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Team Valentin N. Volosinov
Thema MARXISMUS UND SPRACHPHILOSOPHIE - Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft ( orginal )
Status 1929 - Einleitung und 1.Teil
Letzte Bearbeitung 05/2004
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0. Einleitung
1.0 1.Teil: Die Bedeutung der Probleme der Sprachphilosophie für den Marxismus
1.1. 1. Kapitel: Die Wissenschaft von den Ideologien und die Sprachphilosophie
1.2. 2. Kapitel: Das Problem des Verhältnisses von Basis und Überbau
1.3. 3. Kapitel: Sprachphilosophie und objektive Psychologie

0. Einleitung

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Bis heute gibt es noch keine einzige marxistische Arbeit über Sprachphilosophie. Zudem gibt es in marxistischen Arbeiten, die andere, diesem Thema verwandte Gebiete behandeln, keine einigermaßen bestimmten oder ausgearbeiteten Äußerungen über Sprache *1 . Deswegen ist es völlig verständlich, daß unsere Arbeit, die im Grunde genommen die erste ist, sich nur die allerbescheidensten Aufgaben stellen kann. Von einer einigermaßen systematischen und abgeschlossenen marxistischen Analyse auch nur der grundlegenden Probleme der Sprachphilosophie kann nicht die Rede sein. Eine solche Analyse könnte nur das Ergebnis einer langwierigen und kollektiven Arbeit sein. Wir mußten uns auf die bescheidene Aufgabe beschränken, lediglich die Hauptrichtung der wirklich marxistischen Überlegungen über die Sprache zu skizzieren sowie jene methodologischen Stützpunkte, auf die diese Überlegungen sich beim Herangehen an die konkreten Probleme der Linguistik stützen müssen.
Unsere Aufgabe wird besonders dadurch erschwert, daß es in der marxistischen Literatur noch keine abgeschlossene und allgemein anerkannte Bestimmung der spezifischen Wirklichkeit ideologischer Phänomene gibt *2 . Meistenteils werden sie als Bewußtseins-


*1
Die einzige marxistische Arbeit, die sich mit Sprache befaßt - das kürzlich erschienene Buch von I. Prezent "Proischozdenie reci i myslenija" [Der Ursprung der Sprache und des Denkens]** (1928, Priboj-Verlag) - hat genau genommen mit Sprachphilosophie wenig zu tun. In dem Buch werden die Probleme der Genesis der Sprache [reci] und des Denkens erforscht, wobei unter "rec" nicht Sprache als bestimmtes spezifisches ideologisches System verstanden wird, sondern als "Signal" im reflexologischen Sinne. Die Sprache als spezifisches Phänomen kann keinesfalls auf das Signal zurückgeführt werden; deswegen berühren die Untersuchungen I. Prezents die Sprache überhaupt nicht. Von ihnen führt kein direkter Weg zu den konkreten Fragen der Linguistik und der Sprachphilosophie.
*2
Die Begründer des Marxismus haben der Ideologie in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens einen bestimmten Platz zugewiesen: die Ideologie als Überbau, das Verhältnis des Überbaus zur Basis usw. Was aber die - für die allgemeine Theorie des historischen Materialismus zweitrangigen - Fragen nach dem Material des ideologischen Schaffens und den Bedingungen der ideologischen Kommunikation betrifft, so gibt es darauf noch keine konkrete und fertige Antwort.
**
Die in eckige Klammern aufgeführten Anmerkungen sind solche des Übersetzers.

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phänomene verstanden, d.h. psychologistisch. Ein solches Verständnis behinderte das richtige Herangehen an die spezifischen Eigenheiten der ideologischen Erscheinungen, die man keinesfalls auf die Eigentümlichkeiten des subjektiven Bewußtseins und der Psyche zurückführen kann. Deswegen konnte auch die Rolle der Sprache als einer spezifischen materiellen Wirklichkeit des ideologischen Schaffens nicht in genügendem Maße gewertet werden.
Man muß noch hinzufügen, da sich in allen jenen Bereichen, die von den Begründern - Marx und Engels - nur leicht oder überhaupt nicht gestreift worden sind, mechanistische Kategorien festgesetzt haben. Alle diese Bereiche befinden sich noch im Stadium des vordialektischen mechanistischen Materialismus. Das drückt sich darin aus, daß auf allen Gebieten der Wissenschaft von den Ideologien die Kategorie der mechanistischen Kausalität herrscht. Daneben hat noch das positivistische Verständnis der Empirie überlebt, die Verehrung der " Fakten ", die aber nicht dialektisch verstanden werden, sondern als etwas Unveränderliches und Stabiles *1 . Der philosophische Geist des Marxismus ist fast noch nicht in diese Gebiete eingedrungen.
Infolge der genannten Gründe waren wir auf dem Gebiet der Sprachphilosophie nahezu aller Möglichkeit beraubt, uns auf irgendwelche definitiven, positiven Errungenschaften anderer Wissenschaften von den Ideologien zu stützen. Sogar die Literaturwissenschaft, dank Plechanov das am meisten entfaltete Gebiet dieser Wissenschaften, konnte zu unserem Thema fast nichts beitragen.
Die von uns vorgelegte Arbeit verfolgt im Wesentlichen reine Forschungsziele. Indessen haben wir uns bemüht, ihr einen möglichst populären Charakter zu verleihen *2 .
Im ersten Teil der Arbeit bemühen wir uns, die Bedeutung der Probleme der Sprachphilosophie für den Marxismus als Ganzes zu begründen. Diese Bedeutung ist - wie wir schon gesagt haben - noch lange nicht in genügendem Maße gewertet. Dabei befinden sich die Probleme der Sprachphilosophie an der Grenze einer Rei-


*1
Der Positivismus ist im Grunde genommen eine Übertragung der wichtigsten Kategorien und Gewohnheiten des substanzialistischen Denkens aus dem Bereich des "Wesentlichen", der "Ideen" und des "Allgemeinen" in den Bereich einzelner Fakten.
*2
Natürlich wird vom Leser außer einer allgemeinen marxistischen Vorbereitung die Kenntnis wenigstens der Grundlagen der Linguistik gefordert.

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he äußerst wichtiger Gebiete der marxistischen Weltanschauung, die gegenwärtig in unserer Öffentlichkeit große Beachtung finden*1 .
Man muß noch unbedingt hinzufügen, daß in allerjüngster Zeit sowohl in Westeuropa als auch bei uns in der UdSSR*2 die Probleme der Sprachphilosophie ungewöhnlich scharfe und prinzipielle Bedeutung erlangen. Man kann sagen, daß die gegenwärtige bürgerliche Philosophie sich unter dem Zeichen des Wortes zu entwickeln beginnt, wobei diese neue Richtung im philosophischen Denken des Westens noch in ihren Anfängen liegt. Ein heftiger Kampf wird um das »Wort« und seinen systematischen Platz geführt, ein Kampf, dessen Analogie man nur im mittelalterlichen Streit zwischen Realismus, Nominalismus und Konzeptualismus finden kann. Und wirklich, die Tradition dieser philosophischen Richtungen des Mittelalters beginnen bis zu einem gewissen Grade im Realismus der Phänomenologen und dem Konzeptualismus der Neokantianer wiederaufzuleben.
In der Linguistik selbst erwacht nach der positivistischen Angst vor allem Prinzipiellen bei der Formulierung wissenschaftlicher Probleme und der für den späten Positivismus charakteristischen Feindlichkeit gegenüber allen Fragen der Weltanschauung das klare Bewußtsein ihrer allgemeinphilosophischen Voraussetzungen und ihrer Verbindung mit anderen Wissensgebieten. Im Zusammenhang damit wird auch die Krise spürbar, welche die Linguistik durchmacht, weil sie nicht imstande ist, allen diesen Ansprüchen zu genügen.
Den Problemen der Sprachphilosophie innerhalb der Einheit der marxistischen Weltanschauung ihren Platz zuzuweisen - das ist die Aufgabe des ersten Teils dieses Buches. Deswegen beweist der erste Teil nichts und gibt keinerlei abgeschlossene Antworten auf die dort aufgeworfenen Fragen: uns interessieren hier nicht so sehr die Verbindungen zwischen den Erscheinungen als vielmehr die Verbindungen zwischen den Problemen.


*1
Fragen der Literaturwissenschaft und Fragen der Psychologie.
*2
Allerdings überhaupt nicht in marxistischen Kreisen. Wir denken hier vielmehr an das erwachende Interesse dem Wort gegenüber, das von den "Formalisten" hervorgerufen wurde, aber auch an solche Erscheinungen wie die Bücher von G. Spett ("Esteticeskie fragmenty"; "Vnutrennjaja forma slova") ["Ästhetische Fragmente"; "Die innere Form des Wortes"] und schließlich das Buch von Losev "Filosofija imeni" ["Die Philosophie des Namens"]

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Der zweite Teil versucht, das Hauptproblem der Sprachphilosophie, das Problem des realen Seins sprachlicher Phänomene, zu lösen. Dieses Problem ist die Achse, um die sich die wichtigsten Fragen des philosophisch-linguistischen Denkens der neueren Zeit drehen. Zu ihm als zu ihrem Zentrum führen solche grundlegenden Probleme wie das Problem der Sprache, das Problem der sprachlichen Interaktion, das Problem des Verstehens, das Problem der Bedeutung und andere. Natürlich konnten wir bei der Lösung des Problems selbst nur die wichtigsten Wege andeuten. Eine ganze Reihe von Fragen bleiben nahezu unberührt. Eine ganze Reihe von in der Darlegung angedeuteten Fäden werden nicht bis zum Ende verfolgt. Doch anders kann es in einem wenig umfangreichen Buch nicht sein, das fast als erstes versucht, sich diesen Problemen vom marxistischen Standpunkt zu nähern.
Der letzte Teil der Arbeit ist die konkrete Untersuchung einer Frage aus der Syntax. Die Grundidee unserer ganzen Arbeit, die produktive und gesellschaftliche Natur der Äußerung, bedarf der Konkretisierung; es ist unumgänglich, ihre Bedeutung nicht nur im Bereich der allgemeinen Weltanschauung und der prinzipiellen Fragen der Sprachphilosophie zu zeigen, sondern auch an speziellen Einzelfragen der Sprachwissenschaft. Denn ist eine Idee wahr und produktiv, muß sich diese Produktivität ganz und gar erweisen. Doch auch das Thema des dritten Teils - das Problem der Äußerung - hat für sich genommen, große Bedeutung, die weit über die Grenzen der Syntax hinausgeht. Denn eine ganze Reihe äußerst wichtiger literarischer Erscheinungen - die Rede des Helden (überhaupt die Konstruktion des Helden), der Skaz, die Stilisierung, die Parodie - sind lediglich unterschiedliche Brechungen der »fremden Rede«. Das Verstehen der fremden Rede und der sie leitenden Gesetzmäßigkeiten ist eine notwendige Bedingung für die produktive Ausarbeitung aller von uns aufgezählten literarischen Erscheinungen*1 .
Außerdem ist die im dritten Teil aufgeworfene Frage selbst in der russischen linguistischen Literatur überhaupt noch nicht bear-


*1
Wie bekannt, lenken eben diese Erscheinungen gegenwärtig die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler auf sich. Natürlich müssen zum völligen Verständnis aller dieser aufgezählten Erscheinungen auch noch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Jedoch ist hier ohne eine Analyse der Formen der Wiedergabe der fremden Rede keine produktive Arbeit möglich.

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beitet. So wurde das Phänomen der uneigentlich direkten Rede (die schon bei Puskin vorkommt) noch von niemandem erwähnt oder beschrieben. Die vielfältigen Modifikationen der direkten und indirekten Rede sind überhaupt noch nicht erforscht.
Unsere Arbeit bewegt sich also in der Richtung vom Allgemeinen und Abstrakten zum Besonderen und Konkreten: von allgemeinphilosophischen Fragen gehen wir zu allgemeinlinguistischen über, und von da aus schon zu einer speziellen Frage, die an der Grenze von Grammatik (Syntax) und Stilistik liegt.

1.0 1.Teil: Die Bedeutung der Probleme der Sprachphilosophie für den Marxismus

1.1. 1. Kapitel: Die Wissenschaft von den Ideologien und die Sprachphilosophie

Die Probleme der Sprachphilosophie sind für den Marxismus gegenwärtig von außerordentlicher Aktualität und Wichtigkeit. In einer ganzen Reihe von äußerst wichtigen Kampfabschnitten der wissenschaftlichen Arbeit stößt die marxistische Methode gerade auf diese Probleme, und sie kann keinen weiteren produktiven Vorstoß wagen, solange sie diese keiner eigenständigen Untersuchung und Lösung unterzogen hat. Vor allem sind die Grundlagen der marxistischen Wissenschaft vom ideologischen Schaffen selbst die Grundlagen der Wissenschaftslehre, der Literaturwissenschaft, der Religionswissenschaft, der Morallehre usw., sehr stark mit den Problemen der Sprachphilosophie verflochten.
Jedes ideologische Produkt ist nicht nur ein Teil der - natürlichen oder gesellschaftlichen - Wirklichkeit wie z. B. ein physikalischer Körper, ein Produktionsinstrument oder ein Gebrauchsgegenstand, sondern es spiegelt außerdem, im Gegensatz zu den aufgezählten Phänomenen, eine andere Wirklichkeit außerhalb seiner selbst wider. Alles Ideologische hat Bedeutung: es repräsentiert, vertritt oder stellt etwas außerhalb seiner selbst Befindliches dar. Anders gesagt, es ist ein Zeichen. Ohne Zeichen gibt es keine Ideologie. Der physikalische Körper ist sozusagen sich selbst gleich, - er bedeutet nichts, sondern fällt ganz und gar mit seiner natürlichen besonderen Gegebenheit zusammen. Hier kann man von einer Ideologie nicht sprechen. Doch kann man jeden beliebigen physikalischen Körper als ein Bild von etwas auffassen, sagen wir, als Inkarnation der einem Gegenstand natürlich innewohnenden Trägheit und Notwendigkeit. Ein solches künstlerisch-symbolisches Bild dieser physischen Sache ist schon ein ideologisches Produkt. Die physische Sache ist

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in ein Zeichen verwandelt. Ohne daß sie aufhört, ein Teil der materiellen Wirklichkeit zu sein, spiegelt und bricht diese Sache in gewisser Weise eine andere Wirklichkeit. Das gleiche gilt auch für ein beliebiges Produktionsinstrument. Das Produktionsinstrument an sich hat keine Bedeutung, es besitzt nur eine feste Bestimmung: es dient diesem oder jenem Produktionszweck. Es dient dem Zweck als diese besondere Sache; es vertritt nichts und spiegelt nichts wider. Doch auch Produktionsinstrumente kann man in ideologische Zeichen verwandeln. So z. B. Hammer und Sichel in unserem Wappen, die hier eine rein ideologische Bedeutung haben. Ebenso kann man Produktionsinstrumente ideologisch verzieren. Schon die Instrumente des Urmenschen sind mit Abbildungen oder Ornamenten geschmückt, d. h., mit Zeichen bedeckt. Das Instrument selbst wird dadurch natürlich nicht zum Zeichen.
Weiter kann man dem Produktionsinstrument eine künstlerisch vollkommene Form geben, wobei die künstlerische Formgebung mit dem bestimmten Produktionsziel des Instruments eine harmonische Einheit bilden kann. In diesem Fall findet gleichsam die größtmögliche Annäherung, ja nahezu die Verschmelzung des Zeichens mit dem Produktionsinstrument statt. Doch sogar hier erkennen wir eine klare gedankliche Grenze: Das Instrument als solches wird nicht zum Zeichen, und das Zeichen als solches wird nicht zum Produktionsinstrument.
Man kann auch Güter des täglichen Bedarfs in ideologische Zeichen verwandeln. So werden z. B. Brot und Wein im christlichen Sakrament des Abendmahls zu religiösen Symbolen. Doch die Konsumgüter als solche sind keine Zeichen. Man kann sie, ebenso wie die Instrumente, mit den ideologischen Zeichen verschmelzen lassen, dennoch wird bei dieser Verschmelzung die deutliche gedankliche Grenze zwischen ihnen nicht verwischt. So wird das Brot in einer bestimmten Form gebacken, wobei diese Form sich keinesfalls allein aus der Bestimmung des Brotes als Konsumgut rechtfertigen läßt, sondern auch eine gewisse, wenn auch primitive, ideologische Zeichenbedeutung hat (z. B. der Kringel oder das Brötchen in Rosettenform). Auf diese Weise existiert neben den natürlichen Phänomenen, den technischen Gegenständen und den Konsumgütern eine besondere Welt, die Welt der Zeichen.
Auch die Zeichen sind besondere materielle Einheiten. Wie wir

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gesehen haben, kann jedes beliebige Ding aus der Natur, der Technik oder dem Bereich der Konsumgüter zum Zeichen werden, doch es bekommt dabei eine Bedeutung, die über die Grenzen seiner besonderen Gegebenheit hinausgeht. Das Zeichen existiert nicht einfach als Teil der Wirklichkeit; es ist die Widerspiegelung und Brechung einer anderen Wirklichkeit, wobei es diese Wirklichkeit verzerrt oder wahrheitsgetreu widergeben oder sie von einem bestimmten Gesichtspunkt wahrnehmen kann usw. Jedem Zeichen kann man Kriterien einer ideologischen Wertung zuordnen (Lüge, Wahrheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit, Güte usw.). Der Bereich der Ideologie fällt mit dem der Zeichen zusammen. Man kann zwischen ihnen ein Gleichheitszeichen setzen. Wo Zeichen sind, ist auch Ideologie. Alles ideologische hat Zeichencharakter.
Im Inneren des Zeichenbereichs, d. h., im Inneren der ideologischen Sphäre, gibt es große Unterschiede: hierhin gehören künstlerische Bilder ebenso wie religiöse Symbole, wissenschaftliche Formeln, Rechtsnormen usw. Jeder Bereich des ideologischen Schaffens orientiert sich auf seine Weise an der Wirklichkeit und bricht sie auf seine Weise. Jeder Bereich hat seine besondere Funktion in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens. Doch der Zeichencharakter ist die gemeinsame Bestimmung aller ideologischen Phänomene.
Jedes ideologische Zeichen ist nicht nur die Widerspiegelung oder der Schatten der Wirklichkeit, sondern auch ein materieller Bestandteil eben dieser Wirklichkeit. Jedes ideologische Zeichenphänomen manifestiert sich in irgendeinem Material, einem Ton, einer physikalischen Masse, einer Farbe, einer Körperbewegung usw. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit des Zeichens völlig objektiv und ordnet sich einer einheitlichen monistischen objektiven Forschungsmethode unter. Das Zeichen ist ein Phänomen der äußeren Welt. Das Zeichen selbst und alle durch es hervorgerufenen Wirkungen, d. h. jene Reaktionen, Handlungen und neuen Zeichen, die es in der es umgebenden Umwelt hervorbringt, bewegen sich in der äußeren Erfahrung.
Dieser Grundsatz ist äußerst wichtig. Wie elementar und selbstverständlich er auch scheinen mag, die Wissenschaft von den Ideologien hat bis heute noch nicht alle daraus folgenden Schlüsse gezogen. Die idealistische Kulturphilosophie und die psychologistische

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Kulturwissenschaft siedeln die Ideologie im Bewußtsein an*1 . Die Ideologie - so behaupten sie - ist ein Faktum des Bewußtseins. Der äußerliche Körper des Zeichens ist nur eine Hülle, ein technisches Mittel zur Realisierung einer inneren Wirkung des Verstehens.
Daß das Verstehen selbst sich nur in irgendeinem Zeichenmaterial verwirklichen kann (z. B. in der inneren Rede), wird sowohl vom Idealismus als auch vom Psychologismus außer acht gelassen. Es wird außer acht gelassen, daß das Zeichen dem Zeichen gegenübersteht und daß das Bewußtsein selbst sich nur durch eine materielle Verkörperung im Zeichen realisieren und zu einem wirklichen Faktum werden kann. Denn das Verstehen des Zeichens ist nichts anderes als das Beziehen eines wahrgenommenen Zeichens auf andere, schon bekannte Zeichen. Mit anderen Worten: Verstehen ist eine Erwiderung auf Zeichen mit Zeichen. Und diese Kette von ideologischem Schaffen und Verstehen, die sich von Zeichen zu Zeichen und von da aus zu neuen Zeichen bewegt, ist einheitlich und kontinuierlich: von einem Glied, das Zeichencharakter hat und etwas Materielles ist, gehen wir zum nächsten, ebensolchen Glied über. Und nirgends wird die Kette unterbrochen, an keiner Stelle versinkt sie in ein inneres Sein, das immateriell oder nicht im Zeichen verkörpert wäre. Diese ideologische Kette spannt sich von einem individuellen Bewußtsein zum anderen und vereinigt diese. Denn Zeichen entstehen nur im Prozeß der Interaktion eines individuellen Bewußtseins mit einem anderen. Auch das individuelle Bewußtsein selbst ist voll von Zeichen. Das Bewußtsein wird erst dadurch zum Bewußtsein, daß es sich mit ideologischem Inhalt füllt, resp. solchem, das Zeichencharakter trägt, also nur im Prozeß der gesellschaftlichen Interaktion.


*1
Man muß darauf hinweisen, daß sich - was dies betrifft - gegenwärtig bei den Neokantianern eine Wende abzeichnet. Wir denken dabei an das letzte Buch Cassierers "Philosophie der symbolischen Formen" Bd. I. 1923. Ohne den Boden des Bewußtseins zu verlassen, hält Cassierer die Repräsentation für seinen wichtigsten Zug. Jedes Bewußtseinselement stellt etwas dar, erfüllt eine symbolische Funktion. Das Ganze ist in einem Teil gegeben, und der Teil versteht sich nur aus dem Ganzen. Nach Cassierer ist die Idee ebenso sinnlich wie die Materie, jedoch ist es die Sinnlichkeit eines symbolischen Zeichens, eine repräsentative Sinnlichkeit.

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So tief die methodologischen Unterschiede zwischen der idealistischen Kulturphilosophie und der psychologistischen Kulturwissenschaft auch sein mögen, sie begehen den gleichen grundlegenden Fehler. Indem sie die Ideologie im Bewußtsein lokalisieren, verwandeln sie die Wissenschaft von den Ideologien in eine Wissenschaft vom Bewußtsein und seinen Gesetzen, ganz gleich, ob diese transzendental oder erfahrungspsychologisch sind.
Dieser Tatsache ist sowohl die grundsätzliche Verzerrung der zu erforschenden Wirklichkeit als auch das methodologische Durcheinander in der Wechselbeziehung der einzelnen Wissensgebiete zuzuschreiben. Das ideologische Schaffen, ein materielles und gesellschaftliches Faktum, wird in den Rahmen des individuellen Bewußtseins gepreßt. Andererseits verliert das individuelle Bewußtsein selbst jede Stütze in der Wirklichkeit. Es wird alles oder nichts.
Im Idealismus wird das Bewußtsein alles, es ist irgendwo über dem Sein angesiedelt und bestimmt es. In Wirklichkeit ist dieser Beherrscher des Weltalls im Idealismus nur die Hypostasierung einer abstrakten Verbindung zwischen den allgemeinsten Formen und Kategorien des ideologischen Schaffens.
Umgekehrt ist für den psychologistischen Positivismus das Bewußtsein nichts; es ist die Gesamtheit zufälliger psychophysiologischer Reaktionen, als deren Ergebnis wie durch ein Wunder das vernünftige und einheitliche ideologische Schaffen entsteht.
Die objektive soziale Gesetzmäßigkeit des ideologischen Schaffens muß, wenn sie fälschlich als Gesetzmäßigkeit des individuellen Bewußtseins interpretiert wird, notwendig ihren wirklichen Platz innerhalb des Seins verlieren; entweder verschwindet sie in den transzendentalen Höhen über dem Sein oder versinkt in den vorsozialen Niederungen des psychophysischen biologischen Subjekts.
Man kann jedoch die Ideologie als solche weder aus übermenschlichen noch aus vormenschlich-animalischen Wurzeln ableiten. Ihr wirklicher Platz im Sein ist das besondere, gesellschaftliche, vom Menschen geschaffene Zeichenmaterial. Das Spezifische der Ideologie besteht eben darin, daß sie sich zwischen den organisierten Individuen befindet, daß sie das Medium ihrer Kommunikation ist.
Zeichen können nur auf einem interindividullen Territorium entstehen, wobei dieses Territorium nicht »natürlich« im eigentli-

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chen Sinne dieses Wortes ist*1 : auch zwischen zwei homo sapiens entstehen keine Zeichen. Es ist notwendig, daß die beiden Individuen gesellschaftlich organisiert sind, daß sie eine Gemeinschaft bilden. Erst dann kann zwischen ihnen das Medium der Zeichen entstehen. Das individuelle Bewußtsein kann hierbei nicht nur nichts erklären, sondern bedarf umgekehrt selbst einer Erklärung aus dem sozialen ideologischen Milieu.
Das individuelle Bewußtsein ist ein gesellschaftlich-ideologisches Faktum. Solange dieser Grundsatz mit allen aus ihm entspringenden Folgen nicht anerkannt wird, kann es weder eine objektive Psychologie noch eine objektive Wissenschaft von den Ideologien geben.
Gerade das Problem des Bewußtseins bringt die größten Schwierigkeiten mit sich und schafft das unendliche Durcheinander in allen Fragen, die sowohl mit der Psychologie als auch mit der Wissenschaft von den Ideologien verbunden sind. Letztendlich wurde das Bewußtsein zum asylum ignorantiae aller philosophischen Gebäude. Es wurde zum Depot aller ungelösten Probleme, aller unzerlegbaren Rückstände. Anstatt nach einer objektiven Definition des Bewußtseins zu suchen, wurde es benutzt, um alle festen objektiven Definitionen zu subjektivieren und zu verflüssigen.
Die objektive Definition des Bewußtseins kann nur eine soziologische sein. Man kann das Bewußtsein nicht unmittelbar aus der Natur ableiten, wie es der naive mechanistische Materialismus und die moderne objektive (biologische, behavioristische oder reflexologische) Psychologie versuchten und noch versuchen. Die Ideologie läßt sich nicht vom Bewußtsein ableiten, wie dies der Idealismus und der psychologistische Positivismus tun. Das Bewußtsein bildet und manifestiert sich im Material der Zeichen, das von einem organisierten Kollektiv im Prozeß gesellschaftlicher Kommunikation geschaffen wurde. Das individuelle Bewußtsein nährt sich von Zeichen, erwächst aus ihnen und spiegelt in sich ihre Logik und ihre Gesetzmäßigkeit wider. Die Logik des Bewußtseins ist die Logik der ideologischen Kommunikation, der Interaktion einer Gemeinschaft in Zeichen. Wenn wir das Bewußtsein seines


*1
Die Gesellschaft ist natürlich auch ein Teil der Natur, der aber qualitativ verschieden ist und über seine eigenen Gesetzmäßigkeiten verfügt.

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ideologischen Zeicheninhalts berauben, bleibt von ihm nichts mehr übrig. Das Bewußtsein kann nur in einem Bild Zuflucht finden, in einem Wort, einer bedeutungsvollen Geste usw. Außerhalb dieses Materials bleibt nur der nackte physiologische Akt, der nicht vom Bewußtsein, d.h. nicht durch Zeichen erleuchtet und interpretiert ist.
Aus allem oben Gesagten ergibt sich folgende methodologische Position: die Wissenschaft von den Ideologien hängt in keiner Weise von der Psychologie ab und stützt sich nicht auf sie. Im Gegenteil, wie wir in einem der folgenden Kapitel ausführlicher zeigen werden, muß sich die objektive Psychologie auf die Wissenschaft von den Ideologien stützen. Die Wirklichkeit ideologischer Phänomene ist die objektive Wirklichkeit der gesellschaftlichen Zeichen. Die Gesetze dieser Wirklichkeit sind die Gesetze der Kommunikation durch Zeichen. Sie werden unmittelbar durch die Gesamtheit der sozioökonomischen Gesetze bestimmt. Die ideologische Wirklichkeit ist der unmittelbare Überbau über der ökonomischen Basis. Das individuelle Bewußtsein ist nicht der Architekt des ideologischen Überbaus, sondern nur ein Bewohner, der im sozialen Gebäude der ideologischen Zeichen Obdach gefunden hat.
Indem wir die ideologischen Phänomene und ihre Gesetzmäßigkeit vorläufig vom individuellen Bewußtsein trennten, haben wir sie umso enger mit den Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen Kommunikation verbunden. Die Wirklichkeit der Zeichen wird ganz von dieser Kommunikation bestimmt, Denn das Sein des Zeichens ist nichts anderes als die Materialisierung dieser Kommunikation. Das gilt für alle ideologischen Zeichen.
Doch nirgends drückt sich dieser Zeichencharakter und diese umfassende und allseitige Bedingtheit durch die Kommunikation so klar und deutlich aus wie in der Sprache. Das Wort ist das ideologische Zeichen par excellence. Die ganze Wirklichkeit des Wortes geht völlig auf in seiner Funktion, Zeichen zu sein. In ihm gibt es nichts, was dieser Funktion gegenüber gleichgültig oder nicht von ihr hervorgebracht wäre. Das Wort ist das reinste und feinste Medium der sozialen Kommunikation.
Allein diese Fähigkeit des Wortes, zu bezeichnen und zu repräsentieren, sowie die außerordentliche Klarheit seiner Zeichenstruktur, würden genügen, um dem Wort eine Schlüsselstellung in-

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nerhalb der Wissenschaft von den Ideologien zuzuweisen. Die grundlegenden allgemein ideologischen Formen der Zeichenkommunikation können am besten am Wortmaterial enthüllt werden.
Doch das ist noch nicht alles. Das Wort ist nicht nur das charakteristischste und reinste Zeichen, es ist außerdem ein neutrales Zeichen. Das ganze übrige Zeichenmaterial ist auf die verschiedenen Bereiche des ideologischen Schaffens spezialisiert. Jeder Bereich hat sein eigenes ideologisches Material und formt seine spezifischen Zeichen und Symbole, die in anderen Bereichen nicht anwendbar sind. Hier wird das Zeichen aus seiner spezifischen ideologischen Funktion heraus geschaffen und ist von ihr nicht zu trennen. Das Wort jedoch steht der spezifischen ideologischen Funktion neutral gegenüber. Es kann jede beliebige ideologische Funktion erfüllen, eine wissenschaftliche, ästhetische, moralische oder religiöse.
Außerdem existiert noch ein ungeheurer Bereich der ideologischen Kommunikation, der sich nicht irgendeiner ideologischen Sphäre unterordnen läßt. Dies ist die Kommunikation des täglichen Lebens. Diese Kommunikation ist außerordentlich reichhaltig und wichtig. Einesteils berührt sie unmittelbar die Produktionsprozesse, andererseits die Sphäre der verschiedenen herausgebildeten und spezialisierten Ideologien.
Über diesen besonderen Bereich der Ideologie des täglichen Lebens werden wir im folgenden Kapitel ausführlicher sprechen. Hier wollen wir nur betonen, daß das Material der alltäglichen Kommunikation hauptsächlich das Wort ist. Die sogenannte Umgangssprache und ihre Formen sind gerade hier in Bereich der alltäglichen Ideologie lokalisiert.
Das Wort besitzt noch eine im höchsten Grade wichtige Besonderheit, die es zum vorherrschenden Medium des individuellen Bewußtseins macht. Obgleich die Wirklichkeit des Wortes, - und das gilt für jedes Zeichen - zwischen den Individuen situiert ist, wird das Wort zugleich vom individuellen Organismus produziert ohne die Hilfe von irgendwelchen Instrumenten oder irgendwelchem Material außerhalb des Körpers. Dadurch wurde die Rolle des Wortes als Zeichenmaterial des inneren Lebens - des Bewußtseins bestimmt (innere Rede). Denn das Bewußtsein konnte sich nur entwickeln, wenn es über ein bewegliches Material verfügte, das

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mit dem Körper ausgedrückt werden konnte. Und das Wort war ein solches Material. Es kann als Zeichen für den - um es so zu nennen - inneren Gebrauch dienen; es kann sich als Zeichen verwirklichen, ohne schon ganz ausgedrückt zu werden. Deswegen ist das Problem des individuellen Bewußtseins als eines inneren Wortes (und überhaupt des inneren Zeichens) eins der wichtigsten Probleme der Sprachphilosophie.
Gleich von Anfang an wird klar, daß es unmöglich ist, sich diesem Problem mit Hilfe der üblichen Begriffe von Wort und Sprache, wie sie von der nichtsoziologischen Linguistik und Sprachphilosophie aufgestellt wurden, zu nähern. Man braucht eine tiefgehende und subtile Analyse des Wortes als eines sozialen Zeichens, um seine Funktion als Medium des Bewußtseins zu verstehen.
Aus dieser außerordentlichen Rolle des Wortes als Medium des Bewußtseins ergibt sich, daß das Wort jedes ideologische Schaffen überhaupt als notwendiger lngredient begleitet. Es begleitet und kommentiert jeden ideologischen Akt. Kein Prozeß, der zum Verstehen eines beliebigen ideologischen Phänomens (seien es Bilder, Musik, Rituale oder Handlungen) führt, kann sich ohne die Mitwirkung der inneren Rede verwirklichen. Alle Manifestationen des ideologischen Schaffens ebenso wie alle anderen Zeichen, die nicht Wortzeichen sind, werden vom sprachlichen Element umflossen; sie versinken darin und lassen sich nicht völlig von ihm isolieren oder losreißen.
Das heißt natürlich nicht, daß das Wort jedes andere ideologische Zeichen ersetzen kann. Nein, alle wesentlichen spezifischen ideologischen Zeichen sind durch Wörter nicht vollkommen zu ersetzen. Prinzipiell kann man ein musikalisches Werk oder ein Bild nicht adäquat mit Worten wiedergeben. Ein religiöses Ritual kann man nicht gänzlich durch Worte ersetzen. Es gibt keinen adäquaten verbalen Ersatz für auch nur die kleinste alltägliche Handlung. Dies leugnen, hieße dem banalsten Rationalismus und der äußersten Vereinfachung huldigen. Doch gleichzeitig stützen sich alle diese durch Wörter unersetzbaren ideologischen Zeichen auf das Wort und werden vom Wort begleitet, wie Gesang von Musik begleitet wird.
Kein kulturelles Zeichen, wenn es einmal erfaßt und verstanden ist, bleibt isoliert, sondern jedes geht in die Einheit des sprachlich konstituierten Bewußtseins ein. Das Bewußtsein hat die Fähigkeit, irgendeinen verbalen Zugang zu diesem zu finden. Deswegen bil-

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den sich um jedes ideologische Zeichen herum gleichsam auseinanderstrebende Kreise von verbalem Nachklang und Widerhall. Jede ideologische Brechung des werdenden Seins, gleichgültig in welchem Bedeutungsmaterial, wird von der ideologischen Brechung im Wort als einer notwendigen Nebenwirkung begleitet. Das Wort ist in jedem Akt des Verstehens oder der Interpretation präsent.
Alle von uns untersuchten Besonderheiten des Wortes, seine Reinheit als Zeichen, seine ideologische Neutralität, seine Mitwirkung an der alltäglichen Kommunikation, seine Fähigkeit, zum inneren Wort zu werden, und schließlich seine obligatorische Präsenz als Begleiterscheinung eines jeden Bewußtseinsaktes, - dies alles macht das Wort zu einem grundlegenden Objekt der Wissenschaft von den Ideologien. Die Gesetze der ideologischen Brechung des Seins im Zeichen und im Bewußtsein, ihre Formen und der Mechanismus dieser Brechung müssen vor allem am Wortmaterial untersucht werden. Das Hineintragen der marxistischen soziologischen Methode in alle Tiefen und Verästelungen der »immanenten« ideologischen Strukturen ist nur möglich auf der Grundlage einer vom Marxismus selbst herausgearbeiteten Sprachphilosophie als einer Philosophie des ideologischen Zeichens.

1.2. 2. Kapitel: Das Problem des Verhältnisses von Basis und Überbau

Eines der Grundprobleme des Marxismus, das Problem des Verhältnisses von Basis und Überbau, ist in einer ganzen Reihe seiner wesentlichen Momente eng mit Problemen der Sprachphilosophie verbunden und könnte von der Lösung oder wenigstens einer umfassenden und gründlichen Auslegung dieser Fragen viel profitieren.
Wenn man die Frage stellt, auf welche Weise die Basis die Ideo-

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logie bestimmt, so bekommt man darauf die richtige, aber sehr allgemeine und daher vieldeutige Antwort: kausal. Wenn man unter Kausalität eine mechanistische Kausalität versteht, wie die positivistischen Vertreter des naturwissenschaftlichen Denkens sie bis heute verstehen und definieren, so ist eine solche Antwort grundfalsch und widerspricht den elementarsten Grundlagen des dialektischen Materialismus.
Das Anwendungsgebiet der mechanistischen Kausalität ist sehr begrenzt, und selbst in den Naturwissenschaften wird es in dem Maße enger, wie deren Grundlagen sich dialektisch erweitern und vertiefen. Was jedoch die wesentlichen Fragen des historischen Materialismus und der Wissenschaft von den Ideologien betrifft, so kann hier von einer Anwendung dieser inerten Kategorie nicht die Rede sein.
Die Herstellung einer Verbindung zwischen der Basis und einer isolierten, aus einem ganzen und einheitlichen Kontext gerissenen Einzelerscheinung hat keinerlei Erkenntniswert. Es ist notwendig, vor allem die Bedeutung einer gegebenen ideologischen Veränderung im Kontext der entsprechenden Ideologie zu bestimmen und dabei zu berücksichtigen, daß jeder ideologische Bereich ein einheitliches Ganzes bildet, das mit allen seinen Bestandteilen auf die Veränderung der Basis reagiert. Deswegen muß die Erklärung von solchen Veränderungen die ganze qualitative Verschiedenheit der im Wechselspiel stehenden Bereiche berücksichtigen und alle Etappen beachten, die die Veränderung durchläuft. Nur unter diesen Bedingungen wird das Resultat der Analyse nicht die äußerliche Übereinstimmung von zwei zufälligen und auf verschiedenen Ebenen liegenden Erscheinungen sein, sondern der Prozeß des wirklichen dialektischen Werdens der Gesellschaft, der von der Basis ausgeht und sich im Überbau vollendet.
Wenn man das Spezifische des ideologischen Zeichenmaterials ignoriert, wird die ideologische Erscheinung simplifiziert. Entweder wird in ihr nur das rational-inhaltliche Moment berücksichtigt und erklärt (z. B. der direkte Sinn irgendeines künstlerischen Bildes von der Art: Rudin = »überflüssiger Mensch«), wobei dieses Moment auf die Basis bezogen wird (z. B. der Adel verarmt, daher der »überflüssige Mensch« in der Literatur). Oder aber es wird umgekehrt nur das äußere, technische Moment der ideologischen Erscheinung herausgestellt (z. B. die Technik einer Architekturanlage oder die chemische Zusammensetzung der Farben) und

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unmittelbar vom technischen Niveau der Produktion abgeleitet.
Beide Arten der Ableitung der Ideologie aus der Basis gehen am Wesen der ideologischen Erscheinung vorbei. Wenn auch die aufgestellte Behauptung wahr ist, wenn auch die »überflüssigen Menschen« in der Literatur tatsächlich im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Zerrüttung des Landadels aufgetaucht sind, so folgt daraus erstens noch lange nicht, daß wirtschaftliche Erschütterung mechanistisch und kausal »überflüssige Menschen« auf die Romanseiten bringt (die Unsinnigkeit einer solchen Annahme ist ganz offensichtlich); und zweitens hat eine solche Übereinstimmung solange keinen Erkenntniswert, solange die spezifische Rolle des »überflüssigen Menschen« in der künstlerischen Struktur des Romans nicht geklärt ist, ebenso wie die spezifische Rolle des Romans im sozialen Leben als Ganzem.
Es ist doch klar, daß zwischen den Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse und dem Erscheinen des »überflüssigen Menschen« im Roman ein sehr langer Weg liegt, der eine Reihe von qualitativ verschiedenen Sphären durchquert, von denen jede ihre eigene spezifische Gesetzmäßigkeit und Originalität besitzt. Klar ist auch, daß der »überflüssige Mensch« im Roman nicht ohne jede Verbindung zu anderen Elementen des Romans aufgetaucht ist. Im Gegenteil, der Roman als einheitliches organisches Ganzes wurde seinen spezifischen Gesetzen gemäß umgestaltet. Entsprechend umgestaltet wurden auch alle anderen Elemente des Romans, seine Komposition, sein Stil usw. Doch auch diese organische Umgestaltung des Romans ging in enger Verbindung mit Veränderungen in der gesamten Literatur vor sich.
Das sehr komplizierte Problem der Wechselbeziehung von Basis und Überbau, dessen produktive Behandlung die Aufarbeitung ungeheurer Mengen von Voruntersuchungsmaterial voraussetzt, kann in bedeutendem Maße am Material des Wortes geklärt werden.
Denn das Problem wie es uns hier interessiert, besteht in seinem Wesen darin, wie das wirkliche Sein (die Basis) das Zeichen bestimmt, und wie das Zeichen das werdende Sein reflektiert und refraktiert.
Die von uns im vorigen Kapitel untersuchten Eigentümlichkeiten des Wortes als ideologischem Zeichen lassen es als geeignetes Material für eine prinzipielle Orientierung des ganzen Problems erscheinen. Seine Reinheit als Zeichen ist in diesem Fall weniger wichtig als seine gesellschaftliche Allgegenwärtigkeit. Denn das

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Wort schleicht sich förmlich in jede Wechselbeziehung und jeden Kontakt der Menschen untereinander: in die gemeinsame Arbeit, die ideologische Kommunikation, die zufällige alltägliche Begegnung, die politische Wechselbeziehungen usw. Im Wort verwirklichen sich die unzähligen Fäden, welche alle Gebiete der Kommunikation aneinanderreihen. Es ist völlig klar, daß das Wort der empfindlichste Index sozialer Veränderungen sein muß, besonders da, wo diese Veränderungen sich erst anzuzeigen beginnen, wo sie sich noch nicht gestaltet, noch keinen Platz in einem vollausgebildeten System gefunden haben. Das Wort ist die Sphäre, in der sich allmählich jene quantitativen Veränderungen speichern, denen es noch nicht gelungen ist, in eine neue ideologische Qualität überzugehen, die noch keine neue, fertige Form hervorbringen konnten. Das Wort hat die Fähigkeit, auch die feinsten und flüchtigsten Übergangsphasen sozialer Veränderungen zu fixieren.
Die sogenannte gesellschaftliche Psyche - nach der Theorie Plechanovs und des größten Teils der Marxisten - ein Übergangsglied zwischen der soziopolitischen Struktur und der Ideologie im engeren Sinne (Wissenschaft, Kunst, usw.), existiert als reale und materielle sprachliche Interaktion. Losgelöst von diesem realen Prozeß der Kommunikation durch die Rede (und überhaupt durch Zeichen), verwandelt sich die gesellschaftliche Psyche in einen metaphysischen oder mythischen Begriff (die »kollektive Seele«, die »kollektive innere Psyche«, die »Volksseele« usw.).
Die gesellschaftliche Psyche äußert sich nicht irgendwo innen (in den »Seelen« der kommunizierenden Individuen), sondern ganz und gar außen: im Wort, in der Geste, in der Tat. In ihr liegt nichts Unausgesprochenes, Inneres; alles liegt außen, alles befindet sich im Austausch, alles wirkt im Material, und vor allem, im Material des Wortes.
Die Produktionsverhältnisse und die von ihnen unmittelbar bedingte soziopolitische Struktur bestimmen alle Möglichkeiten des sprachlichen Kontaktes der Menschen untereinander, alle Formen und Arten ihrer verbalen Kommunikation: bei der Arbeit, im politischen Leben, im ideologischen Schaffen. Durch die Bedingungen, Formen und Typen der sprachlichen Kommunikation entstehen ihrerseits sowohl die Formen als auch die Themen der Sprechakte.
Die gesellschaftliche Psyche ist vor allem jenes Medium der vielfältigen Sprechakte, das von allen Seiten alle Formen und Ar-

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ten des beständigen ideologischen Schaffens umfließt: Lobbygespräche, Meinungsaustausch im Theater, Konzert oder anderen öffentlichen Zusammenkünften, zufälliger Wortwechsel, alle Arten der verbalen Reaktion auf alltägliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die innersprachliche Art und Weise, sich selbst und seine gesellschaftliche Situation zu erkennen usw. usw. Die gesellschaftliche Psyche existiert vornehmlich in den verschiedensten Formen der »Äußerung«, in der Form innerer und äußerer kleiner Redegenres, die bisher überhaupt noch nicht erforscht sind. Alle diese Sprechakte hängen natürlich mit anderen Typen der Manifestation und Interaktion durch Zeichen zusammen, mit Mimik, Gestik usw.
Alle diese Formen der sprachlichen Interaktion sind eng mit den Bedingungen der jeweiligen sozialen Situation verbunden und reagieren sehr sensibel auf alle Schwankungen innerhalb der Sozialen Atmosphäre. Hier, im Inneren der im Wort materialisierten gesellschaftlichen Psyche sammeln sich alle kaum spürbaren Veränderungen und Wandlungen, um später ihren Ausdruck in vollendeten ideologischen Produkten zu finden.
Aus dem Gesagten ergibt sich folgendes: Die gesellschaftliche Psyche muß von zwei Seiten betrachtet werden: erstens vom Standpunkt ihres Inhalts, d. h. vom Standpunkt jener Themen aus, die gerade im gegebenen Moment aktuell sind, und zweitens vom Standpunkt jener Formen und Typen der sprachlichen Kommunikation, in der die Themen verwirklicht (beurteilt, ausgedrückt, erlebt, durchdacht) werden.
Bisher war die Aufgabe der Erforschung der gesellschaftlichen Psyche nur auf den ersten Standpunkt beschränkt, d. h. auf die alleinige Bestimmung ihrer thematischen Bestandteile. Dabei wurde sogar die Frage, wo man die objektiven Dokumente, d. h, den materiellen Ausdruck der gesellschaftlichen Psyche suchen soll, nicht mit der nötigen Klarheit gestellt. Und hier spielten solche Begriffe wie »Bewußtsein«, »Psyche« oder »innere Welt« eine traurige Rolle, denn sie entbanden von der Notwendigkeit, klare materielle Formen zu suchen, in denen die gesellschaftliche Psyche sich ausdrückt.
Indessen hat die Frage nach den konkreten Formen vorrangige Bedeutung. Es geht hier natürlich nicht um die Quellen unseres Wissens über gesellschaftliche Psyche in einer bestimmten Epoche (z. B. Memoiren, Briefe, Werke der Literatur) und auch nicht um

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die Quellen unseres Verständnisses für den »Zeitgeist«, es geht vielmehr um die Formen der konkreten Verwirklichung dieses Geistes, d. h. um die Formen der alltäglichen Kommunikation durch Zeichen.
Eine Typologisierung dieser Formen ist eine der vordringlichsten Aufgaben des Marxismus.
Im folgenden werden wir im Zusammenhang mit dem Problem der Äußerung und des Dialogs die Probleme der Redegenres noch einmal streifen. An dieser Stelle wollen wir nur folgendes anmerken.
Jede Epoche und jede soziale Gruppe verfügt über ein eigenes Repertoire von Redeformen aus dem Bereich der alltäglich-ideologischen Kommunikation. Einer jeden Gruppe gleichartiger Formen, d. h. einem jeden Redegenre aus dem täglichen Leben, entspricht eine bestimmte Gruppe von Themen. Zwischen der Kommunikationsform (z. B. einer unmittelbar technischen Kommunikation während der Arbeit), der Form der Äußerung (kurzer, sachlicher Wortwechsel) und dem Thema besteht eine untrennbare organische Einheit. Deswegen muß sich die Klassifizierung der Formen der Äußerung auf die Klassifizierung der Formen der sprachlichen Kommunikation stützen. Letztere werden ganz durch die Produktionsverhältnisse und die soziopolitische Struktur bestimmt. Eine ausführliche Analyse hätte uns gezeigt, welche überragende Bedeutung dem hierarchischen Moment in den Prozessen der sprachlichen Interaktion zukommt, welchen mächtigen Einfluß die hierarchische Organisation der Kommunikation auf die Formen der Äußerung ausübt. Sprachetikette, Redetakt und andere Formen der Anpassung der Äußerung an eine hierarchische Gesellschaftsstruktur erlangen im Prozeß der Herausbildung der grundlegenden Redegenres aus dem täglichen Leben eine enorme Bedeutung*1 .
Jedes Zeichen entsteht, wie wir wissen, bei gesellschaftlich organisierten Menschen im Prozeß ihrer Wechselbeziehungen. Deswegen werden die Zeichenformen vor allem sowohl von der sozialen


*1
Das Problem der alltäglichen Redegenres wird in der linguistischen und philosophischen Literatur erst in jüngster Zeit behandelt. Einer der ersten ernstzunehmenden Versuche, sich mit diesen Genres zu befassen, wenn auch ohne klare soziologische Orientierung, ist die Arbeit Leo Spitzers "Die italienische Umgangssprache" (1922). Mehr über Spitzer, seine Vorgänger und Mitarbeiter, später.

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Organisation der jeweiligen Menschen als auch von den unmittelbaren Bedingungen ihrer Interaktion bestimmt. Wenn sich diese Formen ändern, ändern sich auch die Zeichen. Eine der Aufgaben der Wissenschaft von den Ideologien muß sein, das soziale Leben des Wortzeichens zu verfolgen. Das Problem der Wechselwirkung von Zeichen und Sein kann nur bei einem solchen Ansatz einen konkreten Ausdruck finden, und nur unter dieser Bedingung erscheint der Prozeß der kausalen Bestimmung des Zeichens durch das Sein als der Prozeß des wirklichen Übergangs des Seins ins Zeichen, einer wirklichen Brechung des Seins im Zeichen.
Bei der Erfüllung dieser Aufgabe muß man sich an einige wesentliche Forderungen halten:
  1. Die Ideologie darf von der materiellen Wirklichkeit des Zeichens nicht getrennt werden (indem man sie ins »Bewußtsein« oder ähnliche nebulose und unerreichbare Regionen verbannt)
  2. Das Zeichen darf nicht von den konkreten Formen der gesellschaftlichen Kommunikation getrennt werden (denn das Zeichen ist Teil einer organisierten gesellschaftlichen Kommunikation, außerhalb deren es überhaupt nicht existieren oder sich in einen einfachen physischen Gegenstand verwandeln könnte)
  3. Die Kommunikation und ihre Formen dürfen nicht von ihrer materiellen Basis getrennt werden
Jedes ideologische Zeichen - und damit auch das Wort - das sich im Prozeß der sozialen Kommunikation realisiert, wird durch den gesellschaftlichen Gesichtskreis der jeweiligen Epoche und sozialen Gruppe bestimmt. Bisher haben wir von der Form des Zeichens gesprochen, die von den Formen der gesellschaftlichen Interaktion gestaltet wird. Jetzt nähern wir uns der anderen Seite, dem Inhalt des Zeichens, und dem Wertakzent, der jeden Inhalt begleitet.
In jeder Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung gibt es einen besonderen und begrenzten Kreis von Gegenständen, die der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zugänglich und durch diese Aufmerksamkeit als Werte akzentuiert sind. Nur diese Gegenstände formen sich zu Zeichen und werden zu Objekten der Zeichenkommunikation.
Wodurch wird dieser Kreis wertakzentuierter Gegenstände bestimmt?

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Wenn ein Gegenstand, aus welchem Bereich der Wirklichkeit er auch stammen mag - in den gesellschaftlichen Gesichtskreis einer Gruppe geraten und dort eine Zeichenreaktion hervorrufen will, muß er notwendigerweise mit den wesentlichen sozioökonomischen Voraussetzungen der Gruppe verbunden sein, muß er die Grundlagen der materiellen Existenz dieser Gruppe - und sei es nur am Rande - berühren.
Die individuelle Willkür kann dabei natürlich keinerlei Bedeutung haben. Da das Zeichen zwischen den Individuen in einem sozialen Milieu entsteht, muß auch der Gegenstand eine interindividuelle Bedeutung erlangen, denn nur dann kann er zum Objekt einer Zeichengestaltung werden. Mit anderen Worten: nur das kann in die Welt der Ideologie eingehen und sich in ihr formen und festigen, was einen gesellschaftlichen Wert gewonnen hat.
Deswegen sind alle ideologischen Akzente, obgleich sie durch eine individuelle Stimme (z. B. im Wort) oder überhaupt durch einen individuellen Organismus gesetzt werden, gesellschaftliche Akzente, die nach sozialer Anerkennung streben und nur dank dieser Anerkennung außen, im ideologischen Material, ihre Verwirklichung finden.
Einigen wir uns darauf, jene Wirklichkeit, die zum Objekt des Zeichens wird, das Thema des Zeichens zu nennen. Jedes vollendete Zeichen hat sein Thema. Und jeder sprachliche Akt hat sein Thema*1 .
Ein ideologisches Thema ist immer gesellschaftlich akzentuiert. Natürlich dringen alle diese gesellschaftlichen Akzente der ideologischen Themen auch ins individuelle Bewußtsein, das, wie wir wissen, durch und durch ideologisch ist. Hier verwandeln sie sich in so etwas wie individuelle Akzente, denn das individuelle Bewußtsein verwächst mit ihnen, als kämen sie aus ihm selbst, obgleich ihre Quelle woanders zu suchen ist. Der Akzent als solcher ist interindividuell. Der tierische Schrei als reine Reaktion auf den Schmerz eines individuellen Organismus trägt keinen Akzent. Er ist eine rein natürliche Erscheinung. Der Schrei rechnet mit keiner sozialen Atmosphäre, deswegen gibt es in ihm nicht einmal Ansätze zu einer Zeichengestaltung.


*1
Wie sich das Thema zur Semantik der einzelnen Wörter verhält, werden wir im folgenden genauer aufführen.

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Das Thema und die Form eines ideologischen Zeichens sind untrennbar miteinander verbunden und nur in der Abstraktion voneinander zu lösen. Denn letzten Endes sind es die gleichen Kräfte und die gleichen materiellen Voraussetzungen, die sowohl das eine wie auch das andere zum Leben erwecken.
Und wirklich: die gleichen ökonomischen Bedingungen bringen ein neues Element der Wirklichkeit in den sozialen Gesichtskreis und machen es gesellschaftlich bedeutsam und »interessant«, und sie, diese Kräfte, schaffen Formen der ideologischen Kommunikation (einer erkennenden, künstlerischen, religiösen usw.), die ihrerseits die Formen des Zeichenausdrucks bestimmen.
Auf diese Weise wachsen die Formen und Themen des ideologischen Schaffens in der gleichen Wiege auf und sind im Wesentlichen zwei Seiten ein und derselben Sache.
Diesen Prozeß des Eingehens der Wirklichkeit in die Ideologie, das Entstehen des Themas und das Entstehen der Form, kann man am besten am Material des Wortes verfolgen. In der Sprache hat sich der Prozeß des ideologischen Werdens auf zweierlei Weise widergespiegelt: einmal im großen, welthistorischen, von der Paläontologie der Sprachbedeutungen erforschten Maßstab, wo die Aufnahme von noch undifferenzierten Teilen der Wirklichkeit in den gesellschaftlichen Gesichtskreis der Urmenschen offengelegt wird, und im kleinen Maßstab im Rahmen der Gegenwart, denn das Wort gibt, wie wir wissen, empfindsam die feinsten Veränderungen des gesellschaftlichen Seins wieder.
Das Sein, das sich im Zeichen widerspiegelt, wird dort nicht einfach widergespiegelt, sondern gebrochen. Wodurch wird diese Brechung des Seins im ideologischen Zeichen bestimmt?
Sie wird bestimmt durch die Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Zeichengemeinschaft, d. h., durch den Klassenkampf.
Die Klasse fällt nicht mit der Zeichengemeinschaft zusammen, d. h. mit einer Gemeinschaft, welche für die ideologische Kommunikation die gleichen Zeichen benutzt. Denn auch die verschiedenen Klassen benutzen ein und dieselbe Sprache. Infolgedessen überschneiden sich in jedem ideologischen Zeichen unterschiedlich orientierte Akzente. Das Zeichen wird zur Arena des Klassenkampfes.
Diese gesellschaftliche Multiakzentuierung des Zeichens ist einer

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seiner wichtigsten Faktoren. Genau gesehen ist das Zeichen nur dank dieser Überschneidung der Akzente lebendig, flexibel und entwicklungsfähig. Ein Zeichen, das aus der Spannung des sozialen Kampfes ausgesondert wird und sich sozusagen außerhalb des Klassenkampfes befindet, muß notwendigerweise verkümmern, zur Allegorie degenerieren und zum Objekt nicht eines lebendigen Verständnisses, sondern der Philologie werden. Das historische Gedächtnis der Menschen ist voll von toten ideologischen Zeichen, die nicht mehr fähig sind, die Arena zu sein, in der die lebendigen gesellschaftlichen Akzente zusammenstoßen. Doch da die Historiker und Philologen sich immerhin noch ihrer erinnern, bewahren sie einen letzten Abglanz von Leben.
Indessen verwandelt der gleiche Faktor, der das ideologische Zeichen lebendig und veränderbar macht, es auch in ein Medium, welches das Sein bricht und sucht. Die herrschende Klasse ist bemüht, dem ideologischen Zeichen einen über den Klassen stehenden, ewigen Charakter zu verleihen, den in ihm stattfindenden Kampf der gesellschaftlichen Wertungen zu unterdrücken oder nach innen zu verlagern, es eindeutig zu machen.
In der Tat hat jedes ideologische Zeichen zwei Gesichter wie Janus. Jede lebendige Schmähung kann sich in ein Lob verwandeln, jede lebendige Wahrheit kann in den Ohren vieler klingen wie die größte Lüge. Diese innere Dialektik des Zeichens wird bis zur letzten Konsequenz nur in Zeiten sozialer Krisen oder revolutionärer Veränderungen offenbar. Unter den gewöhnlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens kann dieser im Inneren des ideologischen Zeichens vorhandene Widerspruch sich nicht bis zur letzten Konsequenz offenbaren, weil das ideologische Zeichen innerhalb der gerade herrschenden Ideologie immer etwas reaktionär und gleichsam bemüht ist, den vorhergegangenen Augenblick im dialektischen Strom des gesellschaftlichen Werdens zu stabilisieren und die Wahrheit von gestern als die Wahrheit von heute zu akzentuieren. Dadurch erklärt sich, warum das ideologische Zeichen in den Grenzen der herrschenden Ideologie die Wirklichkeit bricht und verzerrt.
So also stellt sich das Problem von Basis und Überbau dar. Unsere Aufgabe beschränkte sich auf die Konkretisierung einiger ihrer Seiten und auf die Klärung der Wege und Richtungen, die bei einer produktiven Ausarbeitung dieses Problemes eingeschlagen werden müssen. Uns war es wichtig, der Sprachphilosophie in-

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nerhalb dieser Ausarbeitung ihren Platz zuzuweisen. Am Material des Wortzeichens kann die Kontinuität des von der Basis zum Überbau verlaufenden dialektischen Wandlungsprozesses am besten und vollständigsten verfolgt werden. Die Kategorie der mechanistischen Kausalität bei der Erklärung ideologischer Erscheinungen kann am leichtesten auf der Grundlage der Sprachphilosophie überwunden werden.

1.3. 3. Kapitel: Sprachphilosophie und objektive Psychologie

Eine der grundlegendsten und wesentlichsten Aufgaben des Marxismus ist die Ausarbeitung der Theorie einer wahrhaft objektiven Psychologie, allerdings keiner biologischen oder physiologischen, sondern einer soziologischen. Im Zusammenhang damit steht vor dem Marxismus die schwere Aufgabe, einen objektiven, doch gleichzeitig empfindsamen und flexiblen Zugang zur bewußten subjektiven Psyche des Menschen zu finden, die gewöhnlich den Methoden der Selbstbeobachtung überlassen bleibt.
Weder die Biologie noch die Physiologie können diese Aufgabe bewältigen. Die bewußte Psyche ist ein ideologisch-soziales Faktum, das weder mit physiologischen, noch mit irgendwelchen anderen naturwissenschaftlichen Methoden erforscht werden kann. Es ist unmöglich, die subjektive Psyche auf irgendwelche Prozesse zurückzuführen, die sich innerhalb des geschlossenen, natürlichen, animalischen Organismus abspielen. Die Prozesse, die im Wesentlichen den Inhalt der Psyche bestimmen, spielen sich nicht im Organismus, sondern außerhalb seiner ab, wenn auch mit seiner Beteiligung.
Die subjektive menschliche Psyche kann nicht das Objekt einer naturwissenschaftlichen Analyse sein wie ein Gegenstand oder ein Prozeß aus der Natur; die subjektive Psyche ist das Objekt eines ideologischen Verstehens und einer verstehenden ideologisch-sozialen Interpretation. Ein verstandenes und interpretiertes psychi-

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sches Phänomen kann nur durch gesellschaftliche Faktoren erklärt werden, die das konkrete Leben des jeweiligen Individuums unter den Bedingungen eines sozialen Milieus bestimmen*1 .
Die erste prinzipielle Aufgabe, die sich daraus ergibt, ist die objektive Bestimmung der »inneren Erfahrung«, Es ist unumgänglich, die »innere Erfahrung« in die Einheit der objektiven äußeren Erfahrung einzuschließen.
Welche Art von Wirklichkeit gehört der subjektiven Psyche an? Die Wirklichkeit der inneren Psyche ist die Wirklichkeit des Zeichens. Ohne Zeichenmaterial gibt es keine Psyche. Es gibt physiologische Prozesse. Prozesse innerhalb des Nervensystems, doch es gibt keine subjektive Psyche als besondere Qualität des Seins, die sich radikal sowohl von den sich im Organismus abspielenden physiologischen Prozessen als auch von der den Organismus umgebenden Wirklichkeit, auf die die Psyche reagiert und die sie so oder anders widerspiegelt, unterscheidet. Der Art ihres Seins nach hat die subjektive Psyche gleichsam zwischen dem Organismus und der äußeren Welt ihren Platz, sie befindet sich auf der Grenze dieser beiden Wirklichkeitssphären. Hier findet eine Begegnung des Organismus mit der Außenwelt statt, doch ist diese Begegnung keine physische: der Organismus und die Welt treffen sich hier im Zeichen. Das psychische Erlebnis ist der Zeichenausdruck der Berührung des Organismus mit der Außenwelt. Deswegen kann die innere Psyche nicht als Gegenstand analysiert, sondern nur als Zeichen erklärt und verstanden werden.
Die Idee der verstehenden und interpretierenden Psychologie ist sehr alt und hat eine lehrreiche Geschichte. Es ist bezeichnend, daß sie in jüngster Zeit ihre tiefgehendste Begründung im Zusammenhang mit den methodologischen Forderungen der Humanwissenschaften, d. h. der Wissenschaften von den Ideologien, gefunden hat.
In der neueren Zeit war Wilhelm Dilthey der ernsthafteste und prinzipiellste Verteidiger dieser Idee. Für ihn existierte das psychische Erlebnis (wie ein Gegenstand existiert) weniger als daß es et-


*1
Ein populärwissenschaftliches Essay über gegenwärtige Probleme der Psychologie ist in unserem Buch "Frjdizim" [Freudismus) (ein kritischer Abriß, Leningrad 1927) enthalten.Vgl. Kapitel II "Zwei Richtungen der gegenwärtigen Psychologie".

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was bedeutete. Wenn wir uns von dieser Bedeutung abwenden und versuchen, die reine Wirklichkeit des Erlebnisses zu finden, so stehen wir, nach Dilthey, in der Tat vor einem physiologischen Prozeß im Organismus und verlieren das Erlebnis aus unserem Gesichtskreis. Es ist so, als wende man sich von der Bedeutung eines Wortes ab: man verliert dann das Wort selbst, und was übrig bleibt, ist nur der physikalische Laut oder der physiologische Prozeß seiner Artikulierung. Es ist aber erst die Bedeutung, die das Wort zum Wort macht. Die Bedeutung ist es auch, die das Erlebnis zum Erlebnis werden läßt. Man kann sie nicht beiseitelassen, ohne das Wesen selbst des inneren psychischen Lebens einzubüßen. Deswegen kann die Aufgabe der Psychologie nicht darin bestehen, das Erlebnis kausal und analog zu physikalischen oder physiologischen Prozessen zu erklären. Die Aufgabe der Psychologie ist die verstehende Beschreibung, Zergliederung und Erklärung des psychischen Lebens, so als sei dieses ein Dokument, das einer philologischen Analyse unterzogen wird. Nur eine solche beschreibende und erklärende Psychologie kann, nach Dilthey, als Grundlage der Humanwissenschaften oder »Geisteswissenschaften«, wie er sie nennt, dienen*1 .
Die Gedanken Diltheys erwiesen sich als sehr fruchtbar. Unter den Vertretern der Humanwissenschaften haben sie bis heute viele Anhänger gefunden. Man kann sagen, daß fast alle zeitgenössischen Humanwissenschaftler mit philosophischen Neigungen mehr oder weniger von den Ideen Wilhelm Diltheys anhängig sind*2 .
Die Konzeption Wilhelm Diltheys hat sich auf idealistischer Grundlage entwickelt. Auf dieser Grundlage bewegen sich auch seine Nachfolger. Die Idee der verstehenden und interpretierenden Psychologie ist sehr eng mit den idealistischen Voraussetzungen des Denkens verbunden und wird von vielen deshalb für eine spezifisch idealistische Idee gehalten.
In der Tat ist die interpretierende Psychologie in der Form, in der sie begründet wurde und sich bis heute entwickelte, idealistisch und für den dialektischen Materialismus nicht annehmbar.


*1
Vgl. über Dilthey den Aufsatz von Frischeisen-Köhler in russischer Sprache ("Logos", 1912-1913, Bd. I-II [Frisejzen-Keler]
*2
Über den grundlegenden Einfluß Diltheys schreiben Oskar Walzel, Wilhelm Gundolf, Emil Ermatinger u.a. Wir nennen hier nur die bedeutendsten Vertreter der deutschen Geisteswissenschaften.

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Nicht annehmbar ist vor allen Dingen das methodologische Primat der Psychologie über die Ideologie. Denn gemäß der Anschauung Diltheys und der anderen Vertreter der erklärenden Psychologie, soll diese die Grundlage für alle anderen Humanwissenschaften bilden. Die Ideologie wird aus der Psychologie erklärt, als ihr Ausdruck und ihre Inkarnation dargestellt, und nicht umgekehrt. Es trifft zu, daß Psyche und Ideologie einander angenähert wurden, daß ein gemeinsamer Index für sie gefunden wurde, die Bedeutung nämlich, die sowohl die eine als auch die andere gleichermaßen von der übrigen Wirklichkeit unterscheidet. Doch in dieser Annäherung gibt die Psychologie den Ton an und nicht die Ideologie.
Außerdem bleibt in den Ideen Diltheys und der anderen der soziale Charakter der Bedeutung unberücksichtigt.
Schließlich - und das ist das proton pseudos ihrer ganzen Konzeption - wird die unumgängliche Verbindung der Bedeutung mit dem Zeichen, die spezifische Natur des Zeichens, nicht verstanden.
Tatsächlich wird bei Dilthey die Gegenüberstellung von Erlebnis und Wort zu einer einfachen Analogie, einer erklärenden Metapher, was nebenbei gesagt, in seinem Werk eine seltene Erscheinung ist. Es liegt ihm fern, aus diesem Vergleich die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, Darüber hinaus erklärt er nicht die Psyche mit Hilfe des ideologischen Zeichens, sondern, wie jeder Idealist, das Zeichen mit Hilfe der Psyche: das Zeichen wird, laut Dilthey, nur dann zum Zeichen, wenn es als Ausdruck des Innenlebens fungiert. Letzteres weist dem Zeichen die ihm selbst eigene Bedeutung zu. Hier zeigt die Theorie Diltheys die dem gesamten Idealismus eigentümliche Tendenz, nämlich, jeden Sinn und jede Bedeutung aus der materiellen Welt herauslösen und sie in einem Geist anzusiedeln, der sich außerhalb von Raum und Zeit befindet.
Wenn dem Erlebnis eine Bedeutung zukommt und nicht nur eine einheitliche Wirklichkeit, dann - und da hat Dilthey recht - muß es sich notwendigerweise im Zeichenmaterial verwirklichen. Denn die Bedeutung kann nur einem Zeichen angehören, eine Bedeutung außerhalb des Zeichens ist eine Fiktion. Die Bedeutung ist der Ausdruck der Beziehung des Zeichens als einer einheitlichen Wirklichkeit zu einer anderen durch es zu vertretenden, repräsentierenden und darzustellenden Wirklichkeit. Die Bedeutung ist die Funktion des Zeichens, weshalb es unmöglich ist,

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sich eine Bedeutung (die reine Beziehung oder Funktion wäre) vorzustellen, die außerhalb des Zeichens wie ein gesonderter, selbständiger Gegenstand existiert. Das ist genau so unsinnig, als wolle man ein bestimmtes, lebendiges Pferd für die Bedeutung des Wortes »Pferd« halten. In einem solchen Fall könnte man, wenn man einen Apfel aufgegessen hat, erklären, daß man keinen Apfel aufgegessen hat, sondern die Bedeutung des Wortes »Apfel«. Das Zeichen ist ein einheitlicher materieller Gegenstand, doch die Bedeutung ist kein Gegenstand und kann vom Zeichen nicht als eine selbständige und außerhalb seiner existierende Realität losgelöst werden. Daraus folgt, daß das Erlebnis, wenn es eine Bedeutung hat, wenn es verstanden und erklärt werden kann, im Material eines wirklichen, realen Zeichens existieren muß.
Betonen wir also, daß das Erlebnis mit Hilfe eines Zeichens nicht nur ausgedrückt werden kann (denn man kann sein Erlebnis anderen gegenüber mit Worten, mit der Mimik des Gesichts oder auf irgendeine andere Weise ausdrücken), sondern daß außer in diesem Ausdruck nach außen (für die anderen) das Erlebnis auch für den Erlebenden selbst nur im Material des Zeichens existiert. Außerhalb dieses Materials gibt es kein Erlebnis als solches. In diesem Sinne ist jedes Erlebnis ausdrückbar, d. h. es ist ein potenzieller Ausdruck. Jeder Gedanke, jede Emotion, jede Äußerung des Willens sind ausdrückbar. Dieser Faktor der Ausdrucksfähigkeit darf vom Erlebnis nicht weggedacht werden, ohne daß seine Natur selbst verlorengeht*1 .
So gibt es also zwischen dem inneren Erlebnis und seinem Ausdruck keinen Sprung, keinen Übergang von einer Wirklichkeitsqualität zu einer anderen. Der Übergang vom Erlebnis zu seinem äußeren Ausdruck vollzieht sich innerhalb der Grenzen einer Qualität, er ist ein quantitativer Übergang. Es ist wahr, daß im Prozeß des äußeren Ausdrucks ein Übergang von einem Zeichenmaterial (z. B. dem mimischen) zum anderen (z. B. dem sprachlichen)


*1
Der Gedanke von der Ausdrucksfähigkeit aller Bewußtseinsphänomene ist dem Neokantianismus nicht fremd. Außer der von uns bereits erwähnten Arbeit von Cassirer, hat über den Ausdruckscharakter des Bewußtseins (das Bewußtsein als Ausdrucksbewegung) auch der verstorbene Herman Cohen im dritten Teil seines Systems (Ästhetik des reinen Gefühls) geschrieben. Jedoch kann man daraus am allerwenigsten richtige Schlüsse ziehen. Das Wesen des Bewußtseins bleibt auch da jenseits des Seins.

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stattfindet, doch der Prozeß selbst geht nicht über die Grenzen des Zeichenmaterials hinaus. Was aber ist das Zeichenmaterial der Psyche?
Jede beliebige organische Bewegung oder jeder organische Prozeß wie Atem, Blutzirkulation, Körperbewegungen, Artikulation, innere Rede, Mimik, Reaktionen auf äußere Reize wie z. B. Licht usw. usf., kurzum alles, was sich in einem Organismus vollzieht, kann zum Erlebnismaterial werden, denn es kann Zeichenbedeutung erlangen: es wird ausdrückbar.
Sicher, dieses Material ist nicht gleichwertig. Eine einigermaßen entwickelte und differenzierte Psyche braucht ein feines und flexibles Zeichenmaterial, das imstande wäre, sich im nicht-körperlichen gesellschaftlichen Milieu, im Prozeß des äußeren Ausdrucks, zu gestalten, zu verfeinern und zu differenzieren. Deswegen ist das Zeichenmaterial der Psyche vornehmlich das Wort, die innere Rede. Wohl ist die innere Rede mit einer Menge anderer Bewegungsreaktionen verflochten, die Zeichenbedeutung haben. Dennoch bleibt das Wort die Grundlage, das Gerüst, des inneren Lebens. Nähme man der Psyche das Wort, würde sie bis aufs Äußerste zusammenschrumpfen, nähme man ihr alle anderen Ausdrucksbewegungen, würde sie vollends absterben.
Wenn wir die Zeichenfunktion der inneren Rede und aller übrigen Ausdrucksbewegungen leugnen, aus denen die Psyche sich zusammensetzt, bleibt uns der nackte physiologische Prozeß, der sich innerhalb des individuellen Organismus abspielt. Für den Physiologen ist eine solche Abstraktion vollkommen rechtmäßig und notwendig: er braucht nur den physiologischen Prozeß und seinen Mechanismus.
Doch ist es für den Physiologen in seiner Eigenschaft als Biologe auch wichtig, die expressive Zeichenfunktion (ergo, die soziale Funktion) der jeweiligen physiologischen Prozesse zu berücksichtigen. Anders wird er ihren biologischen Platz in der allgemeinen Ökonomie des Organismus nicht verstehen. Hierbei kann auch der Biologe den soziologischen Standpunkt nicht negieren, er kann nicht unberücksichtigt lassen, daß der menschliche Organismus nicht Teil eines abstrakten, natürlichen, sondern eines spezifischen Milieus ist. Doch selbst wenn er die Zeichenfunktion der entsprechenden physiologischen Prozesse in Betracht zieht, fährt der Physiologe fort, ihren rein physiologischen Mechanismus (z. B. den Mechanismus des bedingten Reflexes) zu verfolgen und negiert

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völlig ihre wandelbaren, den historisch-sozialen Gesetzen untergeordneten Bedeutungen. Mit einem Wort: der Inhalt der Seele geht ihn nichts an.
Doch gerade dieser psychische Inhalt in seiner Beziehung zum individuellen Organismus ist das Objekt der Psychologie. Eine Wissenschaft, die dieses Namens würdig ist, kann und darf kein anderes Objekt haben.
Es existiert eine Behauptung, wonach der Inhalt der Psyche nicht das Objekt der Psychologie ist; vielmehr ist das Objekt die Funktion dieses Inhalts in der Seele des Individuums. Das ist der Standpunkt der sogenannten »funktionalen Psychologie«*1 .
Nach der Theorie dieser Schule besteht das »Erlebnis« aus zwei Faktoren. Ein Faktor ist der Inhalt des Erlebnisses. Dieser ist nicht psychischer Natur. Es handelt sich entweder um eine physikalische Erscheinung, auf die das Erlebnis gerichtet ist (z. B. einen Gegenstand der Wahrnehmung), einen Erkenntnisbegriff mit eigenen logischen Gesetzmäßigkeiten, einen ethischen Wert usw. Diese inhaltlich-gegenständliche Seite des Erlebnisses ist Teil der Natur, Kultur oder Geschichte und fällt folglich unter die Kompetenz der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin; der Psychologe hat mit ihnen nichts zu schaffen.
Ein anderer Faktor des Erlebnisses ist die Funktion des jeweiligen gegenständlichen Inhalts in der geschlossenen Einheit des psychischen Lebens eines Individuums. Eben dieses Erlebte oder Erlebbare eines außerpsychischen Inhalts ist das Objekt der Psychologie. Oder mit anderen Worten: das Objekt der funktionalen Psychologie ist nicht das »was« des Erlebnisses, sondern das »wie«. So ist z. B. der Inhalt irgendeines Denkprozesses, dieses »was« nicht psychologisch und fällt unter die Kompetenz des Logikers, Erkenntnistheoretikers oder Mathematikers (wenn es um mathematisches Denken geht). Der Psychologe hingegen studiert lediglich, wie sich die Denkprozesse über verschiedene objektive Inhalte (logische, mathematische oder andere) unter den Bedingungen der jeweiligen subjektiven Psyche eines Individuums verwirklichen.


*1
Die bedeutendsten Vertreter der funktionalen Psychologie sind Stumpf, Meinog u.a. Die Grundlage der funktionalen Psychologie wurde von Franz Brentano gelegt. Gegenwärtig ist die funktionale Psychologie unbestreitbar die vorherrschende Richtung des psychologischen Denkens in Deutschland, wenn auch nicht in seiner klassichen Form.

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Wir wollen uns nicht in die Einzelheiten dieser psychologischen Konzeption vertiefen und werden jene, manchmal sehr wesentlichen Unterschiede über das Verstehen der psychischen Funktion, die zwischen den Vertretern dieser Schule und den mit ihr verwandten Richtungen in der Psychologie bestehen, nicht berühren. Für unsere Aufgabenstellung genügt das dargestellte Hauptprinzip der funktionalen Psychologie. Diese Darstellung wird es uns erlauben, unser Verstehen der Psyche und die Bedeutung der Philosophie des Zeichens (resp. der Sprachphilosophie), die für die Lösung der Probleme der Psychologie wichtig sind, genauer auszudrücken.
Auch die funktionale Psychologie entstand und formte sich auf der Grundlage des Idealismus. Dennoch ist sie in gewisser Beziehung ihrer Tendenz nach der interpretierenden Psychologie Diltheyschen Typs diametral entgegengesetzt.
Tatsächlich versuchte Dilthey, die Psyche und die Ideologie auf einen Nenner - die Bedeutung - zu bringen, während die funktionale Psychologie sich im Gegenteil bemühte, eine prinzipielle und strenge Grenze zwischen der Psyche und der Ideologie zu ziehen, eine Grenze, die gleichsam im Innern der Seele verläuft. Alles Bedeutungsvolle wird so aus dem Bereich der Psyche glattweg ausgeschlossen, während alles Psychische lediglich auf das reine Funktionieren einzelner gegenständlicher Inhalte in einer gewissen individuellen Konstellation, welche »die Seele des Individuums« heißt, zurückgeführt wird. Wenn man hier von einem Primat sprechen kann, so herrscht in der funktionalen Psychologie, im Gegensatz zur interpretierenden, die Ideologie über die Psyche.
Man muß sich jetzt die Frage stellen, was die psychische Funktion und welcher Natur ihr Sein ist.
Auf diese Frage finden wir bei den Vertretern der funktionalen Psychologie keine klare und befriedigende Antwort. Es fehlt ihnen da an Klarheit, Übereinstimmung und Einigkeit. Sie sind sich nur in einem Punkt einig: die psychische Funktion ist keinesfalls irgendein physiologischer Prozeß. Das Physiologische wird also deutlich vom Psychologischen unterschieden. Doch welche Art von Wirklichkeit zu dieser neuen psychischen Qualität gehört, bleibt ungeklärt.
Ebenso unklar bleibt in der funktionalen Psychologie auch die Frage nach der Wirklichkeit der ideologischen Erscheinungen.
Eine klare Antwort geben die Funktionalisten nur dort, wo das Erlebnis auf einen Gegenstand aus der Natur gerichtet ist. In die-

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sem Fall steht der psychischen Funktion ein natürliches, physisches Sein gegenüber: ein Baum, die Erde, ein Stein usw.
Doch in welcher Form steht der psychischen Funktion das ideologische Sein gegenüber, ein logischer Begriff, ein ästhetischer Wert, ein Kunstwerk usw.?
In dieser Frage halten sich die meisten Vertreter der funktionalen Psychologie an die allgemeinidealistischen, in der Hauptsache kantianischen Anschauungen*1 . Neben der individuellen Psyche und dem individuellen Bewußtsein erkennen sie ein »transzendentales Bewußtsein«, »das Bewußtsein an sich« und das »erkenntnistheoretische Subjekt« an usw. In diesen transzendentalen Bereich verweisen sie auch die ideologische Erscheinung, die der individuellen psychischen Funktion entgegengesetzt ist*2 . So bleibt auch auf der Grundlage der funktionalen Psychologie das Problem der ideologischen Wirklichkeit ungeklärt.
Das Fehlen des Begriffs des ideologischen Zeichens und der spezifischen Natur seines Seins bedingen folglich hier wie überall die Unlösbarkeit des Problemes der Psyche. Das Problem des Psychischen wird solange nicht gelöst, solange das Problem des Ideologischen ungelöst bleibt. Diese beiden Probleme sind untrennbar ineinander verflochten. Die ganze Geschichte der Psychologie und die ganze Geschichte der Wissenschaft von den Ideologien (Logik, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Humanwissenschaften usw.) ist die Geschichte des ständigen Kampfes, der gegenseitigen Abgrenzung und der gegenseitigen Absorption dieser beiden Erkenntnisdisziplinen.
Es gibt einen eigentümlichen periodischen Wechsel zwischen einem elementaren Psychologismus, der die gesamte Wissenschaft von den Ideologien überschwemmt, und einem scharfen Antipsychologismus, der die Psyche ihres ganzen Inhalts beraubt und sie von irgendeinem leeren formalen Begriff (wie in der funktionalen Psychologie) oder einem nackten Physiologismus ableitet. Die Ideologie, die bei konsequenter Anwendung des Antipsychologismus ihres angestammten Platzes im Sein (eben in der Psyche) be-


*1
Gegenwärtig stehen die Phänomenologen, die in ihrer allgemeinphilosophischen Konzeption mit Franz Brentano verbunden sind, auf den Grundlagen der funktionalen Psychologie.
*2
Die Phänomenologen ontologisieren ideologische Gedanken, indem sie eine selbstständige Sphäre des idealen Seins zulassen.

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raubt ist, hat jetzt überhaupt keinen Aufenthaltsort mehr und ist gezwungen, aus der Wirklichkeit in transzendentale Höhen oder gar ins Transzendente selbst zu fliehen.
Zu Beginn des XX. Jahrhunderts haben wir gerade eine (und natürlich nicht die erste in der Geschichte) starke antipsychologistische Welle erlebt. Die grundlegenden Arbeiten Husserls*1 , des bedeutendsten Vertreters des zeitgenössischen Antipsychologismus, die Werke seiner Nachfolger, der Intentionalisten (»Phänomenologisten«), die scharfe antipsychologistische Wende der Vertreter des zeitgenössischen Neokantianismus der Marburger und der Freiburger Schule*2 , die Verbannung des Psychologismus aus allen wissenschaftlichen Bereichen, ja sogar aus der Psychologie selbst (!), - dies alles sind Ereignisse von höchster philosophischer und methodologischer Wichtigkeit für die ersten zwanzig Jahre unseres Jahrhunderts.
Gegenwärtig beginnt die Welle des Antipsychologismus abzuebben. Sie wird von einer neuen, augenscheinlich sehr mächtigen, psychologistischen Welle abgelöst. Die modische Form des Psychologismus ist die Lebensphilosophie. Unter dem Etikett der »Lebensphilosophie« erobert der allerungezügeltste Psychologismus mit unglaublicher Schnelligkeit die von ihm unlängst verlassenen Positionen in allen Bereichen der Philosophie und der Wissenschaft von den Ideologien*3 .


*1
Vgl.den 1. Bd. der "Logischen Untersuchungen" (russische Übersetzung 1910), die als die Bibel des gegenwärtigen Antipsychologismus gelten, ebenso wie der Artikel "Die Philosophie als strenge Wissenschaft" ("Logos" 1911-1912 Bd.I)
*2
Vgl. z.B. die sehr instruktive Arbeit von Heinrich Rickert, dem Haupt der Freiburger Schule, "Zwei Wege der Erkenntnistheorie" in: "Neue Ideen in der Philosophie", VII. Aufl. 1913. In dieser Arbeit übersetzt Rickert unter dem Einfluss Husserls seine anfänglich bis zu einem gewissen Grade psychologistische Konzeption der Erkenntnistheorie in eine antipsychologistische Sprache. Der Aufsatz ist sehr bezeichnend für das Verhältnis der Neokantianer zur antipsychologistischen Bewegung.
*3
Einen allgemeinen Überblick über die zeitgenössische Lebensphilosophie, wenn auch tendenziös und etwas veraltet, findet der Leser in Rickerts Buch "Lebensphilosophie" ("Academia" 1921). Einen sehr großen Einfluß auf die Humandisziplinen übt Sprangers Buch "Lebensformen" aus. Unter dem Einfluß der Lebensphilosophie stehen heute mehr oder weniger alle bedeutenden deutschen Literatur- und Sprachwissenschaftler. Nennen wir nur Ermatinger ("Das dichterische Kunstwerk" 1921), Gundolf (die Bücher über Goethe und George, 1916-1925), Hefele ("Das Wesen der Dichtung", 1923) Vossler und die Vosslerianer u.v.a. Von einigen der Aufgezählten wird später noch die Rede sein.

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Die gegenwärtige Welle des Psychologismus bringt keinerlei neue prinzipielle Motivierungen der psychischen Wirklichkeit mit sich. Der neueste Psychologismus tendiert, im Gegensatz zum vorausgegangenen (in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts) empirisch-positivistischen Psychologismus (dessen typischster Vertreter Wundt war) dazu, das innere Sein, das »Erlebniselement«, metaphysisch zu interpretieren.
Im dialektischen Wechsel von Psychologismus und Antipsychologismus kam es im Endergebnis zu keiner dialektischen Synthese. Weder das Problem der Psychologie, noch das der Ideologie haben in der bürgerlichen Philosophie bis heute die richtige Lösung gefunden.
Die Grundlagen für die Lösung dieser beiden Probleme müssen gleichzeitig gelegt und untereinander verbunden werden. Wir sind der Meinung, daß der gleiche Schlüssel den objektiven Zugang zu beiden Sphären eröffnen könnte. Dieser Schlüssel ist die Philosophie des Zeichens, resp. die Philosophie des Wortes als des ideologischen Zeichens par excellence. Das ideologische Zeichen ist das gemeinsame Territorium sowohl der Psyche als auch der Ideologie, ein materielles, soziologisches und bedeutungsvolles Territorium. Auf diesem Territorium muß auch die Abgrenzung zwischen Psychologie und Ideologie vor sich gehen. Die Psyche darf nicht zu einer Doublette der übrigen Welt werden (vor allem nicht der ideologischen), während die übrige Welt nicht zu einer simplen Anmerkung des psychischen Monologs absinken sollte.
Doch wenn die Wirklichkeit der Psyche eine Zeichenwirklichkeit ist, wie soll man dann eine Grenze zwischen der subjektiven Psyche des Individuums und der Ideologie im wahrsten Sinne dieses Wortes, die ja auch eine Zeichenwirklichkeit ist, ziehen? Wir haben bisher nur auf das gemeinsame Territorium verwiesen; es ist jetzt notwendig, inmitten dieses Territoriums die entsprechende Grenze zu ziehen.
Das Wesen dieser Frage läuft auf die Bestimmung des inneren (inner-körperlichen) Zeichens hinaus, dessen direkte Wirklichkeit der Selbstbeobachtung zugänglich ist.
Vom Standpunkt des ideologischen Inhalts selbst betrachtet,

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kann und darf es zwischen der Ideologie und der Psyche keine Grenzen geben. Jeder Inhalt ohne Ausnahme - in welchem Zeichenmaterial er sich auch immer verkörpert - kann verstanden und folglich psychisch angeeignet, d.h. er kann im Material eines inneren Zeichens wiederhergestellt werden. Andererseits muß jede ideologische Erscheinung im Prozeß ihrer Entstehung durch die Psyche hindurchgehen wie durch eine unausweichliche Instanz. Wiederholen wir also, daß jedes äußere ideologische Zeichen, welcher Art auch immer, von allen Seiten von inneren Zeichen umspült wird: dem Bewußtsein. In diesem Meer innerer Zeichen wird es geboren, und dort lebt es weiter, denn das Leben des äußeren Zeichens verläuft in dem ständig sich erneuernden Prozeß seines Verstehens, seines Erlebens und seiner Aneignung, d.h. in seiner immer neuen Eingliederung in den inneren Konflikt.
Deswegen gibt es vom Standpunkt des Inhalts aus gesehen, zwischen der Psyche und der Ideologie keine prinzipielle Grenze, es gibt nur einen graduellen Unterschied: ein Ideologem, das sich im Stadium der inneren Entwicklung befindet und im äußeren ideologischen Material noch nicht verkörpert ist, ist ein verworrenes Ideologem; es kann sich nur im Prozeß der ideologischen Verkörperung klären, differenzieren und stärken. Die Absicht ist immer weniger als die Verwirklichung (auch wenn sie mißlungen ist). Ein Gedanke, der vorerst nur im Kontext meines Bewußtseins existiert und noch nicht im Kontext einer Wissenschaft als einem einheitlichen ideologischen System gestärkt worden ist, bleibt ein unklarer und unfertiger Gedanke. Doch bereits im Kontext meines Bewußtseins verwirklicht sich dieser Gedanke mit der Orientierung auf ein ideologisches System, ja er ist aus den von mir früher aufgenommenen ideologischen Zeichen entstanden. Wiederholen wir also, daß es hier keinen prinzipiellen qualitativen Unterschied gibt. Die Erkenntnis aus Büchern und fremden Reden und die Erkenntnis im Kopf gehören zu einer Wirklichkeitssphäre, und die Unterschiede zwischen Kopf und Buch, die wohl bestehen, berühren nicht den Inhalt der Erkenntnis.
Unser Problem der Abgrenzung der Psyche von der Ideologie wird am stärksten durch den Begriff »individuell« erschwert. Gewöhnlich wird der Begriff »gesellschaftlich« für das Korrelat von »individuell« gehalten. Daraus der Schluß: die Psyche ist individuell, die Ideologie gesellschaftlich.

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Diese Art von Verständnis ist von Grund auf falsch. Das Korrelat von »gesellschaftlich« ist »natürlich«, womit nicht das Individuum als Persönlichkeit, sondern das natürliche biologische Lebewesen gemeint ist. Das Individuum als Besitzer der Inhalte seines Bewußtseins, als Autor seiner Gedanken und als für seine Gedanken und Wünsche verantwortliche Persönlichkeit ist ein rein gesellschaftlich-ideologisches Phänomen. Deswegen ist der Inhalt der »individuellen« Psyche seiner Natur nach ebenso gesellschaftlich wie die Ideologie selbst, wobei der Bewußtseinsgrad ihrer Individualität und ihrer inneren Gesetze historisch und gänzlich von soziologischen Faktoren bedingt ist*1 . Jedes Zeichen ist sozial als solches, das innere nicht weniger als das äußere.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß man den Begriff des einheitlichen, der sozialen Welt nicht eingegliederten, natürlichen Einzelwesens, wie es der Biologe kennt und erforscht, immer streng vom Begriff des Individuums trennen, das schon der in Zeichen gefaßte ideologische Überbau des natürlichen Wesens und somit sozial ist. Diese beiden Bedeutungen des Wortes »Individuum« (das natürliche Einzelwesen und die Persönlichkeit) werden gewöhnlich verwechselt, was zur Folge hat, daß in den Überlegungen der meisten Philosophen und Psychologen sich ein quaternio terminorum offenbart: mal ist der eine Begriff gemeint, mal wird der andere untergeschoben.
Ist der Inhalt der individuellen Psyche ebenso sozial wie die Ideologie, so sind andererseits die ideologischen Erscheinungen ebenso individuell (im ideologischen Sinne dieses Wortes) wie die psychischen. Jedes ideologische Produkt trägt den Stempel der Individualität seines Erzeugers oder seiner Erzeuger, und dieser Stempel ist ebenso sozial wie alle übrigen Besonderheiten und Merkmale der ideologischen Erscheinungen.
So ist jedes Zeichen - auch das der Individualität - ein soziales Zeichen. Worin besteht aber der Unterschied zwischen innerem und äußerem Zeichen, zwischen Psyche und Ideologie?
Die im Material der inneren Bewegung verwirklichte Bedeutung wendet sich zum Organismus, zum Einzelwesen hin und wird vor


*1
Im letzten Teil unserer Arbeit werden wir sehen, wie relativ und ideologisch der Begriff der Autorenschaft von Wort und Rede, das "Urheberrecht auf das Wort" sind und wie spät in der Sprache ein deutliches Empfinden für die individuellen Notwendikeiten der Rede aufkommt.

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allem im Kontext seines eigenen Lebens bestimmt. Man kann den Anschauungen der Vertreter der funktionalen Schule, was dies betrifft, eine gewisse Richtigkeit nicht absprechen. Die besondere Einheit der Psyche unterscheidet sich von der Einheit ideologischer Systeme; dies zu leugnen ist unzulässig. Die Besonderheit der psychischen Einheit ist mit einem ideologischen und soziologischen Verstehen der Psyche vollkommen vereinbar.
In der Tat verwirklicht sich irgendein kognitiver Gedanke auch in meinem Bewußtsein, in meiner Psyche, wie wir schon gesagt haben, mit der Orientierung auf das ideologische Erkenntnissystem hin, in dem er dann seinen Platz finden wird. Mein Gedanke gehört in diesem Sinne von Anfang an einem ideologischen System an und wird von dessen Gesetzmäßigkeiten geleitet. Doch gleichzeitig gehört er einem anderen einheitlichen System an, das ebenfalls über seine besonderen Gesetzmäßigkeiten verfügt: dem System meiner Psyche. Die Einheit dieses Systems bestimmt sich nicht nur aus der Einheit meines biologischen Organismus, sondem auch aus der Totalität aller alltäglichen und sozialen Bedingungen, in die dieser Organismus gestellt ist. Wenn der Psychologe meinen Gedanken erforscht, so wird er sich an der organischen Einheit meiner Person und meinen spezifischen Existenzbedingungen orientieren. Den Ideologiewissenschaftler wird dieser Gedanke nur interessieren, wie weit er einen objektiven Beitrag zum Erkenntnissystem leistet.
Das psychische System, das von organischen und biographischen (im weitesten Sinne) Faktoren bestimmt wird, ist nicht nur das Ergebnis des »Standpunkts« des Psychologen. Es ist eine reale Einheit, ebenso real wie das ihr zugrunde liegende biologische Einzelwesen mit seiner besonderen Konstitution und wie die Ganzheit der Lebensbedingungen, die die Existenz dieses Einzelwesens bestimmt. Je enger das innere Zeichen mit der Einheit dieses psychischen Systems verflochten ist, je stärker es von biologischen und biographischen Faktoren bestimmt ist, desto weiter ist es von einem fertigen ideologischen Ausdruck entfernt. In dem Maße wie sich das innere Zeichen ideologisch formt und Gestalt annimmt, befreit es sich auch gleichsam aus den Fesseln seines psychischen Kontextes.
Auf diese Weise wird auch der Unterschied im Prozeß des Verstehens des inneren Zeichens (d. h. Erlebnisses) einerseits und des äußeren, rein ideologischen Zeichens andererseits determiniert. Im

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ersten Fall heißt verstehen, das innere Zeichen auf die Einheit der anderen inneren Zeichen zu beziehen und es im Kontext der jeweiligen Psyche begreifen; im zweiten Fall, dieses Zeichen in dem entsprechenden ideologischen System erfassen. Allerdings muß man im ersten Fall unbedingt die rein ideologische Bedeutung des Erlebnisses berücksichtigen: denn wenn der Psychologe den, sagen wir, rein kognitiven Sinn eines Gedankens nicht verstanden hat, kann er auch dessen Platz im Kontext der Psyche des erkennenden Subjekts nicht sehen. Wenn er die kognitive Bedeutung dieses Gedankens leugnet, ist er nicht mehr mit einem Gedanken, einem Zeichen, konfrontiert, sondern mit dem nackten physiologischen Verwirklichungsprozeß dieses Gedankens, dieses Zeichens, im Organismus. Deswegen muß die Psychologie der Erkenntnis sich auf die Erkenntnistheorie und die Logik stützen, wie überhaupt die Psychologie sich auf die Wissenschaft von den Ideologien stützen muß und nicht umgekehrt.
Dazu muß man noch sagen, daß jeder äußere Zeichenausdruck wie z. B. die Äußerung, sich in zwei verschiedene Richtungen bewegen kann: entweder zum Subjekt hin oder von ihm weg - zur Ideologie. Im ersten Fall hat die Äußerung das Ziel, die inneren Zeichen als solche, in äußeren Zeichen auszudrücken, wobei sie von dem Zuhörer fordert, sie auf einen inneren Kontext zu beziehen. Es handelt sich dabei also um ein rein psychologisches Verstehen. Im zweiten Falle wird ein rein ideologisches, objektiv-gegenständliches Verstehen der gegebenen Äußerung gefordert*1 .
So vollzieht sich die Abgrenzung der Psyche von der Ideologie*2 .


*1
Wir müssen anmerken, daß Äußerungen vom ersten Typ einen doppelten Charakter haben können: sie können ein Erlebnis mitteilen ("ich empfinde Freude") oder können es unmittelbar ausdrücken ("hurra!"). Auch Übergangsformen sind möglich ("ich freue mich!" - mit einer starken expressiven Intonation der Freude). Die Unterschiede zwischen diesen Formen sind für den Psychologen ebenso wie für den ideologen von enormer Bedeutung. Denn im ersten Beispiel gibt es keinen Erlebnisausdruck und folglich auch keine Aktualisierung des inneren Zeichens. Hier drückt sich das Resultat der Selbstbeobachtung aus (gegeben wird, sozusagen, das Zeichen eines Zeichens. Im zweiten Beispiel bricht die Selbstbeobachtung aus der innerern Erfahrung nach außen durch und wird zum Objekt einer Beobachtung von außen (allerdings verändert sie sich bei ihrem Ausbruch nach außen etwas). Im dritten Beispiel, in der Übergangsform, wird das Ergebnis der Selbstbeobachtung durch das ausbrechende innere Zeichen (das ursprüngliche) gefärbt.
*2
Eine Darstellung unserer Anschauungen über den Inhalt der Psyche und der Ideologie befindet sich in dem bereits erwähnten Buch "Freudismus". Vgl. das Kapitel "Der Inhalt der Psyche als Ideologie".

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In welcher Form ist die Psyche, sind die inneren Zeichen, unserer Beobachtung und Erforschung zugänglich? In seiner reinen Form ist das innere Zeichen, d. h. das Erlebnis, nur der Selbstbeobachtung (Introspektion) zugänglich.
Zerstört denn die Selbstbeobachtung die Einheit der äußeren objektiven Erfahrung? Wenn man die Psyche und die Introspektion selbst richtig versteht, zerstört sie diese nicht*1 .
So ist es in der Tat, denn das Objekt der Selbstbeobachtung ist ja das innere Zeichen, das als solches auch ein äußeres Zeichen sein kann. Eine innere Rede könnte auch laut ausgesprochen werden. Die Ergebnisse der Selbstbeobachtung müssen im Prozeß ihrer Selbstklärung unbedingt außen ausgedrückt oder wenigstens dem Stadium des äußeren Ausdrucks angenähert werden. Die Selbstbeobachtung als solche bewegt sich in der Richtung vom inneren zum äußeren Zeichen. Sie hat also selbst Ausdruckscharakter.
Die Selbstbeobachtung ist das Verstehen des eigenen inneren Zeichens. Dadurch unterscheidet sie sich von der Beobachtung eines physischen Gegenstandes oder irgendeines physischen Prozesses., Ein Erlebnis können wir weder sehen noch fühlen: wir verstehen es. Das heißt, daß wir es im Prozeß der Selbstbeobachtung in irgendeinen Kontext anderer verständlicher Zeichen einschließen. Ein Zeichen kann nur mit Hilfe eines anderen Zeichens erhellt werden.
Da Selbstbeobachtung Verstehen bedeutet, entwickelt sie sich zwangsläufig in einer bestimmten ideologischen Richtung. So kann sie sich z. B. im Interesse der Psychologie vollziehen. In einem solchen Fall würde sie das gegebene Erlebnis im Kontext anderer innerer Zeichen verstehen, die auf die Einheit des Seelenlebens gerichtet sind.
In diesem Fall erhellt die Selbstbeobachtung die inneren Zeichen mit Hilfe des Erkenntnissystems der psychologischen Zeichen; sie klärt und differenziert das Erlebnis im Hinblick auf einen genauen psychologischen Rechenschaftsbericht über sich selbst. Eine solche Aufgabe bekommt zum Beispiel die Versuchs-


*1
Eine soche Zerstörung würde stattfinden, wenn die Wirklichkeit der Psyche eine gegenständliche und keine Zeichenwirklichkeit wäre

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person bei einem psychologischen Experiment. Die Äußerungen der Testperson sind ein psychologischer Rechenschaftsbericht oder zumindest das Halbfabrikat eines solchen Rechenschaftsberichtes.
Die Selbstbeobachtung kann auch nach einer anderen Richtung hin tendieren, zu einer ethisch-moralischen Selbstobjektivierung etwa. Hier dringt das innere Zeichen in das System der ethischen Werte und Normen ein und wird vom Standpunkt dieser Werte verstanden und geklärt.
Auch andere Richtungen der Selbstbeobachtungen und des Verstehens sind möglich. Doch immer und überall strebt die Selbstbeobachtung aktiv danach, das innere Zeichen zu klären und es möglichst deutlich zu definieren. Dieser Prozeß stößt dann an seine Grenzen, wenn das Objekt der Selbstbeobachtung völlig verstanden ist und somit nicht nur Introspektionsobjekt, sondern Gegenstand einer gewöhnlichen objektiven ideologischen (Zeichen-) Betrachtung werden kann.
Auf diese Weise geht die Selbstbeobachtung in ihrer Eigenschaft als ideologisches Verstehen in die Einheit der objektiven Erfahrung ein. Dazu wollen wir noch folgendes hinzufügen: Im konkreten Fall ist es unmöglich, eine klare Grenze zwischen inneren und äußeren Zeichen zu ziehen, zwischen der inneren Selbstbeobachtung und der äußeren Betrachtung, welche die zu verstehenden inneren Zeichen kontinuierlich sowohl in Zeichen als auch real kommentiert.
Der reale Kommentar ist immer präsent. Das Verstehen eines jeden Zeichens, des inneren ebenso wie des äußeren, vollzieht sich in unlösbarem Zusammenhang mit der ganzen Situation der Verwirklichung des gegebenen Zeichens. Im Falle der Selbstbeobachtung ist diese Situation als Gesamtheit der Fakten der äußeren Erfahrungen gegeben, die das innere Zeichen kommentieren und erhellen. Diese Situation ist immer eine gesellschaftliche Situation. Die Orientierung innerhalb der eigenen Seele (Selbstbeobachtung) ist real von der Orientierung in einer bestimmten gesellschaftlichen Erlebnissituation nicht zu trennen. Deswegen ist jede Verstärkung der Selbstbeobachtung nur in Zusammenhang mit einem verstärkten Verstehen der sozialen Orientierung möglich. Völlige Verleugnung dieser Orientierung führt ebenso zur vollkommenen Auslöschung des Erlebnisses wie die Verleugnung seiner Zeichennatur. Wie wir später etwas genauer sehen werden, sind das Zeichen und seine gesellschaftliche Situation fest aneinandergeschmiedet. Das

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Zeichen kann von der sozialen Situation nicht getrennt werden, ohne seine Zeichennatur einzubüßen.
Das Problem des inneren Zeichens ist eines der wichtigsten Probleme der Sprachphilosophie. Letztlich ist das Wort, die innere Rede, das hauptsächlichste innere Zeichen. Das Problem der inneren Rede ist - wie alle in diesem Kapitel behandelten Probleme - ein philosophisches Problem. Sie liegt auf der Grenze der Psychologie und der Probleme der Wissenschaften von den Ideologien. Seine prinzipielle methodologische Lösung kann nur auf der Grundlage der Sprachphilosophie als Philosophie des Zeichens erfolgen. Was bedeutet das Wort in seiner Rolle als inneres Zeichen? In welcher Form wird die innere Rede verwirklicht? Wie verbindet sie sich mit der sozialen Situation? Wie verhält sie sich zur Äußerung? Welche Methode muß man anwenden, um die innere Rede aufzudecken, um sie sozusagen in den Griff zu kriegen? - Eine Antwort auf diese Fragen kann nur eine entwickelte Sprachphilosophie geben.
Nehmen wir einmal die zweite Frage: in welcher Form wird die innere Rede verwirklicht? Von Anfang an muß klar sein, daß alle von der Linguistik zur Analyse der Formen der äußeren Sprache ausgearbeiteten Kategorien (Lexik, Grammatik, Phonetik) ohne Ausnahme für die Analyse der Formen der inneren Rede unanwendbar sind, und wenn, dann nur nach einer wesentlichen und radikalen Veränderung.
Bei einer genaueren Analyse würde sich zeigen, daß die Einheiten der inneren Rede ganze, an Passagen eines inneren Monologs erinnernde Folgen oder vollständige Äußerungen sind. Doch am meisten erinnern sie an die Repliken eines Dialogs. Nicht umsonst stellten sich die antiken Denker die innere Rede als einen inneren Dialog vor. Diese Einheiten können nicht in grammatische Elemente auseinander genommen werden (oder nur mit großen Vorbehalten), und zwischen ihnen bestehen, wie zwischen den Repliken eines Dialogs, keine grammatischen Verbindungen, sondern Verbindungen anderer Art. Diese Einheiten der inneren Rede, gleichsam die »totalen Impressionen«*1 der Äußerungen, sind mit-


*1
Der Terminus ist der "Weltanschauungslehre" von Gompertz entliehen. Zum ersten Mal hat, glaube ich, Otto Weininger diesen Ausdruck gebraucht. Die totale Impression ist der noch ungegliederte eEindruck von einem ganzen Gegenstand, das Aroma des Ganzen sozusagen, das dem deutlichen Erkennen des Gegenstandes vorausgeht und zugrundeliegt. So können wir uns manchmal nicht an ein Wort oder Namen erinnern, obgleich sie uns "auf der Zunge liegen", d.h., wir besitzen bereits die totale Impression dieses Namens oder Wortes, und doch kann sie sich noch kein konkretes und differenziertes Bild von ihnen machen. Die totale Impressionen sind, laut Gompertz, für die Erkenntnis von großer Bedeutung. Sie sind die psychischen Equivalente für die Formen des Ganzen, die diesem Ganzen seine Einheit erst geben.

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einander verbunden und folgen aufeinander nicht nach grammatischen oder logischen Gesetzen, sondern nach den Gesetzen einer wertmäßigen (emotionalen) Entsprechung, der dialogischen Aneinanderreihung usw., und in starker Abhängigkeit von den historischen Bedingungen der sozialen Situation und des gesamten pragmatischen Lebensverlaufs*1 .
Nur die Klärung der Formen ganzer Äußerungen und besonders der Formen der dialogischen Rede kann Licht in die Formen der inneren Rede und die eigentümliche Logik ihrer Abfolge im Strom des Innenlebens bringen.
Die von uns erwähnten Probleme der inneren Rede sprengen natürlich alle bei weitem den Rahmen unserer Arbeit. Eine produktive Bearbeitung ist gegenwärtig noch nicht möglich. Ihr vorausgehen müßte unbedingt die Sammlung einer ungeheuren Menge von Material ebenso wie die Klärung von elementaren und grundlegenderen Fragen der Sprachphilosophie, so z. B. besonders der Probleme der Äußerung.

Wir glauben, daß auf diese Weise das Problem der Abgrenzung der Psyche von der Ideologie auf dem einheitlichen, beide Wissensgebiete umfassenden Territorium des ideologischen Zeichens gelöst werden kann.
Mit dieser Lösung verschwindet auch der Widerspruch zwischen Psychologismus und Antipsychologismus.
Der Antipsychologismus hat da recht, wo er sich weigert, die Ideologie aus der Psyche abzuleiten. Aber das allein genügt nicht, denn die Psyche muß aus der Ideologie abgeleitet werden. Die Psychologie muß sich auf die Wissenschaft von den Ideologien stützen. Das Wort muß zuerst im Prozeß der sozialen Kommuni-


*1
Die übliche Unterteilung der inneren Rede in drei Typen - einen visuellen, einen auditiven und einen motorischen - ist für unsere Überlegungen irrelevant. Innerhalb eines jeden Typs entwickelt sich die Rede in totalen Impressionen, die gleichermaßen visuell, auditiv und motorisch sind.

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kation der Organismen entstehen und reifen, bevor es in den Organismus eingehen und zum inneren Wort werden kann.
Indessen hat auch der Psychologismus recht. Es gibt kein äußeres Zeichen ohne das innere Zeichen. Ein äußeres Zeichen, das unfähig ist, in den Kontext der inneren Zeichen einzudringen, d. h. das nicht verstanden und erlebt werden kann, hört auf, ein Zeichen zu sein und verwandelt sich in einen physikalischen Gegenstand.
Das ideologische Zeichen wird durch seine psychische Verwirklichung lebendig, ebenso wie die psychische Verwirklichung erst durch seinen ideologischen Inhalt lebendig wird. Das psychische Erlebnis ist etwas Inneres, das zum Äußeren wird, das ideologische Zeichen - etwas Äußeres, das zum Inneren wird. Die Psyche ist im Organismus exterritorial. Sie ist etwas Soziales, das in den Organismus des Einzelwesens eingedrungen ist. Alles Ideologische ist im sozioökonomischen Bereich exterritorial, denn das ideologische Zeichen, das sich außerhalb des Organismus befindet, muß in die innere Welt eindringen, um seine Zeichenbedeutung zu verwirklichen.
Zwischen der Psyche und der Ideologie besteht also ein untrennbares dialektisches Wechselspiel: die Psyche hebt sich auf und vernichtet sich, indem sie sich in Ideologie verwandelt, ebenso wie die Ideologie sich aufhebt, indem sie Psyche wird. Das innere Zeichen muß sich von der Absorption durch den psychischen (bio-biographischen) Kontext befreien, muß aufhören, ein subjektives Erlebnis zu sein, um zu einem ideologischen Zeichen zu werden; das ideologische Zeichen muß sich in das Element der subjektiven inneren Zeichen versenken, muß, um lebendig zu bleiben, subjektive Töne anschlagen, um nicht in die ehrenvolle Position einer unverstandenen Mumie im Museum zu geraten.
Diese dialektische Wechselbeziehung von innerem und äußerem Zeichen, von Psyche und Ideologie, hat schon oft die Aufmerksamkeit der Denker erregt, ohne jedoch das rechte Verständnis oder einen adäquaten Ausdruck zu finden.
Die ernsteste und interessanteste Analyse dieser Wechselbeziehung in letzter Zeit stammt von dem verstorbenen Philosophen und Soziologen Georg Simmel.
Simmel faßte diese Wechselbeziehung in einer für das gegenwärtige bourgeoise Denken charakteristischen Weise auf, als »Kulturtragödie«, genauer als die Tragödie der subjektiven, kultur-

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schaffenden Persönlichkeit. Die schöpferische Persönlichkeit, so Simmel, zerstört sich, ihre Subjektivität und ihre »Persönlichkeit« in dem von ihr selbst geschaffenen objektiven Produkt. Die Entstehung eines objektiven Kulturwertes ruft den Tod der subjektiven Seele hervor.
Wir werden uns jetzt nicht in die Einzelheiten der Simmelschen Analyse dieses Problems vertiefen, obgleich diese Analyse nicht wenig feine und interessante Beobachtungen enthält*1 . Verweisen wir nur auf den wesentlichen Mangel in der Konzeption Simmels.
Zwischen der Psyche und der Ideologie besteht für Simmel ein unüberwindlicher Bruch: er kennt kein Zeichen einer Wirklichkeitsform, die der Psyche und der Ideologie gemeinsam wäre. Obgleich er Soziologe ist, wertet er nichtsdestoweniger das rein Soziale der psychischen wie der ideologischen Wirklichkeit nicht in genügendem Maße. Denn beide Wirklichkeiten sind Brechungen des gleichen sozioökonomischen Seins. Im Endergebnis verwandelt der lebendige dialektische Widerspruch Psyche und Sein bei Simmel in eine indolente, starre Antinomie, in eine »Tragödie«. Er bemüht sich vergeblich, diese unausweichliche Antinomie mit Hilfe einer metaphysisch gefärbten Dynamik des Lebensprozesses zu überwinden.
Eine dialektische Lösung solcher und ähnlicher Widersprüche sind nur auf der Grundlage eines materialistischen Monismus möglich. Geht man von einer anderen Grundlage aus, so kann man die Widersprüche nur ignorieren und die Augen vor ihnen verschließen, oder aber sie verwandeln sich in eine unlösbare An-


*1
Zwei Arbeiten Simmels, die dieser Frage gewidmet sind, liegen in russischer Übersetzung vor: "Die Kulturtragödie" ("Logos" 1911-1912, Bd. II-III) und die als gesondertes Buch erschienenen und mit einem Vorwort von Professor Svjatlovskij versehenen "Konflikte der gegenwärtigen Kultur" ("Nacatki znanij" Petrograd, 1923.) Sein letztes Buch, welches das gleiche Problem vom Standpunkt der Lebensphilosophie her behandelt, ist die 1919 erschienene "Lebensanschauung". Die gleiche Idee findet sich bei Simmel auch als Leitmotiv im Leben Goethes, teilweise auch in seinen Büchern über Nietsche und Schopenhauer, wie in seinen Arbeiten über Rembrandt und Michelangelo (der Aufsatz über Michelangelo liegt in russischer Sprache vor; vgl. "Logos" 1911-1912. Bd. I). Die verschiedenen Arten der Überwindung des Konflikts zwischen der Seele und ihrer schöpferischen Objektivierung in einem äußeren Kulturpunkt legt Simmel seiner Typologie der schöpferischen Individuen zugrunde.

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tinomie, in eine tragische Sackgasse1.
Im Wort, in jeder Äußerung, so unbedeutend sie auch immer sein mag, verwirklicht sich immer und immer wieder diese lebendige Synthese des Psychischen und des Ideologischen, des Inneren und des Äußeren. In jedem Redeakt geht das subjektive Erlebnis in der objektiven Tatsache der gesprochenen Wortäußerung auf, während das gesprochene Wort sich im Akt des antwortenden Verstehens subjektiviert, um früher oder später die antwortende Replik hervorzubringen. Jedes Wort ist, wie wir bereits wissen, eine kleine Arena, in der sich verschiedengerichtete soziale Akzente überschneiden und bekämpfen. Ein Wort aus dem Munde eines Einzelwesens ist das Produkt der lebendigen Wechselbeziehung sozialer Kräfte.
So durchdringen Psyche und Ideologie einander dialektisch im einheitlichen und objektiven Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation.

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last update : Thu Jun 17 13:02:49 CEST 2004 Valentin N. Volosinov
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