es galt, die Frauen für die neue Staatsordnung zu gewinnen, sie politisch zu schulen, sie für die Volksküchen heranzuziehen, ihre Kräfte für Kinder- und Säuglingsheime, für das Schulwesen, für Hausreform und anderes mehr zu erziehen. Die Haupttendenz all dieser Arbeit war, die Gleichberechtigung der Frau als Arbeitseinheit in der Volkswirtschaft und als Bürgerin auf politischem Gebiete tatsächlich durchzusetzen."
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Die Einrichtung der Frauenabteilung
Etwa ab Herbst 1919 existierten Frauenkommissionen auf allen Parteiebenen, 1920 wurden die Kommissionen auf den Status von
"Frauenabteilungen in der Partei" (Zjenotdel) aufgewertet, ihr organisatorischer Spielraum wurde erweiteil, ihnen wurde ein höherer Rang innerhalb der Partei eingeräumt.
Die Frauenabteilungen bestanden (lt. S. Plogstedt) aus Männern und Frauen, die erste Vorsitzende war Inessa Armand, nach ihrem Tode 1920 übernahm A. Kollontai bis Oktober 1922 den Vorsitz, ihr folgte S. Ssmidowitsch.
Die Idee der Zjenotdel bestand zur Hauptsache darin, erzieherisch und Ideologisch auf die Masse der Frauen einzuwirken und sie zu ermuntern~ die Ihnen gebotenen neuen Rechte auch in Anspruch zu nehmen. Die Frauenabteilung hatte Büros in Dörfern und Stadtteilen, sie gab selbständig Schriften und mehrere Zeitungen heraus. Sie verteidigte die Rechte der Frauen in der Partei, in den Gewerkschaften und im Sowjet.
Das wichtigste Mittel, um das angestrebte Ziel zu erreichen, war ein Delegiertensystem: Jahr für Jahr wurden soviel Frauen wie möglich dazu bewegt, als Frauenendelegierte (
"Delegetka") zu kandidieren - je eine Delegierte wurde auf etwa 5 bis 25 Arbeiterinnen bzw. auf 50 Bäuerinnen gewählt. (Die Zahlenangaben schwanken.) Die Gewählten besuchten Kurse und machten sich kundig in Fragen wie z.B. Aufbau der Regierung, Aufgaben der Gewerkschaften, Rechte der Frauen etc. Sie waren verpflichtet, ihr Wissen an ihre Wählerinnen weiterzugeben. Gleichzeitig arbeiteten sie als eine Art Praktikantin in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Institutionen mit, um sich mit deren Funktionsweise vertraut zu machen; viele wurden nach einer Einarbeitungszeit fest übernommen. So wurden viele Frauen in diesen Jahren in öffentliche Funktionen geschleust. Es gab 1922 16.000 Delegierte; bereits ein Jahr später stieg die Zahl auf 65.000 an; Mitte der zwanziger Jahre soll sie bei einer halben Million gelegen haben.
Eine zweite Aufgabe der Partei und ihrer Frauenabteilung bestand darin, die Frauen von
"den materiellen Lasten der veralteten häuslichen Wirtschaftsführung" zu befreien und Hauskommunen, öffentliche Speisehäuser, zentrale Waschanstalten, Kinderkrippen usw. an deren Stelle zu setzten. Mit Einführung der NEP seit 1921 ging eine drastische Kürzung der öffentlichen Einrichtungen einher. Das hatte auch für die Einrichtungen der Frauenabteilung Folgen, sie wurden in vielen Gegenden abgeschafft. Auf dem Xl. Parteitag 1922 beklagte sich die Vorsitzende S. Ssmidowitsch, daß die Abteilungen in ihrer praktischen Arbeit keine Unterstützung fänden. Es sei besser, die Abteilungen zu liquidieren und zuzugeben, daß sie nicht nötig seien, als sie in einem erbärmlichen Zustand dahinvegetieren zu lassen.
Die
"Frauenabteilung" wurde Anfang 1930 auf Betreiben der Revisionskommission in der Partei aufgelöst. Begründet wurde dieser Schritt mit der Notwendigkeit von Sparmaßnahmen und mit dem Argument, daß inzwischen alle Grundvorausetzungen für die Emanzipation der Frau geschaffen, spezielle Frauenabteilungen somit überflüssig seien.
Die
"individuelle" Emanzipation wurde dem Ziel der Kollektivierung und Industrialisierung untergeordnet; so lautete der Leitspruch des Frauentages 1929
"Für 100%ige Kollektivierung". Idee der Vergesellschaftung der Hausarbeit, Diskussionen über alternative Lebensweisen wurden als gefährlich utopisch und kleinbürgerlich gebrandmarkt.
Kritische Uberlegungen moderner Feministinnen
Von modernen Feministinnen wie z.B. Sibylle Plogstedt oder Alix Holt wird das Fehlen einer eigenständigen, unabhängigen Frauenbewegung in Sowjetrußland kritisiert. Sie sehen darin einen entscheidenden Grund, daß die Behandlung der Frauenfrage teilweise schmählich vernachlässigt wurde, ein roll-back möglich war und eine wirkliche Befreiung der Frau nicht stattfand.
"Als zentrale Lehre ziehen die Autorinnen: die selbständige Organisierung von Frauen ist unabdingbar, damit das feministische Bewußtsein im politischen Kräfteverhältnis, namentlich auch innerhalb der Arbeiterbewegung selbst wirksam werden kann."
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"Meiner Ansicht nach bildet die Frage der selbständigen Organisierung den Hauptkritikpunkt, den die westliche Frauenbewegung an der Entwicklung in der UdSSR vortragen muß. Denn die Chance, in einer Gesellschaft etwas zu verändern, besteht nur in der Organisierung gegen konkrete Unterdrükkung. Das gilt auch für die Frauen. ... Die Unterdrückung der Frauen hätte nicht so zunehmen können, wenn sich die Frauen gegen die Unterdrückung hätten organisieren können."
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"Die Geschichte der Sowjetunion der zwanziger Jahre zeigt die bedeutende Rolle, die eine Frauenbewegung in der Übergangsperiode zum Sozialismus spielen muß, indem sie Theorie und Praxis der Frauenbefreiung entwikkelt, bürokratische und undemokratische Methoden bekämpft und darauf achtet, daß die Revolution die Veränderungen im Bereich der Produktion mft einer Veränderung der Famille und der Beseitigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verknüpft."
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Diese Sicht ist natürlich geprägt aus der Rücksicht und von unserem heutigen Erkenntnis- und Wissenstand. Richtig ist, daß es nach der Oktoberrevolution in keiner Form den Ansatz einer eigenständigen (schon gar nicht feministischen) Frauenbewegung gegeben hat, die BolschewistenInnen setzten andere Prioritäten, andere z.B. oppositionelle Ansätze sind nicht bekannt. Ganz sicher haben aber auch andere Faktoren, vor allem die ökonomischen Mängelsituation zum Scheitern einer privilegierten Politik im Interesse der Frauen beigetragen.
Kapitel 4.3.: g. im Juni 1989
5. Wandel in der sowjetischen Frauen und Familienpolitik der dreißiger Jahre
Das gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre war entscheidend von dem Vorhaben der Industrialisierung - was hieß bevorzugter Ausbau der Schwerindustrie auf Kosten der Konsumindustrie und der Bauernschaft - und durch die Zwangskollektivierung bestimmt.
Mit Eintritt in den 1. Fünfjahresplan (1928/29) stand für die sowjetische Bevölkerung die Erfüllung des Plans im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Die Bedürfnisse einzelner Gruppen, Ideologie, Bildung und Ausbildung, Kunst und Literatur, alles wurde diesem Ziel untergeordnet bzw. dafür funktionalisiert. So lautete z.B. der Wahlspruch des Internationalen Frauentages von 1929: "Für 100%ige Kollektivierung." Hinter diesen Aufgaben mußten auch jede Art der "individuellen Emanzipation" und gesellschaftliche "Experimente" zurückstehen bzw. wurden ihnen untergeordnet.
Die neuen Maßnahmen wurden von großen Teilen der Bevölkerung zu Beginn der dreißiger Jahre keineswegs nur als Einschränkung, Mühsal und Verzicht empfunden. Es gelang besonders in den ersten Jahren, einen erheblichen Teil z.B. der Jugend für diese Pläne zu begeistern.
Zeitgenössische Darstellungen dieses Enthusiasmus lassen sich in sowjetischen Filmen, in Literatur und Beschreibungen wiederfinden. So spiegelt besonders die Literatur des ersten Fünfjahresplans die "begeisterte Mühsal" wider. Auch wenn sie für unseren heutigen Geschmack übertrieben verklärt und schönfärberisch wirken mag, zeigt sie auch ein Stück sowjetischer gesellschaftlicher Realität und Empfindung. Speziell für die sowjetische Frau bedeutete ihre jetzt einsetzende verstärkte Einbeziehung in den Produktionsprozeß eine enorme Steigerung ihres Selbstbewußtseins und ein Anheben ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ilja Ehrenburg läßt in seinem Roman "Der zweite Tag" über den Fünfjahresplan eine junge Kirgisin bei einer Zusammenkunft freudig erklären: "Vorher lebten wir wie die Tiere. Die Männer aßen Fleisch und die Frauen standen hinter ihnen und warteten, bis sie ihnen die Knochen zuwarfen. Jetzt bin ich in einer Stoßbrigade. Gestern trat ich den Sonderkursen bei."
Im Vordergrund stand das Frauenbild der Arbeiterin, die mit den Männern um die Übernahme von schweren Aufgaben oder bei der Plansollerfüllung wetteiferte. (Siehe dazu im Dokumententeil die Ausführungen von F. Halle zu: Der Fünfjahresplan und die Frau )
1. Einbeziehung der Frauen in die Produktion
Der 1. Fünfjahresplan (1928/29 - 1932) beendete schlagartig die Atbeitslosigkeit - Arbeitskräftemangel war angesagt. Um die Produktionsschlacht zu gewinnen, wurden neue Arbeitskräfte benötigt. In diesem Kontext wuchs auch die Beschäftigungsrate der Frauen. Die Volkswirtschaft war angewiesen auf die Arbeitskraft der Frauen und damit auf die Einbeziehung der Frauen in die Produktion. In diesem Zusammenhang spielte die Idee der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Frauen keine Rolle, es ging um Arbeitsmarktpolitik.
Neben der Anwerbung der Arbeitskräfte vom Lande wurde schon sehr frühzeitig die
"Aktivierung" der Arbeitsreserven der Städte gefordert. Speziell die Frauen und Jugendlichen in den Städten galt es zu gewinnen, denn ihre Einbeziehung erzwang nicht zugleich eine zusätzliche Erweiterung des städtischen Wohnungsbaus oder der Zufuhr von Lebensmitteln (was in den dreißiger Jahren ein großes Problem war) - wie bei der Aktivierung von ländlichen Arbeiterinnen - da sie ja ohnehin bereits in den Städten lebten und sich versorgten. Außerdem konnte, wenn mehrere Mitglieder der Familie verdienten, die zu Beginn der dreißiger Jahre besonders akut empfundene Reallohnsenkung gemildert werden.
Die Verfasser des 1. Fünfjahresplans setzten sich denn auch für eine
"forcierte Einbeziehung der Frauen in verschiedenen Arbeitszweigen" in der Industrie ein:
"Wir müssen uns zurAufgabe stellen, das Anwendungsgebiet der Frauenarbeit allseitig zu weitern."
Außerdem strebten sie an, die Zahl der Frauen in qualifizierten Berufen zu erhöhen, dies besonders durch die stärkere Heranziehung der Mädchen zur beruflichen und allgemeinen Ausbildung.
Ermöglicht werden sollte dies Anfang der dreißiger Jahre durch einen Ausbau der sozialen Einrichtungen, die die Haushaltsführung vermindern sollte.
Im Aufruf des ZK der KPdSU vom 3.September 1930 hieß es:
"Die Sicherung der Erfüllung des Produktionsprogramms für das 3. Jahr des Planjahrfünfts" mache
"eine verstärkte Einbeziehung der Arbeiterjugend sowie der Frauen von Arbeitern und sonstigen Werktätigen in den Produktionsprozeß" erforderlich.
Unmittelbar danach faßte der Rat der Volkskommissare am 6. September 1930 folgenden Beschluß :
- Binnen eines Monats sollte eine Liste von Berufen und Beschäftigungen ausgearbeitet werden, die vorwiegend Frauen vorbehalten sein sollten.
- Der Anteil der Mädchen in allen Berufsschulen und Berufsausbildungs.. lehrgängen sollte erhöht werden.
- Ein Plan sollte ausgearbeitet werden, der durch den Ausbau von sozialen Einrichtungen (Krippen, Kindergärten, Gemeinschaftsküchen u.a.) der erwerbstätigen Frau Erleichterung bietet.
Am 16. Januar1931 veröffentlichte das Volkskommissariat zwei lange Listen von Berufen/Beschäftigungen die entweder ausschließlich (Liste 1) oder überwiegend (Liste 2) Frauen vorbehalten werden sollten. (Die Listen liegen uns leider nicht vor.) Diese Listen wurden in den nächsten Jahren noch bedeutend erweitert. Dies hatte einige Jahre in der Praxis Einfluß, denn den Betriebsleitern einzelner Wirtschaftszweige wurde vorgeschrieben, einen festgesetzten Prozentanteil Frauen zu beschäftigen. Etwa Mitte der 30 Jahre verlor diese Frage an Bedeutung.
Arbeitsschutz
Die Aushöhlung des Arbeitsschutzes ging seit Ende der zwanziger Jahre mit der zunehmenden Industrialisierung einher. Sie traf die gesamte Arbeiterschaft und betraf in besonderem Maße auch die Frauenarbeit. Zu Beginn der dreißiger Jahre setzten Diskussionen über die Aufhebung des gesetzlichen Verbots der Nachtarbeit sowie der Untertagearbeit von Frauen ein. Beide Verbote wurden zwar erst 1940 formell aufgehoben, sie wurden aber seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr eingehalten. In verschiedenen Zeitungsartikeln aus dieser Zeit berichten Frauen beispielhaft darüber. Auch der Schutz schwangerer Frauen, die laut Gesetz keine schwere körperliche Arbeit verrichten durften, wurde in der Praxis mißachtet.
Berufsausbildung
Voraussetzung für die massenhafte Einbeziehung der Frauen in die Produktion war, daß Frauen die Möglichkeit einer entsprechenden Berufsausbildung erhielten. Im Dezember 1929 verfügte das Volkskommissariat für Arbeit, daß in den Berufsausbildungsschulen der Betriebe ein Mindestprozentsatz von Plätzen für Mädchen vorbehalten werden sollte (erste Quotierungsmaßnahmen!!). Dieser Anteil sollte höher sein als der tatsächliche Frauenanteil in dem betreffenden Industriezweig; im Durchschnitt aller Industrien sollte er bei 35% liegen.
Ein Jahr später (am 10. Januar 1931) ging das ZK der KPdSU noch weiter: Die Mindestzahl der Schülerinnen in den Berufsausbildungsschulen der industriellen, baugewerblichen und landwirtschaftlichen Betriebe wurde auf
"etwa 50%" des Gesamtanteils erhöht.
Diese Zielsetzung wurde nicht in vollem Umfang erfüllt, dennoch erhöhte sich der prozentuale Anteil der Schülerinnen erheblich :
Tabelle
Jahr | Mädchenanteil |
1929 | 24,9 % |
1930 | 31,1 % |
1931 | 36,6 % |
1932 | 38,4 % |
1937 | 33,9 % |
1938 | 31,5 % |
Im Jahre 1932 war der Höhepunkt der Entwicklung erreicht, danach ging auch die Bedeutung der Berufsausbildungsschulen insgesamt zurück.
1933 erhielt das betriebliche Schulwesen eine neue gesetzliche Grundlage, die Sicherung des Mindestanteils der Mädchen war darin nicht mehr enthalten.
Statistisches
Insgesamt gilt, daß die Frauenarbeit gewaltig zugenommen hatte. Innerhalb von zehn Jahren verdreifachte sich die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte, sie betrug 1927/28 3,l Mio. - 1937 9,4 Mio.
Die Zielsetzungen, die im 1. Fünfjahresplan vorgesehen waren, wurden in bezug auf die Ausdehnung der Frauenarbeit überschritten - prozentual war der Anteil der Frauenarbeit weniger beeindruckend. Das erklärt sich daraus, daß die Zahl der Arbeiter während der ersten beiden Fünfjahrespläne insgesamt ungeheuer zunahm.
Zahlenmäßige Entwicklung der Frauenarbeit
(in Millionen)
Tabelle
Jahr | Arbeiter insg. | darunter Frauen | Frauen in % |
1927/28 | 11,3 | 3,1 | 27,0 % |
1932 | 22,9 | 6,0 | 27,4 % |
1937 | 27,0 | 9,4 | 34,7 % |
Frauen waren in allen Zweigen der Wirtschaft, insbesondere der Industrie, in großer Zahl vertreten. Es gelang ihnen auch in sog. Männerberufen Fuß zu fassen. Sie wurden in steigender Zahl auch in qualifizierten Berufen beschäftigt.
Anteil der Frauenarbeit in ausgewählten Industriezweigen in %:
Tabelle
Industriezweig | Frauenanteil % |
Eisenerzgewinnung | 23,6 % |
Kohlegewinnung | 24,8 % |
Eisen- und Stahlindustrie | 24,9 % |
Metallverarbeitung | 31,7 % |
Holzindustrie | 43,9 % |
Bäckereien | 55,5 |
2. Rollback im Bereich des Überbaus
Während die Frauen zum einen immer vollständiger in den Produktionsprozeß, in Beruf und Ausbildung einbezogen wurden, gelang es andererseits nicht oder nur unvollkommen, sie von ihren häuslichen Aufgaben zu befreien.
Bereits in den zwanziger Jahren war ein Spannungsverhältnis zwischen juristisch eingeräumten Freiheitsrechten (Frauenrechte, aber auch im Bildungsbereich) und einem von Armut geprägten Umfeld, das für die neuen Ideen auch ideologisch nicht reif war, entstanden. Die alte Familienordnung war zwar teilweise erschüttert, die Rolle der Frau in Frage gestellt worden, es war aber nicht gelungen - auch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage - etwas angemessen Neues an die Stelle des Alten zu setzen. So schrieb Trotzki 1936 zur Familienpolitik:
"Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gemangelt hätte. Auch nicht, weil die Familie so fest in den Herzen verwurzelt wäre. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Mißtrauens gegenüber dem Staat, den Krippen, den Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen wußten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermeßlichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege sowie der Vergesellschaftung der gesamten Famillenwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Die realen Mittel des Staates entsprachen nicht den Plänen und Absichten der kommunistischen Partei. Man kann die Familie nicht einfach abschaffen, man muß sie durch etwas anderes ersetzen. Eine wirkliche Befreiung der Frau ist auf der Basis des verallgemeinerten Mangels nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung bestätigte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte."
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Es herrschte Unzufriedenheit mit den erreichten Veränderungen im alltäglichen Leben. Einrichtungen, die in den zwanziger Jahren aufgebaut worden waren, wie z.B. die Gemeinschaftseinrichtungen Kantinen und Garküchen, Wäschereien, aber auch die Kinderkrippen und Kindergärten, galten als schlecht und ungenügend. Es wird berichtet, daß Arbeiterinnen, sobald es den Familien materiell besser ging, an den
"eigenen Herd" zurückkehrten.
Es gab ein großes Maß an Kinderverwahrlosung. Die Zahl der Besprisornyj (verwahrloste Kinder) wuchs ständig, Kinder- und Jugendkriminalität wurden zu einem drängenden Problem.
In dem ZK-Beschluß vom 16. Mai 1930 -
"Das Alltagsleben soll umgestaltet werden, aber die Debatte über die sozialistische Lebensweise der Zukunft wird abgebrochen"
- hieß es u.a.:
"Das Zentralkomitee bemerkt, daß es neben den Keimen der Bewegung für ein sozialistisches Alltagsleben äußerst unbegründete, halbphantastische und deshalb außerordentlich schädliche Versuche einzelner Genossen gibt, mit einem Sprung jene Hindernisse auf dem Weg zu einer sozialistischen Umgestaltung des Alltagslebens zu überspringen..."
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Mit Hinweis auf die Notwendigkeit, sich auf die rasche Industrialisierung zu konzentrieren, wurden solche
"linken Phrasen" untersagt.
Juristisch erließ man zu diesem Zweck eine Reihe von Gesetzen, die alte Entscheidungen korrigierten, ideologisch begann eine Umbewertung alter Ideen und Erkenntnisse, die zugleich restaurative Züge trug.
Probleme und Widersprüche wurden etwa ab Mitte der dreißiger Jahre rigide
"gelöst": Fragen des Alltagslebens, der Familie, der Erziehung und des Umgangs miteinander wurden rein pragmatisch behandelt und dem wirtschaftlichen Aufbau total untergeordnet, jede abweichende und freiheitliche Regung wurde erstickt und verboten.
Zur Bekämpfung der Jugendbanden und Jugendkriminalität wurden drastische Gesetze erlassen, die sogar die Todesstrafe zuließen. Ansätze wie z.B. therapeutische Kommunen zur Resozialisierung jugendlicher Krimineller verschwanden völlig. Abgelöst wurden sie von einer streng autoritären, eher militaristisch ausgerichteten
"Kommandopädagogik" für die der Name A. S. Makarenko steht.
Die Einrichtung von Kommunen, die in den zwanziger Jahren als eine neue Form des kommunistischen Zusammenlebens praktiziert wurde, verwandelten sich in reine Arbeitskommunen, die nach strengen Regeln funktionierten und den Zweck hatten, daß ihre Teilnehmer möglichst hart und diszipliniert arbeiteten und ihr Plansoll (über-)erfüllten. Berühmt sind die
"stachanowistischen", asketischen, autoritär-disziplinierten Kommunen, in denen sich die Mitglieder verpflichteten, bis zu zwanzig Stunden täglich zu arbeiten und auf Geschlechtsbeziehungen gänzlich zu verzichten.
Literatur und Kunst wurden den wirtschaftlichen Plänen untergeordnet. Künstler, Wissenschaftler und sogar Architekten bekamen ihre Aufgaben genau vorgeschrieben. Die Literatur mußte solide und lebensnah sein, sich mit den objektiven Problemen des sozialistischen Aufbaus befassen und den
"neuen Menschen" bei der Bezwingung seiner sozialistischen Aufgaben beschreiben. Stalin prägte 1932 den Begriff, daß der sowjetische Schriftsteller
"Ingenieur der menschlichen Seele" zu sein hat.
Auch die Malerei hatte wesentlich den arbeitenden Menschen auf dem Feld der Werkhalle, der Baustelle darzustellen.
In der Wissenschaft trat eine Verarmung in der Qualität ein. Geschichte, Naturwissenschaften und Philosophie wurden auf simple Formeln vereinfacht. Deutlich wird das an dem berühmten
"Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU", der von Stalin maßgeblich beeinflußt ist. Dieses Buch, das von Vereinfachungen, Verfälschungen und schwülstigem Stil nur so strotzt, wurde von hunderttausenden Kommunisten auch im Ausland gelesen, geglaubt und mechanisch angewendet. Es bildete fortan die weitverbreiteste Grundlage für die Sicht der marxistischen Anschauung und Geschichte.
Die Bildungspolitik wurde radikal umgestaltet: die Politik der planmäßigen Industrialisierung verlangte nach - so Stalin -
"neuen Kommandeuren für die Wirtschaft". Das wurde erreicht, indem man sich von den Inhalten und Ideen der zwanziger Jahre rigoros verabschiedete. Die Leitung des Bildungs-Wesens wurde vereinheitlicht und gestrafft, an die Stelle des kollektiven Prinzips tritt die alleinige Entscheidungsgewalt des an den militärischen Kommendoton gewöhnten A. S. Bubnov (Volkskommissar für Bildung). Die in den Städten vorhandene relative Diskussionsfreiheit wich einer immer orthodoxer werdenden Auslegung der Parteirichtlinien. An die Stelle von Gruppen und Gruppenunterricht traten wieder Klassen mit Frontalunterricht, die Musterlehrpläne wurden durch vereinheitlichte verbindliche Richtlinien ersetzt. Das 1918 abgeschaffte Zensurensystem wurde wieder eingeführt, die Disziplin der Schüler wiederhergestellt, der Lehrer zur unangreifbaren Autorität erklärt. Der neueinsetzende
"sowjetische Patriotismus" verdrängte den bis dahin offiziell anerkannten Erziehungsgrundsatz des
"proletarischen Internationalismus".
Dabei darf nicht übersehen werden, daß eine solche
"Stabilisierung" des Bildungswesens in rein funktionaler Hinsicht Fortschritt mit sich brachte: bis 1939 war das Analphabetentum fast völlig beseitigt, Millionen bildungswilliger Arbeiter und Arbeiterinnen drängten in das stark ausgebaute System von Fachschulen, Hochschulen und Universitäten. Es entstand ein neuer Typus des funktional wirkenden Parteikaders, der vor allem durch Repression und Säuberungen bedingtes weitgehendes Verschwinden der alten bolschewistischen Kader, den Kadertyp der Stalinzeit - selbstverständlich auch noch darüber hinaus - verkörperte.
Wiederbelebung von Familienstrukturen und Mutterrolle
Auch in der Frauen- und Familienpolitik wurde nicht länger versucht, etwas Neues an die Stelle des Alten zu setzen, sondern alte Ideen wurden revidiert. So wurde die These Friedrich Engels vom
"Absterben der Familie" als
"schädlich und falsch" korrigiert.
Der durchaus repräsentative sowjetische Familiensoziologe Wolffson widerrief seine früheren Äußerungen, daß
"der Sozialismus zum Aussterben der Familie führe" als einen
"ungeschickten Irrtum" und versicherte das genaue Gegenteil: der Sozialismus stärke und unterstütze die Familie.
Dabei wurde nicht offen zugegeben, daß man bestimmte Ziele nicht erreicht hatte bzw. aufgrund von Mangel auch nicht erreichen konnte, sondern man legitimierte die neuen Maßnahmen, indem man erklärte, nun sei der angestrebte utopische Zustand, wie die vollständige Gleichberechtigung der Frau, erreicht, man brauche die alten Gesetze nicht mehr. Dieselben Argumente, die einst für die Abschaffung von Scheidung und die Aufhebung des Abtreibungsverbot galten, mußten jetzt für deren Wiedereinführung herhalten.
In diesem Sinne wird die Argumentation des Soziologen Wolffson wie folgt wiedergegeben:
"Diese Gesetze waren nur solange notwendig, wie noch die schlimmen Nachwirkungen des Kapitalismus nicht beseitigt waren. Im - durch Stalins Dekrete nunmehr erreichten - Sozialismus ist dies nicht mehr notwendig. Die ökonomische Grundlage für unglückliche Ehen, nämlich materielle Motive und Zwänge zur Eheschließung, und für ungewollte Kinder ist beseitigt und damit auch die Grundlage eines legitimen Rechts auf Scheidungs- und Abtreibungsfreiheit. Gegen Ausnutzung und Abirrung, wie egoistische Motive sie versuchen, muß sich der sozialistische Staat natürlich mit seinen rechtlichen Mitteln wehren. Die Ursachen von Famillenkonflikten und von Abweichungen vom Ideal der sozialistischen Familie - der monogamen, kinderbereiten Liebesehe - werden damit in unmoralischem Verhalten und individuell verschuldeter Kriminalität gesehen."
()
Fast zwei Jahrzehnte lang war den Frauen täglich gesagt worden, daß die Sowjetregierung sie von der Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung befreien wollte, jetzt begann ein intensiver Propagandafeldzug, der sie auf die Segnungen und Pflichten der Familien hinwies und sie neben ihrer Berufstätigkeit vor allem in der Rolle als Mutter sah.
"Natürlich muß die Frau Mutter sein, sie muß diejenige sein, die das häusliche Leben behaglich macht. Aber sie braucht sich deshalb nicht von der Arbeit zurückzuziehen. Sie muß die Fürsorge für die Familie zusammen mit den sozialen Aufgaben und ihrer Arbeit, in völliger Gleichberechtigung mit dem Mann auf sich nehmen. Uns Sowjetfrauen sind diese Rechte schon gegeben, während die Frauen anderer Länder noch von ihnen träumen."
()
3. Das Familiengesetz von 1936
Zugleich wurden einschneidende gesetzliche Maßnahmen erlassen, die die alte bürgerliche Form der Familie sowohl materiell als auch ideologisch festigten und absicherten.
Der Versuch, die alte Familienordnung wiederherzustellen, fand seinen Höhepunkt mit der Verabschiedung folgenden Gesetzes:
"Über das Verbot der Abtreibungen, die Verbesserung der materiellen Hilfe für kinderreiche Familien, die Erweiterund des Netzes der Entbindungsheime, die Erhöhung der Strafen für die Nichtbezahlung von Alimenten und einige Veränderungen in der Scheidungsgesetzgebung."
Obwohl dieses Gesetz vom 27.6.1936 das alte Ehegesetz von 1926 nur in einigen Paragraphen erneuerte (offiziell wurde das Ehegesetz von 1926 erst 1944 abgelöst), war dieser Eingriff moralisch und ideologisch von erheblicher Bedeutung. Ehe und Familie wurden in diesen Jahren zur erneut anerkannten, vorherrschenden Form des Zusammenlebens der Geschlechter. Sie wurde zum integralen Bestandteil der sozialistischen Gesellschaft erklärt. Das hatte für die Lage der Frauen erhebliche Folgen.
Die Diskussion
Etwa ab Mitte 1935, während der ersten Niederschrift des Gesetzes, begann ein intensiver Propagandafeldzug für die Stärkung der sowjetischen Familie und gegen das Übel der Abtreibung.
Einen Monat bevor das Gesetz endgültig verabschiedet wurde, wurde der Entwurf in der Öffentlichkeit zur
"Volksdiskussion" gestellt. Trotzki berichtet u.a. darüber, daß selbst
"das feine Netz der Sowjetpresse" nicht verhindern konnte, daß
"nicht wenig bittere Klagen und verhaltener Groll" nach außen drangen. Es wurde argumentiert, daß solange Kindererziehung und Haushaltsführung nur unzureichend vergesellschaftet sind, es immer wieder Situationen geben wird, in denen Frauen abtreiben wollen.
Dagegen stand strenge Kritik an der nachlässigen Haltung gegenüber der Ehe und den elterlichen Pflichten. Hier Auszüge aus einem Leitartikel der Prawda vom 28.5.1936, der im Rahmen dieser Debatte erschien:
"Wenn wir vom Festigen der sowjetischen Familie sprechen, meinen wir im besonderen den Kampf gegen eine bürgerliche Einstellung zur Heirat, der Frau und zu den Kindern. Die sogenannte freie Liebe und ein unordentllches Sexualleben sind durch und durch bourgeois, haben nichts gemeinsam weder mit den sozialistschen Prinzipien noch der Ethik und dem normalen Verhalten eines Sowjetbürgers. Die sozialistische Theorie unterstreicht das und wird auch weit und breit durch das Leben selbst bestätigt.
Die herausragendsten Menschen unseres Landes und der beste Teil der Sowjetjugend erweisen sich wahrlich als hervorragende Familienväter, die ihre Kinder von Herzen lieben. Und umgekehrt: Der Mensch, der die Ehe nicht ernst nimmtund seine Kinder der Laune des Schicksals überläßt, erweist sich gewöhnlich auch als ein unzuverlässiger Arbeiter und ein schlechtes Mitglied der Gesellschaft."
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Zur Mutterrolle hieß es:
"Eine Frau ohne Kinder verdient unser Mitleid, denn sie kennt die volle Freude des Lebens nicht. Unsere sowjetischen Frauen, vollblütige Bürgerinnen des freiesten Landes der Welt, ist die Seligkeit der Mutterschaft geschenkt worden. Wir müssen unsere Familie schützen und gesunde sowjetische Helden ernähren und großziehen."
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Zusammengefaßt erklärte die Prawda vom 4. Juni 1936 kurz vor der Verabschiedung den Zweck des neuen Dekretes wie folgt:
"Die Stärkung der sowjetischen Familie, der Schutz der Gesundheit von Millionen von Frauen und die Erziehung einer zahlreichen, starken und gesunden Nachkommenschaft."
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Verbot der Abtreibung
Bereits in den zwanziger Jahren wurde das freie Recht auf Abtreibung eingeschränkt, diese Tendenz wurde 1933 noch einmal verschärft. Es war jetzt für Erstgebärende faktisch unmöglich, legal abzutreiben; eine Kontrollkommission übte in stärkerem Maße Druck auf die Frauen aus. Nach dem neuen Gesetz von 1936 wurden Abtreibungen
"nur noch in Kliniken zugelassen und zwar ausschließlich in Fällen, in denen eine Fortdauer der Schwangerschaft Leben und Gesundheit der Schwangeren gefährden würde."
Bei Zuwiderhandlung drohte jetzt nicht mehr nur dem Arzt Strafe, sondern auch der Frau. Die Bestrafung war zwar vergleichsweise milde: Sie bestand in einer öffentlichen Verwarnung. Erst im Wiederholungsfall mußte eine Strafe bis zu 300 Rubel bezahlt werden. Wenn man aber bedenkt, daß Abtreibung gleichzeitig als Geburtenregelung benutzt wurde, die nach wie vor kein Thema gesellschaftlicher Diskussion und Auseinandersetzung war, so bedeutete das einen erheblicher Eingriff in die Rechte der Frauen. Als Begründung wurde die Argumentation bemüht, die 1920
"die Erlaubnis zur Abtreibung" begleitete: in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die wirtschaftliche Not weitgehend überwunden sei und den Neugeborenen nicht mehr länger der Hungertod drohe, habe die Frau kein Recht mehr, auf
"Gebärfreuden" zu verzichten. Die Präambel des Gesetzentwurfes betonte die Pflicht der Frauen, Kinder zu gebären, und sie pries die Überwindung der unseligen Zustände, die 1920 eine Aufhebung des Abtreibungsverbots erzwungen hätten.
Weiter hieß es:
"Nur unter dem Sozialismus, wo es eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr gibt, wo die Frau ein vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft und die fortschreitende Steigerung des materiellen Wohlstands der Werktätigen ein Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung ist, kann ernsthaft die Frage des Kampfes gegen die Abtreibung, darunter auch durch Verbote, gestellt werden."
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Reaktionen auf das Abtreibungsverbot
Uns sind nur wenige Stellungnahmen zu dem neuen Gesetz der Sowjetregierung bekannt - drei seien hier erwähnt. Sie setzen sich im wesentlichen mit dem Abtreibungsverbot auseinander:
Trotzki kommentierte in seiner Schrift
"Verratene Revolution" von 1937 recht drastisch.
Er knüpfte an die Argumentation von 1920 an, die besagte, daß solange
"Armut und Famillenjoch weiterhin exisitieren", die Frau das Recht auf Abtreibung haben muß, egal - so Trotzki - was
"die Eununchen und alten Jungfern beiderlei Geschlechts darüber auch sagen mögen." Da der Staat es aber bislang nicht geschafft habe, den Frauen, die zur
"Abtreibung Zuflucht nehmen", die
"notwendige Hilfe und hygienische Einrichtung zur Verfügung zu stellen", für
"dies an sich traurige Recht", wurde der
"Weg des Verbots" eingeschlagen. Sein Fazit:
"Philosophie eines Pfaffen, der zudem noch die Macht der Gendarmen ausübt."
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Positiv nimmt dagegen die Krupskala in einem Artikel
"Mutterschaft" zu den Veränderungen Stellung (siehe Nachdruck im Dokumentenanhang). Auch sie bezieht sich auf die Begründung von 1920. Entsprechend knüpft sie an einen alten von ihr 1920 geschriebenen Artikel an. Sie zitiert sich selbst:
"Nur die bittere Notwendigkeit zwingt die Arbeiterin, der Mutterschaft zu entsagen. Die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und insbesondere der Mutter- und Säuglingsschutz sowie die öffentliche Kindererziehung beseitigen diese Hauptursache, die augenblicklich die Frau dazu zwingt, ihren natürlichen Instinkten Gewalt anzutun - der Mutterschäft, dieser höchsten Freude zu entsagen."
Sie stellt fest, daß sich seit jener Zeit die wirtschaftliche Lage entscheidend verbessert hat, daß
"Gewaltiges auf dem Gebiet des Mutter- und Säuglingsschutzes, des Schutzes der Frauenarbeit, der Hebung des Bewußtseins der Frau, der Heranziehung der Frau zur Regierung des Landes und zum sozialistischen Aufbau geleistet" wurde. Von daher begrüßt sie das neue Gesetz:
"Zahlreiche Erklärungen werktätiger Frauen über die Schädlichkeit der Abtreibung engegenkommend, hat die Regierung der Sowjetunion zum Schutz der Gesundheit der werktätigen Frauen einen Gesetzentwurf über das Verbot der Abtreibung ... ausgearbeitet."
Weiter heißt es:
"Die Mutterschaft wird ihr mehr und mehr Freude bereiten. Und wie bereits die Engelmacherinnen der Vorrevolutionszeit ins Reich der Vergangenheit versunken sind, so werden auch alle Abortarien ins Reich der Vergangenheit versinken."
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Der bekannte revolutionäre Mediziner und Verfasser des Anti- Abtreibungsstückes
"Cyankali" Friedrich Wolf, der eine führende Rolle im Kampf gegen den § 218 in der Weimarer Republik spielte, betonte, daß er zu dem Gestzentwurf der Sowjetregierung eine Reihe Ergänzungsvorschläge gemacht habe, die uns leider nicht bekannt sind. Auch er kommt zudem Schluß:
"Wir wissen, daß in der Sowjetunion die positive Schwangeren-, Mütter- und Säuglingsfürsorge die wichtigste Waffe gegen die Abtreibungsseuche bildet. Wir wissen, daß in Deutschland lediglich die wirtschaftliche Not unsere Frauen und Mädchen zu Verzweiflungsakten und zur Selbsthilfe der Abtreibung zwingen. Wir wissen, daß unsere Frauen auch in Deutschland wieder Kindern freudig das Leben schenken werden - doch nicht in einem Deutschland des Hungers, ... sondern in einem freien, sozialistischen Sowjetdeutschland. "
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Wolfs Voraussetzung für diese Haltung lautete allerdings, daß vor der Schwangerschaftsunterbrechung die Geburtenregelung liegen muß. Von Geburtenregelung aber ist weder im Gesetz der Sowjetregierung noch z.B. in dem Artikel der Krupskaja die Rede.
Die Position, die hier von Friedrich Wolf vertreten wird, korrespondiert auch mit der Einstellung der deutschen KPD zu Abtreibung, Schwangerschaft und Mutterrolle in dieser Zeit. Von dem
"Recht auf Selbstbestimmung" wie es die moderne Frauenbewegung für sich einfordert, kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein.
Prämien für eine große Kinderschar Erschwerung der Scheidung
Parallel wurden außerdem verschiedene Maßnahmen getroffen, die die Frauen unterstützen sollten, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen. Sie reichten von konkreten finanziellen Beihilfen bis hin zum Versprechen auf großzügigen Ausbau des Kindergartennetzes bei gleichzeitiger Verschärfung der Strafen für nicht gezahlte Alimente.
So sah der Erlaß eine erhebliche Prämienzahlung für Mütter von mehr als sechs Kindern vor. Damit wurde die Grundlage für das neue Idealbild der Frau gelegt: eine große Kinderschar und die Überschrift
"Heldenmutter".
In dieser Zeit wurden auch die verschiedenen Orden und Auszeichungen entdeckt, wie der Titel
"Mutterheldin". Die Anzahl der Krippen- und Kindergartenplätze wurde erhöht, was auch nötig war, denn die Frauen wurden in den dreißiger Jahren verstärkt im Produktionsprozeß benötigt.
Die Zahl der Krippenplätze lag 1927/28 bei etwa 565.000, die Anzahl stieg bis 1935 auf 5,6 Mio. Plätze.
Zugleich aber wurde die Familie gefestigt. Das erreichte man u.a. durch die neuen Scheidungsregelungen.
Nach dem neuen Dekret war die Eheschließung weiterhin kostenlos, die Scheidung wurde jedoch erschwert: Von nun an mußten beide Ehepartner im Standesamt erscheinen (bislang genügte es, wenn einer der beiden Ehepartner die Scheidung anmeldete). Der Vorgang wurde in den Pässen vermerkt, war damit nach außen sichtbar. Die Gebühren bei der Registrierung der Scheidung wurden drastisch erhöht. Statt wie bisher drei Rubel kostete nun die erste Scheidung fünfzig, die zweite 150 und jede weitere 300 Rubel. (Zum Vergleich: eine Textilarbeiterin verdiente in dieser Zelt etwa 150 Rubel im Jahr.)
In dem Text des Dekrets werden die neuen Scheidungsregelungen als Maßnahme bezeichnet,
"um eine leichtsinnige Verletzung der Pflichten gegenüber der Familie zu unterbinden".
Das neue Gesetz konnte übrigens die Bereitschaft zur Scheidung in der SU tatsächlich reduzieren. Schon vor dem Erlaß in den zwanziger Jahren waren die Scheidungen zurückgegangen. Nach dem Inkrafttreten der neuen Regelungen gingen sie noch einmal zurück. So wurden in Leningrad 1936 im ersten Halbjahr 10.313 Ehen geschieden, im zweiten Halbjahr waren es nur 3.860.
Abnahme der Ehescheidungen (pro tausend Personen)
Tabelle
Jahr | Ehescheidungen |
1935 | 6,2 |
1936 | 4,5 |
1937 | 2,3 |
1938 | 2,5 |
Falls überhaupt jemals wirklich radikal die alte Institution der Familie in Frage gestellt, bzw. an ihren Grundfesten gerüttelt worden war, spätestens jetzt war sie wieder da, von nun an hatte sie ihren festen Platz in dem realsozialistischen Gesellschaftssystem der UdSSR. Für die Frauen bedeutete das die Wiederherstellung ihrer alten Rolle, die Übernahme der alten Aufgaben - wenn sie diese überhaupt schon abgelegt hatten. Die weitgehend alleinige Übernahme der Haushaltsführung, die Versorgung der Familie, die Kinderbetreuung und -erziehung, dies alles bei gleichzeitiger stärkerer Einbeziehung in die Arbeitswelt, führten zu dem allbekannten Phänomen der Doppelt- und Dreifachbelastung für Frauen und zu der Problematik, wie wir sie aktuell in der
"Perestroika"-Debatte in der Sowjetunion wiederfinden.
Redaktion von Kapitel 5.: g. im Juni 1989
Anmerkungen allgemein: Wir haben die Anmerkungen aller Arbeitsgruppen als Endnoten des Arbeitsblocks ´Frauenpolitik´ gesetzt und laufend durchnummeriert - die Fussnoten der Dokumente sind hinter jedes Dokument gesetzt.
Anmerkungen 4.1 und 4.2 von chr. und urs:
Trotzki, Fragen des Alltagslebens, Berlin 1973
Jessica Smith, Woman in Soviet Russia, New York 1928, S.14 zit. nach Kai Th. Dieckmann, Die Frau in der Sowjetunion, Frankfurt/Main 1977, S. 57
vgl. Dokumentenanhang, Nr. 3
Edward Hallen Carr, Foundations of a Planned Economy 1926 - 1929, London S. 503
M. Wolters, A. Wolters, Elemente des russischen Rätesystems, Bd. IX, Teil 1, Hamburg 1981, S.71
vgl. Dokumentenanhang, Nr. 6
in Kai T. Diekmann, Die Frau in der Sowjetunion, Frankfurt/M., S. 51
in Fannina Halle, Die Frau in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 175
vgl. Dokumentenanhang, Nr. 6
Berichte von G. Batkis, Die Sexualrevolution in Rußland, Berlin1925, in Dieckmann S. 49
A. Kollontai, Die Liebe der drei Generationen, Berlin 1982, S. 41
A. Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Münster 1977
A. Kollontai, Der weite Weg, Frankfurt/ Main 1979, S.220 ff.
Kollontai, Der weite Weg, S. 148
Kollontai, Neue Moral, S. 142
Helene Imendörffer, Die Belletristik und ihre Rezeption, in: A. Kollontai, Der weite Weg, S. 265
Monika Israel, Uber die Probleme der Frauenemanzipation im nachrevolutionären Rußland in: Kollontai, Die neue Moral der Arbeiterklasse, S. 141, Münster 1977
Dokumente: Die Sowjetunion, Bd. 2 Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. H.Altrichter, H. Haumann, München 1987, S. 309
Monika Israel, Über die Probleme ... a.a.O. S. 119
vgl. Dokumentenanhang, Nr. 9
zitiert nach H. Harmsen: Die Befreiung der Frau, Berlin o.J., S.20; nach Monika Israel: Uber die Problenme der Frauenemanzipation im nachrevolutionären Rußland (1917-1928), S. 111; in A. Kollontai: Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Verlag Frauenpolititk, Münster, 1977.
Fannia Halle, a.a.o. S. 201
Lenin, Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik, Bd. 30, S.27
vgl. Dokumentenanhang, Nr. 1, S. 102 ff.
Lenin, Über die Aufgaben der proletarischen ... a.a.O. S. 28
Kai Th. Dieckmann, a.a.0. S. 87
Larissa Reissner, Oktober, Königstein/Ts. 1979, S. 242, S. 325
Anmerkungen 4.3. von g.:
S. Plogstedt, Frauen in der russischen Revolution, in: Frauen und Wissenschaft, Berlin 1976, S.318
Fannina Halle, Die Frau in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 141
Führende Frauen Europas, hrg E. Kern, hier: Kollontai, Ziel und Wert meines Lebens, München 1929, S. 282
Heinen/ Holt/ Maheim, Frauen und Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1984, S. 5
Anmerkungen von g. zu Kapitel 5:
Ilja Ehrenburg, Der zweite Tag, Berlin 1958, S 280
F. Halle, Die Frau in Sowjetrußland, Berlin u.a. 1932, S. 251 - 460
Salomon M. Schwarz, Arbeiterklasse und Arbeitspolitik inder sowjetunion, Hamburg 1953, S.78
Trotzki, Verratene Revolution, Bd. 1.2, 1936, Hamburg 1988, S.838
Dokumente: Die Sowjetunion, Band 2, München 1987, S. 309
Anweiler/Meyer, Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Heidelberg 1961, S.34
Luke, Die marxistische Frau: sowjetische Variante, in: Simmons, Der Mensch im Spiegel der Sowjet-Literatur, Stuttgart 1956, S. 120
Joas/Müller, Alternativen zur Kleinfamilie im nachrevolutionären Rußland, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 13, Jg. 4, S. 32
Luke S. 117, Auszug aus dem Roman "Bruski" von Fedor J. Panfjerov
K. T. Diekmann, Die Frau in der Sowjetunion, Frankfurt/Main 1978, S. 125
Almanach, Die Frau und Rußland, München 1980, S. 12
Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, Mailand 1967, Nr. 25, S. 1009
7. Dokument 1: Alix Holt: Die Bolschewiki und die Frauenunterdrückung
[aus: A. Mahaim/W. HoIt/J. Heinen: Frauen und Arbeiterbewegung, Frankfurt/M, 1984, S. 87 - 125; Auszüge]
0 Einleitung
Das Verhältnis von Frauenbefreiung und sozialer Veränderung kann nicht untersucht werden, ohne daß die Erfahrungen der russischen Revolution berücksichtigt werden, der ersten Revolution, die sich die Aufgabe der Befreiung der Frau gestellt hatte, indem sie die Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf sie ausdehnte. Um zu verstehen, warum die Veränderungen der Lage der Frauen, die die Revolution mit sich gebracht hatte, ihnen nicht die vollständige Gleichheit gebracht hat und warum die Frauen in der Sowjetunion heute vor allem unqualifizierte und schlecht bezahlte Arbeit leisten, warum auf ihnen die unbezahlte Hausarbeit lastet, muß man die Entwicklung und die Strukturen der sowjetischen Gesellschaft insgesamt betrachten. In der UdSSR von heute sind nicht nur die Frauen unterdrückt: die ethnischen Minderheiten, die Jugend und die Arbeiter sind alle des Rechts beraubt, ihre eigenen Lebensbedingungen zu kontrollieren. Die linken Kritiker haben das Fehlen demokratischer Rechte, wirklicher Gewerkschaften oder von Arbeiterkontrolle betont und haben in den jetzigen Strukturen das Ergebnis der besonderen historischen Entwicklungsbedingungen der UdSSR gesehen: der Rückständigkeit Rußlands zur Zeit der Revolution, des Fehlschlagens der Revolution in anderen Ländern und der Isolation des Sowjetstaates sowie des Aufstiegs des Stalinismus. Man hat diese besonderen historischen Bedingungen angeführt, um das Fehlschlagen der Befreiung der Frau zu erklären. Wenn es darum geht, das Fortbestehen der Frauenunterdrückung im Zusammenhang mit den Ungleichheiten und den undemokratischen Institutionen der Sowjetgesellschaft zu begreifen, darf man sich nicht mit Allgemeinheiten zufrieden geben. Der Bezug zum Aufstieg des Stalinismus ist keine hinreichende Erklärung, da der Rückschritt im Vordringen der Frauen im beruflichen und sozialen Leben ein Teil der Infragestellung der demokratischen Rechte bedeutete und die Veränderung im Verständnis der Moral selbst ein Aspekt des Aufstiegs des Stalinismus war. Anders gesagt, das Fehlschlagen der Frauenbefreiung ist nicht einfach das Ergebnis des Scheiterns der Revolution, sondern auch ein Grund für dieses Scheitern, einerder Faktoren, die ebenso zu den stetigen Veränderungen der Regierungsform und der Ideologie beigetragen haben wie die wachsende Passivität der Arbeiterklasse.
Nur wenn man die Veränderungen in den Konzeptionen und in der Zielsetzung im Einzelnen untersucht und die Situation der Frauen gleichzeitig als Ursache und Folge der allgemeineren sozialen Veränderungen betrachtet, kann man die Geschichte der UdSSR benützen, um die Verbindung zwischen dem Kampf für den Sozialismus und dem Kampf für die Befreiung der Frau, den genauen Stellenwert einer autonomen Frauenbewegung und die Macht der Ideologie und der Familienstruktur besser zu erfassen.
Ich werde also damit beginnen, die Geschichte der zwanziger Jahre zu untersuchen, und dabei das Hauptaugenmerk darauf richten, wie die bolschewistischen Führer, die Parteimitglieder, die Soziologen und andere qualifizierte "Experten" die Unterdrückung der Frau und ihre Überwindung verstanden, und wie sich die Ideen im Laufe der Jahre verändert haben - oder angesichts ökonomischer und politischer Aufgaben beiseite gedrängt wurden. Indem ich ihre theoretische Sicht der Hausarbeit, der Arbeitsteilung nach Geschlechtern, der Mutterschaft, der Moral und der Organisationsfragen Revue passieren lasse, werde ich versuchen herauszufinden, bis zu welchem Punkt die bolschewistische Theorie für den Erfolg der Frauenbefreiung, die sie sich vorgenommen hatte, ausschlaggebend war. Zugleich werde ich auch zeigen, wie sich die wirtschaftliche und politische Entwicklung auf die Lage der Frauen ausgewirkt hat.
Weil die Geschichte der Revolutionen - auch die von den Revolutionären selbst geschriebene - die Frauen kaum und die Fortschritte, die die Frauen betrafen, lediglich als Nebenprodukte des allgemeinen sozialen Fortschritts behandelt hat, war die Vorstellung vom Verhältnis von gesellschaftlichen Veränderungen zur Frauenbefreiung oft vereinfachend. Hinsichtlich der russischen Revolution hat man oft den Eindruck vermittelt, daß, solange das Land ein einigermaßen gesunder Arbeiterstaat war, es seinen Verpflichtungen gegenüber den Frauen nachkam und erst in der Niedergangsphase der Revolution diese Pflicht vernachlässigte: während der zwanziger Jahre habe es einen stetigen Fortschritt zur Befreiung der Frau gegeben, in den dreißiger Jahren wäre mit der Festigung der politischen Macht Stalins unmerklich ein Rückschritt eingetreten, der sich in der Änderung der Gesetze zur Abtreibung, zur Scheidung und zur Homosexualität ausgedrückt hätte. Diese Bilanz ist angesichts vielfältiger Kritik von links an der Entwicklung der UdSSR, die bis zum Beginn der zwanziger Jahre und noch weiter zurückgeht, nicht aufrecht zu erhalten, will man die wirtschaftlichen und sozialen Faktoren erfassen, die zum Stalinismus und zur Abkehr von vielen Errungenschaften der Revolution geführt haben. Übrigens klammert eine solche Bilanz zuviele Probleme aus und schließt eine zu unkritische Billigung der Politik der Bolschewiki ein.
Die stalinistische Geschichtsauffassung - nach der die Partei vollkommen war, niemals Irrtümer beging und allen Gebieten marxistischer Theorie zum Fortschritt verhalf - hat sogar noch das Denken der entschiedensten Gegner des Stalinismus beeinflußt und erscheint manchmal in den Lobpreisungen, die auf die Bolschewiki und ihre Haltung zur Emanzipation der Frau gehalten werden.
Wir müssen kritisch vorgehen, denn das ist der einzige Weg, Lehren aus der bolschewistischen Erfahrung zu ziehen. Der Fortschritt, der in den letzten zehn Jahren bei von der Frauenbewegung der theoretischen Durchdringung der Frauenunterdrückung erzielt wurde, gibt uns die Instrumente einer kritischen Analyse an die Hand. Wir haben heute eine klarere Vorstellung davon, was eine Revolution ändern muß, welche Forderungen die Frauen aufstellen, für welche Orientierung sie kämpfen müßten; das kann uns helfen, die Mängel der Theorie der Bolschewiki und die Lücken ihrer politischen Strategie zu erfassen. Um jedoch konstruktiv zu sein, muß ein kritisches Herangehen auch einen historischen Standpunkt beziehen. Es reicht nicht, die heutigen Forderungen auf die Vergangenheit zu beziehen, und die Bolschewiki und die russische Revolution mit heutigen Kriterien zu beurteilen, ohne die gewaltigen Veränderungen, die seit Anfang des Jahrhunderts in den politischen Strukturen eingetreten sind, in Betracht zu ziehen.
Eine solche kritische Methode kann zwar die Unterschiede zwischen den Bolschewiki und der heutigen Frauenbewegung feststellen, aber nicht deren Bedeutung erklären. Unsere Kritik darf nicht bei der Feststellung der Unzulänglichkeiten verharren, sondern muß davon ausgehend festhalten, unter welchen Umständen die Frauen sich ihrer Unterdrückung bewußt werden und was die besten Methoden des Kampfes für ihre Befreiung sind.
Wir müssen verstehen, warum bestimmte Ideen auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe im Umlauf waren, warum diese oder jene Entscheidung getroffen oder eine bestimmte wirtschaftliche Zielsetzung verfolgt wurde. Um beurteilen zu können, ob man unter den gegebenen Umständen hätte verhindern können, daß die Ereignisse einen rückwärtsgewandten Verlauf nahmen und ob bestimmte politische Entscheidungen in der gegebenen Situation zu rechtfertigen waren, ist die Kenntnis der allgemeinen Geschichte dieser Epoche unbedingte Voraussetzung.
Die Geschichte der Sowjetunion der zwanziger Jahre ist von den Historikern und Schriftstellern der Linken verschieden interpretiert worden. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen die Bewertung der politischen und wirtschaftlichen Orientierung, die für den Aufstieg des Stalinismus verantwortlich war.
Eine Interpretation besteht in der Behauptung, die bolschewistische Partei sei nicht demokratisch gewesen und hätte die Arbeiterorganisationen (Sowjets und Fabrikräte) bereits ab 1917 zerstört und damit das Fehlschlagen der Revolution herbeigeführt.
Eine andere Meinung hält dagegen fest, daß, obwohl die demokratischen Institutionen in Rußland wegen des Bürgerkriegs und der Rückständigkeit nie ihre volle Entwicklung erfahren hätten, die Partei während der ersten Jahre alles tat, was sie konnte, um die Beteiligung der Massen an der Regierung zu ermutigen; die Neue Ökonomische Politik (NEP), die 1921 eingeführt wurde und die die Wiederherstellung bestimmter kapitalistischer Elemente mit dem Ziel, eine todwunde Wirtschaft wiederzubeleben, erlaubte, wäre jedoch - wiewohl notwendig - in einer Art und Weise angewandt worden, in der den Bauern exzessive Zugeständnisse gemacht wurden und das Ankurbeln der Industrie verzögert wurde. Die Anhänger dieser These schließen sich vielfacher weiterer Kritik an, die zu dieser Zeit seitens der Linken Opposition (eine Gruppierung innerhalb der Partei, geleitet von Trotzki) bezüglich der Partei vorgebracht wurde, und betrachten die in den Jahren verfolgte Wirtschaftspolitik zugleich als Ursache und Faktor der sich verstärkenden Veränderungen der Sozialstruktur der Gesellschaft, die sich im Niedergang der Demokratie und der Bürokratisierung der Partei ausdrückten.
Eine dritte Interpretation betrachtet die Wirtschaftspolitik der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre als notwendiges Übel, weil die Partei keine Wahl hatte. Die These, die diesem Artikel zugrundeliegt, ist die folgende: wenngleich die NEP gerechtfertigt war, hätten doch die Schrecken der Kollektivierung und der gewaltsamen Industrialisierung des ersten Fünfjahresplans vermieden werden können, wäre sie anders angewandt worden; anders gesagt: ich schließe mich den Thesen der Linken Opposition an. Im Nachhinein scheint es, als hätten Stalins Kritiker keine Chance gehabt, in diesem politischen Kampf zu siegen; es scheint, daß es keine Möglichkeiten gab, Stalin vom Aufbau des staatlichen Unterdrückungsapparats der dreißiger Jahre abzuhalten. Aber nichts ist jemals unvermeidlich. Die Geschichte ist Produkt vieler verschiedener Faktoren, und die Veränderungen auf irgendeiner Ebene der Sozialstruktur können tiefe Auswirkungen auf die soziale Entwicklung haben. Obwohl es ausgeschlossen war, daß in der Sowjetunion ein idealer sozialistischer Staat hätte entstehen können, wenn man eine andere politische Linie und eine andere wirtschaftliche Orientierung verfolgt hätte, so hätte man doch ein Ergebnis erhalten können, das unserem Ideal ein wenig näher gekommen wäre als das Rußland unter Stalin.
Es ist legitim, sich zu überlegen, ob eine bessere Politik im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern den Lauf der Dinge hätte beeinflussen können. Wenn man diese Frage stellt, darf man die Politik der Bolschewiki zur Frauenbefreiung nicht isoliert sehen oder mit einem abstrakten Verständnis dessen, was hätte sein sollen, konfrontieren, sondern man muß sie in den Zusammenhang der Entwicklung der Beziehungen zwischen Partei und Arbeiterklasse, des Rückgangs der demokratischen Normen, der wachsenden Passivität der Massen stellen und so den Zusammenhang zwischen der Situation und der Bewußtwerdung der Frauen und dem allgemeinen politischen Leben der Epoche herstellen und die autonome Dynamik der Frauenbewegung hervorheben; der Aufstieg und der Niedergang der "Frauenfrage" sind nicht mit dem Aufstieg und dem Niedergang der proletarischen Demokratie oder der Arbeiterkontrolle identisch, vor allem deshalb, weil weder die kommunistischen Führer noch die einfachen Mitglieder an der Basis die Probleme der Frauen für politisch besonders wichtig hielten.
Die Diskussionen über die Hausarbeit oder den Charakter der Familie in der Frauenbewegung haben viele Anregungen gebracht und bieten einen theoretischen Rahmen für eine Analyse der Unterdrückung der Frau. Eine historische Untersuchung ist nötig, um diese Theorien zu überprüfen und zu zeigen, wie in einer konkreten Situation die Arbeitsteilung nach Geschlechtern und die Familienstruktur von einer Produktionsweise auf eine andere übertragen wird, wie verschiedene Gesellschaften diese Strukturen ihren Bedürfnissen anpassen. Der Blick auf die Geschichte ist für das Begreifen unserer eigenen Unterdrückung maßgebend. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich begonnen, die Politik der Bolschewiki zur Frauenbefreiung in den zwanziger Jahren zu untersuchen.
I. Die Diskussionen über die Familie und die Hausarbeit
In
Die Zukunft der Familie schreibt Eli Zaretsky, alle sozialdemokratischen Parteien, einschließlich der Bolschewiki, hätten geglaubt, der Sozialismus werde automatisch die Frauen befreien und ihre Befreiung bestehe darin, sie alle in die Erwerbstätigkeit zu führen. Diese Meinung scheint sehr verbreitet zu sein.
Es gab Bolschewiki, die das befreiende Potential verstaatlichter Produktionsmittel überschätzten. W. A. Bystranski, ein Parteiarbeiter, schrieb dazu:
"Das Leben zeigt, wie recht die Marxisten hatten, als sie sagten, dass der Sieg des Proletariats sozusagen automatisch die Beseitigung jeder Unterdrückung, jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, jeder Unterdrückung eines Geschlechts durch das andere mit sich bringt."
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Man schrieb gerade das Jahr 1920, der Feldzug nach Polen schien unmittelbar vor dem siegreichen Ende zu stehen, und die Hoffnung auf die Weltrevolution und einen raschen, problemlosen Übergang zum Kommunismus war noch groß. Solche Äußerungen, die heute naiv und oberflächlich erscheinen, waren von guten Bestrebungen beseelt: man mußte mit Ausbeutung und Unterdrückung Schluß machen, und die Marxisten würden alles tun, um den Prozeß zu beschleunigen. Bystranski wollte nicht behaupten, der Sieg des Proletariats als solche bringe das Ende der Unterdrückung mit sich; er gab zu, daß sich die Unterdrückung der Frau bis zu einem gewissen Punkt von der Ausbeutung einer Klasse unterschied.
Die Führer der bolschewistischen Partei waren sich im allgemeinen bewußt, daß der Sieg des Proletariats nicht automatisch das Ende aller Unterdrückung mit sich brächte: man war sich einig, daß ein harter und langer Kampf bis zur wirklichen Gleichheit der Frauen nötig wäre. Ende der zwanziger Jahre schrieb der Bolschewiki A. Smirnow:
"Die Jahrhunderte der Unterdrückung haben ihre Spuren hinterlassen. Das alte Familiensystem, das aus den Frauen Hausfrauen macht, die vom sozialen Leben isoliert und der Möglichkeit sozialer Betätigung beraubt sind, ist noch in Kraft."
()
Allgemein wurde gesehen, daß sich die Familie den Kräften der Veränderung gegenüber als besonders resistent erwies. Als Trotzki schrieb, daß
"das Alltagsleben viel konservativer (ist) als die Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es noch weniger bewußt erkannt wird als die letztere" , drückte er etwas aus, was in der Literatur der Epoche breiten Niederschlag fand. Der Einfluß der alten Lebensweise und der alten Moral war bekannt. Die Partei konnte schwerlich die Mißhandlungen der Frauen in den Dörfern übersehen; auch die städtischen Frauen erschienen oft mit verschwollenen Gesichtern zu den Versammlungen. Die Bolschewiki beriefen sich gewöhnlich nicht auf Engels, der erklärt hatte, daß die Gleichheit in der proletarischen Familie bereits existierte.
Die Debatten über die Familie und die Hausarbeit
´Der Ursprung der Familie...´ von Engels und ´Die Frau und der Sozialismus´ von Bebel wurden Ende des 19. Jahrhunderts ins Russische übersetzt, aber sie wurden von den russischen Sozialisten mit weniger Interesse aufgenommen als in anderen Ländern. Während der Jahre vor der Revolution gab es in der Sozialdemokratischen Partei Rußlands keine Diskussionen über den Charakter der Familie oder die Veränderungen in der Lebensweise, die der Sozialismus bringen konnte.
Zwei Faktoren könnten diese Interessenlosigkeit erklären. Die russischen Volkstümler des 19. Jahrhunderts hatten sich nicht mit einer prinzipiellen Haltung zu Gleichheit der Geschlechter begnügt, sodaß die Frauen in den revolutionären Bewegung eine große Rolle spielen konnten und in ihrer täglichen Praxis nicht ständig mit der eigenen Unterdrückung konfrontiert wurden. Da die Sozialdemokraten außerdem unaufhörlich umzogen, um sich der Polizei zu entziehen, da sie oft eingekerkert oder exiliert waren, hatten sie - im Unterschied zu ihren Brüdern in Westeuropa - nicht die Gelegenheit, ein ordentlicher Familienheben zu führen; dadurch entkamen sie der Versuchung reformistischer Sichtweisen über die Frauen als Hüterinnen von Haus und Herd. Aber sie hatten wenig Erfahrung mit den Problemen des Familienlebens und erfaßten das Hindernis, das die Familie für eine dauerhafte revolutionäre Aktivität der Arbeiterklasse bedeuten konnte, nur schlecht.
Die Volkstümlerbewegung und die russischen Sozialdemokraten hatten jedoch lang und breit über das Potential debattiert, das die Dorfgemeinschaft als soziale Einheit darstellte, die dazu dienen konnte, in Rußland mit
"einem Sprung" vom Feudalismus zum Sozialismus zu gelangen. Die Marxisten, die diese Debatte aufgenommen hatten, um zu beweisen, daß die Warenproduktion das Land bereits erfaßt hatte, mußten die Naturalwirtschaft des Bauernhaushalts analysieren. Die russischen Marxisten hatten das lebendige Beispiel des wirtschaftlichen Beitrags der Bäuerin für ihre Familie vor Augen. Möglicherweise finden wir deshalb in einigen ihrer Schriften eine wesentlich fundiertere Kenntnis der wirtschaftlichen Bedeutung der Hausarbeit als bei den Sozialisten Westeuropas.
Alexandra Kollontai hat beschrieben, wie sich das Wesen der Hausarbeit mit der Industrialisierung veränderte und gezeigt, daß die Hausarbeit, obwohl sie für die Frauen in der Stadt weniger bedeutete als für die auf dem Land, trotzdem weiter ihr Leben beengte. Sie hat oft unterstellt, daß der Kapitalismus die Hausarbeit Stück für Stück sozialisieren würde, aber sie hat den Wert dieser Arbeit für das kapitalistische System unterstrichen.
Die Schriften Kollontais sind in der Frauenbewegung gut bekannt; das Werk des Ökonomen Strumilin ist dagegen so gut wie unbekannt. Während der Jahre nach der Revolution arbeitete Strumilin Stundenpläne von Arbeiterinnen aus, die aufzeigten, wieviele Stunden und Minuten für Berufstätigkeit, für Schlaf und für Hausarbeit aufgewendet wurden. Diese Stundenpläne warfen ein Licht auf die Zeit und Energie, die Frauen am Herd bei unbezahlter Arbeit verausgabten. Strumihin glaubte fest an die Befreiung der Frau durch die Sozialisation der Hausarbeit. Er faßte Hausfrauen immer unter die Kategorie der Arbeiter; er lenkte die Aufmerksamkeit auf den Wert dieser Frauenarbeit, die in der herkömmlichen Wirtschaftsrechnung nicht berücksichtigt wurde, und er berechnete die Zahl der Beschäftigten, die nötig wären, um sie zu ersetzen.
In der Zeit nach der Revolution sprachen viele Führer der Partei von der Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Hausarbeit. Auf dem Kongreß der Arbeiterinnen und Bäuerinnen im November 1918 hielt Inessa Armand einen Beitrag über
"die Befreiung der Frau von der Haussklaverei":
"Im Kapitalismus mußte die Arbeiterin die doppelte Bürde der Fabrikarbeit und der Hausarbeit tragen. Sie mußte nicht nur für den Fabrikchef spinnen und weben, sondern auch noch für ihre Familie waschen, nähen und kochen. (...) Heute ist das anders. Das bürgerliche System verschwindet allmählich. Wir nähern uns einer Periode des Aufbaus des Sozialismus. Um die Tausende und Millionen von kleinen individuellen wirtschaftlichen Einheiten, die kümmerlichen, ungesunden und schlecht ausgestatteten Küchen, die unbequemen Waschkübel zu ersetzen, müssen wir beispielhafte Gemeinschaftseinrichtungen, Gemeinschaftsküchen, Kantinen und Wäschereien schaffen."
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Kollontai und Armand betrachteten die Abschaffung der Hausarbeit nicht als wünschenwerten Luxus oder als etwas, das Zeit hätte, bis andere Probleme gelöst wären, sondern als wichtige Frage der Übergangsperiode. Armand schrieb zum Kongreß von 1918:
"Wenn solche Fragen wie der Schutz der Mutterschaft und der Kindheit auf dem Kongreß im Vordergrund standen, dann nicht deswegen, weil sich die Arbeiterinnen nur für diese Fragen und keine anderen interessieren. Solange wir nicht die alten Formen der Familie, der Hausarbeit und der Kindererziehung losgeworden sind, ist es unmöglich, das neue Individuum zu schaffen, ist es unmöglich, den Sozialismus aufzubauen."
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Dieses Augenmerk auf die Vergesellschaftung der Hausarbeit wurde von einigen Führern der Partei geteilt. Lenin schrieb:
"Die Frau bleibt nach wie vor Haussklavin, trotz aller Befreiungsgesetze, denn sie wird erdrückt, erstickt, abgestumpft, erniedrigt von der Kleinarbeit der Hauswirtschaft, die sie an die Küche und an das Kinderzimmer fesselt und sie ihre Schaffenskraft durch eine geradezu barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit vergeuden läßt. (...) Öffentliche Speiseanstalten, Krippen, Kindergärten - das sind Musterbeispiele derartiger Keime [des Kommunismus], das sind jene einfachen, alltäglichen Mittel, die frei sind von allem Schwülstigen, Hochtrabenden, Feierlichen, die aber tatsächlich geeignet sind die Frau zu befreien, tatsächlich geeignet sind, ihre Ungleichheit gegenüber dem Mann im Hinblick auf ihre Rolle in der gesellschaftlichen Produktiön wie im öffentlichen Leben zu verringern und aus der Welt zu schaffen."
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Trotzki hat in ähnlichen Begriffen von der Hausarbeit gesprochen und die Bedeutung der Initiativen betont, die darauf abzielten,
"an der Basis" wie an der
"Spitze" eine neue Lebensweise einzuführen.
Die Erkenntnis des Wertes der Hausarbeit einerseits und der Notwendigkeit, sie zu vergeselhschaften andererseits, trat in vielen Gesetzen und Texten der Partei in den ersten Jahren der Revolution klar zu Tage. Die sowjetische Verfassung erkennt zum Beispiel die Nützlichkeit der Hausarbeit an, die anderen Individuen gestattet, an der produktiven Arbeit teilzunehmen; das Parteiprogramm vön 1919 versprach, die Hausarbeit zu vergesellschaften, indem Gemeinschaftseinrichtungen angeboten würden.
Trotz dieser öffentlichen Anerkennung der Bedeutung der Vergesellschaftung der Hausarbeit seitens der Partei, waren die Ergebnisse in den zwanziger Jahren sehr beschränkt. In den ersten Jahren der Revolution wurde in den großen Städten ein weites Netz von Kantinen eingerichtet, einige Krippen wurden eröffnet, und es war die Rede von Wäschereien. Mit der Einführung der NEP verzichtete man jedoch auf die meisten dieser öffentlichen Einrichtungen. Ende der zwanziger Jahre zählte man einige magere Erfolge bei den Gemeinschaftseinrichtungen, aber die meisten Frauen in den Städten verrichteten weiter unbezahlte Hausarbeit; sie blieb eine Privatarbeit im Schoß der Familie. Die Familie war immer noch die Grundeinheit der Gesellschaft.
Man hat oft eingewandt, daß die bolschewistischen Ideen über die Veränderung des Alltagslebens und der Ersetzung der Familie von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie von Intellektuellen ausgingen und bei den einfachen Leuten kein Echo fanden; die Familie würde als soziale Grundeinheit beibehalten und in ihrem Schoß weiter Hausarbeit geleistet, weil die Arbeiter und Bauern es so wollten.
Die Bewußtwerdung der Frauen
Während der zwanziger Jahre blieben die Frauen insgesamt an ihre traditionelle Rolle in Familie und Gesellschaft gebunden. Kollontai konnte lange auf der Tatsache bestehen, daß alle Frauen bereit seien, Herd und Töpfe zu verlassen, die Frauen setzten jedoch den Versuch, die
"von oben" kamen, um die Arbeitsteilung nach Geschlechtern aufzuheben, einen hartnäckigen Widerstand entgegen. Die Frauen, deren befriedigendste Beziehungen oft die zu ihren Kindern waren, waren der Idee gegenüber zurückhaltend, die Kinder Fremden anzuvertrauen:
"Stimmt es, daß ihr alle Babys auf Wagen verladet, die sie mitnehmen, und daß man sie nie wieder sieht?", fragten die Bäuerinnen.
Die Frauen interessierten sich selten für
"politische Probleme". Doch sie kamen zu Versammlungen, um sich über Kinderbetreuung zu informieren; sie besuchten Hauswirtschaftskurse. Sogar die Jüngsten zogen die Mode dem Marxismus und dem Leninismus vor. Ein Parteimitglied schrieb 1929 über die Beteiligung der Mädchen am Komsomol (der kommunistischen Jugendorganisation):
"Die Praxis hat gezeigt, daß die erfolgreichsten Zirkel die Mode-, Koch-, Hygiene-, Kinderpflege-, aber auch die Singe- und Theatergruppen waren."
Die Frauen identifizieren sich weiter mit ihren traditionellen weiblichen Aufgaben. Die aktivsten Städterinnen engagierten sich jedoch stark für deren Vergesellschaftung. Der Inhalt der Frauenpresse beweist, daß die politisch bewußteren Arbeiterinnen bereit waren, Veränderungen in der Familienorganisation in Angriff zu nehmen. Eines der meistdiskutierten Themen in
"Rabotniza" (Arbeiterin), der größten Frauenzeitung, von der 1927 150.000 Stück verkauft wurden, war die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Das Problem wurde manchmal auch auf dem Umweg über fiktive Beispiele aus dem Alltagsleben angesprochen:
"Olja interessiert sich für nichts außerhalb ihrer vier Küchenwände. Ihr Mann verläßt sie und geht zu Sofija. Um das zu vergessen, arbeitet sie bei der Organisation einer Kantine im Stadtviertel mit. Sie wird dort im Stadtteil aktiv, und ihr Mann fehlt ihr nicht mehr."
"Gruscha arbeitet als Köchin und hat größte Mühe, gleichzeitig ihren sechsjährigen Sohn zu erziehen. Ihre Freundin Tatjana hat ihre Tochter in einen Kinderhort gegeben. Gruscha besichtigt den Hort und sieht, wie glücklich die Kinder sind."
Man findet hier zuweilen Reportagen über Errungenschaften wie die Eröffnung der Großkantine einer Fabrik in der Textilstadt Iwanow-Wosnessensk oder einer Krippe in einem alten Adelssitz. Mit der Einführung der NEP wurden die meisten Fonds für solche Projekte abgeschafft, und nur Genossenschaften erlaubten Neueröffnungen. Zum Beispiel die Genossenschaft in Narpit, die 1923 von der Regierung zum Betrieb von Kantinen ins Leben gerufen wurde - 80% des Personals in Narpit waren Frauen.
Der Standpunkt der Männer
In ihrem Buch
"Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage", das 1909 erschien, hatte Kollontai angeführt, daß es das Ideal manchen Arbeiters war, seine Suppe im Kreis der Familie zu löffeln. Auch in den zwanziger Jahren meinte die große Mehrheit der Männer, daß die Frauen die Suppe am familären Herd zu kochen hätten. Die männliche Hälfte derArbeiterklasse betrachtete die andere Hälfte immer noch als für Haushalt und Kinder geschaffen, wie es auch zahlreiche Beschwerden zeigen, die der
"Rabotniza" zugingen. Eine Frau protestierte:
"Man hört die Genossen oft sagen: Meine Frau lasse ich nie in die Partei gehen, denn ich lasse nicht zu, daß sie die Kinder allein läßt und daß mir niemand das Essen macht, wenn ich nach Hause komme..."
Der kommunistische Kämpfer, der es für gut hielt, daß sich seine Frau um die Küche und das Haus kümmerte, damit er mehr politisch arbeiten konnte, war keineswegs eine Ausnahme. Es gab genug Männer, die öffentlich schöne Reden schwangen, während sie sich privat darauf verließen, daß ihre Frauen kochten und den Abwasch machten.
Da die Regierungsmitglieder und die Mitglieder der Parteiorganisationen und Institutionen fast ausschließlich Männer waren, wirkte sich der männliche Standpunkt nicht nur in der inneren Organisation der Familie aus, sondern in allen Richtlinien und Entscheidungen auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die Verantwortlichen für die sozialen Fragen betrachteten die Probleme der Frauen als zweitrangig und unwichtig. Man muß sich fragen, ob das nicht viel eherdaran lag, daß die Partei nie die Absicht hatte, die Ideen der Bolschewiki über die Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Veränderting des Alltagslebens anzuwenden, als daran, daß die Männer und Frauen zu rückschrittlich waren, diese fortschrittlichen Ideen zu begreifen. Die Frauenunterdrückung basierte jedoch nicht auf dem Standpunkt der Männer, auch wenn dieser sie verstärkte und verewigte in einem Prozeß, den die Bolschewiki nie richtig erfaßten. Das Verhalten der Männer drückte die gesellschaftlichen Beziehungen aus, und während der zwanziger Jahre veränderten sich diese Beziehungen im Bereich der Familie kaum.
II. Wirtschaft und Politik
In der Zeit des Bürgerkriegs eröffnete die Regierung in den Städten Kantinen als einzige Möglichkeit, die Hortung von Vorräten zu verhindern und die Verbreitung des Hungers einzudämmen. In Moskau und Petrograd aßen mehr als 80% der Bevölkerung in gemeinschaftlichen Speisesälen. Die Kantinenkost war jedoch nicht gut genug, um die Leute auch dann anzulocken, als sich das Angebot in den Läden verbesserte. Nach 1921 wurden mit der Einführung der NEP die Kantinen aufgegeben, die meisten wurden geschlossen.
Die Fortschritte in der Abschaffung der Hausarbeit hingen von den verfügbaren materiellen Ressourcen und der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ab; während der zwanziger Jahre war das Land zu arm, um den Frauen die wirtschaftliche Unabhängigkeit zuzugestehen und Geld in Kantinen und andere Gemeinschaftseinrichtungen zu stecken. Hausarbeit blieb private, unbezahlte Arbeit. Auch die Kinderpflege ruhte hauptsächlich auf der kostenlosen Arbeit der Frauen in der Familie, 1928/29 gab es erst 194.386 Krippenplätze.
Die wirtschaftliche Instabilität und die massive Arbeitslosigkeit hinderten die Regierung daran, den sofortigen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Angriff zu nehmen, wie sie sich viele Parteimitglieder in der Periode des Kriegskommunismus (d.h. während der Bürgerkriegszeit) erträumt hatten. Es war nicht möglich, die Frauen ganz zu befreien, ihnen eine gleichberechtigten Platz in der gesellschaftlichen Produktion einzuräumen und endgültig den Familienrahmen zu sprengen, in dem der Mann der Brotverdiener war und die Frau zuverdiente und die Hausarbeit kostenlos verrichtete. In den städtischen Familien steuerte die Frau im Schnitt nur 10% des Familieneinkommens bei, dieser Anteil blieb während der ganzen zwanziger Jahre konstant. Da es nur unter größten Schwierigkeiten voranging, sahen sich die Bolschewiki gezwungen, einige ihrer Gesetze aus den ersten Jahren der Revolution wieder aufzuheben, aus einer Zeit, da sie noch glaubten, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen binnen einiger Monate oder Jahre bewerkstelligen zu können.
Das Eherecht von 1918 beispielsweise sah bei Scheidung vor, daß jeder Partner die Güter behalten konnte, die er durch eigene Arbeit erwirtschaftet hatte. Man ging davon aus, daß die Männer und Frauen, da gleich und gleichermaßen unabhängig, auch entsprechend behandelt werden müßten. Im Laufe der Jahre wurde jedoch deutlich, daß die Frauen den Männern gegenüber nicht gleichberechtigt waren und daß sie auch nicht im Begriff waren, es zu werden. Im Gegenteil, die weibliche Arbeitslosigkeit wuchs unaufhörlich, und die finanzielle Not einer steigenden Zahl geschiedener Frauen, die als unbezahlte Hausfrauen gearbeitet und keine Rechte auf das Vermögen ihrer Exgatten hatten, wurde ein gesellschaftliches Problem.
Das neue Ehegesetz von 1926 führte also die Gütergemeinschaft ein: die Interessen der Frauen wurde durch die gesetzliche Anerkennung der Hausarbeit geschützt.
Eine zweite Gesetzesänderung wurde zum Schutz der Interessen der Kinder verabschiedet. 1919 war das Adoptionsrecht gesetzlich abgeschafft worden, da die Kindererziehung vergesellschaftet werden sollte. Der Weltkrieg und der Bürgerkrieg hatten der neuen Regierung hunderttausende Waisenkinder hinterlassen, und die Kinderheime waren völlig überfüllt.
Auf dem Kongreß der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, der 1918 in Moskau stattfand, erklärte A. Kalinina in ihrem Beitrag über
"die Aufgaben der sozialistischen Erziehung":
"So vollkommen eine Mutter sein mag, sie kann gar nicht soviel bieten wie die gesellschaftlich organisierte Erziehung, die auf den neuesten Errungenschaft der Wissenschaft, auf der Erfahrung des Volkes und auf Fonds und Hilfsquellen"
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Die Kinderheime hatten jedoch niemals Personal oder Gelder erhalten, und selbst die glühendsten Vertreter(innen) der gesellschaftlichen Erziehung mußten zugeben, daß die Familie momentan den Kindern einen weit günstigeren Rahmen zum Aufwachsen bot als das Heim. Viele Kommunisten lehnten es ab, Zugeständnisse an die Familie zu machen, aber der Moskauer Sowjet erlaubte schließlich die Adoption von Kindern aus Heimen, und das Eherecht von 1926 erkannte die Adoption an.
Diese Gesetzesänderungen werfen ein Licht auf die Probleme der sozialistischen Umwälzung in einem rückständigen Land und sind nicht so zu verstehen, daß die Bolschewiki die Abhängigkeit der Frauen von den Männern befürworteten. Ein Gesetz kann die Unterdrückung der Frau nicht abschaffen. Die Familie kann nicht per Dekret abgeschafft werden, man muß sie ersetzen. Man muß daher in jedem Fall über ausreichende Mittel verfügen, um Gemeinschaftseinrichtungen anzubieten, deren Leistungen mindestens so praktisch und funktional sind wie die Hausarbeit und um den Frauen von Gesetzes wegen eine Ausbildung und konkret bezahlte Arbeitsplätze zu garantieren.
Die Armut war offensichtlich ein bedeutendes Hindernis für die Befreiung der Frau. Erst Ende der zwanziger Jahre begann die sowjetische Regierung, solche Artikel wie Thermosflaschen und Gemüseschäler zu importieren, und in den ersten Jahren erschwerte der Mangel an Feuerholz und Nahrung, an Geschirr und Besteck die Organisation der winzigsten Kantine um ein vielfaches.
Das Problem der wirtschaftlichen Entscheidungen
Der wirtschaftliche Faktor ist natürlich äußerst wichtig; das Elend des Landes beschränkte die Möglichkeiten einer Veränderung der Lage der Frauen. Aber die Einschränkungen durch die wirtschaftlichen Zwänge ließen doch einen Spielraum. Die politische Ausrichtung war nicht mechanisch durch die wirtschaftlichen Bedingungen vorgegeben. Sie war bewußt gewählt, da man sie für geeigneter hielt als andere Alternativen. Die politische Linie der zwanzigerJahre hatte die Tendenz, die Bedürfnisse der Frauen nicht zu berücksichtigen.
Das Land war arm, doch es ermöglichte eine Ausbildung der Arbeiter, Wohnungsbau und Städteplanung. Für die Veränderung der Lebensweise wurde kein Geld ausgegeben. Die Verteilung der verfügbaren Mittel wurde politisch entschieden. Die Krippen, Kantinen usw. hatten ständigen Geldmangel, weil man dachte, es würde anderswo besser genutzt.
Man muß sich über die
"objektive Notwendigkeit" dieser Entscheidungen zumindest Fragen stellen. 1926 war Kollontai in der Diskussion über den Entwurf des neuen Eherechts entgegengehalten worden, das Land hätte nicht die Mittel, um auch nur die kleinste Maßnahme zur Schaffung von Grundlagen für ein Sozialversicherungssystem zu ergreifen, das das System der Pensionen auf Nahrungsmittelgrundlage ersetzen könnte. Hat aber die Uberzeugung, daß die Frauenbefreiung keine vordringliche Aufgabe sei, nicht die Haltung der Regierung gegenüber den Möglichkeiten beeinflußt? Das bringt uns wieder zum Einfluß männlicher Vorstellungen auf die politischen Entscheidungen und die Jahrhunderte alten Strukturen der Familie und der Arbeitsteilung, die immer dann wieder die Oberhand gewinnen, wenn man sie nicht bewußt in Frage stellt.
Regierung, Gewerkschaften und die übrigen gesellschaftlichen Institutionen haben die besonderen Schwierigkeiten der Arbeiterinnen in der Zeit der NEP offensichtlich nicht erfaßt. Obwohl die Zahl der in Arbeit stehenden Frauen rascher abnahm als die der Männer, weniger Frauen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hatten und der Prozentsatz der Frauen, die Zugang zu einer Ausbildung hatten, Anfang der zwanziger Jahre gefallen war, hatte sich die Regierung kaum darum gekümmert und schon gar keine Maßnahmen zugunsten der Frauen ergriffen.
Die Frauenorganisationen waren sich dessen bewußt, daß die NEP die Frauen härter traf: die Zeitung
"Rabotniza", die 1918 wegen Papiermangel eingestellt wurde, erschien 1923 von neuem, weil - wie die erste Ausgabe feststellte - die Wirtschaftspolitik dieser Zeit die Knechtschaftsverhältnisse für die Frauen wiederherstellte. Obwohl aber Tausende von Frauen arbeitslos waren, veröffentlichte die Zeitung nur einen oder zwei Artikel über die Arbeitslosigkeit; obwohl die Frauen auch weiterhin unqualifizierte und unterbezahlte Arbeitsplätze hatten und noch immer von den Männern abhängig waren, verzichtete die Zeitung darauf, die Regierungspolitik zu kritisieren und eine Politik zur Verbesserung der Lage der Frauen vorzuschlagen oder zu unterstützen.
Der Hang der Frauenorganisation zum Herunterspielen der Frauenprobleme Anfang der zwanziger Jahre und das Fehlen einer kämpferischen Haltung zu den Frauenfragen ihrerseits, findet ihre Erklärung im politischen Kampf innerhalb der Partei. 1923 startete das Triumvirat Stalin, Sinowjew und Kamenjew eine wilde Kampagne von Angriffen und Manövern gegen Trotzki und dessen Anhänger, die das Fehlen von Demokratie im Parteileben kritisierten und eine Änderung der Wirtschaftspolitik vorschlugen. Die Oppositionellen kritisierten besonders die Art und Weise, wie die NEP die Bauernschaft begünstigte, ohne den elenden Lebensstandard der Arbeiterklasse in irgendeiner Weise zu verbessern. Da die Frauenorganisationen auf der Seite der Parteimehrheit standen, verzichteten sie auf eine Kampagne für die Rechte der Frauen, da diese sie zu sehr in die Nähe der oppositionellen Kritik gebracht hätte.
Die Schwachstellen im allgemeinen politischen Programm bezüglich des Kampfes für die Befreiung der Frau waren schon vor 1923 zu erkennen, aber mit Beginn des politischen Kampfs in der Partei wurden diese Schwächen immer offensichtlicher. Nach 1923 wurden die Probleme der Frauenbefreiung kaum noch in irgendwelchen Partei- oder Sowjetinstanzen diskutiert. Die Analyse der Familie überließ man Soziologen und anderen
"Experten". Die Parteiführer gingen über diese Frage nut Schweigen hinweg und fielen hinter die Prinzipien zurück, die sie vorher verteidigt hatten.
Innerhalb der bolschewistischen Partei und in dergesamten sowjetischen Gesellschaft der zwanziger Jahre hatte man ein mehr oder weniger klares Verständnis von der wichtigen Rolle der Familie in der Gesellschaft und der Probleme, die eine Umgestaltung des Alltagslebens mit sich brachte. Dennoch nahm die Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Situation während der Periode der NEP eine Wende, die dazu führte, daß diese theoretische Erkenntnis in Vergessenheit geriet, statt weiterent
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wickelt zu werden. Sogar während der ersten Phase wurde nie versucht, die Gedanken, die von einigen Bolschewiki geäußert wurden, in einen theoretischen Zusammenhang zu bringen, sodaß sie von den Mitgliedern der Partei hatten diskutiert und angenommen werden können.
Die Mehrzahl der Stellungnahmen der Parteiführer zur Familie fällt in die Zeit, in der man einen gleichsam unmittelbaren Übergang zum Kommunismus für möglich hielt. Diese verbalen Parteinahmen wurden während der NEP kaum konkretisiert. Man setzte auch keine Untersuchungsarbeit in Gang, um herauszufinden, welche politische und wirtschaftlichen Maßnahmen es erlaubt hätten, die Frauenbefreiung im Rahmen der neuen, komplexen und vorübergehenden Situation voranzubringen. Die Theorien über die Familie hatten selbst in den ersten Jahren der Revolution die Frage der Arbeitsteilung nach Geschlechtern nur einseitig und unvollständig beantwortet; während der zwanziger Jahre verschwand diese Fragestellung auch auf der theoretischen Ebene.
Die Arbeitsteilung nach Geschlechtern
Inessa Armand hatte 1918 mit Bedacht festgehalten, daß kollektive Einrichtungen im Sozialismus
"nicht von den Arbeiterinnen betrieben werden, deren haushaltliche Fähigkeiten man benützte, sondern von Personen, die extra für diese besonderen Aufgaben eingestellt würden."
Ebenso schrieb A. Kollontai in ´Familie und kommunistischer Staat´, die Hausarbeit werde in Zukunft von
"Arbeiter- und Arbeiterinnenspezialisten" erledigt. Die Frauenorganisationen bemühten sich, die Frauen aus dem engen Bereich der Hausarbeit zugunsten einer gesellschaftlichen und politischen Arbeit zu befreien; sie begannen, die Welt der Frauen zu politisieren und ihren Horizont zu erweitern. Während des Bürgerkriegs organisierten die Frauenabteilungen zum Beispiel Arbeiterinnen- und Bäuerinnengruppen, um für die Soldaten der Roten Armee Strümpfe zu stricken und Unterwäsche zu nähen. Dabei wurde gleichzeitig eine militärische Ausbildung vermittelt, die es den Frauen erlaubte, sich der Roten Armee anzuschließen.
Der Parteifunktionär, der darauf hinwies, daß die Frauen in hohem Maße die Mode- und Kochkurse besuchten, fügte hinzu:
"Man müßte darauf achten, daß diese Hausarbeitskurse und die praktischen Kurse die Frauen nicht von der gesellschaftlichen und politischen Arbeit abhalten, indem sie sich auf die Enge des Haushalts und der privaten Bedürfnisse isolieren."
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Die Frauenzeitungen stellten die Frauen als mutige Kämpferinnen dar, die bereit waren, in alle Männerdomänen einzubrechen.
I. Armand stellte sich ebenso wie A. Kollontai für die Zeit unmittelbar nach der Revolution eine rasche Vergesellschaftung der Hausarbeit vor und griff deshalb die Arbeitsteilung innerhalb der Familie nicht an. Kollontai gab in einer Vorlesung, die sie 1921 an der Swerdlow-Universität hielt, sogar zu, daß es angesichts der Wirtschaftskrise unvermeidlich sei, daß die Frauen außerhalb der Familie Arbeiten tätigten, die sich in die traditionellen Arbeiten des Haushalts fügten: Essen machen, Nähen usw. Auf kurze Sicht war diese Tendenz unvermeidlich. Da sie sich aber nicht die Aufgabe stellten, sofort eine Kampagne zur Infragestellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu beginnen, schwächten Armand und Kollontai den Einfluß ihrer eigenen Theorien und ihres Aufrufs zur Vergesellschaftung der Hausarbeit. Die Mehrheit der Basismitglieder sah niemals wirklich die Notwendigkeit, den Privathaushalt aufzugeben, und nicht die ganze Parteiführung teilte die Auffassung, daß diese Arbeit gemeinsam von Männern und Frauen gemacht werden müßte.
Sogar Kollontai machte Zugeständnisse an die geschlechtsspezifische Rollenteilung. In ihren Schriften vor und kurz nach der Revolution hielt sie die These aufrecht, daß Mutterschaft eine gesellschaftliche Aufgabe sei und daß die Frauen die Verantwortung hätten, den Fortbestand der Art zu sichern. Aber sie betonte, daß es die Pflicht der Gesellschaft sei, den Frauen zu gestatten, ihre Mutterrolle und ihre gesellschaftliche Rolle in Einklang zu bringen, indem sie auf dem Vorrang der gesellschaftlichen Rolle bestand. Sie führte aus, daß die Verantwortung der Frau gegenüber der Gesellschaft darin bestehe, Kinder zu gebären und sie zu stillen; die Aufgabe des Aufziehens und der Ausbildung der Kinder läge bei der ganzen Gesellschaft.
So sah das Ideal aus, aber im Sowjetrußland der zwanzigerJahre war eine vollständig kollektive Kinderbetreuung ausgeschlossen. Statt die Eltern aber aufzufordern, diese Verantwortung zu teilen und im Rahmen des Möglichen Gemeinschaftseinrichtungen zu fordern, schloß Kollontai mehrfach die Kindererziehung in ihr Verständnis der mütterlichen Pflichten ein und warf den Frauen vor, schlechte Mütter zu sein.
Das bedeutet nicht, daß die Gründe für das Fehlschlagen der Vergesellschaftung der Hausarbeit auf der Ebene der Theorie lagen. Unter besseren Bedingungen hätten die Bolschewiki ihr Verständnis der Frauenunterdrückung erweitern und vertiefen können. Dennoch schwächten die Mängel, die ihre Theorie von Anfang an hatten, den Einfluß, den sie als positiver Faktor auf soziale Veränderungen hätte haben können. Diese theoretischen Schwächen waren besonders spürbar, insofern die Infragestellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der einzige Ansatzpunkt war, den die Regierung damals besaß. Wir haben gezeigt, daß man hätte mehr tun können, um die wirtschaftliche Lage der Frauen zu verbessern. Im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten war eine Kampagne zur Veränderung von Verhalten und Beziehungen im Haushalt umso wichtiger. Stattdessen warf die Partei diese Frage nicht auf, und während der ganzen zwanziger Jahre publizierte
"Rabotniza" nur einen oder zwei Artikel, die forderten, daß sich die Männer an der Hausarbeit beteiligten.
Auch die Opposition leistete kaum theoretische Beiträge zur Frage der Frauenunterdrückung. Mitte der zwanziger Jahre unterstützten viele Mitglieder der Linken Opposition in der Debatte um das neue Eherecht einen Vorschlag, in dem die faktische Ehe anerkannt und mit dem die Rechte der Frauen geschützt wurden. Was ihnen jedoch entging, war einerseits die Angst der Frauen, daß dieses Recht sie nicht genügend schützte, und andererseits die Gefahr einer Verstärkung der Abhängigkeit der Frauen durch dieses Gesetz. Die Oppositionellen sprachen außerdem individuell für sich, sie nahmen nicht als Mitglieder der Opposition Stellung. Sie waren nicht in der Lage, ihre Haltung zum neuen Eherecht mit ihrer Kritik der Wirtschaftspolitik der Regierung zusammenzubringen. Sie schlugen keine Kampagne zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Frauen (Ausbildung, Qualifikation, Entlohnung) als notwendige Begleitmaßnahmen zum Eherecht vor. Man verstand nicht die politischen Implikationen einer Aufrechterhaltung der Hausarbeit und der Abhängigkeit der Frauen in der Familie.
Die bolschewistische Partei entwickelte nie eine fundierte Theorie über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Familie. Diese theoretische Schwäche spielte beim Fehlen von Antworten der Partei auf die Probleme der Frauen eine große Rolle. Die russischen Sozialdemokraten hatten vor der Revolution jahrelang andere Fragen des Marxismus diskutiert, sich aber nur in wenigen Artikeln mit der Frauenunterdrückung beschäftigt. Nach der Revolution wurden die Ideen der Bolschewiki aufgrund der Erfahrungen der Oktoberrevolution in vielen Dingen bereichert. Man überließ es trotzdem den Experten, sich mit der Entwicklung der Familie herumzuschlagen, die Parteifunktionäre gaben hierzu nur wenige Stellungnahmen ab.
Ab 1923 kritisierten und diskutierten die Mitglieder der Opposition die Politik der Partei und trugen wertvolle Erkenntnisse über Fragen der sozialistischen Umwälzung auf vielen Gebieten der Politik und der Wirtschaft bei. Über die Frage der Unterdrückung der Frau machten sie jedoch nur einige, seltene Anmerkungen. Allein Kollontai, eine Handvoll
"Spezialisten" und - Ende der zwanziger Jahre - die Frauenorganisationen zogen Lehren aus der Erfahrung der NEP. Sie begannen aufzuzeigen, daß man die Umwälzung der Lebensweise als integralen Bestandteil der Übergangsperiode betrachten müsse und daß die Unfähigkeit, eine Politik zur Veränderung des Familienlebens zu formulieren, die gesamte gesellschaftliche Entwicklung gefährdete. Aber weder diese Individuen, noch die Frauenorganisationen hatten in der Partei oder den Regierungsinstanzen genügend Einfluß, um ihre Ideen durchzusetzen. Das Nachlassen des Interesses für die Probleme der Familie war mit einer Entwicklung der Gesellschaft eng verknüpft, die schließlich zur Degeneration der Partei führte. Aber dieses Nachlassen begann eher und war spürbarer, weil die Theorie der Unterdrückung der Frau nicht umfassend genug war und in breiten Kreisen der Partei nicht begriffen wurde.
IV. Die Moral und die sexuellen Beziehungen
Die Fragen der Abtreibung und der Empfängnisverhütung warfen das Problem auf, ob der Zweck der Sexualität die Lust oder die Zeugung sei. Die Mehrzahl der Spezialisten vermied jedoch diese Frage überhaupt oder unterstellte als gegeben, daß die Sexualität der Zeugung diene. Sie beschäftigten sich vor allem mit der Gesundheit und der Geburtenrate, die sie eher abstrakt behandelten, ohne sie in den Zusammenhang der sozialen Beziehungen zu stellen. Sie betrachteten die Frauen in erster Linie als Mütter und waren für die Frauenbefreiung weniger empfänglich oder ihr sogar feindlich gesonnen. Einige Medizinsoziologen oder Parteifunktionäre, die sich direkt mit den Fragen der Beziehungen und der Sexualmoral auseinandersetzten, hatten einen engeren Bezug zum Leben der Frauen und waren glühende Vertreter ihrer Emanzipation. Es gab Ärzte, die bewiesen, daß die Tendenz zur Polygamie bei den Männern und zur Monogamie bei den Frauen eher durch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu erklären sei als durch die natürlichen. Die Mehrzahl der Ärzte hielt dies jedoch für eine "extremistische" Idee und unterstrich den Einflug des Mutterinstinkts auf die weibliche Sexualität - wobei sie den Frauen zugestanden, ihre Sexualität zu verwirklichen (so, wie sie nun einmal war). Sie räumten den Frauen ein, daß es falsch wäre, die Jungfernschaft allein wegen althergebrachter Moralvorstellungen zu behüten. Aber obwohl sie sich weigerten, die Sexualität einer historischen Untersuchung zu unterziehen und zu begreifen, daß sie gesellschaftlich bestimmt ist, begriffen sie doch, daß sich die Frauenbefreiung und die Befreiung der Sexualmoral auf ihre Kosten vollziehen würde, weil die Frauen sich in einem Zustand der Ungleichheit und der Abhängigkeit befanden. Da sie wollten, daß die Frauen eine gewisse Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit ausüben konnten und überzeugt waren, daß Sexualität und Zeugung untrennbar zusarnmengehörten, waren sie schließlich darauf verwiesen, die Unterdrückung der Sexualität zu befürworten. Gewöhnlich schloß ein Plädoyer für die Rechte der Frauen mit einer Kritik der sexuellen Zügellosigkeit und einer Lektion in Selbstbeherrschung. Ein Arzt beispielsweise empfahl Gemeinschaftsküchen, Pensionen, die von bezahlten Verwaltern geführt würden und eine gesellschaftlich organisierte Kindererziehung, aber er verwarf jede Form sexueller Beziehungen außer der lebenslangen Paarbeziehung .
Er zählte fünf einfache Mittel auf, keusch zu bleiben: Kein Alkohol, ein hartes Bett (es gebe nichts Schädlicheres, als wach im Bett liegen zu bleiben, dies provoziere sexuelle Erregung), nicht zuviel Fleisch, keine Pornographie und viel Sport. Ein Parteimitglied meinte, die Frauen sollten die gleiche militärische Ausbildung haben, wie die Männer und die Männer sollten sich zu gleichen Teilen an der Hausarbeit beteiligen; abererverwarf das sexuelle Sich-gehen-lassen ohne Wiedersehen radikal.
W. Reich behauptete, das allgemeine Scheitern der Revolution sei durch den Fehlschlag der psychischen Umstrukturierung des Individuums, bedingt durch die repressive Sexualmoral, verursacht. Seine Analyse kreiste zu einseitig um die psychologischen Gesichtspunkte des Sexualverhaltens. Sein Begriff von der psychischen Regeneration´ war zu abstrakt und gab für ein Land von hungrigen und in schlechten Wohnungen lebenden Arbeitern wenig her. Die wenigen Gemeinschaften, die in den zwanziger Jahren gegründet wurden, mißlangen nicht - wie Reich unterstellte - aus Gründen sexueller Eifersucht und kleinbürgerlicher Moral, sondern aus materiellen Gründen wie Lebensraum und Finanzierung. Wichtiger ist jedoch, daß Reich die sexuellen Beziehungen nicht in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtete. Er konnte so nicht verstehen, auf welche Weise die Frauen ausgebeutet wurden. Sein Begriff einer gesunden Sexualität trug nicht der Tatsache Rechnung, daß die sexuellen Beziehungen Machtverhältnisse sind, in denen die Frauen genauso wenig gleichberechtigte Partner waren wie in anderen Lebensbereichen.
Die sowjetischen Mediziner und die Parteimitglieder waren sich im allgemeinen mehr dessen bewußt, daß die Frauen in den sexuellen Beziehungen ausgebeutet wurden und daß sie in der hergebrachten bürgerlichen Moral einen gewissen Schutz finden konnten. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, wie sehr das materielle Elend der Epoche und die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit der Frauen die Entwicklung zu gleichberechtigten Beziehungen zwischen Männern und Frauen verhinderten; denn allzu leicht vergißt man den Unterschied zu heute. Es war nicht selten, daß die Frauen darauf verzichteten, ihre Männer wegen Mißhandlungen anzuzeigen, denn das hätte diese ins Gefängnis bringen können, und die Frauen wären dann mittellos gewesen. Viele Arbeiterinnen und Bäuerinnen waren gegen das Eherecht von 1926, das die "wilde Ehe" anerkannte, in der Furcht, daß sie, was ihre mütterlichen Rechte betraf, in eine Position der Schwäche gerieten und damit auch ihre wirtschaftliche Sicherheit bedroht wäre. Heute sind die Frauen oft von der Fapiilie abhängig und unterwerfen sich einer repressiven Moral, weil diese in ihrem materiellen Interesse zu liegen scheint, aber die Entwicklung der Empfängnisverhütung hat ihnen doch eine gewisse Kontrolle über ihren Körper ermöglicht. In den zwanziger Jahren waren sie sowohl von der Familie abhängig als auch ohne die Mittel, ihren Körper zu kontrollieren. Aus Gründen des wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsstandes konnte die Gesellschaft den Frauen kaum Mittel zur Empfängnisverhütung zur Verfügung stellen; die Unmöglichkeit, die weibliche Sexualität zu befreien, bremste die Entwicklung einer neuen Sexualmoral.
Wenn die repressive Sexualmoral der zwanziger Jahre auch mit der schwachen wirtschaftlichen Basis der Revolution in Verbindung gebracht werden muß, so spielten doch auch andere Faktoren eine Rolle. Wie wir gesehen haben, rührt die Tatsache, daß die Frauen ihre Fruchtbarkeit nicht kontiollieren konnten, zum Teil von der Weigerung her, politische Entscheidungen für die Entwicklung wirksamer empfängnisverhütender Mittel, ihre Produktion in größeren Mengen und die breitere Verteilung von Informationen zu treffen. Auf der anderen Seite stellten die aktivsten Arbeiterinnen in den Städten ihre Familienbeziehungen in Frage, während viele Frauen eine größere sexuelle Freiheit fürchteten, weil sie ihre Unterdrückung verstärken könnte. Unglückliche Ehen, die sexuelle Ausbeutung der Frauen durch ihre Ehemänner zuhause oder durch ihre Meister oder Kollegen am Arbeitsplatz waren die bevorzugten Themen von Anekdoten in "Rabotniza". In dieser Epoche der Umwälzungen, als alle wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen in Frage gestellt wurden, war es nicht erstaunlich, wenn wenigstens einige Frauen sich damit befaßten, wie die Männer sie behandelten und daß sie gleichberechtigtere Beziehungen forderten.
Man erzählte sich die Geschichte der Frauen aus Sibirien, die sich in der Dorfschule eingeschlossen hatten, bis ihre Männer eine Erklärung unterschrieben, in der sie versprachen, sie zu respektieren und nicht mehr zu schlagen. Diese Geschichte mag erfunden sein, doch sie spiegelt ein wenig den Zeitgeist. Außer Anekdoten veröffentlichte "Rabotniza" nur gelegentlich Artikel über familiäre Beziehungen. Die recht begrenzte Diskussion, die Ende der zwanziger Jahre in dieser Zeitung über die Ursache ehelicher Konflikte geführt wurde, bot den Frauen kaum eine Kampfperspektive. "Kommunistka" veröffentlichte 1921 [in Nr. 12/13] einen Artikel von Kollontai über die Moral und danach nichts mehr.
In der Partei wurde wenig über Sexualfragen diskutiert, und es gibt hierzu sehr wenige sozialistische Literatur, auf die man sich stützen kann. Keiner der marxistischen Vorkämpfer hatte sich an eine materialistischen Analyse der Sexualität gemacht; die deutsche Sozialdemokratie hatte viele Vorurteile der Epoche über die Selbstbefriedigung, die Homosexualität und die freie Liebe übernommen. Auch in Rußland hatten die sozialistischen und nicht-sozialistischen Theoretiker vor der Revolution über diese Fragen kaum Untersuchungen angestellt, obwohl Havelock Ellis und Sigmund Freud auf russisch übersetzt waren. Nach 1917 verließ man sich weitgehend auf westliche, vor allem deutsche Quellen, obwohl verschiedene Forschungsinstitute gegründet worden waren. Die bolschewistischen Führer äußerten sich kaum zu den mageren Erklärungen ihrer sozialistischen Vorgänger zum Gebiet der Sexualität. Man überließ die Aufgabe der theoretischen Untersuchung den Medizinern und anderen Spezialisten. Diese Schwachstellen in der sozialistischen Tradition, die Gleichgültigkeit der Bolschewiki und das niedrige wissenschaftliche Niveau führten zu dem kaum überraschenden Zustand, daß die sowjetischen Spezialisten die verschiedensten Vorstellungen über die Sexualität vertraten und daß einige von ihnen das Sprachrohr alter Vorurteile waren. Sie warnten vor den Gefahren der Selbstbefriedigung und stuften die homosexuehlen Beziehungen als monströs und widernatürlich ein.
Über allgemeinere Fragen der Moral debattierte die Partei etwas häufiger, aber nicht oft. 1923 erschien in der "Prawda" eine Artikelserie zu den Fragen des Alltagslebens: den Alkoholismus, die Alphabetisierung, die groben Umgangsformen, die Familienbeziehungen usw., und es scheint, als sollte diese Initiative eine breite Diskussion in der Partei eröffnen. Daraus wurde nichts, vor allem deshalb, weil der Autor vieler dieser Artikel Trotzki war und 1923 der innere Kampf in der Partei ausbrach.
Mehrere andere Oppositionelle, unter anderem Preobraschenski, schrieben über die Frage der Moral. Weil sie liberale Anschauungen vertraten, zögerten viele Parteimitglieder, sie zu übernehmen, weil sie Angst hatten, der Sympathie mit den Oppositionellen angeklagt zu werden. Aber die Tendenz der Mitglieder und des Parteiapparates, eine eher reaktionäre Moral zu vertreten, gab es schon vordem parteiinternen Kampf. Die Artikel von Kollontai, die 1922 und 1923 in der Zeitschrift "Molodaja Gwardtja" (Junge Garde) erschienen, wurden sehr kühl aufgenommen. Eine ganze Anzahl von ihnen, vor allem der mit dem Titel "Ein Weg dem geflügelten Eros!", der das Recht auf sexuelle Erfahrungen befürwortete (ohne übrigens die Empfängnisverhütung zu erwähnen), wurden von allen Seiten wütend angegriffen. Anfang der zwanziger Jahre hatten einige Arzte die sexuelle "Zügellosigkeit" kritisiert, weil sie Verteidiger der Rechte der Frauen waren. Ende der zwanziger Jahre verfocht man die orthodoxe Moral, weil sie die soziale Ordnung garantierte. Man betrachtete Sexualität und Aufbau des Sozialismus als unvereinbar. "Ich fürchte, wenn wir dem Kult des geflügelten Eros huldigen, werden wir ziemlich schlechte Flugzeuge herstellen" , schrieb 1924 ein einflußreicher Psychologe.
Eine wirkliche sexuelle Freiheit ist mit dem Aufbau des Sozialismus nicht unvereinbar, wohl aber mit undemokratischen gesellschaftlichen Strukturen. Mit dem Auslöschen der demokratischen Traditionen aus der Zeit unmittelbar nach der Revolution und mit dem Nachlassen der Teilnahme der Volksmassen an der Selbstverwaltung, wurde die sexuelle Freiheit auf der Liste der sozialistischen Ziele nach ganz unten gesetzt. Eine repressive Sexualmoral, ähnlich derjenigen in der Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus, paßte besser zu einem Land, das eine gewaltsame Industrialisierung durchführte, und die entsprechende Moral entwickelte, sich auch. Die Entwicklung moralischer Normen ist eng an die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft gebunden. Die Sexualmoral, die in den dreißiger Jahren offen vertreten wurde, war nicht einfach nur Reflex des Aufstiegs des Stalinismus. Ihr repressiver Charakter trug selbst zu diesem Aufstieg bei. Die Bedeutung des Einflusses der Moralideen und der persönlichen Beziehungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wurde von den Bolschewiki nicht voll begriffen. Sie sahen eine Verbindung zwischen der Veränderung persönlicher Beziehungen und der der Volkswirtschaft, aber sie nahmen an, daß sich zuerst die Wirtschaft ändern würde. Abgesehen von Kollontai hatte kein einziger Bolschewik untersucht, wie die Entwicklung der Moral die sozialen Verhältnisse beeinflußte und so eher eine Ursache als das Ergebnis sozialen Wandels sein könne. Das spartanische Leben, das die Revolutionäre im Exil oder im Untergrund geführt hatten, formte ihre persönliche Ethik, und ihr Moralbegriff beeinflußte ihre Vorstellungen von Ziel und Weg. Die Ansichten über die Moral dürfen jedoch nicht einfach auf ihre wirtschaftlichen Grundlagen zurückgeführt werden. Wenn man die Beziehungen zwischen moralischem Verhalten und wirtschaftlichen Veränderungen untersucht, muß man vorsichtig vorgehen und sich nicht mit allzu leichten Antworten zufriedengeben. Mein Abriß der Ideen der zwanziger Jahre war zwangsläufig schematisch; es müssen noch recht viele Untersuchungen angestellt werden, um die Ursachen für die Entwicklung der stalinistischen Sexualmoral zu erfassen.
Die wirtschaftliche Situation der zwanziger Jahre erlaubte es nicht, die volle Befreiung der Sexualität zu erreichen. Da jedoch die Probleme der Veränderung des Privatlebens nie aufgrund von Debatten und Analysen aufgeklärt wurden, geschah es umso leichter, daß die Moral sich den Erfordernissen des Stalinismus anpaßte. Es ist offensichtlich, daß die [damalige kommunistische] Frauenbewegung keine Untersuchungen oder theoretischen Analysen der Moral oder der sexuellen Beziehungen angestellt und daß sie nie eine eigene Politik zur Veränderung der Lage der Frauen entwickelt hat, die ihnen erlaubt hätte, ihre sexuelle Freiheit zu erobern.
Anmerkungen von A. Holt:
Eli Zaretsky, Die Zukunft der Familie. Über Emanzipation und Entfaltung der Persönlichkeit [Originalausgabe: Capitalism, the Family, and Personal Life, London (Pluto Prcss) 1976], mit einem Vorwort von Alfred Krovoza und Ah Wacker und einem Nachwort von Regina Becker-Schmidt, Frankfurt a. M. - New York (Campus) 1978, S. 97 f.
Wadim Aleksandrowitsch Bystranski, Rewoljuzija i shenzina [Die Revolution und die Frau], Petrograd 1920.
A. Smirnow, Komsomol i dewuschka [Der Komsomol und das Mädchen], Leningrad (Pnboj) 1929, S. 5.
Leo Trotzki, Von der alten Familien zur neuen [zuerst in: "Prawda", 13. Juli 1923], in: ders., Fragen des Alltagslebens. Die Epoche der "Kulturarbeit" und ihre Aufgaben, Hamburg (C. Hoym Nachf.) 1923, S. 55.
Inessa Armand, Statji, retschi, pisma [Aufsätze, Reden, Briefe], Moskau (Politisdat) 1925, S. 65.
Inessa Armand; Sadatschi rabotniz w sowjetakoj Rossii [Die Aufgaben der Arbeiterinnen in Sowjetrußland], S. 18.
Wladimir Iljitsch Lenin, Die große Initiative (Über das Heldentum der Arbeiter im Hinterland. Aus Anlaß der "kommunistischen Subbotniks"),28.Juni 1919, in: W. I. Lenin Werke, Bd. 29, S. 397 - 424, Zitat S. 419.
Anna Louise Strong, The Soviets Conquer Wheat. The Drama of Collective Farming, New York (H. Holt) 1931, S. 126; hier zitiert nach: Robert G. Wesson, Soviet Communes, New Brunswick, New Jersey (Rutgers University Press) 103, S. 217.
A. Smirnow, a.a.O. [Anm. 3].
Zitiert nach E. Emeljanowa, Rewoljuztja, partija, shenzina [Revolution, Partei, Frau], Smolensk 1971, S. 79.
I. Armand, Statji, retschi, pisma, a.a.O. [Anm. 5], S. 65.
Alexandra Kollontai, Semjai kommunistitscheskoj e gossudarstwo[Familie und kommunistischer Staat], Moskau Petrograd (Kommunist) 1918, S. 14; hier zitiert nach der Übersetzung von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi in ihrem Beitrag: Menschliche Emanzipation und neue Gesellschaft, in: A. Kollontai, Der weite Weg. Erzählungen, Aufsätze, Kommentare, Frankfurt a. M. (Verlag Neue Kritik) 1979, S. 236 - 262, Zitat S. 245.
A. Smimow, a.a.O. [Anm. 3].
Alexandra Kollontai, Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universitat 1921 [Übersetzung nach der schwedischen Ausgabe 1971; Originalausgabe auf Russisch: Moskau 1923,2. Auflage: Moskau-Leningrad 1928], übersetzt von Claudia Sternberg, herausgegeben von Tilman Fichter, mit einem Nachwort von Annemarie Tröger, Frankfurt a. M. (Verlag Neue Kritik) 1975, 3., überarbeitete Auflage: 1977, S. 237 f.
Wladimir Iljitsch Lenin, Arbeiterklasse und Neomialthusianismus, in: W. I. Lenin Werke, Bd. 19, S. 227.
Dekret über die Legalisierung der Abtreibung (18. November 1920), zitiert nach der englischen Übersetzung, abgedruckt in: Rudolf Schlesinger (Hrsg.), The Family in the U.S.S.R. Documents and Readings, London (Routledge und Kegan Paul) 1949, (Changing Attitudes in Soviet Russia; International Library of Sociology and Social Reconstruction), S. 44.
S. Ja. Golosowker, 0 polowom byte musbtscbtiny [Über die sexuelle Lebensweise des Mannes], Kasan 1927.
S. A. Pmtoklitow, Schto dolshno snat krestjanka o wykidyschne [Was die Bäuerin über die Fehlgeburt wissen muß], 1927.
A. und M. Wassilewskije, Sud nad akuscherkoj Lopuchinoj [Gericht über die Hebamme Lopuchina], (Isdatelstwo Oktjabrja) 1923.
A. und M. Wassilewskije, a.a.O.
B. S. Ginsburg, Rodowospomoshenie i aborty w Sapadnoj Sibiri [Geburtshilfe und Abtreibungen in Westsibirien],Tomsk 1931.
S. A. Gurjewitsch / F. 1. Grosser, Problemy polowoj shisni [Probleme des Geschlechtslebens], Charkow 1930.
A. B. Gofmekler, Abort, Beilage zu: "Rabotniza" (Moskau), Nr. 22.
A. L. Rabinowitsch, in: B. S. Ginsburg, a.a.O. [Anm. 21].
G. Grigorow / S. Schkotow, Stary i nowy byt [Alte und neue Lebensweise], in: "Molodaja Gwardqa" (Moskau), 1927, S. 171.
S. A. Gurjewitsch / F. 1. Grosser, a.a.O. [Anm. 22].
M. Lemberg, Schto neobchodino snat o polowom woprosse [Was man über die Geschlechtsfrage wissen muß], Leningrad (Priboj) 1924, S. 10.
A. Sminiow, a.a.O. [Anm. 3].
Wilhelan Reich, Die sexuelle Revolution. Zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen [Originalausgabe: Die Sexualität im Kulturkampf, Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen, Kopenhagen (Sexpol.Verlag) 1936], Frankfurt a. M. (Europäische Verlagsanstalt) 1966, Zweiter Teil (Der Kampf um das "neue Leben" in der Sowjetunion), S. 157-270.
Alexandra Kollontai, Theses on Communist Morality in the Spbere of Marital Relations, in: Selected Writings of Alexandra Kolontai, a.a.O.[Anm. 12], S. 225 - 231. - Anm. d.dt. Hrsg.
M. Lemberg, a.a.O. [Anm. 27]
32 Alexandra Kollontai, Briefe an die arbeitende Jugend, auf Deutsch in: dies., Der weite Weg, a.a.O. [Anm. 12], S. 67, 126. - [Der vierte Brief ist überschrieben: Ein Weg dem geflügelten Eros!]
Aaron Borissowitsch Salkind, Otscherki kultury reqoljuzionnowo wremeni [Skizzen der Kultur in der Revolutionszeit], 1924, S. 56.
8. Dokument 2: Leo Trotzki: Familie, Jugend, Kultur
[aus: Verratene Revolution. Schriften 1.2, Hamburg 1988, S. 806 - 851]
- Thermidor der Familie -
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8. Dokument 3: Über die Zivilehe, die Kinder und die Führung der standesamtlichen Bücher vom 31.12.1917
[Dekret des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommisare vom
31.12.1917;
aus: H. Altrichter/H. Haumann (Hg.): Dokumente. Die Sowjetunion, Bd. 2. Wirtschaft und Gesellschaft, München 1987 S. 46 - 47]
(Auszug)
Die Russische Republik erkennt künftig nur Zivilehen an. Die Zivilehe wird nach folgenden Richtlinien geschlossen:
- Personen, die eine Ehe schließen wollen, erklären das mündlich oder reichen an ihrem Wohnsitz bei der Abteilung für Ehe- und Geburtenregistrierung der Stadtverwaltung (bzw. ländlichen Rajons-, Kreis- oder Amtsbezirksverwaltung) einen schriftlichen Antrag ein.
ANMERKUNG: Die kirchliche Ehe, die neben der obligatorischen Zivilehe geschlossen wird, ist Privatsache der Brautleute.
- Dem Ehegesuch wird nicht stattgegeben
- a) bei männlichen Personen unter 18 und bei weiblichen unter 16. Im Transkaukasus können die einheimischen Bewohner in den Ehestand treten, wenn der Bräutigam mindestens 16, die Braut mindestens 13 Jahre alt ist;
- b) bei Verwandten in direkter Linie, bei Geschwistern, Halbbrüdern und Halbschwestern, wobei der Tatbestand der Verwandtschaft auch für das außereheliche Kind und seine Nachkommenschaft einerseits und dessen Vater und dessen Verwandtschaft andererseits gilt;
- c) bei Personen, die sich bereits im Ehestand befinden, und
- d) bei Geistesgestörten.
- Personen, die in den Ehestand treten wollen, bestätigen in der Abteilung für Eheregistrierung mit ihrer Unterschrift, daß die in Punkt 2 dieses Dekretes aufgezählten Hinderungsgründe für eine Eheschließung nicht vorliegen, und sie unterschreiben gleichzeitig, daß sie freiwillig in den Ehestand eintreten wollen.
Personen, die bei der Frage nach evtl. Hinderungsgründen, wie sie in Punkt 2 aufgezählt sind, wissentlich falsche Angaben machen, werden für Falschaussagen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, die Ehe selbst wird für ungültig erklärt.
- Indem er die oben genannten Unterschriften zu Protokoll nimmt, trägt der Vorstand der Abteilung für die Eheregistrierung den Tatbestand der Eheschließung in das Eheregisterbuch ein, und erklärt danach die Eheschließung für rechtskräftig.
Bei Eintritt in den Ehestand steht es den Brautleuten frei, zu bestimmen, ob sie künftig den Familiennamen des Mannes oder der Frau oder beide zusammen führen wollen ...
- --
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Über die Kinder
- Die Registrierung der Geburt eines Kindes wird von der gleichen Abteilung für Ehe- und Geburtenregistrierung am Aufenthaltsort der Mutter vorgenommen, wobei über jede Geburt im Buch für die Geburtenregistrierung eine besondere Eintragung vorgenommen wird ...
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Von der Geburt des Kindes haben der Abteilung entweder seine Eltern oder ein Ehepartner oder Personen Mitteilung zu machen, die nach dem Tod der Eltern das Neugeborene in ihre Obhut nehmen, wobei Vorname und Familienname, die das Kind tragen soll, anzugeben sind, und zwei Zeugen für die Geburt benannt werden mussen ...
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Außereheliche Kinder werden mit den ehelichen gleichgestellt, sowohl was die Rechte und Pflichten der Eltern zu ihren Kindern, wie die der Kinder gegenüber den Eltern betrifft.
Als Vater und Mutter werden Personen registriert, die sich dazu erklären und eine entsprechende Unterschrift dazu leisten.
Personen, die zu diesem Punkt wissentlich falsche Angaben machen, werden strafrechtlich wegen Falschaussagen zur Verantwortung gezogen, und die Registrierung selbst wird für nichtig erklärt.
Für den Fall, daß der Vater eines unehelichen Kindes nicht die oben genannte Erklärung abgibt, hat die Mutter des Kindes, der Vormund desselben oder das Kind selbst das Recht, die Vaterschaft auf dem gerichtlichen Wege nachzuweisen.
Über den Tod
- Die Beurkundung eines Todesfalles wird am Sterbeort von der gleichen Abteilung vorgenommen, die das Register über Ehe und Geburten führt, mit einer Eintragung in ein besonderes Buch für Todesfälle ...
- Den Tod einer Person müssen der Abteilung die Gerichts- oder Verwaltungsbehörden anzeigen oder jene Personen, in deren Obhut der Sterbende sich befand.
- Den Institutionen, die Friedhöfe verwalten, wird von nun an untersagt, das Begräbnis auf dem Gebiet des Friedhofes zu verhindern, wenn es in der Form einer zivilen Bestattung vorgenommen wird.
10. Dokument 4: Kodex mit den Gesetzen über Ehe, Familie und Vormundschaft vom 1.1.1927
[aus M Wolters/A. Wolters: Elemente des russischen Rätesystems, Bd. IX, Die Beziehung zwischen den Geschlechtern, Teil 2, S. 142 - 146]
Kodex mit den Gesetzen über Ehe, Familie und Vormundschaft.
Abschnitt 1. Über die Ehe.
Kapitel 1. Allgemeine Bestimmungen - nachstehende Paragraphen 1. - 3.
-
Die Registrierung der Ehe geschieht sowohl im Interesse des Staates und der Gesellschaft, wie auch in der Absicht, den Schutz der persönlichen und Vermögensrecht und Interessen der Ehegatten und der Kinder zu sichern. Die Ehe konstituiert sich durch die Registrierung in den Organen der Eintragung für Akte des Zivilstandes nach einem Verfahren, wie es in Abschnitt IV des vorliegenden Kodex bestimmt wurde.
-
Die Registrierung der Ehe in den Organen für die Eintragung der Akte des Zivilstandes ist der unbestreitbare Beweis für die Existenz der Ehe. Dokumente, die die Tatsache einer Eheschließung aufgrund einer religiösen Zeremonie bescheinigen, haben keine juristische Bedeutung.
Anmerkung: Ehen, die vor dem 20. Dezember 1917 nach einer religiösen Zeremonie und in Orten geschlossen wurden, die vom Feind besetzt waren, - vor der Bildung der Organe für die Eintragung für Akte des Zivilstandes, werden den registrierten Ehen gleichgestellt.
-
Personen, die sich faktisch in ehelichen Beziehungen befinden, aber nicht nach dem festgelegten Verfahren registriert wurden, sind jederzeit berechtigt, ihre Beziehungen auf dem Wege der Registrierung, unter Hinweis auf die Dauer des tatsachlichen gemeinsamen Lebens, zu formalisieren.
Kapitel 2. Die Bedingungen für die Registrierung einer Ehe - nachstehende Paragraphen 4. - 6.
-
Für die Registrierung einer Ehe wird gefordert:
-
a) die beiderseitige Zustimmung für die Registrierung der Ehe,
-
b) die Erreichung des Ehealters und
-
c) die Vorweisung der Dokumente nach Paragraph 132 des vorliegenden Kodex.
-
Das Ehealter wird mit 18 Jahren festgesetzt.
-
Nicht registriert werden Ehen:
- a) zwischen Personen, wenn auch nur einer von ihnen sich in einer anderen registrierten oder nicht registrierten befindet,
-
b) zwischen Personen, wenn auch nur einer von ihnen nach dem durch Gesetz festgelegten Verfahren für schwachsinnig oder geisteskrank erklärt wurde,
-
c) zwischen Verwandten in direkter aufsteigender oder absteigender Linie, wie auch zwischen leiblichen und natürlichen Brüdern und Schwestern.
Kapitel 3. Die Rechte und Pflichten der Ehegatten - nachstehende Paragraphen 7. - 17.
-
Bei der Registrierung der Ehe können die Ehegatten eine Erklärung abgeben, ob sie als gemeinsamen Familiennamen den des Mannes oder den der Frau tragen möchten, oder ob sie ihre vorehelichen Familiennamen behalten möchten.
-
Bei der Registrierung der Ehe einer Person, die die Staatsbürgerschaft der RSFSR besitzt, mit einer Person, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt, behält jeder der beiden die eigene Staatsbürgerschaft. Eine Änderung der Staatsbürgerschaft dieser Personen kann in einem vereinfachten Verfahren, wie es das Unionsgesetz vorsieht, erfolgen.
-
Beide Ehegatten genießen die volle Freiheit der Wahl bei der Beschäftigung und dem Beruf. Ein Verfahren für die Führung einer gemeinsamen Wirtschaft wird durch eine beiderseitige Übereinkunft der Ehegatten festgelegt. Ein Wohnortswechsel des einen Ehegatten schafft für den anderen Ehegatten nicht die Pflicht, diesem zu folgen.
-
Das Vermögen, das den Ehegatten vor Eintritt in die Ehe gehörte, bleibt von ihrem Vermögen getrennt. Das Vermögen, das von den Ehegatten im Laufe der Ehe erworben wird, gilt als das gemeinsame Vermögen der Ehegatten. Den Umfang dessen, was jedem Ehegatten gehört, bestimmt, im Falle des Streites, das Gericht.
Anmerkung. Die Rechte der Ehegatten hinsichtlich der Nutzung der Ländereien und hinsichtlich des Vermögens des gemeinsamen Verbrauchs im Rahmen eines Bauernhofes werden durch Paragraphen 66 und 67 des Landkodex und durch die für ihre Weiterentwicklung und Ergänzung herausgegebenen Gesetze bestimmt.
-
Die Geltung von Paragraph 10 des vorliegenden Kodex wird auch auf das Vermögen von Personen ausgedehnt, die sich faktisch in ehelichen Beziehungen befinden, auch wenn diese nicht registriert sind, wenn diese Personen sich gegenseitig als Ehegatten anerkennen oder wenn die ehelichen Beziehungen zwischen ihnen durch ein Gericht aufgrund der Kriterien faktischer Lebensumstände festgestellt wurden.
-
Als Beweise ehelichen Zusammenlebens für den Fall, daß die Ehe nicht registriert ist, sind für das Gericht: der Umstand des gemeinschaftlichen Lebens, das Vorhandensein bei diesem Zusammenleben einer gemeinsamen Wirtschaft und das Zeigen ehepartnerschaftlicher Beziehungen vor dritten Personen, im persönlichen Schriftverkehr und anderen Dokumenten, wie auch entsprechend den Umständen gegenseitige materielle Unterstützung, gemeinsame Erziehung der Kinder usw.
-
Die Ehegatten koennen unter sich in alle vom Gesetz erlaubten vermögens-vertragliche Beziehungen eintreten. Vereinbarungen unter Ehegatten, die darauf gerichtet sind, die Vermögensrechte der Frau oder des Mannes zu schmälern, sind unwirksam und sowohl für dritte Personen wie auch für die Ehegatten, denen zu jedem beliebigen Moment gestattet wird, von ihrer Ausführung zurückzutreten, nicht verbindlich.
-
Der beduerftige und nicht arbeitsfähige Ehegatte hat das Recht auf Erhalt eines Lebensunterhaltes vom anderen Ehegatten, wenn der letztere nach Auffassung des Gerichtes imstande ist, ihm die Unterstützung zu gewähren. Das Recht auf Lebensunterhalt hat in gleicher Weise auch der bedürftige arbeitsfähige Ehegatte während der Zeit seiner Arbeitslosigkeit.
-
Das Recht des beduerftigen und nicht arbeitsfähigen Ehegatten auf den Erhalt des Unterhaltes von dem anderen Ehegatten besteht auch nach Beendigung der Ehe bis zur Änderung der Bedingungen, die nach Paragraph 14 des vorliegenden Kodex als Begründung für den Erhalt des Lebensunterhaltes dienen, doch nicht länger als ein Jahr vom Moment der Beendigung der Ehe an gerechnet. Des Ausmaß der Hilfe für den bedürftigen arbeitslosen Ehegatten im Falle der Beendigung der Ehe wird von Gericht auf die Dauer von nicht länger als sechs Monaten festgesetzt und darf die Summe der entsprechenden Unterstützung der Sozialversicherung nicht übersteigen.
-
Das Recht auf Erhalt des Lebensunterhaltes genießen während der Zeit der Ehe wie auch nach Beendigung der Ehe auch die Personen, zwischen denen faktisch eheliche Beziehungen bestehen, auch wenn diese nicht registriert wurden, wenn sie unter den Kriterien nach Paragraphen 11 und 12 des vorliegenden Kodex zu fassen sind.
-
Die Ehe wird durch den Tod eines der Ehegatten, und gleichermassen auch durch seine gerichtliche Todeserklärung beendet.
Kapitel 4. Die Beendigung einer Ehe -nachstehende Paragraphen 18. - 24.
-
Zur Lebenszeit der Ehegatten kann die Ehe sowohl durch ein beiderseitiges Einverstaendnis der Ehegatten, wie auch durch den einseitigen Wunsch eines der beiden Ehegatten beendet werden.
Die Beendigung einer Ehe kann, ob sie registriert oder aber nicht registriert, doch durch Gericht entsprechend Paragraph 12 des vorliegenden Kodex festgestellt wurde, zu Lebzeiten der Ehegatten in den Organen für die Eintragung der Akte des Zivilstandes registriert werden (Scheidung).
-
Die Tatsache der Beendigung der Ehe kann, falls keine Registrierung der Scheidung vorhanden ist, gleichermassen durch das Gericht festgelegt werden.
-
Bei der Registrierung der Beendigung der Ehe geben die Ehegatten an, welchen Familiennamen jeder von ihnen tragen moechte. Ist keine Vereinbarung der Ehegatten über diese Angelegenheit vorhanden, wird jedem von ihnen der voreheliche Familienname zugesprochen.
-
Bei der Registrierung der Beendigung der Ehe durch die Organe fuer die Eintragung der Zivilstandsakte wird verbindlich die Frage gestellt, bei welchem der Ehegatten und welches der Kinder zur Pflege bleibt, und wer von ihnen und in welchem Maße die Unkosten für den Lebensunterhalt der Kinder trägt, wie auch nach der Höhe des Unterhaltes für den nicht arbeitsfähigen Ehegatten. Falls über diese Fragen zwischen den Ehegatten eine Vereinbarung erreicht wird, wird sie in das Buch für die Registrierung der Beendigung von Ehen eingetragen, aus dem jedem der Ehegatten ein Auszug überreicht wird; diese Vereinbarung entzieht keinem der ehemaligen Ehegatten und Kinder das Recht, im üblichen Klageverfahren einen Lebensunterhalt von einer Höhe zu beanspruchen, der den in der Vereinbarung vorgesehenen übersteigt.
-
Bei Nichterfuellung der in der Vereinbarung auferlegten Verbindlichkeiten können sich die interessierten Personen an das Volksgericht wenden, um einen Gerichtsentscheid entsprechend Paragraph 210, Punkt g der Zivilprozeßordnung zu erlangen.
-
Ist eine Vereinbarung über die Frage des Ausmasses des Unterhaltes für die Kinder nicht vorhanden, wird sie im üblichen Klageverfahren entschieden, wobei das Gericht gleichzeitig mit der Annahme der Klageschrift gemäß den Umständen der Angelegenheit und im Interesse der Kinder einen Spruch darüber fällt, wer von den Eltern und in welchem Umfang dieser zeitweilig verpflichtet ist, bis zur Entscheidung des Streites, die Ausgaben für den Unterhalt der Kinder zu tragen und bei wem die Kinder zeitweilig in Pflege bleiben müssen.
Die Höhe des Unterhaltes für den bedürftigen und nicht arbeitsfähigen Ehegatten wird ebenfalls, wenn keine Vereinbarung vorhanden ist, im üblichen Klageverfahren durch das Gericht bestimmt.
11. Dokument 5: Über die Heranziehung der Frauen zum wirtschaftlichen Aufbau. (Beschluß vom 28. Dezember 1920).
[aus: Margarete Wolters/Annalise Wolters: Elemente des russischen Rätesystems, Bd. IX, Die Beziehung zwischen den Geschlechtern, 1. Teil, S. 160]
Quelle: Sobranie uzakonenij ...RSFSR 1926, Nr. 82, Poa. 612.
Beschluß des 8. Allrussischen Rätekongresses zur Frauenarbeit
Über die Heranziehung der Frauen zum wirtschaftlichen Aufbau. (Beschluß)
Unter Anerkennung, daß die Wiederherstellung der Industrie, des Transportern und der Landwirtschaft die dringende Aufgabe des Augenblicks ist, daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Räterepublik aus Frauen, Arbeiterinnen und Bäuerinnen besteht und daß die Durchführung des vorgesehenen einheitlichen allgemeinwirtschaftlichen Planes nur bei entsprechender Nutzung weiblicher Arbeitskräfte möglich ist, beschließt der 8. Allrussische Kongreß der Räte:
-
a) die Arbeiterinnen und Bäuerinnen zu allen wirtschaftlichen Organen, die den allgemeinwirtschaftlichen Plan ausarbeiten und verwirklichen, heranzuziehen, sie in die Betriebsverwaltungen, in die Werkkomitees und auch in die Verwaltung der Gewerkschaften einzubeziehen.
-
b) damit die unproduktive Arbeit der Frauen bei der Hausarbeit und der Sorge für die Kinder verringert wird, verpflichtet der 8. Rätekongreß die lokalen Räte die Initiative der Arbeiterinnen und deren Eigentätigkeit in der Sache der Reformen eines Lebensstils auf kommunistischer Grundlage (Organisation von Wohnkommunen, von Flickstuben für Stadt und Land, von Genossenschaften für das Saubermachen, von Kinderkrippen, von öffentlichen Wäschereien und Kantinen usw.) zu fördern und zu unterstützen.
-
Der 8. Rätekongreß beauftragt das Allrussische Zentrale Vollzugskomitee in neuer Zusammensetzung damit, unverzüglich Maßnahmen auszuarbeiten, die geeignet sind, die un-. produktive Arbeit der Frauen in Haus und Familie zu verringern, und somit den Bestand an freier Arbeitsenergie zur Wiederherstellung der Volkswirtschaft und zur Entwicklung der produktiven Kräfte der Arbeitsrepublik zu stärken.
28. Dezember 1920.
12. Dokument 6: Fannina W. Halle: Stellungnahmen zum Entwurf eines neuen Ehegesetzes (vor 1932)
[aus: F. W. Halle: Die Frau in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 178 - 181]
Stellungnahmen zum Entwurf eines neuen Ehegesetzes
Die Arbeiterinnen Ratnikowa, Baranowa, Sacharowa, Ionowa
(von der Fabrik
"Trjochgornaja Manufaktura")
"Der Vorschlag der Towarischtsch Kollontaj ist unannehmbar. Wollte man eine solche Steuer einführen, so würden die Männer schon ganz die Scham verlieren, und allgemeine Ausschweifung wäre die Folge. Denn sobald ein Mann weiß, daß er das Drittel nicht mehr zu befürchten hat, hält er es bei der Frau kaum eine Woche aus und überläßt sie ihrem Schicksal. Sie wird ihm dann nicht viel mehr bedeuten, als zum Beispiel seine Lockpfeife, die er wegwirft, wenn er sie schon gcnug geblasen hat... Und hat er beispielsweise obendrein noch einen halben Rubel an Steuer entrichtet, so wird er sicher danach trachten, ja nur nicht draufzuzahlen und mindestens fünfzig Frauen ins Verderben zu stürzen.
Die Kollontaj sagt, die Ehe sei gesetzlich, wenn sie registriert ist. Wer aber benötigt diesen Schein? Liebt mich mein Mann, so wird er immer bei mir bleiben, ohne daß er unterschreibt. Gefalle ich ihm aber nicht, so kann er sich zum Teufel scheren.
Nach unserem Dafürhalten muß das Kind, wenn der Vater es verlassen hat, in einem Kinderheim untergebracht werden. Dort kann es erzogen werden, wie es sich gehört, und beide Eltern sollen für die Erhaltung zahlen. Auch die Mutter soll zahlen! Es mag ihr nur als Lehre dienen! Wird weniger ausschweifend sein! Alles schimpft: Die Männer, die Männer! Wenn aber eine Frau nicht will, kriegt sie nie ein Kind"
Die Arbeiterinnen Gawrjuschina, Rasumnowa, Tschukajewa, Gontacharuk, Schtschukina, Sulajewa, Djetkowa
(von der Fabrik
"Dukat")
"Wie die Ehe jetzt beschaffen sein soll?
Von den drei Entwürfen, die vom Volkskommissariat des Innern, von dem für Justizwesen und von Towarischtsch Kollontaj vorgeschlagen wurden, entspricht unserer Meinung nach den Interessen der Arbeiterinnen nur der Vorschlag des Narkomjust, des Volkskommissariates für Justizwesen.
Der Entwurf des Narkomwnudjel, Volkskommissariates des Innern, sieht nur die registrierte Ehe als gesetzlich an. Wenn also dieser Entwurf Gesetz werden sollte, wird es ohne Zweifel neuerdings gesetzliche und ungesetzliche Kinder geben, und dann wird auch die alte gerichtlich-polizeiliche Bezeichnung wieder auftauchen: lebt in einem ungesetzlichen Verhältnis.
Wir glauben, daß ein Zeitraum von neun Jahren den Sarg der alten Lebensformen bereits so fest zugenagelt hat, daß derartige Ausdrücke heute nicht mehr auferstehen dürfen.
Der Entwurf des Narkomjust beseitigt aber völlig alle alten Eheformen und macht die registrierte wie die nicht registrierte Ehe vor dem Gesetz gleich. In bezug auf Alimente dient er ebenfalls ganz den Interessen der Frau. Nach diesem Entwurf hat der Vater eine gewisse Geldsumme für die Erhaltung des von ihm verlassenen Kindes zu zahlen.
Der Entwurf der Towarischtsch Kollontaj ist in keiner Weise befriedigend... Wie kann man bloß von einer allgemeinen Besteuerung sämtlicher Männer sprechen? Was hat es denn mit allen Männern zu tun, wenn nur ein Mann an der Zeugung eines Kindes beteiligt ist? Was geht das die Allgemeinheit an? Hier liegt die Sache viel einfacher: Bist du der Vater, so hast du auch zu zahlen!"
Die Studentinnen Mjeshujewa, Roshuk, Kostrikina Trutnjowa, Kusawjepkowa, Nikolajewa, Parschina
(von der Arbeiterfakultät
"Pokrowskij")
".... Höchste Zeit ist es schon, alle kleinbürgerlichen Vorurteile abzulegen: ist es nicht ganz gleich, ob eine Frau in registrierter oder nichtregistrierter Ehe lebt? Wenn zwei zusammenleben, in der Absicht, eine Familie zu gründen, so ist das eine Ehe.
Und unterschreiben sie beide, mit gesenktem Haupte vor irgend einem Federfuchser stehend, ihre Namen, so wird das die Grundfesten ihres Familienlebens auf keinen Fall stärken.
In diesem Teil ihres Projektes hat die Kollontaj natürlich recht. Über den zweiten Teil aber, in dem die Rede von Alimenten ist, läßt sich wohl streiten.
Wozu soll eine verlassene Mutter der Allgemeinheit zur Last fallen? Eine derartige Hilfe könnte nur Erinnerungen an die milden Gaben der Kaiserin-Mang-Stiftung wecken. Sollte aber andererseits dieses Drittel nur einen Tscherwonjez (zehn Rubel) ausmachen, so wäre die Mutter natürlicherweise nicht imstande, ihre Kinder davon zu erziehen. Könnte aber diese Stiftung das Kind halbwegs versorgen, so wäre damit viel getan.
Doch das Richtigste ist trotzdem - ein System der Alimente. Denn hat es einmal ein Mann zuwege gebracht, mit poetischem Zauber und afrikanischer Glut eine Frau zu betören und ein Kind mit ihr zu zeugen, so soll er auch sein Drittel zahlen. Vor dem zweiten Drittel wird er sich wohl schon hüten! Ist doch so ein Drittel eine bittere Erfahrung!"
13. Dokument 7: Lenin: Briefe an Ines Armand - geschrieben Januar 1915 in Bern - als Mittel des ideologischen Klassenkampfes erstveröffentlicht 1939
[Werke, Bd. 35, S. 155ff. - Zuerst veröffentlicht
1939 in der Zeitschrift
"Bolschewik" Nr. 13.
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Brief an Ines Armand - geschrieben 17.5.1915 in Bern
Dear friend!* Ich rate Ihnen dringend, den Plan der Broschüre möglichst ausführlich zu schreiben. Sonst bleibt allzuviel unklar.
Über eines muß ich meine Meinung schon jetzt sagen:
Paragraph 3 - die
"Forderung (der Frau) nach Freiheit der Liebe" rate ich überhaupt zu streichen.
Hierbei kommt in Wirklichkeit keine proletarische, sondern eine bürgerliche Forderung heraus.
In der Tat, was verstehen Sie darunter? Was
kann man darunter verstehen?
-
Freiheit v o n materiellen (finanziellen) Berechnungen in der Liebe?
-
Auch v o n materiellen Sorgen?
-
von religiösen Vorurteilen?
-
vom Verbot durch den Papa etc.?
-
von den Vorurteilen der "Gesellschaft"?
-
von den engen Verhältnissen des (bäuerlichen oder kleinbürgerlichen oder intelligenzlerisch-bürgerlichen) Milieus?
-
von den Fesseln des Gesetzes, des Gerichts und der Polizei?
-
vom Ernst in der Liebe?
-
vom Kinderkriegen?
-
Freiheit des Ehebruchs? usw.
Ich habe viele (natürlich nicht alle) Schattierungen aufgezählt. Sie meinen natürlich nicht Nr. 8 - 10, sondern entweder Nr. 1 - 7 oder so
etwas Ähnliches wie Nr. 1 - 7.
Aber für Nr. 1 - 7 muß man eine andere Bezeichnung wählen, denn Freiheit der Liebe drückt diesen Gedanken nicht exakt aus.
Das Publikum aber, die Leser der Broschüre, werden
unweigerlich unter
"Freiheit der Liebe" allgemein so etwas wie Nr. 8 - 10 verstehen, selbst
gegen Ihren Willen.
Gerade weil in der heutigen Gesellschaft die geschwätzigsten, sich am lautesten gebärdenden und
"oben sichtbaren" Klassen unter
"Freiheit der Liebe" Nr. 8 - 10 verstehen, eben deshalb ist dies keine proletarische, sondern eine bürgerliche Forderung.
Für das Proletariat sind vor allem Nr. 1 und 2 wichtig, und dann Nr. 1 - 7, aber das ist eigentlich nicht
"Freiheit der Liebe".
Es geht nicht darum, was Sie
subjektiv darunter
"verstehen wollen". Es geht um die
objektive Logik der Klassenbeziehungen in Liebesdingeen.
Friendly shake hands ! WJ.
geschrieben am 17. Januar 1915 in Bern.
Zuerst veröffentlicht 1939 in der Zeitschrift
"Bolschewik" Nr. 13.
Nach den Manuskript.
Brief an Ines Armand - geschrieben 24.5.1915 in Bern
Liebe Freundin! Entschuldigen Sie die verspätete Antwort: ich wollte gestern schreiben, wurde aber aufgehalten und fand keine Zeit für den Brief.
Was Ihren Plan für die Broschüre betrifft, fand ich, daß die
"Forderung nach Freiheit der Liebe" unklar und - unabhängig von Ihrem Wollen und Wünschen (ich unterstrich das, indem ich sagte, es geht um die objektiven, um die Klassenbeziehungen und nicht um Ihre subjektiven Wünsche) - unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen eine bürgerliche und keine proletarische Forderung ist.
Sie sind damit nicht einverstanden.
Gut. Betrachten wir die Sache noch einmal.
Um das Unklare klarzumachen, habe ich Ihnen ungefähr zehn
mögliche (und bei den bestehenden K!assenunterschieden unvermeidliche) verschiedene Auslegungen aufgezählt und dabei bemerkt, daß die Auslegungen 1- 7 meiner Meinung nach für Proletarierfrauen, 8 - 10 für Bourgeoisfrauen typisch oder charakteristisch sein werden.
Will man das widerlegen, so muß man beweisen, erstens, daß diese Auslegungen unrichtig sind (dann muß man sie durch andere ersetzen oder die unnichtigen nennen) oder zweitens, daß sie unvollständig sind (dann muß man das Fehlende hinzufügen) oder drittens, daß sie nicht derart in proletarische und bürgerliche zu unterteilen sind.
Sie tun weder das eine noch das andere noch auch das dritte.
Auf Punkt 1 - 7 gehen Sie überhaupt nicht ein. Sie erkennen also (im allgemeinen) an, daß sie richtig sind? (Das, was Sie über die Prostitution von Proletarierinnen und deren Abhängigkeit schreiben:
"die Unmöglichkeit, nein zu sagen", fällt durchaus unter die Punkte 1 - 7. Irgendeine Meinungsverschiedenheit zwischen uns ist hier nicht zu entdecken.)
Sie bestreiten auch nicht, daß dies eine proletarische Auslegung ist.
Bleiben die Punkte 8 - 10.
Diese
"verstehen Sie nicht ganz" und
"wenden ein":
"ich verstehe nicht, wie kann man" (so steht es schwarz auf weiß!)
"die Freiheit der Liebe gleichsetzen (!!??) mit" Punkt 10...
Es kommt so heraus, als ob
ich "gleichsetze" und Sie sich anschicken, mich fertigzumachen und vernichtend zu schlagen?
Wie denn? Was heißt das?
Die
Bourgeoisfrauen verstehen unter Freiheit der Liebe die Punkte 8 - 10 - das ist meine These.
Widerlegen Sie diese These? Sagen Sie, was verstehen die
bürgerlichen Damen unter Freiheit der Liebe?
Sie sagen das nicht. Beweisen denn nicht Literatur und Leben, daß die Bourgeoisfrauen gerade das darunter verstehen? Sie beweisen es voll und ganz! Und Sie geben das stillschweigend zu.
Da dem aber so ist, so handelt es sich hier um ihre Klassenlage, und
s i e zu
"widerlegen" wäre kaum möglich und wäre wohl naiv.
Man muß den proletarischen Standpunkt klar von ihnen
abgrenzen, ihnen den proletarischen Standpunkt entgegenstellen. Man muß die objektive Tatsache berücksichtigen, daß sonst
sie die entsprechenden Stellen aus Ihrer Broschüre herausgreifen, sie in ihrer Weise auslegen, Ihre Broschüre als Wasser auf ihre Mühle benutzen, Ihre Gedanken vor den Arbeitern entstellen, die Arbeiter
"stutzig machen" werden (indem sie die Befürchtung unter ihnen verbreiten,
Sie könnten ihnen
wesensfremde Gedanken bringen). Und sie haben eine Unmenge Zeitungen usw. in Händen.
Sie aber vergessen vollkommen den objektiven, den Klassenstandpunkt und reiten eine
"Attacke" gegen mich, als ob ich die Freiheit der Liebe mit den Punken 8 - 10
"gleichsetzte" ... Komisch ist das, wahrhaftig komisch...
"Selbst eine flüchtige Leidenschaft und Verbindung" sei
"poetischer und reiner" als
"Küsse ohne Liebe" zwischen (spießigen und verspießerten) Eheleuten. So schreiben Sie. Und so wollen Sie in der Broschüre schreiben. Ausgezeichnet.
Ist diese Gegenüberstellung logisch? Küsse ohne Liebe zwischen spießigen Eheleuten sind
schmutzig. Einverstanden. Ihnen muß man gegenüberstellen
was?... Man sollte meinen: Küsse
mit Liebe? Sie aber stellen ihnen eine
"flüchtige" (warum flüchtige?)
"Leidenschaft" (warum nicht Liebe?) gegenüber - es ergibt sich also logischerweise, daß (flüchtige) Küsse ohne Liebe ehelichen Küssen ohne Liebe gegenübergestellt werden... Sonderbar. Wäre es für eine populäre Broschüre nicht besser, die kleinbürgerlich-intelligenzlerisch-bäuerliche (bei mir wohl Punkt 6 oder 5) spießige und schmutzige Ehe ohne Liebe der proletarischen Zivilehe mit Liebe gegenüberzustellen (mit dem Zusatz,
wenn Sie schon unbedingt wollen, daß auch eine flüchtige Verbindung aus Leidenschaft schmutzig, daß sie aber auch rein sein kann). Bei Ihnen ist eine Gegenüberstellung nicht von klassenmäßigen
T y p e n herausgekommen, sondern so etwas wie ein
"Fall", der natürlich möglich ist. Aber geht es denn um Fälle? Wenn man das Thema so wählt: ein Einzelfall, ein individueller Fall, wo es schmutzige Küsse in der Ehe und reine Küsse in einer flüchtigen Verbindung gibt - dieses Thema müßte man in einem Roman behandeln (denn hierbei bilden den
Angelpunkt die
individuellen Umstände, die Analyse der
Charaktere und der seelischen Verfassung der
betreffenden Typen). Aber in einer Broschüre?
Sie haben meinen Gedanken bezüglich des unpassenden Zitats aus Key sehr gut verstanden, wenn Sie sagen, es sei
"unsinnig", in der Rolle von
"Professoren es Liebe" aufzutreten. Ja, eben. Nun, und in der Rolle von Professoren es flüchtigen usw.?
Wirklich, ich möchte absolut keine Polemik. Ich würde diesen meinen Brief gern wegwerfen und die Sache bis zu einer Unterhaltung aufschieben. Aber ich möchte, daß die Broschüre gut wird, daß niemand für Sie unangenehme Sätze aus ihr herausreißen
kann (manchmal genügt
ein Satz, um alles zu verderben), daß niemand Sie
falsch auslegen kann. Ich bin überzeugt, daß Sie auch hier
"ungewollt" geschrieben haben, und ich schicke diesen Brief nur ab, weil Sie sich vielleicht an Hand der Briefe grllndlidier über Ihren Plan klarwerden als auf Grund von Unterhaltungen, und der Plan ist doch eine sehr wichtige Sache.
Haben Sie unter Ihren Bekannten nicht eine französische Sozialistin?
Übersetzen Sie ihr (angeblich aus dem Englischen) meine Punkte 1 - 10 und Ihre Bemerkungen über die
"flüchtige" usw., und sehen und hören Sie sie recht aufmerksam an: ein kleiner Versuch, was
unbeteiligte Personen sagen, welches ihre Eindrücke sind und was sie von der Broschüre erwarten.
Ich drücke Ihnen die Hand und wünsche Ihnen, daß Sie weniger an
Kopfschmerzen leiden und recht bald gesund werden. W.U.
geschrieben am 24. Januar 1915 in Bern.
Zuerst veröffentlicht 1939 in der Zeitschrift Bolschewik Nr. 13.
Nach dem Manuskript.
14. Dokument 8: Fannina W. Halle: Einsatz der Frauen bei der Erfüllung des Fünfjahresplans (vor 1932)
[aus: Fannina W. Halle, Die Frau in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 451 - 460]
Der Fünfjahrplan und die Frau
DIE FRAU IM NEUEN LEBENSRAUM
Im gegenwärtigen vierten und abschließenden Jahr der
"Pjatiletka", des Fünfjahrplans, da bereits auch dev zweite Fünfjahrplan unter der Devise einer Kulturpjatiletka vorliegt, braucht man wohl dem westeuropäischen Leser nicht viel über den epochemachenden Versuch des Aufbaues einer Planwirtschaft im Riesenmaßstabe zu erzählen. Die Zeiten sind längst vorbei, da man noch im Fünfjahrplan den
"Ingenieurroman" eines zu wirklichkeitsfremder Träumerei neigenden Volkes sehen zu können glaubte, vielmehr hat sich dieser als ein lebendiges Heldenlied der Arbeit erwiesen. Wo vor kurzem noch menschenleere Steppen, brachliegende Felder und Wälder sich dehnten, ragen jetzt gigantische Werke, zukunftsfrohe Denkmäler menschlichen Aufbauwillens.
Der Fünfjahrplan ist ein Sturm: er wird nicht durch Taglöhnerarbeit, sondern durch das Feuer des Kampfes und aufregende Zukunftsbilder erzeugt, die schon die Gegenwart erstrahlen lassen. Die Triebkraft der ungeheuren Anforderungen, die der Plan an jeden einzelnen stelll, setzt sich aus einer täglich durch berauschende Ziffern und Zahlen genährten Spannung der Nerven und aus einem Pathos zusammen, das seine Wirkung auf das für alles Überdimensionierte empfängliche Volk niemals verfehlt: es nimmt die ihm zugedachten übermenschlichen Opfer und Entbehrungen mit einem für den Westeuropäer schwer begreiflichen wahren Heroismus auf sich. Selten begegnet man im neuen Rußland einem Menschen, der in gewissem Sinne nicht Märtyrer des Fünfjahrplans wäre und dem nicht Zeichen der Überarbeitung, Übermüdung anzumerken wären. Doch das sowjetrussische Leben - es ist ein fortdauernder Kriegszustand, es verlangt jeden Tag den neuerlichen Einsatz aller Kräfte, und der erschöpfte Körper wird durch das Feuer einer immer wieder angefachten Begeisterung belebt.
In diesem heroischen Kampfe fällt der in Staat, Wirtschaft und Geistesleben gleichberechtigten und gleichbeteiligten Frau eine gleich verantwortungsvolle Rolle zu. Allgemein wird anerkannt, daß die Frauen zumindest ebenso viel wie die Männer, vielleicht aber noch mehr zur Erfüllung des grandiosen Planes beitragen. Ja, aus spezifisch russischen und allgemeinen Gründen sind sie sogar die Stützen der Pjatiletka: sie trinken nicht, schwänzen keine Arbeit, veruntreuen keine Gelder, sind noch begeisterungsfähiger als die Männer, und nicht zuletzt wird ihnen nachgerühmt, daß sie mit dem kostbarsten Staatseigentum, den Maschinen, schonender umzugehen verstehen als die männlichen Arbeiter, gegen die gerade in diesem Punkte schwere Vorwürfe erhoben werden.
Der Fünfjahrplan, der die russische Sprache um eine Menge neugeprägter, aber fast ausnahmslos der Kriegführung entnommener Fachausdrücke bereicherte, hat auch neue Formen der Arbeitsorganisation geschaffen. So sind die eigentlichen Träger des Fünfjahrplanes die
"Bataillone" der Sturmarbeiter, in deren Reihen bezeichnenderweise mehr Frauen als Männer stehen. Während von den Männern ungefähr die Hälfte Sturmbrigaden angehört, gibt es unter den Frauen nicht weniger als sechzig Prozent
"Udarnizas", und die
"Prawda" schrieb unlängst, daß diese Sturmarbeiterinnen vielfach ein Tempo aufweisen, das die männlichen Arbeiter nicht erreichen können. Was aber die Frauen im Dienste des Planes in fast sämtlichen Betrieben des Landes leisten, übertrifft die kühnsten Erwartungen. In den meisten großen Werken überwiegt die Zahl der Sturmarbeiterinnen, so auch in den aus der Geschichte der Revolution bekannten Putilow-Werken, von deren 2500 Arbeiterinnen 1600 in Sturmbrigaden eingereiht sind. In Magnitogorsk waren es die Sturmarbeiterinnen, die der gesamten Belegschaft zuerst gezeigt haben, wie das Arbeitstempo angefeuert und beschleunigt werden kann. Und in der Rostower Tabakfabrik, einem vollrationalisierten Betrieb mit Durcharbeit, verblüffte mich die unvergleichliche Fertigkeit der Arbeiterinnen, die den Kopf nicht wandten, ja nicht einmal den Blick von ihrem
"Stück" hoben, und gleich Präzisionsmaschinen ihre Arbeit verrichteten.
Natürlich mußten einige Jahre vergehen, ehe die Frau in der Industrie diese Stufe der Vollendung erreichte. Ein Beispiel:
"1928 forderte das Leningrader Traktorenwerk Der Rote Putilowez, das statt der bisherigen 3000 im zweiten Jahre der Pjatiletka 12.000 Traktoren anfertigen sollte und in dem es vorher keine Frauen gegeben hatte, neue Kräfte an. Auf der Arbeitsbörse waren aber nicht genug Arbeiter - Männer - zu haben. So vermittelte man von dort eine Anzahl Frauen an die Fabrik.
Die Leitung der Traktorenabteilung war darüber empört und erklärte dezidiert: Wozu schickt man sie uns? Was sollen wir mit ihnen anfangen? Jedermann weiß doch, daß eine Frau weder Schlosser noch Drechsler noch Zahnradschneider sein kann. - Die Arbeitsbörse aber schickte beharrlich immer wieder Frauen hin, und die Traktorenabteilung mußte sich damit abfinden.
Und nun begann in den Werkstätten ein verbissener Kampf der neu aufgenommenen Arbeiterinnen um ihre Rechte, um ihre Anerkennung. Die erste Frauenbrigade wurde organisiert. Sie bestand aus acht Arbeiterinnen, von denen zwei Parteimitglieder waren. An der Spitze dieser Brigade stand die Arbeiterin Ssjemjonowa. Vom Siege oder von der Niederlage dieser Frauenbrigade hing vieles und vor allem die Anerkennung der Frauen als gleichwertiger Arbeitsgenossen ab. Die Brigadlerinnen erwogen diesen Umstand. Täglich gab es erbitterte Kämpfe um Qualität und Quantität der Produktion.
Die Resultate ließen nicht lange auf sich warten. Dank dem aufmerksamen und gewissenhaften Verhalten der Frauen zu ihrer Arbeit gelang es der Brigade, den mechanischen Ausschuß, der in der Regel durch Verschulden des Arbeiters entsteht, völlig zu beseitigen. Auch blieb in der Brigade niemand von der Arbeit weg, ohne einen wichtigen Grund dafür angeben zu können.
Die Brigade feierte den ersten Sieg auf dem langen, schweren Weg, den die Sturmarbeiterinnen betreten hatten. Der zweite Sieg: Ausschuß durch Verschulden der Arbeiterin gibt es nicht; Fernbleiben ohne wichtigen Grund gibt es mich nicht; Verspätungen gleichfalls nicht. Der Kampf ging fort. Die Arbeiterinnen eroberten sich eine Werkbank, eine Abteilung nach der anderen.
Gegenwärtig findet man dort Frauen bei jeder Arbeit. Sie arbeiten selbst da, wo man noch vor einigen Jahren keine Frau antreffen konnte, wo niemand an die Verwendung einer Frau gedacht hatte. Überall - an den Werkbänken, den Hebekränen, in den Gußeisenwerkstätten - haben sich die Arbeiterinnen das Bürgerrecht erobert. Und der Qualität nach ist ihre Arbeit nicht schlechter als die der Männer.
An den importierten kostbaren Werkbänken der Zahnradschneiderei, bei den Präzisionsarbeiten in der Abteilung des Werkmeisters Andrej sind fünf Sturmarbeiterinnen tätig. Was sagt nun der Meister über sie aus?
´Weder über Qualität noch Quantität der Frauenarbeit kann ich mich beklagen. Und was die Arbeitsdisziplin, das bewußte Verhältnis zur Arbeit und zum Inventar betrifft, steht es bei den Arbeiterinnen damit viel besser als bei den männlichen Arbeitern. Die Arbeiterinnen verhalten sich sehr bewußt zu ihrer Arbeit, gehen mit dem Inventar sehr behutsam um. Und ein charakteristisches Moment ist zu vermerken: aus Verschulden der Arbeiterinnen kommt es niemals vor, daß ein Instrument beschädigt wird.´"
(Jeljkowitsch und Schilejko, Sturmarbeiterinnen)
Man ist darauf bedacht, die Schaffenslust und Schaffensfreude der Sturmarbeiter und noch mehr der Sturmarbeiterinnen, ihren Leistungseifer durch Belohnungen und Ehrungen anzuspornen. Neben den verschiedenen Orden, mit denen man durchaus nicht geizt - im
"Traktorstroj" in Stalingrad hat eine Frau als erste den Orden des Roten Arbeitsbanners erhalten - werden oft Prämien verteilt. Es sind dies Bücher, Gebrauchsgegenstände und Kleidungsstücke, die in dem gegenwärtig an Manufakturmangel leidenden Lande den Bedachten besonders willkommen sind. Noch beliebter sind als Prämien für Sturarbeit die sogenannten Sturmarbeiterbücher, die zum Bezug von
"Defizitware" berechtigen, von Artikeln, die in einer den Bedarf bei weitem nicht deckenden, unzureichenden Menge erzeugt werden. Als von den - achtundvierzig Prozent der dort beschäftigten Frauen ausmachenden - Sturmarbeiterinnen der Mechanikerabteilung des erwähnten Werkes in Stalingrad 263 auf einmal mit solchen Bezugsbüchern prämiiert wurden, feierte man dieses Ereignis als einen neuerlichen Triumph der Frauenarbeit. In zwei Fällen wurde mehreren hundert Sturmarbeitern, unter denen es gleichfalls etwa dreißig Prozent Frauen gab, eine Reise nach Westeuropa an Bord eines Sowjetdampfers als Belohnung für Sturmleistung zugebilligt. Die Auszeichnung war um so größer, als es höchst selten vorkommt, daß sowjetrussische Arbeiter das sie fast legendenhaft anmutende Ausland aus eigener Erfahrung kennenlernen. Kein Wunder also, daß die Zeitschriften und Zeitungen monatelang nachher Berichte dieser Auslandreisenden und Erzählungen veröffentlichten, die zuweilen recht interessant, zuweilen aber auch sehr naiv waren.
Noch mehr als durch Belohnungen wird der Eifer der männlichen und weiblichen Sturmarbejter durch den von der sowjetrussischen Öffentlichkeit mit ihnen getriebenen Kult gesteigert: werden sie doch als der Typus des neuen sozialistischen Menschen hingestellt und gefeiert. Und daß dieser Typus in der Tat etwas ganz Neues ist, kann man wirklich kaum bezweifeln, wenn man folgende von Sturmarbeiterinnen verfaßte Gedichte liest und dabei an die Frauenlyrik Westeuropas denkt:
Tatjana Korezkaja:
Sturmarbeiterinnenlied
0 nein, wir halten keine Rast,
Wir stehn da, kraftbewußt,
Mit Rußlands Puls pocht Schlag um Schlag
Das Herz in unsrer Brust!
Verharr in Trotz, du Herz von Stahl,
Sing, Blasebalg, und schwill,
Es drängt die Zeit,
Es drängt die Zeit
Auch den, der ruhen will.
Den Schädling, der das Werk bedroht,
Vernichtet unsre Wut,
Wie Lavastrom wälzt sich dahin
Des Stahls geschmolzne Glut!
Gedeihe, wachse, Industrie,
Der unser Herz vertraut,
Vom Dynamit der Herzen wird
Magnitogorsk gebaut.
Das viele hundert Jahre schlief,
Das Erz, erwacht und grollt,
Ums schwarze Gold
Kommt Zug nach Zug
In Eile angerolltl.
Nein, nein, wir halten keine Rast,
Wir stehn da, kraftbewul3t,
Mit Rußlands Puls pocht Schlag um Schlag
Das Herz in unsrer Brust!
W. Schaposchnikowa:
Sturmwaggons
Schienen, Weichen, Semaphore,
Räder rattern froh im Takt...
Bergan wie ein langer Faden
Schnauben Züge, vollbepackt.
Schleppen Kohle aus dem Donbass,
Erdöl aus dem Kaukasus...
Erz der Ural, Holz und Schwellen
Schickt der Nord im Überfluß.
Sprüht, ihr Speichen, heiße Funken,
Klingt, ihr Pfeifen, hell und lieb,
Tanks wirds geben und Traktoren
Und Maschinen im Betrieb.
Die Heldenverehrung, die den Sturmarbeitern beider Geschlechter in der Partei entgegengebracht wird, weist Formen auf, die an die Art und Weise erinnern, wie man in anderen Ländern etwa Sportchampions oder Filmlieblinge feiert. Es gibt kaum einen Betrieb in Sowjetrußland, dessen Vorraum oder Vorhof nicht mit einer Porträtgalerie der
"Helden und Heldinnen" des Tags geschmückt wäre. Damit alle an die Reihe kommen, werden die Bilder häufig ausgewechselt, und man geht sogar noch weiter: ähnlich wie es in Berlin eine Siegesallee gibt, hat der berühmte
"Park für Kultur und Erholung" in Moskau eine
"Udarnik-Allee" bekommen, die zu beiden Seiten von - freilich künstlerisch wenig bedeutsamen - Porträtbüsten hervorragender Sturmarbeiter und Sturmarbeiterinnen gesäumt ist. Auch die Presse stellt sich ausgiebig in den Dienst dieser erfolgreichen Propaganda. Und daß ein solcher Heldenkult mit der sozialistischen Theorie, die die Bedeutung der Persönlichkeit mehr oder minder negiert, wohl vereinbar ist, begründet der Marxist Karl Radek wie folgt:
"Weder für Marx noch für Lenin setzte sich die Masse aus gleichartigen Leuten zusammen. Auch für sie war die Geschichte kein Kampf einer ungegliederten, anonymen Masse. Solange die Menschheit bestehen wird, wird sie eine Avantgarde zum Kampf um die Lösung derjenigen Fragen schaffen, die die Geschichte stellt. Es gab und gibt Helden, aber ihr Heroismus ist der Ausdruck des Strebens der Massen, ihr Heroismus kann nur dann zum Siege führen, wenn er zu einem Massenheroismus wird, wenn er die Massen auf sein Niveau erhebt."
(Moskauer Rundschau vom 16. August 1931.)
Noch mehr als durch die Einrichtung der Sturmarbeiterbrigaden wird die Einsatzbereitschaft für den Fünfjahrplan durch den sozialistischen Wettbewerb gefördert: der Geist des sportlichen Wettkampfes erscheint hier auf das Wirtschaftsgebiet verlegt. Wie fast überall, wo es sich um eine ins Leben getragene Parole handelt, haben wir es auch da mit einer Massenerscheinung zu tun, die nunmehr die gesamte sowjetrussische Produktion ergriffen hat. Die russische Definition lautet: Enthusiasmus plus Organisation. Und St a l i n äußerte sich darüber auf der Sechzehnten Konferenz der Allrussischen Kommunistischen Partei:
"Das Wichtigste am Wettbewerb ist, daß er die Ansichten der Menschen über die Arbeit von Grund auf ändert und diese aus einer schweren, drückenden Last, als die sie bisher gegolten hat, zu einer Sache der Ehre, des Ruhmes, des Heldermutes und des Heroismus erhebt. Nichts Ähnliches gibt es und kann es in den kapitalistischen Ländern geben, denn dort besteht das höchste Glück, das allgemein angestrebt wird, darin, eine Rente zu haben, vom Zinsengenuß zu leben und die Arbeit, die als etwas Verächtliches angesehen wird, loszuwerden. Bei uns in der Sowjetunion ist im Gegenteil das einzig Erwünschte, das öffentliche Zustimmung findet, ein Held des Wettbewerbes und von der Aureole der Achtung der werktätigen Millionen umgeben zu sein."
Wettbewerbe gibt es zwischen einzelnen Betriebsabteilungen und ganzen Fabriken. Mit welchem Eifer sich die russischen Frauen an ihnen beteiligen, geht aus statistischen Daten hervor: Von den im Jahre 1931 in der Metallindustrie beschäftigten Frauen haben 44 Prozent, von denen in den chemischen Werken 54, aus den Textilfabriken 57 und aus der Papierindustrie 59 Prozent an Wettbewerben teilgenommen. Seither ist dieser Prozentsatz zugunsten der Frauen noch weiter gestiegen. Ähnlich steigt aber auch ihre Enterotisierung, und ein im Textilrayon Iwanowo Wosnjessjensk, dessen Arbeiterschaft zu mehr als 60 Prozent aus Frauen besteht, von den Burschen zur Ziehharmonikabegleitung gesungener Vierzeiler, eine Strophe, die die Resignation der jungen Leute humorvoll zum Ausdruck bringt, lautet:
Umarmungen? - Das war einmal!
Jetzt bin ich ihr schon ganz egal.
"Auf Wiederseh!" sagt sie mir derb,
"Denn ich, ich geh zum Wettbewerb."
Die Frauenzeitschriften haben eine ständige Rubrik für Aufforderungen zum Wettbewerb und Erklärungen über deren Annahme. Sieht man sich in der. verbreitetsten Zeitschrift dieser Art, der
"Rabotniza", diese Rubrik mit der Überschrift
"Gesamtunions-Appell der Sturmfrauen" an, so ist man eigenartig berührt: da beantworten die Sturmarbeiterinnen den Aufruf der weiblichen Sturmbataillone von Magnitogorsk; sie verpflichten sich, ihre Arbeit zu verbessern, ihre Anstrengungen zur Errichtung von Kulturanstalten zu verdoppeln, sich zu höheren, qualifizierten Leistungen ausbilden zu lassen. Da stellen Sturmbrigaden mit. Genugtuung fest, daß sie sich im Sturnie der Arbeit bewährt haben. Da beklagen sich arbeitende Frauen darüber, daß ihr Betrieb noch unzulänglich rationalisiert sei. Da geloben Bergarbeiterinnen, daß sie sich in ihrem Werk für die Einholung des bedauerlicherweise überhandnehmenden Rückstandes einsetzen und das
"schwarze Gold" in der vom Plan geforderten Menge liefern werden. Da künden Betriebe an, daß sie in der bevorstehenden Zeit eine große Anzahl neuer Arbeiterinnen in die Fabrik aufnehmen und dadurch die Eingliederung der Frau in den Produktionsprozeß fördern werden. Da wird der Drückebergerei ein unerbittlicher Kampf erklärt. Da werden Mittel und Wege gewiesen und Saumselige in den Wirbel des stürmischen Schaffens mit hineingerissen.
15. Dokument 9: Gesetzentwurf über das Abtreibungsverbot und den Mutterschutz (1936)
[aus: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung,
Reprint: Mailand/Feltrinelli 1967, Nr. 25, S. 1009 - 1010]
Nr.25 RUNDSCHAU Seite 1OO9
Der Gesetzentwurf über das Abtreibungsverbot und den Mutterschutz
Moskau, 26. Mal.
Um zahlreichen Eingaben der werktätigen Frauen, die sich mit der Schädlichkeit der Abtreibung befassen, nachzukommen, hat die Sowjetregierung einen Gesetzentwurf über das Verbot von Abtreibungen und gleichzeitig über die Erhöhung der staatlichen Wöchnerinnenunterstützung sowie über eine bedeutende Erweiterung des Netzes der Entbindungsanstalten, Kinderkrippen, Kindergärten usw. ausgearbeitet. Angesichts der außerordentlichen Wichtigkeit dieser Frage und der Interessiertheit breiter Bevölkerungsschichten an ihr, beschloß die Sovjetregierung, den Entwurf vor seiner Behandlung in den gesetzgebenden Institutionen zur Diskussion zu stellen.
Nach dem neuen Gesetzentwurf werden Abtreibungen nur noch in Kliniken zugelassen und zwar ausschließlich in Fällen, in denen eine Fortdauer der Schwangerschaft Leben und Gesundheit der Schwangeren gefährden würde. Für die Vornahme unerlaubter Abtreibungen sind für die Aerzte schwere Strafen vorgesehen, insbesondere, wenn es unter nicht absolut einwandfreien, hygienischen Verhältnissen geschieht. Wer eine Frau zur Abtreibung zwingt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Für die Schwangere selbst, die in Uebertretung des Gesetzes eine Abtreibung vornimmt, wird als Strafe die öffentliche Rüge festgesetzt, im Wiederholungsfalle eine Geldstrafe bis zu 300 Rubel.
Einen breiten Raum nehmen in dem neuen Gesetzentwurf die Bestimmungen über die Erhöhung der staatlichen Unterstützung an die Wöchnerinnen ein. So wird zum Beispiel der Beitrag aus den Mitteln der staatlichen Sozialversicherung zur Beschaffung der Säuglingsausstattung erhöht. Ferner wird die Stillprämie verdoppelt. Der bisher nur für Arbeiterinnen bestehende gesetzliche bezahlte Urlaub von acht Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung wird jetzt auch auf Angestellte ausgedehnt, die bisher nur je sechs Wochen Urlaub hatten. Gefängnisstrafen sind ferner vorgesehen für die Weigerung, Schwangere einzustellen, oder für Lohnkürzungen bei schwangeren Frauen. Das Gesetz sieht eine obligatorische Ueberführung der Schwangeren zu leichterer Arbeit vor, wobei der bisherige Lohn weiter gezahlt werden muß.
Für kinderreiche Mütter wird eine staatliche Unterstützung festgesetzt, die zum Beispiel von sieben Kindern ab bei der Geburt jedes weiteren Kindes während fünf Jahren 2000 Rubel jährlich beträgt, usw. Der Gesetzentwurf sieht weiter eine bedeutende Ausdehnung des Netzes der Entbindungsanstalten vor, die Zahl der Betten wird in den nächsten zweieinhalb
Jahren in städtischen Kliniken um 11.000, in ländlichen um 82.000 erhöht. Die Zahl der städtischen und ländlichen Kinderkrippen wird verdoppelt. Im Laufe der nächsten drei Jahre sollen in den Städten 800 neue Milchküchen geschaffen werden. die 1,5 Millionen Kinder betreuen. Das Netz der Kindergärten wird im Laufe von drei Jahren verdreifacht. Allein in den Städten und Betriebssiedlungen wird die Zahl der Plätze in den Kindergärten 2. 200.000 betragen. Zur Finanzierung all dieser Maßnahmen sollen außer der bereits für 1936 im Staats- und Sozialversicherungsbudget vorgesehenen Summe von 1481,3 Millionen Rubel für Entbindungsanstalten, Kinderkrippen, Milchküchen und Kindergärten für das Jahr 1936 noch weitere 692,8 Millionen Rubel bewilligt werden. Für die Erhöhung der Entbindungsbeihilfe für Wöchnerinnen sind 70,5 Millionen Rubel vorgesehen.
Um eine leichtsinnige Verletzung der Pflichten gegenüber der Familie zu unterbinden, sieht der Entwurf. bei der Scheidung die persönliche Vorladung beider Ehegatten beim Standesamt vor (bisher genügte es, daß einer der beiden Ehegatten die Scheidung anmeldete). Gleichzeitig wird die Einschreibungsgebühr für Ehescheidungen erhöht. Betreffs der Alimente setzt der Entwurf für ein Kind die Zahlung von einem Drittel des Verdienstes des Alimentationspflichtigen, für zwei Kinder von 50 Prozent usw. fest. Erhöht wird auch die Strafe bei böswilliger Nichtbezahlung der gerichtlich festgesetzten Unterhaltskosten der Kinder.
Die sozialistische Oktoberrevolution, die den Grundstein zur Aufhebung jeder Klassenausbeutung und zur Abschaffung der Klassen selbst legte, hat damit auch den Grundstein zur endgültigen Befreiung der Frau gelegt. Nirgends in der Welt genießt die Frau eine solch vollständige Gleichberechtigung auf allen Gebieten des politischen und öffentlichen Lebens wie in der Sowjetunion. In keinem Lande der Welt erfreut sich die Frau als Mutter und Bürgerin solcher Achtung und solchen gesetzlichen Schutzes wie in der Sowjetunion. Doch trugen die wirtschaftliche Zerrüttung nach Krieg und Intervention sowie das aus der vorrevolutionären Zeit stammende unzulängliche kulturelle Niveau der Frau die Schuld daran, daß sie nicht von Anbeginn an in vollem Umfang die ihr gesetzlich eingeräumten Rechte sich zunutze machen konnte. Im Zusammenhang damit gestattete die Sowjetmacht 1920 die Vornahme der Schwangerschaftsunterbrechung solange - wie der damalige Beschluß des Volkskommissariats für Gesundheitswesen lautete
"die moralischen Anschauungen von ehemals und die schweren wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart einen Teil der Frauen noch dazu zwingen, sich zu dieser Operation zu entschließen."
Schon 1913 schrieb
Lenin, daß der aufgeklärte Arbeiter
"unbestreitbar ein Gegner des Neomalthusianismus ist, dieser Lehre für engherzige. egoistische, spießbürgerliche Pärchen, die erschrocken stammeln: Gott gebe uns, daß wir uns selbst irgendwie über Wasser halten, Kinder können wir nicht gebrauchen."
Indem Lenin gegen die Abtreibung als ein soziales Übel auftrat, hielt er zu dessen Bekämpfung lediglich verbietende Gesetze für durchaus ungenügend. Er wies darauf hin, dass unter dem Kapitalismus diese Gesetze
"die Heuchelei der herrschenden Klassen" widerspiegeln, da sie
"Die Gebrechen des Kapitalismus nicht heilen, sondern sie für die unterdrückten Massen in besonders bösartige, besonders schwere verwandeln."
Nur unter dem Sozialismus, wo es eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr gibt, wo die Frau ein vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft und die fortschreitende Steigerung des materiellen Wohlstandes der Werktätigen ein Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung ist - kann ernsthaft die Frage des Kampfes gegen die Abtreibung, darunter auch durch Verbote, gestellt werden. Die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung in der Sowjetunion, die Hebung des materiellen Wohlstandes, der ungeheure Aufschwung des politischen und kulturellen Niveaus der Werktätigen gestatten jetzt die Revision des Dekrets von 1920 zur Diskussion zu stellen. Die notwendige materielle Sicherstehlung von Frau und Kind, staatliche Hilfe für kinderreiche Familien, äußerste Ausdehnung des Netzes der Entbindungsanstalten, Kinderkrippen und Kindergärten, gesetzliche Festlegung eines Minimalbeitrages des Vaters zum Unterhalt seines Kindes, wenn die Eltern getrennt leben, einerseits und das Verbot der Abtreibung andererseits: das sind die Wege, die zur Lösung dieses großen, die ganze Bevölkerung betreffenden Problems führen. In dieser Beziehung kommt die Sowjetregierung zahlreichen Wünschen der werktätigen Frauen entgegen.
16. Dokument 10: Stellungnahme der Krupskaja zum Abtreibungsgesetzentwurf (1936)
[aus: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung,
Reprint: Mailand/Feltrinelli 1967, S. 1209 - 1210]
Nr.30 RUNDSCHAU Seite 12O9.
Aus dem Lande des Sozialismus
Mutterschaft - von N. Krupskaja
Beim Durchblättern meiner alten Artikel fand ich unter ihnen einen, in dem ich mich eingehend mit der Frage der Abtreibung befasse. Dieser Artikel war in den Nummern 1/4 des Blattes
"Kommunistka" (
"Die Kommunistin") Jahr 1920 veröffentlicht worden und trug die Ueberschrift
"Der Krieg und die Kindererzeugung".
"Der Krieg - schrieb ich in diesem Artikel - hat das Land an den Rand des Elends und Ruins gebracht. Das Elend aber ist in der Regel das Grab aller menschlichen Beziehungen."
Die Sowjetmacht leistete schon damals Großzügiges auf dem Gebiet des Mutter- und Säuglingsschutzes, auf dem Gebiet der Organisierung von Kinderheimen usw.
Eine ernstliche Hilfe auf diesem Gebiet war das Leninsche Dekret vom 17. Mai 1919 über die unentgeltliche Verpflegung sämtlicher Kinder bis zu 14 Jahren in den nichtlandwirtschaftlichen Gouvernements. Später wurde die Altersgrenze der Kinder, denen das Recht auf kostenlose Verpflegung zustand, auf 16 Jahre erhöht; Kinderspeiseanstalten wurden organisiert. Ein Ausweg aus der Lage war all dies jedoch noch nicht. Schmerzerfüllt mußten die Mütter zusehen, wie ihre Kinder unter den schweren materiellen Bedingungen infolge Unterernährung dahinsiechten.
Die Sowjetgesetzgebung hat das Wesen der Ehe geändert und diese aus einem rein pekuniären Geschäft, das sie häufig vor der Großen proletarischen Revolution war, in eine auf gegenseitiger Sympathie beruhende Ehe verwandelt. Allein die durch den Bürgerkrieg geschaffene Situation - die andauernden Gebietsräumungen, der Bruch mit den alten, im Laufe von Jahrhunderten entstandenen Traditionen - brachte eine Lockerung der ehelichen Beziehungen mit sich. Und häufig lastete die Sorge für das Kind einzig und allein auf der Mutter.
"Wie kann der Mutter geholfen werden, die von der Last der Kindererzeugunq, der Ernährung und Großziehung der Kinder niedergedrückt wird?"
- schrieb ich in dem oben erwähnten Artikel.
"Die Antwort liegt auf der Hand: es ist notwendig, daß der Staat nicht nur den Mutter- und Säuglingsschutz auf sich nimmt, nicht nur für die Frau während der Schwangerschaft, vor und nach der Entbindung sorgt, sondern auch zehntausende Kinderkrippen, Kindergärten. Kinderkolonien und Kinderheime schafft, wo die Kinder Pflege und Verpflegung erhalten, wo sie unter viel besseren Bedingungen leben, sich entwickeln, lernen können, als ihnen die treusorgendste Mutter durch ihre eigenen Anstrengungen zu schaffen vermöchte."
Damals, 1920, wo es so schwer war, sich durchzuschlagen und Kinder zu ernähren, erhob sich scharf die Frage der Abtreibung. Die Abtreibung war bis dahin gesetzlich strafbar. Allein diese Strafbarkeit traf nicht jene, die zu Fruchtabtreibungen nötigten, nicht jene, die geheime Abtreibungen vornahmen und dadurch die Gesundheit der Mütter untergruben; für die Abtreibung wurde die Mutter zur Verantwortung gezogen. Ich schrieb damals:
"Die Bekämpfung der Abtreibung darf nicht mittels Verfolgung der Mütter betrieben werden, die häufig unter Lebensgefahr zu diesem Mittel greifen, sondern der Kampf ist auf die Beseitigung jener sozialen Ursachen zu richten, die die Mutter in eine Lage versetzen, unter der sie entweder zur Abtreibung greifen oder ins Wasser gehen muß. Solange diese allgemeinen Ursachen nicht beseitigt. sind, werden die Frauen Abtreibungen vornehmen, ungeachtet der harten Strafen, denen sie dabei ausgesetzt sein können."
"... Gewiß vermag Straflosigkeit der Abtreibung nicht das schwere Gefühl aufzuwiegen, daß diese Operation in der werdenden Mutter auslöst. Hat sich doch ihr Organismus bereits auf die Kindererzeugung umgestellt, hat doch im Organismus bereits die Anpassung an die Ernährung der darin befindlichen Frucht begonnen; die Unterbrechung dieses Prozesses wird gewöhnlich von der werdenden Mutter subjektiv als Verbrechen gegen sich selbst und gegen das Kind empfunden. Man braucht nur oft den erregten, sehnsuchtsvollen Blick einer Frau zu beobachten, die zur Abtreibung gegriffen hat, um sich vergegenwärtigen zu können, um welchen Preis die Mütter auf diese Weise sich ihre Freiheit erkauft.
Nur die bittere Notwendigkeit. zwingt die Arbeiterin, der Mutterschaft zu entsagen.
Die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und insbesondere der Mutter- und Säuglingsschutz sowie die öffentliche Kindererziehung beseitigen diese Hauptursache, die augenblicklich die Frau dazu zwingt, ihren natürlichen Instinkten Gewalt anzutun - der Mutterschaft, dieser höchsten Freude, zu entsagen.
Wer ernstlich wünscht, daß all diese furchtbaren Fragen über Kindermord, über Fruchtabtreibungen von der Tagesordnung verschwinden, muß unermüdlich am Aufbau des neuen Lebens arbeiten, unter dem die Mutterschaft den ihr gebührenden Platz einnehmen wird."
So schrieb ich im Jahre 1920. Seit jener Zeit sind 16 Jahre verflossen.
Schwere Zeiten hatte das Volk in diesen Jahren durchzumachen. Nehmen wir zum Beispiel das Hungerjahr 1921, wo Erwachsene und Kinder Hungers starben. Gewaltige Schwierigkeiten mußten seither überwunden werden. Aber den Sozialismus bauen im Lande der Sowjets Millionen Hände. Im Prozeß dieses Aufbaues steigt das Bewußtsein der Massen, wächst das organisatorische Geschick, wächst die Kultur des Landes.
Auf unsere Errungenschaften auf wirtschaftlichem Gebiet braucht nicht eingegangen zu werden, sie sind bekannt. Aus einem bettelarmen, ruinierten Land sind wir ein reiches, mächtiges Land geworden. Unsere Industrie ist gewachsen, hat sich in diesen Jahren unerhört rasch entwickelt. Der armselige, kleine landwirtschaftliche Eigenbetrieb gehört schon bald ins Reich der Sage. An seine Stelle ist der große, mechanisierte Kollektivbetrieb getreten.
Die im Laufe des letzten Jahres abgehaltenen praktischen Beratungen der Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung mit den vorgeschrittensten Vertretern der verschiedenen Arbeitszweige und Völkerschaften der Sowjetunion haben sonnenklar die Freundschaft unter den Völkern der Sowjetunion und die innigste Verbundenheit zwischen den Werktätigen und der werktätigen Intelligenz aller Arbeitszweige, das gewaltige organisatorische Wachstum der werktätigen Massen, ihre enge Verbundenheit mit der Sowjetmacht und mit der Kommunistischen Partei veranschaulicht. Diese - Beratungen - haben sonnenklar bewiesen, wie das ganze gesellschaftliche Gewebe unseres großen Landes sich verändert hat, mit wieviel tausenden organisatorischen Fäden die Bevölkerung der Sowjetunion zu einem machtvollen Ganzen verbunden ist. Und auf allen diesen praktischen Beratungen traten Frauen neben den Männern auf. Für alle wurde offenbar, was für eine Kraft bei uns die werktätige Frau geworden ist, wie laut ihre Stimme schallt, wie kräftig sie mit anpackt bei der sozialistischen Umgestaltung des ganzen Lebens. Man denkt unwillkürlich an die Worte, die
Lenin 1919 in dem Artikel
"Die große Initiatiative "sagte:
"Nehmt die Lage der Frau. Keine einzige demokratische Partei in der Welt, keine der noch so vorgeschrittenen Republiken hat in Jahrzehnten in dieser Hinsicht auch nur den hundertsten Teil dessen getan, was wir schon im ersten Jahr unserer Macht getan haben. Wir haben buchstäblich keinen Stein auf dem anderen gelassen von den niederträchtigen Gesetzen über die Ungleichheit der Frau, über die Scheidungserschwerung, über die an die Scheidung. geknüpften erbärmlichen Formalitäten, über die Nichtanerkennung der unehelichen Kinder, über das Aufspüren ihrer Väter usw., von den Gesetzen, deren Reste in allen zivilisierten Ländern zur Schande der Bourgeoisie und des Kapitalismus noch zahlreich anzutreffen sind. Wir haben tausendmal recht, stolz auf das zu. sein, was wir auf diesem Gebiet geleistet haben.
Aber je sauberer wir den Boden von dem Gerümpel der alten bürgerlichen Gesetze und Institutionen aufgeräumt haben, desto klarer ist es für uns geworden, daß dies nur das Aufräumen des Bodens für den Bau, aber noch nicht der Bau selbst ist."
(Sämtliche Werke, Band 24)
Nachdem die Sowjetmacht der Frau die Teilnahme an der Regierung des Landes gesichert hatte, stellte sie sich die Aufgabe, die Frau auch in den sozialistischen Aufbau einzubeziehen.
Gleichfalls 1919 sagte Lenin in seiner Rede auf der IV. Moskauer Stadtkonferenz der Parteilosen:
"Dieses von der Sowjetmacht begonnene Werk kann erst vorangebracht werden, wenn anstatt Hunderter von Frauen in ganz Rußland Millionen und aber Millionen von Frauen an ihm teilnehmen werden. Dann wird die Sache des sozialistischen Aufbaus - davon sind wir überzeugt - festbegründet sein. Dann werden die Werktätigen beweisen, daß sie auch ohne Gutsherren und Kapitalisten leben und wirtschaften können. Dann wird der sozialistische Aufbau in Rußland auf so festen Füßen stehen, daß keinerlei äußere und innere Feinde mehr der Sowjetrepublik gefährlich sind."
(Band 24)
In der seit 1919 verflossenen Zeit wurde Gewaltiges auf dem Gebiete des Mutter- und Säuglingsschutzes, des Schutzes der Frauenarbeit, der Hebung des Bewußtseins der Frau, der Heranziehung der Frau zur Regierung des Landes und zum sozialistischen Aufbau geleistet.
Ich will nur auf eine Tatsache hinweisen.
Früher hatten nur die Arbeiterinnen und Angestellten der Betriebe und Büro Anspruch auf gesetzlichen Schwangerschaftsurlaub. Das Stalinsche Kollektivwirtschaftsstatut sichert nun auch den Kollektivbäuerinnen diesen Urlaub (unter weiterer Anrechnung der durchschnittlichen Tagewerksleistung). Das ist eine ganze Umwälzung im Leben des Dorfes.
Jetzt stehen wir vor einer Maßnahme von größter Tragseite für den Mutter- und Säuglingsschutz.
Zahlreichen Erklärungen werktätiger Frauen über die Schädlichkeit der Abtreibung entgegenkommend, hat die Regierung der Sowjetunion zum Schutz der Gesundheit der werktätigen Frauen einen Gesetzentwurf über das Verbot der Abtreibung und gleichzeitig über die Verstärkung des staatlichen Beistandes für die - Wöchnerinnen und für Mütter mit großer Kinderzahl, über eine bedeutende Erweiterung der Zahl der Entbindungsheime, Kinderkrippen und Kindergärten, über die Verschärfung der strafrechtlichen Belangung wegen bösartiger Nichtleistung von Alimentenzahlungen und über Aenderungen der gesetzlichen Vorschriften über die Scheidung ausgearbeitet.
Angesichts der außerordentlichen Bedeutung dieser Frage und der Interessiertheit der breiten Bevölkerungsschichten an ihr hat das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjetunion am 23. Mai 1936 beschlossen, diesen Gesetzentwurf vor seiner Bestätigung durch die gesetzgebenden Instanzen, den breiten Massen zur Stellungnahme zu unterbreiten.
Das ganze Dasein unserer großen sozialistischen Heimat wird im Geiste Lenins umgestaltet. Unter aktiver Mitwirkung des Komsomol, unter Leitung der Partei, unter Führung des Genossen Stalin nimmt die sowjetische Gesellschaft der Mutter die Lasten der Erziehung der Kinder ab. Die Mutterschaft wird ihr mehr und mehr Freude, innige, durch nichts überschattete Freude bereiten. Und wie bereits die
"Engelmacherinnen" der Vorrevolutionszeit ins Reich der Vergangenheit versunken sind, so werden auch alle
"Abortarien" ins Reich der Vergangenheit versinken.
Das den Massen zur Stellungnahme unterbreitete Gesetz wird in den Kollektivwirtschaften und Sowjetgütern, in Fabriken und Werken, an allen Ecken und Enden des Landes der Sowjets erörtert, ernst und sachlich erörtert. Seit dem 27. Mai lesen wir in jeder Nummer aller Zeitungen Aeußerungen der werktätigen Frauen. Schon allein die Tatsache der Erörterung des Abtreibungsgesetzes durch Millionen ist eine Propaganda gegen die Abtreibung von ungeheurer Bedeutung. Die allgemeine Aufmerksamkeit ist auf die Frage der Verbesserung der Lebensbedingungen der werktätigen Frau konzentriert. An Geld spart die Regierung des schaffenden Volkes für diese Sache nicht. Die Erörterung dieses Gesetzentwurfs zeugt von einem ungeheuren Fortschritt und Wandel im ganzen Dasein, ein Wandel, wie er nur unter dem Sozialismus denkbar ist.
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last update : Mon Sep 06 19:44:11 CEST 2004 Seminar-AG - KB (Nord)
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