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Valentin N. Voloшinov |
Thema |
Wege der marxistischen Sprachphilosophie - 2.Teil aus: MARXISMUS UND SPRACHPHILOSOPHIE
( Orginal )
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Status |
1929 - 2.Teil |
Letzte Bearbeitung |
12/2004 |
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1. Wege der marxistischen Sprachphilosophie
1.1. Zwei Richtungen im philosophisch-linguistischen Denken
1.2. Sprache, Rede und Äußerung
1.3. Sprachliche Interaktion
1.4. Thema und Bedeutung der Sprache
1. Wege der marxistischen Sprachphilosophie
Der zweite Teil versucht, das Hauptproblem der Sprachphilosophie, das Problem des realen Seins sprachlicher Phänomene, zu lösen. Dieses Problem ist die Achse, um die sich die wichtigsten Fragen des philosophisch-linguistischen Denkens der neueren Zeit drehen. Zu ihm als zu ihrem Zentrum führen solche grundlegenden Probleme wie das Problem der Sprache, das Problem der sprachlichen Interaktion, das Problem des Verstehens, das Problem der Bedeutung und andere. Natürlich konnten wir bei der Lösung des Problems selbst nur die wichtigsten Wege andeuten. Eine ganze Reihe von Fragen bleiben nahezu unberührt. Eine ganze Reihe von in der Darlegung angedeuteten Fäden werden nicht bis zum Ende verfolgt. Doch anders kann es in einem wenig umfangreichen Buch nicht sein, das fast als erstes versucht, sich diesen Problemen vom marxistischen Standpunkt zu nähern. ....
Unsere Arbeit bewegt sich also in der Richtung vom Allgemeinen und Abstrakten zum Besonderen und Konkreten: von allgemeinphilosophischen Fragen gehen wir zu allgemeinlinguistischen über, und von da aus schon zu einer speziellen Frage, die an der Grenze von Grammatik (Syntax) und Stilistik liegt.
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1.1. Zwei Richtungen im philosophisch-linguistischen Denken
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Das Problem des realen Seins der Sprache.
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Grundlagen der ersten Richtung im philosophisch-linguistischen Denken (individualistischer Subjektivismus).
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Grundlagen der zweiten Richtung im philosophisch-linguistischen Denken (abstraker Objektivismus).
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Die historischen Wurzeln der zweiten Richtung.
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Die gegenwärtigen Vertreter des abstrakten Objektivismus.
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Schlußfolgerungen
Was eigentlich ist der Gegenstand der Sprachphilosophie? Wo sollen wir ihn finden? Wie sieht seine konkrete, materielle Existenz aus? Mit welcher Methode kommen wir an sie heran?
Im ersten, einführenden Teil unserer Arbeit haben wir diese konkreten Fragen überhaupt noch nicht berührt. Wir haben von der Philosophie der Sprache, von der Philosophie des Wortes gesprochen. Doch was heißt S p r a c h e, was heißt W o r t?
Natürlich geht es hier nicht darum, diesen grundlegenden Begriffen eine endgültige Definition zu geben. Eine solche Definition könnte am Schluß der Arbeit gegeben werden und nicht am Anfang (soweit eine wissenschaftliche Definition überhaupt endgültig sein kann). Am Anfang einer Untersuchung muß man methodologische Richtlinien suchen und keine Definitionen: vor allem muß man zuerst den realen Gegenstand, das Untersuchungsobjekt, abtasten; man muß es aus der es umgebenden Wirklichkeit aussondern und seine vorläufigen Grenzen abstecken. Den Anfang eines Forschungsprozesses bestimmen nicht so sehr die Gedanken, die Formeln und Definitionen suchen, als vielmehr die Augen und Hände, welche die reelle Präsenz des Gegenstandes abzutasten versuchen.
Augen und Hände haben es in unserem Falle schwer: die Augen sehen nichts und die Hände fühlen nichts. In einer günstigeren Lage befindet sich scheinbar das Ohr, denn es gibt vor, das Wort, die Sprache, zu hören. Und wirklich ist die Verlockung durch den oberflächlichen phonetischen Empirismus in der Sprachwissenschaft sehr stark. Die Erforschung der lautlichen Seite des Wortes nimmt in der Linguistik einen unverhältnismäßig großen Platz ein. Sie gibt oft den Ton an und steht in keiner Verbindung mit dem
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wahren Wesen der Sprache als ideologischem Zeichen .
Die Aufgabe, das eigentliche Objekt der Sprachphilosophie zu bestimmen, ist keine leichte Aufgabe. Bei jedem Versuch, das Untersuchungsobjekt zu begrenzen, es von einem bestimmten und überschaubaren gegenständlich-materiellen Komplex abzuleiten, geht uns das Wesen des zu erforschenden Gegenstandes, seine ideologische und seine Zeichennatur verloren. Wenn wir den Laut als rein akustisches Phänomen aussondern, so wird es für uns keinen spezifischen Gegenstand Sprache geben. Der Laut fällt völlig in den Kompetenzbereich der Physik. Auch wenn wir den physiologischen Prozeß der Artikulierung des Lautes und den Prozeß seiner lautlichen Rezeption hinzufügen, kommen wir unserem Objekt immer noch nicht näher. Beziehen wir das Erlebnis (die inneren Zeichen) des Sprechenden und des Hörenden mit ein, so erhalten wir zwei psychophysische Prozesse, die in zwei verschiedenen psychophysiologischen Subjekten vor sich gehen, sowie einen physischen Komplex, der sich in der Natur nach physikalischen Gesetzen verwirklicht. Die Sprache als spezifisches Objekt haben wir damit aber noch lange nicht. Unterdessen haben wir drei Wirklichkeitssphären - die physikalische, die physiologische und die psychologische - berührt und einen einigermaßen komplizierten und vielschichtigen Komplex erhalten. Doch dieser Komplex ist seelenlos, seine einzelnen Bestandteile liegen nebeneinander und sind durch keine innere ihn ganz und gar durchdringende Gesetzmäßigkeit verbunden, welche ihn in ein sprachliches Phänomen verwandeln würde.
Was müssen wir unserem ohnehin schon schwierigen Komplex noch hinzufügen?
Wir müssen ihn vor allem in den bedeutend breiteren und ihn umfassenden anderen Komplex einschließen, - in die einheitliche Sphäre der organisierten sozialen Kommunikation. Will man den Prozeß des Verbrennens beobachten, muß man einen Körper in
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die Atmosphäre versetzen. Will man ein sprachliches Phänomen beobachten, muß man sowohl die beiden den Laut produzierenden und hörenden Subjekte als auch den Laut selber in eine soziale Atmosphäre versetzen. Denn der Sprechende wie der Hörende müssen einem bestimmten sprachlichen Kollektiv, einer organisierten Gemeinschaft angehören. Notwendig ist ebenfalls, daß unsere beiden Individuen durch die Einheit einer ihnen nahen sozialen Situation verbunden werden, d. h. sie müssen sich von Mensch zu Mensch auf einer bestimmten Grundlage finden. Sprachlicher Austausch ist nur auf einer bestimmten Grundlage möglich, wie allgemein und sozusagen zufällig diese auch immer sein möge.
So sind also die Einheit des sozialen Milieus und die Einheit des unmittelbaren sozialen Anlasses der Kommunikation notwendige Bedingungen dafür, daß der von uns aufgezeigte physikalisch-psychisch-physiologische Komplex eine Beziehung zur Sprache, zur Rede bekommt und zu einem Faktum der Sprache als Rede werden kann. Zwei biologische Organismen können unter rein natürlichen Bedingungen keine Redefakten hervorbringen.
Anstatt der gewünschten Eingrenzung unseres Untersuchungsobjekts hat unsere Analyse seine außerordentliche Ausweitung und Komplizierung zum Ergebnis.
Das organisierte soziale Milieu nämlich, in das wir unseren Komplex eingeschlossen haben, ist ebenso wie die unmittelbare soziale Kommunikationssituation von sich aus schon außerordentlich kompliziert und von vielseitigen und verschiedenartigsten Verbindungen durchdrungen, die nicht alle gleichmäßig für das Verständnis sprachlicher Fakten wichtig sind oder konstitutive Momente der Sprache bilden. Schließlich muß dieses ganze vielfältige System der Erscheinungen und Beziehungen, der Prozesse und Dinge auf einen Nenner gebracht werden; alle Linien müssen sich in einem Zentrum vereinigen - im Brennpunkt des sprachlichen Prozesses.
In dem vorausgegangenen Abschnitt haben wir die Exposition des Problems der Sprache gegeben, d. h. wir haben das Problem selbst und die in ihm enthaltenen Schwierigkeiten aufgerollt. Wie wurde dieses Problem in der Sprachphilosophie und in der allgemeinen Linguistik gelöst? Welche Wegweiser stehen bereits auf dem Weg zu seiner Lösung, an denen man sich orientieren könnte?
Es ist nicht unsere Aufgabe, einen ausführlichen Abriß der Geschichte oder wenigstens des gegenwärtigen Standes der Sprach-
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philosophie und der allgemeinen Linguistik zu geben. Wir werden uns hier lediglich auf eine allgemeine Analyse der wesentlichsten Richtungen des modernen philosophischen und linguistischen Denkens beschränken .
In der Sprachphilosophie und in den entsprechenden methodologischen Abschnitten der allgemeinen Linguistik können wir zwei Hauptrichtungen in der Lösung unseres Problems, des Problems der Aussonderung und Eingrenzung der Sprache als spezifisches Objekt der Untersuchung beobachten. Dies hat natürlich auch eine radikale Unterscheidung dieser beiden Richtungen in allen übrigen Fragen der Sprachwissenschaft zur Folge.
Die erste Richtung kann man als individualistischen Subjektivismus in der Sprachwissenschaft bezeichnen, die andere als abstrakten Objektivismus .
Die erste Richtung hält den individuell-schöpferischen Sprechakt für die Grundlage der Sprache (als Summe aller sprachli-
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chen Erscheinungen ohne Ausnahme). Die Quelle der Sprache ist die individuelle Psyche. Die Gesetze des sprachlichen Schaffens - denn die Sprache ist ununterbrochenes Werden, ununterbrochenes Schaffen - sind individuell-psychologische Gesetze; sie sind es, die der Linguist und der Sprachphilosoph studieren müssen. Ein sprachliches Phänomen beleuchten heißt, es auf einen vernünftigen (oft sogar rationalen) individuell-schöpferischen Akt zurückführen. Alles übrige hat für die Arbeit des Linguisten lediglich einen vorläufigen, konstatierenden, beschreibenden und klassifizierenden Charakter; es bereitet die eigentliche Erklärung des sprachlichen Phänomens aus dem individuell-schöpferischen Akt vor oder dient den praktischen Zielen des Erlernens einer fertigen Sprache. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Sprache anderen ideologischen Erscheinungen analog, besonders der künstlerischen Tätigkeit.
Die hauptsächliche Perspektive der ersten Richtung nimmt, was die Sprache betrifft, ihren Ausgang von folgenden Grundlagen:
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Die Sprache ist eine Tätigkeit, ein ununterbrochener Bewußtseinsprozeß ενεργεια, der sich in individuellen Redeakten verwirklicht;
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Die Gesetze des sprachlichen Schaffens sind individuell-psychologische Gesetze;
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die sprachliche Schöpfung ist analog dem künstlerischen Schaffen eine vernunftgeleitete Schöpfung;
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die Sprache als fertiges Produkt εργον, als beständiges Sprachsystem (Wortschatz, Grammatik, Phonetik), ist gleichsam eine abgestorbene Schicht, die erkaltete Lava des sprachlichen Schaffens, das von der Linguistik zum Zwecke der Erlernung der Sprache als fertigem Instrumentarium abstrakt rekonstruiert wird.
Der wichtigste Vertreter der ersten Richtung, deren Grundlagen er auch schuf, war Wilhelm v. Humboldt .
Der Einfluß des mächtigen Humboldtschen Denkens geht weit über die Grenzen der von uns charakterisierten Richtung hinaus. Man kann behaupten, daß die gesamte Linguistik nach Humboldt
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unter seinem bestimmenden Einfluß steht. Das Humboldtsche Denken als Ganzes läßt sich natürlich nicht in den Rahmen der von uns herausgestellten Grundlagen pressen, es ist weiter, komplizierter und widersprüchlicher. Deswegen konnte Humboldt auch als Lehrer von Richtungen gelten, die sich untereinander stark unterscheiden. Dennoch ist der Kern der Humboldtschen Ideen der stärkste und klarste Ausdruck dem grundlegenden, von uns charakterisierten Tendenzen .
In der russischen linguistischen Literatur sind A. A. Potebnja und seine Nachfolger die wichtigsten Vertreter der ersten Richtung .
Die nachfolgenden Vertreter der ersten Richtung erreichten schon nicht mehr die philosophische Synthese und die Tiefe Humboldts. Die Richtung verflachte zusehends, besonders im Zusammenhang mit dem Übergang zu Positivismus und oberflächlichem Empirismus. Schon Steinthal geht der Schwung Humboldts ab.
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Dafür kommen aber große methodologische Genauigkeit und Systematik auf. Auch für Steinthal ist die Quelle der Sprache die individuelle Psyche, und die Gesetze dem sprachlichen Entwicklung sind psychologische Gesetze .
Die Grundlagen der ersten Richtung werden im empirischen Psychologismus Wundts und seiner Nachfolger außerordentlich verflacht . Wundts Grundsätze basieren darauf, daß alle sprachlichen Fakten ohne Ausnahme sich aus der individuellen Psychologie auf voluntaristischer Grundlage erklären lassen . Gewiß, Wundt hält, ebenso wie Steinthal, die Sprache für ein Faktum der »Völkerpsychologie« oder der »ethnischen Psychologie« . Jedoch setzt sich die Völkerpsychologie Wundts aus den Psychen einzelner Individuen zusammen; nur sie besitzen für ihn die ganze Fülle der Realität.
Alle seine Erklärungen, sei es der Sprachfakten, der Mythen oder der Religion, haben eine rein psychologische Basis. Eine besondere, rein soziologische Gesetzmäßigkeit, die jedem ideologischen Zeichen eigen ist und die sich von keinerlei individuell-psychologischen Gesetzen ableiten läßt, kennt Wundt nicht.
Gegenwärtig hat die erste Richtung der Sprachphilosophie, nach ihrer Befreiung vom Positivismus und in dem erweiterten Bewußtsein ihrer Aufgaben mit der Schule Vosslers eine neue, mächtige Blütezeit erreicht.
Die Schule Vosslers, die sogenannte »idealistische Neuphilologie« ist ohne Zweifel eine der mächtigsten Richtungen im modernen philosophisch-linguistischen Denken. Ebenso bedeutend ist in der Romanistik und Germanistik der positive, spezielle Beitrag ih-
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rer Nachfolger zur Linguistik. Es seien hier, außer Vossler selbst, Leo Spitzer, Lorck, Lerch u. a. genannt. Auf jeden von ihnen werden wir noch mehr als einmal zurückkommen.
Die allgemeine philosophisch-linguistische Konzeption Vosslers und seiner Schule sind durch die von uns aufgezählten vier Grundsätze der ersten Richtung hinreichend charakterisiert. Die Schule Vosslers wird vor allem durch die entschiedene und prinzipielle Absage an den linguistischen Positivismus bestimmt, der nichts weiter sieht als die sprachliche Form (besonders die phonetische Form, weil sie als die »positivste« erscheint) und den elementaren psychophysiologischen Akt ihrer Hervorbringung . Im Zusammenhang damit schiebt sich der rational-ideologische Faktor der Sprache in den Vordergrund. Der wichtigste Motor des sprachlichen Schaffens ist der »sprachliche Geschmack« - eine besondere Spielart des künstlerischen Geschmacks. Der sprachliche Geschmack ist auch jene linguistische Wahrheit, die der Sprache Leben gibt und die der Linguist in jeder sprachlichen Erscheinung offenlegen muß, um diese Erscheinung wirklich verstehen und erklären zu können.
»Wissenschaftlichen Anspruch kann nur eine Geschichte der Sprache erheben - schreibt Vossler - welche die ganze pragmatische kausale Reihe mit dem Ziel betrachtet, in ihr eine bestimmte ästhetische Reihe zu finden, damit das linguistische Denken, die linguistische Wahrheit, der linguistische Geschmack, das linguistische Gefühl oder, wie Humboldt sagt, die innere Form der Sprache in ihren physikalisch, psychisch, politisch, ökonomisch und überhaupt kulturell bedingten Veränderungen klar und verständlich wird «
So haben, wie wir sehen, laut Vossler, alle Faktoren (physikalische, politische, ökonomische u. a.), die irgendeine sprachliche Erscheinung bestimmen, für den Linguisten keine unmittelbare Bedeutung; für ihn ist nur der künstlerische Sinn dieser sprachlichen Erscheinung wichtig.
Die Konzeption der Sprache ist bei Vossler also rein ästhetisch. »Die Idee der Sprache - schreibt er - ist ihrem Wesen nach eine poetische Idee, die Wahrheit der Sprache ist eine künstlerische Wahrheit, sie ist die durchdachte Schönheit .«
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Es ist völlig verständlich, daß für Vossler nicht das fertige System der Sprache im Sinne einer Ganzheit der ererbten vorhandenen phonetischen, grammatischen und anderen Formen die wesentlichste Realität der Sprache sein kann, sondern der individuelle, schöpferische Redeakt (Sprache als Rede). Daraus folgt, daß vom Blickwinkel des Werdens der Sprache in jedem Redeakt nicht jene grammatischen Formen wichtig sind, die allgemein, beständig und in allen anderen Äußerungen der gegebenen Sprache präsent sind, sondern wichtig ist die individuelle, allein für diese bestimmte Äußerung charakteristische stilistische Konkretisierung und Modifikation dieser abstrakten Formen.
Nur diese stilistische Individualisierung der Sprache in der konkreten Äußerung ist historisch und schöpferisch produktiv. Eben hier findet das Werden der Sprache statt, um sich dann in grammatischen Formen niederzuschlagen: alles, was zu grammatischem Faktum wird, war früher stilistisches Faktum. Darauf basiert auch Vosslers Idee des Primats der Stilistik über die Grammatik. Der größte Teil der linguistischen Untersuchungen, die aus der Schule Vosslers stammen, liegen auf der Grenze zwischen Linguistik (im engen Sinne) und Stilistik . Die Vosslerianer versuchen konsequent, in jeder Form der Sprache ihre rational-ideologischen Wurzeln bloßzulegen.
Dies wären im wesentlichen die philosophisch-linguistischen Anschauungen Vosslers und seiner Schule .
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Von den zeitgenössischen Vertretern der ersten Richtung in der Sprachphilosophie muß wegen seines großen Einflusses auf das gegenwärtige philosophisch-linguistische und literaturwissenschaftliche Denken Europas der italienische Philosoph und Literaturwissenschaftler Benedetto Croce genannt werden.
Die Ideen Benedetto Croces sind denen Vosslers in vieler Beziehung verwandt. Auch für ihn ist die Sprache ein ästhetisches Phänomen. Das wichtigste Schlüsselwort seiner Konzeption ist der Ausdruck (espressione). Jeder Ausdruck ist im Grunde künstlerisch. Daher fällt auch die Linguistik als die Wissenschaft vom Ausdruck par excellence (dem Wort also) mit der Ästhetik zusammen. Daraus folgt, daß auch für Croce der individuelle Redeakt (Ausdruck) das wichtigste Phänomen der Sprache darstellt .
Gehen wir jetzt zur Charakterisierung der zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens über.
Als organisierendes Zentrum aller sprachlichen Erscheinungen, das diese zu spezifischen Objekten einer besonderen Wissenschaft von der Sprache macht, wird von der zweiten Richtung ein völlig anderer Faktor angesehen: das sprachliche System als ein System phonetischer, grammatischer und lexikalischer Formen.
Wenn die Sprache für die erste Richtung ein wenig fließender Strom von Redeakten ist, in dem nichts beständig und sich selbst gleich ist, so sieht die zweite Richtung in ihr jenen unbeweglichen Regenbogen, der über dem Strom steht.
Jeder individuelle schöpferische Akt, jede Äußerung, sind originell und unwiederholbar, doch finden sich in jeder Äußerung Elemente, die mit den Elementen anderer Äußerungen einer bestimmten Sprachgruppe identisch sind. Genau diese identischen und deswegen für alle Äußerungen normativen Momente (phonetische, grammatische, lexikalische) sind es, die die Einheit der jeweiligen Sprache garantieren und sie allen Mitgliedern der Gemeinschaft verständlich machen.
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Nehmen wir irgendeinen Laut aus der Sprache, z.B. das Phonem »a« aus dem Wort »raduga« [Regenbogen], so ist dieser von den physiologischen ArtikulationШorganen eines individuellen Organismus hervorgebrachte Laut eines jeden sprechenden Wesens originell und unwiederholbar. Soviel Menschen, die das Wort »raduga« aussprechen, soviel verschiedene »a«-Laute in diesem Wort (auch wenn unser Ohr diese Eigenheiten nicht unterscheiden kann oder will). Denn der physiologische Laut (d. h. der vom individuellen physiologischen Artikulationsapparat hervorgebrachte Laut) ist letzten Endes ebenso unwiederholbar wie der daktyloskopische Fingerabdruck einer bestimmten Person oder die chemische Zusammensetzung seines Blutes (obgleich die Wissenschaft bis jetzt noch nicht imstande ist, eine individuelle Formel dafür zu finden).
Aber sind denn vom Standpunkt der Sprache her gesehen alle diese individuellen Eigenheiten des Lautes »a«, die durch die, sagen wir, unwiederholbare Form der Zunge, des Gaumens und der Zähne der sprechenden Individuen bestimmt sind (gesetzt den Fall, wir wären in der Lage, alle diese Besonderheiten zu fixieren), in irgendeiner Weise wesentlich? Natürlich nicht. Wesentlich ist allein die normative Identität dieses Lautes in allen Fällen, wo das Wort »raduga« ausgesprochen wird. Eben diese normative Identität (denn eine faktische Identität gibt es nicht) konstituiert die Einheit des phonetischen Systems der Sprache (in einem bestimmten Ausschnitt, einem bestimmten Augenblick ihrer Existenz) und garantiert, daß dieses Wort von allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verstanden wird. Dieses normativ identische Phonem »a« ist nämlich das sprachliche Faktum, das spezifische Objekt der Wissenschaft von der Sprache.
Das gleiche gilt auch für alle anderen Elemente der Sprache. Auch bei ihnen stoßen wir auf die gleiche normative Identität der Sprachform (z. B. irgendein syntaktisches Muster) und die individuell-unwiederholbare Verwirklichung und Füllung dieser Form in einem einheitlichen Redeakt. Der erste Faktor ist Bestandteil des Sprachsystems, der zweite ist ein Faktum individueller Sprechprozesse, die von zufälligen (von der Sprache als System her gesehen) physiologischen, subjektiv-psychologischen und anderen, einer genauen Definition sich entziehenden Faktoren bestimmt werden.
Es ist klar, daß das eben charakterisierte Sprachsystem völlig unabhängig von irgendwelchen individuell-schöpferischen Akten, Absichten oder Motiven ist. Vom Standpunkt der zweiten Rich-
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tung her gesehen kann von einer rationalen Sprachschöpfung durch das sprechende Individuum natürlich nicht die Rede sein . Die Sprache steht dem Individuum als unerschütterliche, unanfechtbare Norm entgegen, die es nur akzeptieren kann. Nimmt das Individuum eine Sprachform nicht als unangreifbare Norm an, so existiert diese für es nicht als solche, sondern lediglich als eine natürliche Möglichkeit seines psychophysischen Apparats. Das Individuum übernimmt das vollständige Sprachsystem von der sprechenden Gemeinschaft, und jede Veränderung in diesem System liegt außerhalb der Grenzen seines individuellen Bewußtseins. Der individuelle Akt der Artikulierung irgendwelcher Laute wird nur in dem Maße zum Sprechakt, als er sich in das immer unveränderliche und für das Individuum unangreifbare Sprachsystem eingliedern läßt.
Welche Gesetzmäßigkeit herrscht jedoch innerhalb des Sprachsystems?
Diese Gesetzmäßigkeit ist rein immanent und spezifisch und läßt sich von keiner ideologischen, künstlerischen oder anderen Gesetzmäßigkeit ableiten. Alle Formen der Sprache brauchen einander in einem gegebenen Augenblick, d. h. synchronisch, sie ergänzen einander und verwandeln die Sprache so in ein geordnetes System, das von spezifischen sprachlichen Gesetzmäßigkeiten geleitet wird. Die spezifische linguistische Gesetzmäßigkeit kann - im Gegensatz zur ideologischen Gesetzmäßigkeit (der Erkenntnis, des künstlerischen Schaffens, der Ethik) - niemals zum Motiv des individuellen Bewußtseins werden. Das Individuum muß sich dieses System als Ganzes, so wie es ist, aneignen; für irgendwelche bewertenden ideologischen Unterscheidungen wie schlechter, besser, schön, gemein usw. ist da kein Platz. Es gibt eigentlich nur ein sprachliches Kriterium, nämlich »richtig« oder »falsch«, wobei unter sprachlicher Richtigkeit nur die Übereinstimmung der jeweiligen Form mit dem normativen System der Sprache verstanden wird. Folglich ist weder von sprachlichem Geschmack, noch von linguistischer Wahrheit die Rede. Vom Standpunkt des Individuums her gesehen ist die linguistische Gesetzmäßigkeit willkürlich,
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d. h. sie ist jeder natürlichen und ideologischen (z. B. künstlerischen) Verständlichkeit und Motivierung beraubt. So besteht zwischen der äußeren Gestalt des Wortes und seiner Bedeutung weder eine natürliche Beziehung, noch eine künstlerische Übereinstimmung (correspondence).
Ist die Sprache als System von Formen von allen schöpferischen Impulsen und Handlungen des Individuums unabhängig, so erscheint sie folglich als Produkt eines kollektiven Schaffens; sie ist gesellschaftlich und - wie jede gesellschaftliche Einrichtung - aus diesem Grunde für jedes einzelne Individuum normativ.
Doch auch das System der Sprache, das im Schnitt eines jeden Augenblicks einheitlich und unveränderlich, d. h. synchron, erscheint, verändert und entwickelt sich im Prozeß des historischen Werdens des jeweiligen sprechenden Kollektivs. Denn die von uns angenommene normative Identität des Phonems ist in den verschiedenen Epochen der Entwicklung dieser Sprache verschieden. Mit einem Wort: die Sprache hat ihre Geschichte. Wie wird diese Geschichte vom Standpunkt der zweiten Richtung her verstanden?
Für die zweite Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens ist der eigentümliche Bruch zwischen der Geschichte der Sprache und dem System in seinem unhistorischen und für einen bestimmten Augenblick synchronen Schnitt charakteristisch. Vom Standpunkt der Begründer der zweiten Richtung ist dieser dualistische Widerspruch völlig unüberwindbar. Zwischen der Logik, die das System der sprachlichen Formen in einem gewissen Augenblick bestimmt und der Logik (oder besser: Unlogik) der historischen Veränderung dieser Formen kann es nichts Gemeinsames geben. Es handelt sich um zweierlei Logik, oder, wenn wir eine von ihnen für die Logik halten, so wird die andere zur bloßen Übertretung der angenommenen Logik, zur Unlogik also.
In der Tat sind die linguistischen Formen, die das System der Sprache bilden, gegenseitig aufeinander angewiesen; sie ergänzen einander wie die Glieder einer mathematischen Formel. Die Veränderung eines Bestandteils des Systems schafft ein neues System, ebenso wie die Veränderung eines Gliedes der Formel eine neue Formel schafft. Jene Verbindung und Gesetzmäßigkeit, welche die Beziehungen zwischen den Zeichen dieser Formel bestimmt, läßt sich nicht auf die Beziehungen dieses Systems oder dieser Formel zu einem anderen, darauf folgenden System oder einer anderen Formel übertragen.
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An dieser Stelle kann man eine Analogie benutzen, die zwar grob ist, aber nichtsdestoweniger das Verhältnis der zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens zur Sprachgeschichte ziemlich deutlich ausdrückt. Vergleichen wir das Sprachsystem mit der Formel für das Newtonsche Binom. Innerhalb dieser Formel herrscht eine strenge Gesetzmäßigkeit, die sich jedes Glied unterordnet und unveränderlich macht. Nehmen wir an, ein Schüler benutzt die Formel falsch (indem er z. B. Zeichen und Indices durcheinanderbringt); es entsteht eine neue Formel mit ihrer eigenen inneren Gesetzmäßigkeit (diese Formel ist für die Berechnung des Binoms natürlich nicht geeignet, doch das ist für unsere Analogie nicht wichtig). Zwischen der ersten und der zweiten Formel gibt es schon keine mathematische Verbindung mehr, die derjenigen innerhalb jeder einzelnen Formel analog wäre.
In der Sprache liegen die Dinge genauso. Die systematischen Beziehungen, welche zwei Sprachformen im System der Sprache verbinden (im Schnitt eines jeweiligen Augenblicks), haben mit den Beziehungen, welche eine dieser Formen mit ihrer veränderten äußeren Gestalt zu einem späteren Zeitpunkt des historischen Werdens der Sprache verbinden, nichts gemein. Der Germane bis zum XVI. Jh. konjugierte: »ich was, wir waren.« Der Deutsche von heute konjugiert: »ich war, wir waren.« »Ich was« hat sich also in »ich war« verwandelt. Zwischen den Formen »ich was - wir waren« und »ich war - wir waren« besteht eine systematische linguistische Verbindung und gegenseitige Ergänzung. Sie sind verbunden und ergänzen einander insbesondere als die Einzahl und Mehrzahl der ersten Person in der Konjugation des gleichen Verbs. Zwischen »ich was« - »ich war« und zwischen »ich war« (heutiges Deutsch) und »wir waren« (XV.XVI. Jh.) besteht eine andere, ganz besondere Beziehung, die mit der ersten systematischen nichts zu tun hat. Die Form »ich war« ist analog zu »wir waren« entstanden: anstatt »ich was« schufen einzelne Individuen unter dem Einfluß der Form »wir waren« - »ich war« . Diese Erscheinung verbreitete sich massenhaft, mit dem Ergebnis, daß ein individueller Fehler sich in eine sprachliche Norm verwandelte.
So besteht also zwischen den beiden Reihen:
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I. »ich was - wir waren« (im synchronischen Schnitt des, sagen wir, XV. Jh.)
und
»ich war - wir waren« (im synchronischen Schnitt des, sagen wir XIX. Jh.)
II. »ich was - ich war«
daraus erfolgt: wir waren
(als analogiebestimmender Faktor)
ein tiefgehender prinzipieller Unterschied. Die erste - synchronische - Reihe wird durch die systematische Sprachverbindung zweier aufeinander angewiesener und sich gegenseitig ergänzender Elemente bestimmt. Diese Reihe steht dem Individuum als unangreifbare sprachliche Norm gegenüber. Die zweite - historische oder diachronische - Reihe wird von ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit bestimmt, streng gesprochen, von der des analog entstandenen Fehlers.
Die Logik der Sprachgeschichte, die Logik der individuellen Fehler und Abweichungen, der Übergang von »ich was« zu »ich war«, vollzieht sich außerhalb der Grenzen des individuellen Bewußtseins. Der Übergang geschieht unwillkürlich und unmerklich, und nur so kann er sich überhaupt verwirklichen. In jeder Epoche kann es nur eine sprachliche Norm geben, entweder »ich was« oder »ich war«. Neben der Norm kann nur ihre Übertretung bestehen, aber keine andere, der ersten widersprechende Norm (deswegen kann es auch nicht zu sprachlichen »Tragödien« kommen). Wird eine Übertretung nicht bemerkt und, folglich, nicht korrigiert, oder gibt es eine günstige Grundlage dafür, daß diese Übertretung zu einer Massenerscheinung wird - in unserem Fall ist die günstige Grundlage die Analogie - wird die Übertretung zur neuen sprachlichen Norm.
So besteht also zwischen der Logik der Sprache als Formsystem und der Logik ihres historischen Werdens keinerlei Verbindung; sie haben nichts Gemeinsames. Beide Sphären werden von völlig verschiedenen Gesetzmäßigkeiten und Faktoren beherrscht. Das, was die Sprache in ihrem synchronischen Schnitt zusammenfügt und ihr einen Sinn gibt, wird im diachronischen Schnitt übertreten und ignoriert. Die Gegenwart der Sprache und die Geschichte der Sprache verstehen einander nicht und sind dazu auch gar nicht in der Lage.
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Wir bemerken hier, und besonders an diesem Punkt, einen tiefgreifenden Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Richtung in der Sprachphilosophie. Für die erste Richtung offenbarte sich das Wesen der Sprache gerade in der Geschichte. Die Logik der Sprache, das ist keinesfalls die Logik der Wiederholung von normativ-identischen Formen, sondern die ewige Erneuerung, die Individualisierung dieser Formen in der stilistisch unwiederholbaren Äußerung. Die Wirklichkeit der Sprache ist ihr Werden. Zwischen einem bestimmten Augenblick im Leben einer Sprache und ihrer Geschichte herrscht gegenseitiges Einvernehmen. Hier und dort herrschen die gleichen ideologischen Motive; um mit Vossler zu sprechen: der sprachliche Geschmack schafft die Einheit der Sprache im Schnitt eines bestimmten Augenblicks; er schafft und garantiert ebenso die Einheit des historischen Werdens der Sprache. Der Übergang von einer historischen Form zur anderen vollzieht sich im wesentlichen in den Grenzen des individuellen Bewußtseins, denn, wie wir wissen, war jede grammatische Form, laut Vossler, ursprünglich eine freie stilistische Form.
Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Richtung wird durch Folgendes sehr deutlich illustriert: die selbstidentischen Formen, die das unbewegliche Sprachsystem ερΥον bilden, waren für die erste Richtung lediglich die abgestorbenen Schichten des eigentlichen sprachlichen Werdens; das wahre Wesen der Sprache verwirklichte sich im unwiederholbaren, individuell-schöpferischen Akt. Für die zweite Richtung wird gerade dieses System der selbstidentischen Formen zum Wesen der Sprache; die individuell-schöpferische Brechung und Variierung der sprachlichen Formen erscheinen als die Schlacken des sprachlichen Lebens, oder genauer, der monumentalen sprachlichen Unbeweglichkeit, als unfaßbare und unnötige Obertöne des unveränderlichen Grundtons der sprachlichen Formen.
Der wesentliche Standpunkt der zweiten Richtung kann übrigens vielleicht von folgenden Grundsätzen hergeleitet werden:
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Die Sprache ist ein beständiges, unveränderliches System von normativ identischen sprachlichen Formen, die vom individuellen Bewußtsein vorgefunden und nicht angezweifelt werden.
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Die Gesetze der Sprache sind spezifisch linguistische Gesetze, Verbindungen zwischen sprachlichen Zeichen innerhalb eines gegebenen geschlossenen Sprachsystems. Diese Gesetze sind im
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Verhältnis zu jedem subjektiven Bewußtsein objektiv.
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Die spezifischen sprachlichen Verbindungen haben mit ideologischen Werten (künstlerischen Werten, Erkenntniswerten u. a.) nichts gemein. Keine ideologischen Motive begründen das Phänomen der Sprache. Zwischen dem Wort und seiner Bedeutung gibt es weder eine natürliche und dem Bewußtsein verständliche, noch eine künstlerische Verbindung.
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Die individuellen Sprechakte sind vom Standpunkt der Sprache her betrachtet nur zufällige Brechungen und Variationen oder einfach Verzerrungen der normativ identischen Formen; doch gerade diese Akte des individuellen Sprechens erklären die historische Veränderlichkeit der sprachlichen Formen, die vom Standpunkt des Sprachsystems irrational und sinnlos erscheinen. Zwischen dem System der Sprache und ihrer Geschichte gibt es weder eine Verbindung noch gemeinsame Motive. Sie sind einander fremd.
Der Leser wird bemerken, daß die von uns formulierten vier Grundsätze der zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens Antithesen der entsprechenden vier Grundsätze der ersten Richtung sind.
Es ist bedeutend schwerer, die historischen Ursprünge der zweiten Richtung zu verfolgen. Es gab dort zu Beginn unserer Epoche keinen Vertreter und Begründer von der Bedeutung W. Humboldts. Wir müssen die Wurzeln dieser Richtung im Rationalismus des XVII. und XVIII. Jh. suchen. Diese Wurzeln reichen bis zu Descartes .
Die Ideen der zweiten Richtung haben ihren ersten und deutlichen Ausdruck bei Leibniz, in seiner Konzeption der universalen Grammatik gefunden.
Für den gesamten Rationalismus ist die Idee der Bedingtheit und der Willkür der Sprache nicht weniger charakteristisch als der
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Vergleich des Sprachsystems mit dem System der mathematischen Zeichen. Nicht die Beziehung des Zeichens zu der von ihm wiedergegebenen realen Wirklichkeit oder dem es hervorbringenden Individuum interessiert den mathematisch ausgerichteten Verstand der Rationalisten, sondern die Beziehung zum Zeichen innerhalb eines einmal geltenden und angenommenen geschlossenen Systems. Mit anderen Worten, ihn interessiert nur die innere Logik des Zeichensystems selbst, die, wie in der Algebra, völlig unabhängig von den die Zeichen erfüllenden ideologischen Bedeutungen betrachtet wird. Die Rationalisten sind gerade noch geneigt, den Standpunkt des Verstehenden zu berücksichtigen, doch keinesfalls das sprechende, sein Innenleben ausdrückende Subjekt. Denn das mathematische Zeichen ist am wenigsten geeignet, als Ausdruck der individuellen Psyche interpretiert zu werden, und das mathematische Zeichen war für die Rationalisten das Idealbild eines jeden Zeichens, auch des sprachlichen. Dies alles fand seinen klaren Ausdruck in der Leibnizschen Idee der universalen Grammatik .
Es muß hier angemerkt werden, daß das Primat des Standpunkts des Verstehenden über den Standpunkt des Sprechenden die konstante Besonderheit der zweiten Richtung ist. Von hier, von der Basis dieser Richtung aus, gibt es keinen Zugang zum Problem des Ausdrucks und folglich auch nicht zum Problem der Entstehung eines Gedankens und der subjektiven Psyche im Wort (eines der grundlegenden Probleme der ersten Richtung).
Die Idee der Sprache als eines Systems von relativen, willkürlichen, ihrem Ursprung nach rationalen Zeichen wurde in vereinfachter Form im XVIII. Jh. von den Vertretern der Aufklärung ausgearbeitet.
Die auf französischem Boden entstandenen Ideen des abstrakten Objektivismus herrschen bis heute besonders in Frankreich vor . Wir lassen jetzt die Zwischenetappen der Entwicklung aus und gehen direkt zur Charakterisierung des gegenwärtigen Standes der zweiten Richtung über.
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Den markantesten Ausdruck des abstrakten Objektivismus stellt gegenwärtig die sogenannte »Genfer Schule« des inzwischen lange verstorbenen Ferdinand de Saussure dar. Die Vertreter dieser Schule, besonders Charles Bally, gelten als die bedeutendsten Linguisten der Gegenwart. Ferdinand de Saussure verlieh allen Ideen der zweiten Richtung eine erstaunliche Klarheit und Genauigkeit. Seine Formulierungen der linguistischen Grundbegriffe können als klassisch gelten. Darüber hinaus dachte de Saussure seine Gedanken furchtlos zu Ende und gab so allen Grundlinien des abstrakten Objektivismus Klarheit und Schärfe.
So wenig populär die Schule Vosslers in Rußland ist, so einflußreich ist hier die Schule de Saussures. Man kann behaupten, daß der größte Teil der Vertreter unserer Linguistik unter dem bestimmenden Einfluß de Saussures und seiner Schüler Bally und Sechehaye stehen .
Bei der Charakteristik der Ansichten de Saussures werden wir wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die gesamte zweite Richtung sowie für die russische Linguistik etwas ausführlicher verweilen. Doch werden wir uns auch hier auf die wichtigsten philosophisch-linguistischen Positionen beschränken .
De Saussure geht von der Unterscheidung dreier Aspekte der Sprache aus: der Sprache als Rede (langage), der Sprache als Formensystem (langue) und dem individuellen Redeakt, der Äußerung (parole). Die Sprache als Formensystem und die Äußerung (parole)
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sind Bestandteile der Sprache als Rede, die als Gesamtheit aller ohne Ausnahme bei der Verwirklichung der sprachlichen Handlung beteiligten Erscheinungen - der physikalischen, physiologischen und psychologischen - verstanden wird.
Die Rede (langage) kann, laut de Saussure nicht Objekt der Linguistik sein. Sie entbehrt, für sich allein genommen, jeder inneren Einheit und selbständigen autonomen Gesetzmäßigkeit. Sie ist zusammengesetzt und heterogen. Es ist schwer, sich in ihrem widersprüchlichen Bestand durchzufinden. Von ihrer Basis aus ist es unmöglich, ein sprachliches Faktum genau zu definieren. Die Rede kann nicht Ausgangspunkt für eine linguistische Analyse sein.
Welchen methodologischen Weg schlägt uns de Saussure vor, um das spezifische Objekt der Linguistik auszusondern? Geben wir ihm selbst das Wort:
»Es gibt, unseres Erachtens, nur eine Lösung aller dieser Schwierigkeiten«, schreibt er (gemeint sind die Widersprüche innerhalb des Begriffs »langage« als Ausgangspunkt der Analyse. V. V.), »man muß sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache (langue) begeben und sie als die Norm der anderen Äußerungen der menschlichen Rede (langage) gelten lassen. In der Tat, unter so vielen Doppelseitigkeiten scheint allein die Sprache (langue) eine selbständige Definition zu gestatten, und sie bietet dem Geist einen genügenden Stützpunkt .«
Worin besteht, nach de Saussure, der prinzipielle Unterschied zwischen Rede (langage) und Sprache (langue)?
»Die menschliche Rede, als Ganzes genommen, ist vielförmig und ungleichartig; verschiedenen Gebieten zugehörig, zugleich physikalisch, psychisch und physiologisch, gehört sie außerdem noch sowohl dem individuellen als auch dem sozialen Gebiet an; sie
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läßt sich keiner Kategorie der menschlichen Verhältnisse einordnen, weil man nicht weiß, wie ihre Einheit abzuleiten sei.
Die Sprache dagegen ist ein Ganzes in sich und ein Prinzip der Klassifikation. In dem Augenblick, in dem wir ihr den ersten Platz unter den Tatsachen der menschlichen Rede einräumen, bringen wir eine natürliche Ordnung in eine Gesamtheit, die keine andere Klassifikation gestattet «.
So muß man also, laut de Saussure, von der Sprache als einem System von normativ identischen Formen ausgehen und alle Erscheinungen der Rede im Hinblick auf diese beständigen und autonomen (eigengesetzlichen) Formen beleuchten.
Nachdem er die Sprache von der Rede in ihrer Eigenschaft als Ganzheit aller (ohne Ausnahme) Manifestationen sprachlicher Fähigkeiten abgetrennt hat, geht de Saussure zu ihrer Unterscheidung von den individuellen Sprechakten, den Äußerungen (parole) über.
»Indem man die Sprache vom Sprechen scheidet, scheidet man zugleich: 1. das Soziale vom Individuellen; 2. das Wesentliche vom AkzesШorischen und mehr oder weniger Zufälligen.
Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert; sie setzt niemals eine vorherige Überlegung voraus, und die Reflexion ist dabei nur beteiligt, sofern sie die Einordnung und Zuordnung bestätigt, von der die Rede sein wird.
Das Sprechen ist im Gegensatz dazu ein individueller Akt des Willens und der Intelligenz, bei welchem zu unterscheiden sind: 1. die Kombination, durch welche die sprechende Person den code der Sprache in der Absicht, ihr persönliches Denken auszudrücken, zur Anwendung bringt; 2. der psycho-physische Mechanismus, der ihr gestattet, diese Kombination zu äußern .«
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Die Äußerung, so wie de Saussure sie versteht, kann nicht zum Objekt der Linguistik werden . Das einzige linguistische Element sind die in der Äußerung enthaltenen normativ identischen Formen der Sprache. Alles andere ist »nebensächlich und zufällig«.
Unterstreichen wir die Hauptthese de Saussures: die Sprache verhält sich zur Äußerung wie das Soziale zum Individuellen. Die Äußerung ist also rein individuell. Darin liegt, wie wir später sehen werden, das proton pseudos de Saussures und der gesamten Richtung des abstrakten Objektivismus.
Der individuelle Akt der Redeäußerung, der von der Linguistik so entschieden über Bord geworfen wurde, kehrt indessen als notwendiger Faktor in der Geschichte der Sprache wieder . Diese wird, ganz im Geist der zweiten Richtung, von de Saussure der Sprache als synchronischem System scharf entgegengesetzt. In der Geschichte herrscht »die Äußerung« mit ihren Individualitäten und Zufälligkeiten; deswegen ist sie ganz anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen als denen, welche das Sprachsystem leiten.
»So kommt es«, sagt de Saussure, »daß die synchronische 'Erscheinung' nichts mit der diachronischen gemein hat...
Die synchronische Sprachwissenschaft befaßt sich mit logischen und psychologischen Verhältnissen, welche zwischen gleichzeitigen Gliedern, die ein System bilden, bestehen, so wie sie von einem
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und demselben Kollektivbewußtsein wahrgenommen werden.
Die diachronische Sprachwissenschaft untersucht dagegen die Beziehungen, die zwischen aufeinanderfolgenden Gliedern obwalten, die von einem in sich gleichen Kollektivbewußtsein nicht wahrgenommen werden, und von denen die einen an die Stelle der anderen treten, ohne daß sie unter sich ein System bilden .«
De Saussures Ansichten über Geschichte sind typisch für jenen Geist des Rationalismus, der bis heute die zweite Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens beherrscht und für den die Geschichte ein irrationales, die logische Reinheit des Sprachsystems verzerrendes Element ist.
De Saussure und seine Schule sind nicht der einzige Höhepunkt des abstrakten Objektivismus in unserer Zeit. Daneben ragt eine andere, die soziologische Schule Durkheims, hervor, die in der Linguistik von einer solchen Persönlichkeit wie Meillet repräsentiert wird. Wir werden uns bei der Charakterisierung seiner Anschauungen nicht aufhalten . Sie bewegen sich ganz im Rahmen der von uns dargestellten Grundsätze der zweiten Richtung. Auch für Meillet ist die Sprache eine soziale Erscheinung, jedoch nicht als Prozeß, sondern als beständiges System sprachlicher Normen. Die äußeren Merkmale der Sprache im Verhältnis zu jedem individuellen Bewußtsein bilden, ebenso wie ihre Zwänge, laut Meillet, die wichtigsten sozialen Charakterzüge der Sprache.
Dies waren die Anschauungen der zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens, des abstrakten Objektivismus.
Im Rahmen der von uns dargestellten beiden Richtungen sind natürlich viele bisweilen bedeutende Schulen und Strömungen der Linguistik nicht enthalten. Unsere Aufgabe beschränkte sich auf
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das Aufzeigen der Hauptlinien. Alle übrigen Ausdrücke des philosophisch-linguistischen Denkens sind eine Mischung oder ein Kompromiß zwischen den beiden dargestellten Richtungen oder entbehren überhaupt jeder prinzipiellen Orientierung.
Nehmen wir eine so große Bewegung, wie in der zweiten Hälfte des XIX. Jh. die der Junggrammatiker. Die Junggrammatiker sind mit einem Teil ihrer Grundsätze mit der ersten Richtung verbunden, indem sie ihrer unteren, der physiologischen Grenze zustreben. Das die Sprache schaffende Individuum ist für sie im Wesentlichen ein physiologisches Einzelwesen. Andererseits bemühten sich die Junggrammatiker, auf psycho-physiologischer Basis unverbrüchliche naturwissenschaftliche Sprachgesetze zu fixieren, die von der wie auch immer gearteten individuellen Willkür der Sprechenden völlig losgelöst waren.
Aus diesem Geist heraus ist auch die junggrammatische Idee der Lautgesetze zu verstehen .
In der Linguistik gibt es, wie in jeder Einzelwissenschaft, im wesentlichen zwei Möglichkeiten, sich vor der Pflicht und Mühe eines verantwortlichen und prinzipiellen, und folglich philosophischen Denkens zu drücken. Die erste Möglichkeit besteht darin, alle prinzipiellen Standpunkte gleichzeitig zu akzeptieren (akademischer Eklektizismus), die zweite, überhaupt keinen prinzipiellen Standpunkt zu beziehen und das »Faktum« als letzte Basis und Kriterium jeder Erkenntnis zu preisen (akademischer Positivismus).
Der philosophische Effekt der beiden Möglichkeiten, sich von der Philosophie zu befreien, ist der gleiche, denn auch bei der zweiten dringen unter der Hülle des »Faktums« alle nur möglichen prinzipiellen Standpunkte mit in die Untersuchung ein. Die Wahl einer der beiden Möglichkeiten hängt ganz und gar vom Temperament des Forschers ab: die Eklektiker sind eher freundlich und heiter gestimmt, die Positivisten eher brummig.
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In der Linguistik gibt es viele Erscheinungen und sogar ganze Schulen (Schulen im Sinne einer wissenschaftlichen technischen Lehre), welche die Mühe einer philosophisch-linguistischen Orientierung gar nicht erst auf sich genommen haben. Diese sind natürlich in unserem Abriß unberücksichtigt geblieben. Auf einige hier nicht erwähnte Linguisten und Philosophen wie Otto Dietrich und Anton Mairty werden wir später bei der Analyse der Probleme der sprachlichen Interaktion und der Bedeutung eingehen.
Am Anfang des Kapitels haben wir uns die Aufgabe gestellt, die Sprache als spezifisches Untersuchungsobjekt herauszustellen und einzugrenzen. Wir haben uns bemüht, die Wegweiser aufzuzeigen, die von den vorausgegangenen Richtungen des philosopbisch-linguistischen Denkens auf dem Weg zur Lösung dieses Problems aufgestellt worden waren. Schließlich standen wir vor zwei Wegweisern, die in genau entgegengesetzte Richtungen führten: vor den Thesen des individualistischen Subjektivismus und den Antithesen des abstrakten Objektivismus.
Was aber ist das eigentliche Zentrum der sprachlichen Wirklichkeit: der individuelle Redeakt, die Äußerung, oder das Sprachsystem? Und was ist die Seinsform der sprachlichen Wirklichkeit: ist sie ständiges schöpferisches Werden oder die unbewegliche Unveränderlichkeit selbstidentischer Normen?
1.2. Sprache, Rede und Äußerung
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Ist die Sprache als System normativ-identischer Formen objektiv?
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Die Sprache als Normensystem und der wirkliche Standpunkt des sprechenden Bewußtseins.
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Welche sprachliche Realität liegt dem linguistischen System zugrunde?
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Das Problem des Fremdwortes.
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Die Fehler des abstrakten Objektivismus.
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Schlußfolgerungen
In dem vorausgegangenen Kapitel haben wir uns bemüht, eine völlig objektive Darstellung der zwei Richtungen im philosophisch linguistischen Denken zu geben. Jetzt müssen wir diese beiden Richtungen einer gründlichen kritischen Analyse unterziehen. Erst danach können wir auf die am Ende des vorigen Kapitels gestellte Frage antworten.
Beginnen wir mit der Kritik der zweiten Richtung, des abstrakten Objektivismus.
Stellen wir zunächst einmal die Frage: In welchem Maße ist das
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System der selbstidentischen Sprachnormen, d. h. das Sprachsystem, wie es die Vertreter der zweiten Richtung verstehen, real?
Niemand unter den Vertretern des abstrakten Objektivismus schreibt natürlich dem Sprachsystem eine materielle, sachliche Wirklichkeit zu. Freilich drückt sich die Sprache in materiellen Dingen, in Zeichen aus, doch ist sie als System normativ identischer Formen nur als gesellschaftliche Norm real. Die Vertreter der zweiten Richtung heben ständig hervor, - und das ist einer ihrer Grundsätze - daß das Sprachsystem jedem individuellen Bewußtsein als äußeres, objektives und von diesem Bewußtsein unabhängiges Faktum gegenübersteht. Als System von selbstidentischen, unveränderlichen Normen ist es das nur für das individuelle Bewußtsein und vom Standpunkt dieses Bewußtseins her.
Und wirklich, wenn wir von dem subjektiven individuellen Bewußtsein, das der Sprache als einem System unangreifbarer Normen gegenübersteht, absehen, wenn wir die Sprache wirklich objektiv betrachten, sozusagen von der Seite, oder genauer, von oben, dann können wir kein unbewegliches System selbstidentischer Normen entdecken. Wir stehen dann im Gegenteil vor dem ständigen Werden der sprachlichen Normen.
Blickt man auf die Sprache, von einem wirklich objektiven Standpunkt, also unabhängig davon, wie sie dem jeweiligen sprechenden Individuum in diesem Moment erscheint, so stellt sie sich einem als ständiger Strom des Werdens dar. Für den über der Sprache stehenden objektiven Standpunkt gibt es keinen realen Augenblick, in dessen Schnitt sie ein synchronisches System konstruieren könnte.
So entspricht also das synchronische System, vom objektiven Standpunkt her betrachtet, keinem einzigen realen Faktor im Prozeß des historischen Werdens. In der Tat ist für den Sprachhistoriker, der den diachronischen Standpunkt vertritt, das synchronische System irreal und dient nur als relativer Maßstab zur Registrierung der Abweichungen, die in jedem realen Augenblick vor sich gehen.
So existiert das synchronische Sprachsystem nur, wenn es vom Standpunkt des subjektiven Bewußtseins des sprechenden Individuums aus gesehen wird, welches in einem beliebigen Augenblick der historischen Zeit zu einer bestimmten Sprachgruppe gehört. Vom objektiven Standpunkt aus existiert es in keinem Augenblick der historischen Zeit. Wir können annehmen, daß für Cäsar, als
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er seine Werke schrieb, die lateinische Sprache ein unveränderliches, unangreifbares System selbstidentischen Normen war, doch für den Sprachhistoriker des Lateinischen lief in dem Moment, in dem Cäsar schrieb, der ständige Prozeß der sprachlichen Veränderungen (wenn der Historiker sie auch nicht fixieren kann).
Auch jedes System sozialer Normen befindet sich in einer analogen Situation. Es existiert nur im Verhältnis zum subjektiven Bewußtsein der Individuen, welche zu dem von diesen Normen geleiteten Kollektiv gehören. Dies betrifft auch moralische und rechtliche Normen sowie Normen des ästhetischen Geschmacks (die gibt es nämlich auch) usw. Natürlich sind alle diese Normen verschieden: verschieden sind ihre Verbindlichkeit, die Breite ihres sozialen Wirkungsbereichs, der Grad ihrer sozialen Bedeutung, die von der Nähe zur Basis bestimmt wird, usw. Doch ihre Seinsweise als Normen ist gleich: sie existieren nur in Beziehung zum subjektiven Bewußtsein eines jeweiligen Kollektivs.
Folgt daraus etwa, daß selbst diese Beziehung des subjektiven Bewußtseins zur Sprache als einem System objektiver, unangreifbarer Normen jeder Objektivität entbehrt? Natürlich nicht. Richtig verstanden, kann diese Beziehung zum objektiven Faktum werden.
Wenn wir behaupten: die Sprache als System unangreifbarer und unveränderter Normen existiert objektiv, - dann begehen wir einen großen Fehler. Wenn wir aber sagen, daß die Sprache im Verhältnis zum individuellen Bewußtsein ein System unveränderter Normen ist, daß dies eben der Modus der Existenz der Sprache für jedes Mitglied einer bestimmten Sprachgemeinschaft ist, - dann drücken wir damit eine völlig objektive Beziehung aus. Eine andere Frage ist, ob das Faktum selber richtig konstatiert wurde, ob die Sprache für das Bewußtsein des Sprechenden sich wirklich als ein unveränderliches und unbewegliches Normensystem darstellt. Diese Frage lassen wir zunächst einmal offen. In jedem Fall geht es aber um die Herstellung einer objektiven Beziehung.
Wie sehen aber die Vertreter des abstrakten Objektivismus selbst die Sache? Behaupten sie, daß die Sprache ein System objektiver und unangreifbarer selbstidentischer Normen ist oder legen sie sich Rechenschaft darüber ab, daß dies nur der Existenzmodus der Sprache für das subjektive Bewußtsein derer ist, die diese Sprache sprechen?
Die zweite Frage muß man folgendermaßen beantworten:
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Die meisten Vertreter des abstrakten Objektivismus neigen dazu, die unmittelbare Realität, die unmittelbare Objektivität der Sprache als System normativ identischer Normen zu behaupten. Bei diesen Vertretern der zweiten Richtung verwandelt sich der abstrakte Objektivismus direkt in einen verdinglichten abstrakten Objektivismus. Andere Vertreter der gleichen Richtung (wie Meillet) sind jedoch kritischer und sich über den abstrakten und bedingten Charakter des Sprachsystems im klaren. Allerdings ist keiner der Vertreter des abstrakten Objektivismus zu einem klaren und deutlichen Verständnis der Tätigkeit gelangt, welche für die Sprache als objektives System charakteristisch ist. Meistenteils balancieren sie zwischen zwei Möglichkeiten, das Wort objektiv ausgehend vom Sprachsystem zu verstehen: einmal sozusagen in Anführungszeichen (vom Standpunkt des subjektiven Bewußtseins des Sprechenden) und ohne Anführungszeichen (vom objektiven Standpunkt). So geht übrigens auch de Saussure vor; eine genaue Antwort auf die Frage gibt er nicht.
Doch jetzt müssen wir fragen, ob die Sprache wirklich für das subjektive Bewußtsein des Sprechenden als ein objektives System unangreifbarer normativ identischer Formen existiert, ob der abstrakte Objektivismus den Standpunkt des subjektiven Bewußtseins des Sprechenden richtig verstanden hat. Oder anders: ist der Seinsmodus der Sprache im subjektiven verbalen Bewußtsein wirklich so?
Wir müssen diese Frage mit nein beantworten. Das subjektive Bewußtsein des Sprechenden arbeitet mit der Sprache keinesfalls als mit einem System normativ identischer Formen. Ein solches System ist lediglich eine Abstraktion, die man sich nur mit großer Mühe und in Verbindung mit einer bestimmten kognitiven und praktischen Einstellung erlangen kann. Das System der Sprache ist das Produkt einer Reflexion über die Sprache, die sich nicht im Bewußtsein des in der jeweiligen Sprache Sprechenden selbst und auch nicht zum Zwecke des unmittelbaren Sprechens vollzieht.
In der Tat richtet sich die Orientierung des Sprechenden auf die konkrete Äußerung, die er gerade artikuliert. Es geht ihm um die Anwendung der normativ identischen Form (nehmen wir zunächst ihre Gegebenheit an) in diesem konkreten Kontext. Der Schwerpunkt liegt für ihn nicht bei der identischen Form, sondern in der neuen konkreten Bedeutung, die sie in diesem Kontext bekommt.
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Für den Sprechenden ist nicht die Seite der Form wichtig, die, bei welcher Gelegenheit sie auch angewendet wird, sich immer gleich ist. Nein, für den Sprechenden ist die Seite der sprachlichen Form wichtig, dank derer sie in dem konkreten Kontext figurieren kann und dank derer sie unter den Bedingungen der jeweiligen konkreten Situation zum adäquaten Zeichen werden kann.
Drücken wir dies so aus: für den Sprechenden ist die sprachliche Form nicht als beständiges und sich selbst gleichendes Signal wichtig, sondern als jederzeit veränderliches und flexibles Zeichen. Das wäre der Standpunkt des Sprechenden.
Doch der Sprechende muß den Standpunkt des Hörenden und Verstehenden ebenfalls berücksichtigen. Tritt vielleicht gerade hier die normative Identität der sprachlichen Form in Kraft?
Auch das stimmt nicht ganz. Der wichtigste Faktor des Verstehens ist keinesfalls das Moment des Erkennens der von dem Sprechenden benutzten sprachlichen Form als einer bekannten, als »eben der gleichen« Form, so wie man z. B. deutlich ein noch nicht ganz gewohntes Signal oder eine Form einer wenig vertrauten Sprache erkennt. Nein, die Aufgabe des Verstehens ist es nicht, auf die angewandte Form zu verweisen, sondern, sie in dem jeweiligen konkreten Kontext zu verstehen, ihre Bedeutung in dieser Äußerung zu erfassen, d. h. ihre Neuheit zu verstehen und nicht ihre Identität.
Mit anderen Worten: auch der Verstehende, der zum gleichen sprachlichen Kollektiv gehört, orientiert sich auf die sprachliche Form nicht als auf ein unbewegliches, selbstidentisches Signal, sondern als auf ein veränderliches und flexibles Zeichen.
Den Prozeß des Verstehens darf man keinesfalls mit dem Prozeß des Wiedererkennens verwechseln. Sie sind grundverschieden. Verstanden wird nur ein Zeichen, wiedererkannt - ein Signal. Das Signal ist ein innerlich unbewegliches, einheitliches Ding, das in Wirklichkeit nichts ersetzt, nichts reflektiert oder refraktiert, sondern nur als technischer Hinweis auf diesen oder jenen (bestimmten und unbeweglichen) Gegenstand oder diese oder jene, (ebenfalls bestimmte und unbewegliche!) Handlung dient . Ein Signal
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gehört niemals zum Bereich der Ideologie, sondern zur Welt der technischen Gegenstände, zu den Produktionsinstrumenten im weitesten Sinne dieses Wortes. Noch weiter entfernt von der Ideologie sind jene Signale, mit denen die Reflexologie zu tun hat. Diese Signale stehen zur Produktionstechnik in keiner Beziehung, sie funktionieren nur in Beziehung auf den Organismus des Versuchstieres, d. h. als sein Signal. In dieser Eigenschaft sind sie schon keine Signale mehr, sondern Reizursachen besonderer Art, zu Produktionsinstrumenten werden sie erst in den menschlichen Händen des Experimentators. Nur ein trauriges Mißverständnis und die unausrottbaren Gewohnheiten mechanistischen Denkens konnten die Ursache dafür sein, daß man versuchte, diese »Signale« fast zum Schlüssel des Verständnisses der Sprache und der menschlichen Psyche (des inneren Wortes) zu machen.
Solange irgendeine sprachliche Form nur Signal ist und von dem Verstehenden auch nur als Signal wiedererkannt wird, ist sie für ihn noch keine sprachliche Form. Eine reine Signalität gibt es nicht einmal in den Anfangsphasen der Spracherlernung. Denn auch hier ist die Form auf den Kontext hin orientiert, auch hier ist sie Zeichen, obgleich der Signalfaktor und der mit ihm verbundene Faktor des Wiedererkennens ebenfalls vorhanden sind.
So ist also sowohl für die sprachliche Form als auch für das Zeichen das konstitutive Moment nicht etwa ihre signalhafte Identität, sondern ihre spezifische Veränderlichkeit, während das konstitutive Moment für das Verstehen der sprachlichen Form nicht das Wiedererkennen des »gleichen« ist, sondern das Verstehen im eigentlichen Sinne dieses Wortes, d. h. die Orientierung im jeweiligen Kontext und der jeweiligen Situation, die Orientierung im Werden, und nicht eine »Orientierung« in einem unbeweglichen Zustand .
Aus allem diesem folgt natürlich nicht, daß es in der Sprache keinen Signalfaktor oder den mit ihm verbundenen Faktor des Wiedererkennens gibt. Es gibt ihn, doch ist er für die Sprache als
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solche nicht konstitutiv. Er ist dialektisch aufgehoben und in die neue Qualität des Zeichens (d. h. der Sprache als solche) eingegangen. Die Wiedererkennenssignale sind in der Muttersprache dialektisch aufgehoben, d. h. gerade für das sprachliche Bewußtsein der Mitglieder eines bestimmten Sprachkollektivs. Im Prozeß der Aneignung einer fremden Sprache sind Signalität und Wiedererkennen sozusagen noch spürbar, noch nicht überwunden, die Sprache ist noch nicht bis zur letzten Konsequenz zur Sprache geworden. Das Ideal der Sprachaneignung ist die AbШorption der Signalhaftigkeit durch die reine Zeichenhaftigkeit, des Wiedererkennens durch das reine Verstehen .
So hat also das Sprachbewußtsein des Sprechenden und des Hörenden-Verstehenden praktisch in der lebendigen Redearbeit nicht mit dem abstrakten System normativ identischer Sprachformen zu tun, sondern mit der Sprache als Rede im Sinne der Gesamtheit der möglichen Kontexte, in denen eine bestimmte sprachliche Form gebraucht werden kann. Das Wort steht dem in seiner Muttersprache Sprechenden nicht als ein Wort aus dem Wörterbuch gegenüber, sondern als Wort der verschiedensten Äußerungen innerhalb des Sprachkollektivs (der Mitglieder A, B, C usw.) sowie als Wort für die vielfältigsten eigenen Äußerungen. Es bedarf einer besonderen spezifischen Orientierung, um von hier aus zum selbstidentischen Wort des lexikologischen Systems der gegebenen Sprache zu gelangen, - zum Wörterbuch-Wort. Deswegen spürt auch das Mitglied eines Sprachkollektivs normalerweise den
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Druck der für ihn unangreifbaren Sprachnormen nicht. Ihre normative Bedeutung verwirklicht die sprachliche Form nur in den sehr seltenen Augenblicken des Konflikts, der für das tägliche Leben der Sprache nicht typisch ist (für den Menschen von heute treten diese Konflikte fast ausschließlich im Zusammenhang mit der geschriebenen Sprache auf).
Hier müssen wir noch eine in hohem Maße wesentliche Überlegung hinzufügen. Das sprachliche Bewußtsein der Sprechenden hat im Grunde weder mit der Sprachform als solcher, noch mit der Sprache als solcher irgend etwas zu tun.
In der Tat, die sprachliche Form tritt dem Sprechenden, wie wir gerade gezeigt haben, nur im Kontext bestimmter Äußerungen, und folglich nur in einem bestimmten ideologischen Kontext gegenüber. Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Wichtiges oder Unwichtiges, Angenehmes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt. Als solches verstehen wir es, und nur, wenn es uns ideologisch oder im Zusammenhang mit unserem Leben berührt, beantworten wir es.
Das Kriterium der Richtigkeit verwenden wir in bezug auf eine Äußerung in ungewöhnlichen oder besonderen Fällen (z. B. bei der Spracherlernung). Normalerweise wird das Kriterium der sprachlichen Richtigkeit von einem rein ideologischen Kriterium aufgesaugt: die Richtigkeit der Äußerung wird durch die Wahrhaftigkeit oder Falschheit der gegebenen Äußerung aufgesaugt, durch ihre Poesie oder ihre Banalität usw.
Die Sprache ist im Prozeß ihrer praktischen Verwirklichung nicht von ihrem ideologischen und das alltägliche Leben betreffenden Inhalt zu trennen. Und auch hier bedarf es einer ganz besonderen, von den Zielen des sprechenden Bewußtseins nicht bedingten Orientierung, um die Sprache abstrakt von ihrem ideologischen oder mit dem täglichen Leben verbundenen Inhalt zu lösen.
Wenn wir diese abstrakte Loslösung zum Prinzip erheben, wenn
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wir die ihres ideologischen Inhalts beraubte sprachliche Form substantialisieren, wie es einige Vertreter der zweiten Richtung tun, dann sind wir wieder beim Signal und nicht bei einem Zeichen der Sprache als Rede.
Der Bruch zwischen der Sprache und ihrem ideologischen Inhalt ist einer der tiefgreifendsten Fehler des abstrakten Objektivismus.
So ist also die Sprache als System normativ identischer Formen keinesfalls die eigentliche Seinsweise der Sprache im Bewußtsein der sie sprechenden Individuen. Vom Standpunkt des sprechenden Bewußtseins und seiner lebendigen Praxis der sozialen Kommunikation aus führt kein direkter Weg zum Sprachsystem des abstrakten Objektivismus.
Was ist aber dieses System in einem solchen Fall?
Es ist von Anfang an klar, daß man zu diesem System nur auf dem Wege der Abstraktion gelangt, daß es aus Elementen sich zusammensetzt, die abstrakt aus realen Einheiten des Redestroms - den Äußerungen - herausgelöst wurden. Jede Abstraktion muß, um rechtmäßig zu sein, durch ein bestimmtes theoretisches und praktisches Ziel gerechtfertigt sein. Eine Abstraktion kann produktiv sein oder nicht, produktiv für die einen Ziele und Aufgaben, unproduktiv für die anderen.
Welche Ziele liegen der linguistischen Abstraktion, die zum synchronischen Sprachsystem führt, zugrunde? Von welchem Standpunkt aus erscheint dieses System produktiv und nützlich?
Den linguistischen Denkmethoden, die zur Auffassung der Sprache als eines Systems normativ identischer Formen führt, liegt die theoretische und praktische Orientierung auf die Erlernung toter Fremdsprachen, die in Schriftdenkmälern überliefert sind, zugrunde.
Man muß nachdrücklich betonen, daß diese philologische Ausrichtung das gesamte linguistische Denken Europas in bedeutendem Maße bestimmt hat. Über den Kadavern geschriebener Sprachen ist dieses Denken entstanden und gereift; alle seine grundlegenden Kategorien, Ansätze und Verfahrensweisen wurden durch die Wiederbelebung dieser Kadaver herausgearbeitet.
Der Philologismus ist so, bedingt vom historischen Schicksal ihrer Entstehung und Entwicklung, notwendig zu einem Wesenszug der gesamten europäischen Linguistik geworden. Wie weit wir auch in der Zeit zurückgehen, wenn wir die Geschichte der linguistischen Kategorien und Methoden verfolgen, wir stoßen überall
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auf Philologen. Die Gelehrten unter Alexander waren Philologen, die Römer und Griechen waren Philologen (Aristoteles, - ein typischer Philologe), die Inder ebenfalls.
Wir können einfach behaupten: Die Linguistik entsteht dort und dann, wo und wann philologische Bedürfnisse entstehen.
Das philologische Bedürfnis gebar die Linguistik, wiegte sie und vergaß ihre Flöte in den Windeln. Diese Flöte muß die Toten wieder zum Leben erwecken. Doch zur Beherrschung einer lebendigen Sprache in ihrem ständigen Werden fehlen ihr die Töne.
Auf diesen philologischen Kern im indoeuropäischen linguistischen Denken weist das Akademiemitglied N. J. Marr völlig richtig hin:
»Die indoeuropäische Linguistik, die als Forschungsobjekte über bereits gestaltete und längst ausgebildete Sprachen, eben die indoeuropäischen Sprachen vergangener Epochen verfügt und dabei fast ausschließlich von den erstarrten Formen geschriebener und in erster Linie toter Sprachen ausgeht, konnte den Prozeß der Entstehung der Rede überhaupt und des Ursprungs ihrer Formen natürlich nicht allein offenbaren .«
Oder an einer anderen Stelle:
»Das größte Hindernis (für das Studium der Ursprache. V. V.) bilden nicht die Schwierigkeiten der Erforschung selbst oder der Mangel an anschaulichem Material, sondern unser in der traditionellen philologischen oder kulturhistorischen Weltanschauung befangenes Denken, das für die ethnologisch-linguistische Rezeption der lebendigen Rede und ihrer uneingeschränkten und freien Modulationen nicht erzogen ist .«
Die Aussage des Akademiemitglieds N. J. Man ist nicht nur in bezug auf die Indoeuropäistik wahr, die in der gesamten gegenwärtigen Linguistik den Ton angibt, sondern in bezug auf die ganze Linguistik überhaupt, wie wir sie aus der Geschichte kennen. Die Linguistik ist, wie wir schon gesagt haben, überall das Kind der Philologie.
Beherrscht von philologischen Bedürfnissen, ging die Linguistik immer von der abgeschlossenen monologischen Äußerung eines altertümlichen Sprachdenkmals als der letzten Realität aus. Bei der
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Arbeit an einer solchen toten monologischen Äußerung, oder genauer, einer Reihe solcher nur durch die Einheit der Sprache zusammengehaltenen Äußerungen hat die Linguistik ihre Methoden und Kategorien entwickelt.
Doch die monologische Äußerung ist selbst schon eine Abstraktion, wenn auch eine »natürliche«. Jede monologische Äußerung, auch das Schriftdenkmal, ist ein untrennbares Element sprachlicher Kommunikation. jede Äußerung, die abgeschlossene, geschriebene, nicht ausgenommen, antwortet auf etwas und ist auf eine Antwort hin gerichtet. Sie ist nur ein Glied in der kontinuierlichen Kette sprachlicher Handlungen. Jedes Denkmal setzt die Arbeit der Vorgänger fort, tritt mit ihr in eine polemische Beziehung, erwartet eine aktive, verstehende Antwort, nimmt sie vorweg, usf. Jedes Denkmal ist ein real untrennbarer Teil der Wissenschaft, der Literatur oder des politischen Lebens. Das Denkmal ist, wie jede monologische Äußerung, darauf gerichtet, im Kontext der laufenden wissenschaftlichen Entwicklung oder der laufenden literarischen Wirklichkeit rezipiert zu werden, d. h. im Werden jener ideologischen Sphäre, deren untrennbarer Teil es ist.
Der philologisch orientierte Linguist reißt das Denkmal aus dieser realen Sphäre, behandelt es so, als sei es ein eigenmächtiges, isoliertes Ganzes und konfrontiert es nicht mit dem aktiven ideologischen Verstehen, sondern mit einem völlig passiven, in dem - anders als bei jedem wirklichen Verstehen - keine Antwort schlummert. Dieses isolierte Denkmal setzt der Philologe als Sprachdokument mit anderen Denkmälern auf der allgemeinen Ebene der gegebenen Sprache in Beziehung.
Im Verlauf einer solchen Gegenüberstellung und gegenseitigen Erhellung isolierter monologischer Äußerungen auf der Ebene der Sprache formten sich die Methoden und Kategorien des linguistischen Denkens.
Die von dem Linguisten studierte tote Sprache ist für ihn natürlich eine fremde Sprache. Deswegen ist das System der linguistischen Kategorien am allerwenigsten als Produkt einer erkennenden Reflexion des Sprachbewußtseins eines Individuums, das diese Sprache spricht. Es handelt sich nicht um eine Reflexion über das Empfinden der Muttersprache, nein, sondern um eine Reflexion des Bewußtseins, das sich Wege in die unbekannte Welt der fremden Sprache bahnt.
Das notwendig passive Verstehen des philologisch orientierten
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Linguisten wird auch auf das vom Standpunkt der Sprache zu untersuchende Denkmal projiziert, als sei letzteres selbst auf ein solches Verstehen ausgerichtet, ja als sei es eigens für einen Philologen geschrieben worden.
Das Ergebnis ist eine in ihrem Kern falsche Theorie des Verstehens, die nicht nur den Methoden der linguistischen Textinterpretation zugrundeliegt, sondern der gesamten europäischen Semasiologie. Die ganze Lehre über Thema und Bedeutung des Wortes ist ganz und gar von der falschen Idee des passiven Verstehens durchdrungen, einem Verstehen des Wortes, auf das eine Antwort von vornherein und prinzipiell ausgeschlossen ist.
Wir werden später sehen, daß ein solches Verstehen mit einer von vornherein ausgeschlossenen Antwort im Grunde genommen mit dem Verstehen der Sprache als Rede überhaupt nichts zu tun hat. Letzteres ist untrennbar mit einer aktiven Position in bezug auf das Gesagte und zu Verstehende verbunden. Für das passive Verstehen ist aber gerade das deutliche Empfinden für die Identität des sprachlichen Zeichens charakteristisch, d. h. seine gegenständlich-signalhafte Rezeption und dementsprechend auch ein Vorherrschen des Faktors des Wiedererkennens.
Die tote, schriftliche, fremde Sprache - das also ist die wahre Definition der Sprache durch die Linguistik.
Die isolierte, abgeschlossene, monologische Äußerung, losgelöst von ihrem verbalen und realen Kontext und nicht einer möglichen aktiven Antwort entgegengestellt, sondern dem passiven Verstehen des Philologen, - das ist die letzte Gegebenheit und der Ausgangspunkt des linguistischen Denkens.
Das im Prozeß des forschenden Erlernens toter Fremdsprachen entstandene linguistische Denken diente noch einem anderen als dem Forschungsziel, dem pädagogischen: die Sprache sollte nicht enträtselt, vielmehr die schon enträtselte Sprache gelehrt werden. Heuristische Dokumente verwandeln sich in klassische Schulbeispiele für eine Sprache.
Diese zweite wesentliche Aufgabe der Linguistik, nämlich einen für die Erlernung einer enträtselten Sprache notwendigen Apparat zu schaffen und sie sozusagen zum Zwecke des Schulunterrichts zu kodifizieren, hat der Linguistik ihren bestimmenden Stempel aufgedrückt. Phonetik, Grammatik und Lexik - diese drei Unterteilungen des Sprachsystems, die Organisationszentren der linguisti-
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sehen Kategorien - haben sich im Zuge der beiden genannten Aufgaben der Linguistik gestaltet, der heuristischen und der pädagogischen.
Was ist der Philologe?
Wie wesentlich verschieden die kulturhistorischen Gestalten von den indischen Priestern bis zum zeitgenössischen europäischen Sprachwissenschaftler auch immer sein mögen, der Philologe ist immer und überall der Enträtsler fremder »geheimnisvoller« Schriften, sowie Lehrer und Vermittler des Enträtselten oder durch die Tradition Erhaltenen.
Die ersten Philologen und Linguisten waren immer und überall die Priester. Aus der Geschichte ist kein altertümliches Volk bekannt, in dem heilige Schriften oder deren Vermittlung in der einen oder anderen Weise für die Profanen nicht fremdsprachig und unverständlich gewesen wären. Das Geheimnis der heiligen Worte zu enträtseln, eben das war die Aufgabe der Priesterphilologen.
Auf dieser Basis entstand die älteste Sprachphilosophie: die Vedenlehre vom Wort, die Logoslehre der frühen griechischen Denker und die biblische Wortphilosophie.
Will man diese Philosopheme verstehen, darf man keinen Augenblick lang vergessen, daß dies Philosopheme des fremden Wortes sind. Wenn es ein Volk gäbe, das nur seine eigene Muttersprache kennt, wenn für dieses Volk das Wort eins wäre mit den vertrauten Wörtern aus seinem Leben, wenn in seinen Gesichtskreis kein rätselhaftes fremdes Wort träte, dann könnte ein solches Volk derartige Philosopheme nicht hervorbringen . Ein Zug ist erstaunlich: vom tiefsten Altertum bis heute gründen die Philosophie des Wortes und das linguistische Denken auf dem spezifischen Empfinden für das fremde, anderssprachige Wort und auf den Aufgaben, die eben dieses Wort dem Bewußtsein stellt: es zu enträtseln und das Enträtselte zu lehren.
Der Vedenpriester und der Philologe und Linguist der Gegen-
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wart werden in ihrem Denken über die Sprache von ein und der gleichen Erscheinung gebannt und beherrscht - dem Phänomen des fremden, anderssprachigen Wortes.
Das Wort der eigenen Muttersprache wird ganz anders empfunden - oder genauer - es wird meistens gar nicht als ein mit jenen Kategorien schwangeres Wort empfunden, die es im linguistischen Denken hervorbringt oder im philosophisch-religiösen Denken des Altertums hervorgebracht hat. Das Wort der Muttersprache ist ein »Kumpel«, es wird empfunden, wie die Kleidung, an die man gewöhnt ist, oder noch besser, wie die gewohnte Atmosphäre, in der man lebt und atmet. Es birgt keine Geheimnisse; zum Geheimnis könnte es nur in fremdem Mund werden, im Mund eines Herrschers oder Priesters. Doch da wird es schon zu einem anderen Wort, es verändert sich äußerlich oder wird aus dem alltäglichen Verkehr gezogen (Tabu für den gewöhnlichen Umgang oder Archaisierung), wenn es nicht von Anfang an im Munde des Herrschers und Besiegers schon ein Fremdwort war. Nur hier entsteht das »WORT«, nur hier incipit philosophia incipit philologia.
Die Orientierung der Linguistik und der Sprachphilosophie auf das fremdsprachige Wort ist keinesfalls Zufall oder Willkür von Seiten der Linguistik und Philosophie. Nein, diese Orientierung ist der Ausdruck jener gewaltigen historischen Rolle, die das fremde Wort im Prozeß der Entstehung aller historischer Kulturen gespielt hat. Diese Rolle fiel dem fremden Wort in allen ideologischen Sphären ausnahmslos zu, von der sozio-politischen Struktur bis zur Etikette des Alltags. Denn gerade das fremde ausländische Wort brachte Licht, Kultur, Religion und politische Organisation (Bedeutung der Sumerer für die babylonischen Semiten, die der Japheten für die Hellenen, die Bedeutung Roms und des Christentums für die barbarischen Völker; der Einfluß von Byzanz, der »Waräger« und der südslawischen Stämme auf die Ostslawen usw.). Diese grandiose organisierende Rolle des fremden Wortes, das immer Hand in Hand mit einer fremden Macht und Ordnung ging oder von einem jungen Siegervolk auf dem Boden einer von ihm eroberten alten und mächtigen Kultur vorgefunden wird, und gleichsam aus den Gräbern heraus das ideologische Bewußtsein der Eindringlinge unterjocht, - führte dazu, daß das fremde Wort in den Tiefen des historischen Bewußtseins der Völker mit der Idee der Macht, der Kraft, der Heiligkeit und der Wahrheit verwuchs und das über das Wort reflektierende Denken dazu zwang,
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sich vorzugsweise auf das fremde Wort auszurichten.
Indessen sind sich die Sprachphilosophie und Linguistik bis heute noch nicht der enormen historischen Rolle des anderssprachlichen Wortes objektiv bewußt geworden. Im Gegenteil, die Linguistik läßt sich bis jetzt von ihm beherrschen; sie ist gleichsam die letzte zu uns gelangte Welle des einmal lebenspendenden Stroms der fremden Rede, der letzte Überrest ihrer diktatorischen und kulturschaffenden Rolle.
Deswegen ist die Linguistik, selbst ein Produkt des fremdsprachigen Wortes, vom richtigen Verständnis seiner Rolle in der Geschichte der Sprache und des Sprachbewußtseins weit entfernt. Umgekehrt hat die Indoeuropäistik Kategorien für das Verständnis der Sprachgeschichte entwickelt, die eine richtige Bewertung der Rolle des fremden Wortes völlig ausschließen. Indessen ist diese Rolle offensichtlich gewaltig.
Die Idee der Sprachkreuzung als eines wesentlichen Faktors der Sprachrevolution wurde in ihrer ganzen Klarheit vom Akademiemitglied N.J. Marr entwickelt. Die Sprachkreuzung wurde von ihm auch als der wesentliche Faktor bei der Lösung des Problems des Ursprungs der Sprache anerkannt.
»Die Kreuzung überhaupt«, schreibt N.J. Marr, »als Faktor der Entstehung der verschiedenen Sprachformen und sogar Typen, die Kreuzung als die Quelle der Bildung neuer Formen, kann in allen japhetitischen Sprachen beobachtet und verfolgt werden, und das ist einer der wichtigsten Erfolge der japhetitischen Sprachwissenschaft... Tatsache ist, daß es keine primitive Lautsprache, keine einstämmige Sprache gibt, und wie wir sehen werden, nie gegeben hat und auch nicht geben kann. Die Sprache als die Schöpfung einer Gemeinschaft, welche auf Grund der von wirtschaftlich-ökonomischen Bedürfnissen hervorgerufenen gegenseitigen Kommunikation der Stämme entstanden ist, erscheint als eine Ablagerung eben dieses immer vielstämmigen Gesellschaftswesens .«
In dem Aufsatz »0 proischoжdenii jazyka« [Vom Ursprung der Sprache] schreibt das Akademiemitglied N. J. Marr, unsere Frage betreffend, folgendes:
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»... Mit einem Wort, der Zugang zu dieser oder jener Sprache einer sogenannten nationalen Kultur als einer Muttersprache für die Masse der ganzen Bevölkerung ist unwissenschaftlich und irreal, und die alle Stände umfassende, klassenlose Nationalsprache ist bis jetzt eine Fiktion. Das ist noch nicht alles. So wie die Schichten am Anfang ihrer Entwicklung aus den Stämmen, eigentlich aus Stammes-, also keinesfalls primitiven, -Bildungen, durch Kreuzung entstehen, so stellen die konkreten Stammessprachen, und noch mehr die Nationalsprachen, gekreuzte Sprachtypen dar, gekreuzt aus einfachen Elementen, aus deren verschiedenen Zusammenstellungen jede Sprache gebildet ist. Die paläontologische Analyse der menschlichen Rede geht über die Bestimmung dieser Stammeselemente nicht hinaus, doch führt die japhetitische Theorie entschieden und bestimmt dahin, so daß die Frage nach dem Ursprung der Sprache auf der Frage nach der Entstehung dieser Elemente basiert, die nichts anderes sind als Stammesnamen .«
Wir greifen hier nur die Bedeutung des fremden Wortes für das Problem des Ursprungs der Sprache und ihrer Evolution heraus. Die Probleme selbst gehen über den Rahmen unserer Arbeit hinaus. Das fremde Wort ist für uns als Faktor wichtig, der das philosophisch-linguistische Denken über das Wort und alle Kategorien und Ansätze dieses Denkens bestimmt hat.
Wir abstrahieren hier sowohl von den Besonderheiten des primitiven Denkens über das Wort als auch von den Kategorien der aus dem Altertum stammenden Philosopheme über das Wort, von denen weiter oben die Rede war. Wir werden hier nur jene Besonderheiten des Denkens über das Wort herausstellen, welche die Jahrhunderte überdauert haben und auch das linguistische Denken der Gegenwart bestimmen. Wir werden uns davon überzeugen, däß eben diese Kategorien ihren klarsten und deutlichsten Ausdruck in der Lehre des abstrakten Objektivismus gefunden haben.
Die Besonderheiten der Rezeption des fremden Wortes, die dem abstrakten Objektivismus zugrundeliegen, werden wir versuchen, kurz in den folgenden Grundsätzen auszudrücken. Damit resumieren wir die vorausgegangene Darstellung und ergänzen sie in einer
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Reihe von wesentlichen Punkten .
- Das beständige selbstidentische Moment der sprachlichen Formen dominiert über ihre Veränderlichkeit;
- das Abstrakte dominiert über das Konkrete;
- die abstrakte Systematik über die Geschichtlichkeit;
- die Formen der Elemente über die Formen des Ganzen;
- anstelle der Rededynamik steht die Substantialisierung des isolierten Sprachelements;
- anstelle der lebendigen Vieldeutigkeit und den verschiedenen Akzentuierungsmöglichkeiten des Wortes steht seine Eindeutigkeit, auch in der Akzentuierung;
- die Vorstellung, die Sprache sei eine fertige Sache, das von Generation zu Generation weitergegeben wird;
- die Unfähigkeit, das Werden der Sprache von innen her zu verstehen.
Verweilen wir kurz bei jeder dieser Besonderheiten des Denkens über das fremde Wort:
I. Die erste Besonderheit bedarf keiner Erklärung. Wir haben bereits gezeigt, daß das Verstehen der eigenen Sprache nicht auf das Wiedererkennen identischer Redeelemente gerichtet ist, sondern auf das Verstehen ihrer neuen kontextualen Bedeutung. Die Konstruktion eines Systems selbstidentischer Formen jedoch ist eine notwendige und wichtige Etappe im Prozeß der Dechiffrierung und Wiedergabe einer fremden Sprache.
II. Auch der zweite Punkt ergibt sich aus dem von uns bereits Gesagten. Die abgeschlossene monologische Äußerung ist eigentlich eine Abstraktion. Die Konkretisierung des Wortes ist nur auf dem Wege der Einbeziehung dieses Wortes in den realen historischen Kontext seiner ursprünglichen Verwirklichung möglich. In der isolierten monologischen Äußerung sind gerade die Fäden ab-
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gerissen, welche sie mit der ganzen Konkretheit ihres historischen Werdens verbinden.
III. Formalismus und Systematisierung sind der typische Zug jedes Denkens, das auf ein fertiges und sozusagen stehengebliebenes Objekt gerichtet ist.
Diese Besonderheit des Denkens kann sich auf die verschiedenste Art und Weise manifestieren. Charakteristisch ist, daß gewöhnlich (wenn nicht ausschließlich), der fremde Gedanke systematisiert wird. Die Schöpfer, die Begründer neuer ideologischer Strömungen, sind niemals auch ihre formalistischen Systematisierer. Mit der Systematisierung beginnt die Epoche, die sich im Besitz eines fertigen, überliefert-autoritären Denkens glaubt. Erst wenn die schöpferische Periode vorbei ist, beginnt die formalistische Systematisiererei, das Geschäft der Erben und Epigonen, die meinen, das fremde und abgeklungene Wort zu besitzen. Die Orientierung im Strom des Werdens kann nie formal systematisierend sein. Deswegen konnte auch das formal-systematisierende grammatische Denken seine ganze Kraft und Fülle am Material der fremden toten Sprache entwickeln, und das nur da, wo diese Sprache ihren Zauber und ihre heilige Autorität bis zu einem gewissen Grade eingebüßt hatte. In Beziehung auf die lebendige Sprache mußte das formale, systematische, grammatische Denken zwangsläufig eine konservativ-akademische Position einnehmen, d. h. es mußte die lebende Sprache so behandeln, als sei sie vollendet und fertig und folglich sprachlichen Neuerungen aller Art gegenüber feindlich eingestellt. Denn eine formal-systematische Auffassung der Sprache ist mit einem lebendigen historischen Verstehen unvereinbar. Vom Standpunkt des Systems her betrachtet stellt sich die Geschichte lediglich als eine Reihe von zufälligen Übertretungen dar.
IV. Die Linguistik ist wie wir gesehen haben, auf die isolierte monologische Äußerung gerichtet. Man studiert Sprachdenkmäler, denen das passiv verstehende Bewußtsein des Philologen entgegensteht. Die ganze Arbeit entwickelt sich so innerhalb der Grenzen der jeweiligen Äußerung. Die Grenzen der Äußerung als Ganzes werden nur schwach oder sogar überhaupt nicht wahrgenommen. Die ganze Forschungsarbeit verbraucht sich im Studium der dem inneren Territorium der Äußerung immanenten Verbindungen. Alle Probleme jedoch der - nennen wir sie Außenpolitik der Äußerung - alle jene Beziehungen also, die über die Grenzen der je-
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weiligen Äußerung als monologischem Ganzen hinausgehen, bleiben unerforscht. Es versteht sich, daß die ganze Äußerung selbst ebenso wie die Formen dieses Ganzen von der Linguistik über Bord geworfen werden . .. Und wirklich, das linguistische Denken geht nicht weiter als bis zu den Elementen einer monologischen Äußerung. Der Aufbau eines komplizierten Satzes (einer Periode) ist schon das Äußerste, was die Linguistik erfassen kann. Den Aufbau einer ganzen Äußerung überläßt sie anderen Disziplinen, der Rhetorik und der Poetik. Die Linguistik hat keinen Zugang zu den Kompositionsformen des Ganzen. Deswegen besteht zwischen den linguistischen Formen der Elemente der Äußerung und denen der ganzen Äußerung kein stetiger Übergang, ja überhaupt keine Verbindung. Aus der Syntax können wir nur mit einem Sprung zu den Fragen der Komposition gelangen. Dies ist gänzlich unvermeidlich, denn man kann die Formen der ganzen Äußerung nur vor dem Hintergrund anderer ganzer Äußerungen innerhalb einer einheitlichen ideologischen Sphäre wahrnehmen und verstehen. So kann man die Formen der künstlerischen Äußerung, die Werke, nur aus der Einheit des literarischen Lebens und dem untrennbaren Zusammenhang mit anderen literarischen Formen verstehen. Beziehen wir das Werk auf die Einheit der Sprache als System und betrachten es als sprachliches Dokument, so verlieren wir den Zugang zu seinen Formen als Formen eines literarischen Ganzen. Zwischen dem Bezug des Werkes zum Sprachsystem und seinem Bezug zur konkreten Einheit des literarischen Lebens klafft ein Riß, und ihn zu schließen, ist auf der Grundlage des abstrakten Objektivismus unmöglich.
V. Die sprachliche Form ist nur das abstrakt ausgesonderte Moment eines dynamischen ganzen Redeaktes - der Äußerung. Im Rahmen bestimmter linguistischer Aufgabenstellungen ist eine solche Abstraktion natürlich vollkommen legitim. Doch wird die sprachliche Form auf der Grundlage des abstrakten Objektivismus substantialisiert; sie wird gleichsam zu einem realausgesonderten Element, das zu einer eigenständigen, isolierten historischen Existenz fähig ist. Dies ist völlig verständlich, denn das System als Ganzes kann sich nicht historisch entwickeln. Bleiben folglich nur die Elemente des Systems, d. h. die einzelnen sprachlichen Formen. Nur sie können die Geschichte ertragen.
Die Geschichte der Sprache wird so also zur Geschichte einzelner (phonetischer, morphologischer u. a.) sprachlicher Formen,
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welche sich entgegen dem System als Ganzem und ungeachtet der konkreten Äußerungen entwickeln .
Über die Sprachgeschichte, wie sie der abstrakte Objektivismus versteht, sagt Vossler völlig zu Recht:
»Die Geschichte der Sprache, die uns die historische Grammatik vermittelt, ist, grob gesagt, das Gleiche wie eine Geschichte der Kleidung, die nicht von der Mode und dem Geschmack der Zeit ausgeht, sondern ein chronologisch und geographisch geordnetes Verzeichnis von Knöpfen, Nadeln, Strümpfen, Hüten und Bändern herstellt. In der historischen Grammatik heißen diese Knöpfe und Bänder z. B. schwaches oder starkes t, stummes e, stimmhaftes d usw. .«
VI. Die Bedeutung eines Wortes wird völlig von seinem Kontext bestimmt. Genau genommen heißt das: wieviel Kontexte, in denen dieses Wort vorkommt, soviel Bedeutungen . Dennoch hört das Wort aber nicht auf, eine Einheit zu sein, es zerfällt sozusagen nicht in so viele Wörter, wie es Kontexte gibt, in denen es vorkommt. Diese Einheit des Wortes wird nicht nur durch die Einheitlichkeit seines phonetischen Bestandes garantiert, sondern auch von dem einheitlichen Faktor, der allen seinen Bedeutungen gemeinsam ist. Wie kann man die prinzipielle Mehrdeutigkeit des Wortes mit seiner Einheit vereinbaren? - so könnte man grob und elementar das Hauptproblem der Bedeutung formulieren. Dieses Problem können wir nur dialektisch lösen. Wie geht der abstrakte Objektivismus vor? Der Faktor der Einheit des Wortes verhärtet sich für ihn und löst sich gleichsam aus seiner Vieldeutigkeit. Diese Vieldeutigkeiten werden als zufällige Obertöne einer einheitlichen, festen und beständigen Bedeutung aufgefaßt. Die Richtung der linguistischen Aufmerksamkeit ist der Richtung des lebendigen Verständnisses der Sprechenden, die an dem jeweiligen Redestrom teilhaben, genau entgegengesetzt. Der philologisch ausgerichtete Linguist, der die Kontexte eines bestimmten Wortes vergleicht, orientiert sich auf den Faktor des identischen Gebrauchs, denn es
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ist für ihn wichtig, das Wort sowohl aus dem einen wie aus dem anderen der verglichenen Kontexte zu lösen und ihm eine außerkontextuelle Bestimmung zu geben, d. h. aus ihm ein Wörterbuch-Wort zu machen. Dieser Prozeß der Isolierung des Wortes und der Stabilisierung seiner außerkontextuellen Bedeutung wird noch durch Vergleiche zwischen den Sprachen, d. h. durch das Suchen eines Parallelwortes in einer anderen Sprache, verstärkt. Im Prozeß der linguistischen Arbeit wird die Bedeutung auf der Grenze von mindestens zwei Sprachen errichtet. Die Arbeit des Linguisten wird noch dadurch kompliziert, daß er die Fiktion eines einheitlichen und realen Gegenstandes schafft, die dem gegebenen Wort entsprechen soll. Dieser Gegenstand ist einheitlich und selbstidentisch und garantiert so die Einheit der Bedeutung. Diese Fiktion der buchstäblichen Realien eines Wortes verstärkt noch die Substantialisierung seiner Bedeutung. Eine dialektische Vereinigung der Einheit der Bedeutung mit ihrer Vieldeutigkeit wjrd auf dieser Grundlage unmöglich.
Besonders tiefgehend ist folgender Fehler des abstrakten Objektivismus: die verschiedenen Kontexte, in denen ein Wort vorkommt, scheinen für ihn auf einer einzigen Ebene zu liegen. Die Kontexte bilden gleichsam eine Reihe von abgeschlossenen, sich selbst genügenden Äußerungen, die alle in die gleiche Richtung gehen. In Wirklichkeit ist es ganz anders: die Kontexte, in denen das gleiche Wort gebraucht wird, sind einander entgegengesetzt. Der klassische Fall einer solchen Gegenüberstellung ein und desselben Wortes in verschiedenen Kontexten sind die Repliken eines Dialogs. Hier figuriert das gleiche Wort in zwei aufeinanderstoßenden Kontexten. Natürlich sind die Repliken eines Dialogs nur das klarste und anschaulichste Beispiel für verschiedengerichtete Kontexte. In Wirklichkeit bejaht jede reale Äußerung etwas in irgendeiner Form und zu einem gewissen Grade, oder sie verneint es. Die Kontexte stehen nicht einfach nebeneinander, als ob sie einander nicht bemerkten, sondern befinden sich stets in einem Zustand gespannter Wechselwirkung, im Kampf. Diese Veränderung der Wertakzentuierung eines Wortes in verschiedenen Kontexten wird von der Linguistik überhaupt nicht berücksichtigt und findet in der Lehre von der Einheit der Bedeutung keinerlei Widerhall. Die Akzentuiertheit entzieht sich der Substantialisierung am meisten, und genau diese Multiakzentuierung ist es, die dem Wort erst Leben gibt. Das Problem der vielfachen Akzentuiertheit muß eng
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mit dem Problem der Vieldeutigkeit verbunden werden. Nur wenn diese Verbindung geschaffen wird, können beide Probleme gelöst werden. Doch eben diese Verbindung ist auf dem Boden des abstrakten Objektivismus und seiner Grundsätze unmöglich. Der Wertakzent wird von der Linguistik zusammen mit der einzelnen Äußerung (parole) über Bord geworfen .
VII. Nach der Lehre des abstrakten Objektivismus wird die Sprache als fertiges Werk von einer Generation an die nächste vererbt. Natürlich verstehen die Vertreter der zweiten Richtung die Vererbung der Sprache, als sei sie ein Gegenstand, metaphorisch, doch nichtsdestoweniger wird diese Gleichsetzung unter ihren Händen mehr als eine bloße Metapher. Indem er das System der Sprache substantialisiert und die lebendige Sprache auffaßt, als sei sie tot und fremd, macht der abstrakte Objektivismus die Sprache zu etwas Äußerlichem in bezug auf den Strom der sprachlichen Kommunikation. Dieser Strom bewegt sich vorwärts, während die Sprache, wie ein Ball, von einer Generation zur anderen geworfen wird. Indessen bewegt sich die Sprache zusammen mit dem Strom und ist von ihm nicht zu trennen. Sie wird eigentlich nicht vererbt, sondern sie dauert, doch sie dauert als ein ständiger Prozeß des Werdens. Die Individuen bekommen keinesfalls die fertige Sprache, vielmehr steigen sie in diesen Strom der sprachlichen Kommunikation, oder genauer, ihr Bewußtsein erwacht zum ersten Mal in diesem Strom. Nur im Prozeß der Erlernung einer fremden Sprache steht das fertige Bewußtsein - fertig dank der Muttersprache - einer fertigen Sprache gegenüber, die es nur noch aufnehmen muß. Die Muttersprache wird von den Menschen nicht aufgenommen, in ihr erwachen sie zum Bewußtsein .
VIII. Der abstrakte Objektivismus ist, wie wir gesehen haben, nicht imstande, die Existenz der Sprache im abstrakten synchronischen Schnitt mit ihrem Werden zu verbinden. Als System normativ identischer Formen existiert die Sprache für das sprechende Bewußtsein, als Prozeß des Werdens existiert sie nur für den Hi-
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storiker. Dadurch wird die Möglichkeit der aktiven Eingliederung des sprechenden Bewußtseins selbst in den Prozeß des historischen Werdens ausgeschlossen. Eine dialektische Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit sowie - wenn man so sagen darf - der sprachlichen Verantwortung ist auf dieser Basis natürlich vollkommen unmöglich. Hier herrscht ein rein mechanistisches Verständnis von sprachlicher Notwendigkeit. Es unterliegt natürlich keinem Zweifel, daß auch dieser Zug des abstrakten Objektivismus mit seiner unverantwortlichen Orientierung auf die tote und fremde Sprache zusammenhängt.
Wir müssen jetzt die Schlußfolgerungen aus unserer kritischen Analyse des abstrakten Objektivismus ziehen. Das Problem, das wir uns zu Beginn des ersten Kapitels gestellt hatten, war das Problem des realen Seins sprachlicher Erscheinungen als des spezifischen und einzigen Objektes der Forschung, das vom abstrakten Objektivismus falsch gelöst wurde. Die Sprache als System normativ identischer Formen ist eine Abstraktion, die sich theoretisch und praktisch nur vom Standpunkt der Dechiffrierung einer fremden toten Sprache und ihrer Erlernung fertigt. Dieses System kann nicht Grundlage für das Verstehen und Erklären sprachlicher Fakten in ihrem Leben und Werden sein. Im Gegenteil, es führt uns von der lebendigen werdenden Realität der Sprache und ihrer sozialen Funktionen weg, obgleich die Anhänger des abstrakten Objektivismus auf die soziologische Relevanz ihres Standpunktes Anspruch erheben. Der Theorie des abstrakten Objektivismus liegen die Voraussetzungen der rationalistischen und mechanistischen Weltanschauung zugrunde, die am wenigsten geeignet sind, ein richtiges Verständnis der Geschichte zu motivieren, und die Sprache ist ein rein historisches Phänomen.
Folgt daraus, daß die Grundlagen der ersten Richtung, des individualistischen Subjektivismus, richtig sind? Vielleicht ist es gerade ihm gelungen, der eigentlichen Realität der Sprache als Rede auf die Spur zu kommen? Oder liegt die Wahrheit möglicherweise in der Mitte und besteht aus einem Kompromiß zwischen der ersten und der zweiten Richtung, zwischen den Thesen des individualistischen Subjektivismus und den Antithesen des abstrakten Objektivismus?
Wir meinen, daß hier, wie überall, die Wahrheit nicht in der goldenen Mitte liegt und auch keinen Kompromiß zwischen These und Antithese bildet, sondern daß sie hinter ihnen liegt, mehr ist
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als sie, daß sie die Negation sowohl der These als auch der Antithese ist, d. h. sie ist die dialektische Synthese. Die Thesen der ersten Richtung können, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, der Kritik ebenfalls nicht standhalten.
Hier müssen wir unsere Aufmerksamkeit noch auf folgendes richten: Der abstrakte Objektivismus, der das System der Sprache für das einzig Wesentliche unter den sprachlichen Erscheinungen hielt, lehnte den Redeakt - die Äußerung - als individuell ab. Darin liegt, wie wir einmal gesagt haben, das proton pseudos des abstrakten Objektivismus. Der individualistische Subjektivismus hält aber gerade den Redeakt - die Äußerung - für das einzig Wesentliche. Doch auch er definiert diesen Akt als individuell und versucht deswegen, ihn aus den Bedingungen des individuell-psychischen Lebens des sprechenden Einzelwesens zu erklären. Darin liegt sein proton pseudos.
In Wirklichkeit kann der Redeakt, oder genauer, sein Produkt, die Äußerung, keinesfalls als individuelle Erscheinug im genauen Sinne dieses Wortes angesehen und aus den psychologischen oder psycho-physiologischen Bedingungen des sprechenden Einzelwesens erklärt werden. Die Äußerung ist sozial.
Diese These müssen wir im folgenden Kapitel begründen.
1.3. Sprachliche Interaktion
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Die Ausdruckstheorie des individualistischen Subjektivismus.
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Kritik an der Ausdruckstheorie.
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Die soziologische Struktur des Erlebnisses und des Ausdrucks.
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Das Problem der Alltagsideologie.
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Die Äußerung als die Grundlage des sprachlichen Werdens.
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Wege zur Lösung des Problems des realen Seins der Sprache (von der realen sprachlichen Existenz).
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Die Äußerung als Ganzes und ihre Formen.
Die zweite Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens ist, wie wir gesehen haben, mit dem Rationalismus und Neoklassizismus verbunden. Die erste Richtung, der individualistische Subjektivismus mit der Romantik. Die Romantik war bis zu einem gewissen Grade die Reaktion auf das fremde Wort und die von ihm bedingten Denkkategorien. Unmittelbar war die Romantik eine Reaktion auf den letzten Rückfall in die Kulturgewalt des fremden Wortes, auf die Renaissance und den Neoklassizismus.
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Die Romantiker waren die ersten Philologen der Muttersprache, die ersten, die versuchten, das linguistische Denken radikal auf der Grundlage des Erlebens der Muttersprache als des Mediums der Entstehung des Bewußtseins und des Denkens neu zu strukturieren. Und doch sind die Romantiker Philologen geblieben, im wahrsten Sinne dieses Wortes. Das Denken über die Sprache umzustrukturieren, das sich im Laufe von Jahrhunderten gebildet und behauptet hatte, überstieg ihre Kräfte. Doch immerhin wurden neue Kategorien in dieses Denken hineingetragen; sie waren es auch, welche die spezifischen Besonderheiten der ersten Richtung ausmachten. Es ist bezeichnend, daß bis in unsere Zeit die Vertreter des individualistischen Subjektivismus Experten für neuere Sprachen sind, in der Hauptsache Romanisten (Vossler, Leo Spitzer, Lorck u. a.).
Allein auch für den individualistischen Subjektivismus war die monologische Äußerung die letzte Realität, der Ausgangspunkt ihrer Reflexionen über die Sprache. Gewiß traten sie an die Sprache nicht vom Standpunkt des passiv verstehenden Philologen heran; sondern gleichsam von innen, vom Standpunkt des Sprechenden selbst, der sich ausdrückt.
Was ist die monologische Äußerung vom Standpunkt des individualistischen Subjektivismus?
Wir haben gesehen, daß sie ein rein individueller Akt ist, der Ausdruck des individuellen Bewußtseins, seiner Absichten und Intensionen, seiner schöpferischen Impulse, seines Geschmacks usw. Die Kategorie des Ausdrucks ist jene allgemeine und höchste Kategorie, in die der Redeakt, die Äußerung, eingeschlossen wird.
Was aber ist der Ausdruck?
Die einfachste und gröbste Definition lautet: Etwas, das auf irgendeine Weise in der Psyche des Individuums entstanden ist und sich geformt hat, objektiviert, sich außerhalb, für die anderen, mit Hilfe irgendwelcher äußerer Gesetze.
Der Ausdruck enthält also zwei Glieder: das Auszudrückende (Innere) und seine äußere Objektivation für die anderen (oder vielleicht auch für sich selbst). Die Theorie des Ausdrucks, welche feinen und komplizierten Formen sie auch immer annehmen mag, setzt diese beiden Glieder notwendig voraus: das ganze Ereignis des Ausdrucks spielt sich zwischen ihnen ab. Folglich setzt jede Theorie des Ausdrucks notwendig voraus, daß das Auszudrückende irgendwie ungeachtet des Ausdrucks entstehen und existieren
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kann, daß es in einer Form existiert und dann in eine andere Form übergeht. Denn wenn es nicht so wäre, wenn das Auszudrückende von Anfang an in der Form des Ausdrucks existierte und zwischen ihnen ein quantitativer Übergang bestünde (im Sinne einer Erläuterung, Differenzierung usw.), würde die ganze Theorie des Ausdrucks in sich zusammenfallen. Die Theorie des Ausdrucks setzt notwendig einen gewissen Dualismus zwischen dem Innen und dem Außen und ein gewisses Primat des Inneren voraus, denn jeder Akt der Objektivierung (des Ausdrucks) bewegt sich von innen nach außen. Sein Ausgangspunkt ist innen. Nicht umsonst gedieh die Theorie des individualistischen Subjektivismus nur auf idealistischem und spiritualistischem Boden. Alles Wesentliche spielt sich innen ab, und das Äußere kann nur wesentlich werden als Gefäß des Inneren, als Ausdruck des Geistes.
Gewiß, das Innere, indem es äußerlich wird und sich außen ausdrückt, verändert sein Aussehen. Denn es ist gezwungen, sich das äußere Material anzueignen, welches eigene, dem Inneren fremde Gesetzmäßigkeiten hat. Im Prozeß dieser Beherrschung und Überwindung des Materials und seiner Verwandlung in ein gehorsames Medium des Ausdrucks verändert sich auch das Erlebbare und Auszudrückende selbst und ist genötigt, einen gewissen Kompromiß einzugehen. Deswegen konnte auch auf dem Boden des Idealismus, auf dem die ganze Theorie des Ausdrucks sich entwickelte, eine radikale Ablehnung des Ausdrucks entstehen, der für eine Verzerrung der Reinheit des Inneren gehalten wurde . Auf jeden Fall befinden sich alle schöpferischen und den Ausdruck organisierenden Kräfte innen. Alles Äußere ist nur das passive Material der inneren Gestaltung. Im wesentlichen wird der Ausdruck innen strukturiert und kommt dann nach außen. Daraus folgt, daß auch das Verstehen, Überlegen und Erklären nach innen gerichtet sein muß, es muß, verglichen mit dem Ausdruck, die umgekehrte Richtung einschlagen: von der äußeren Objektivation ausgehend, muß die Erklärung zu ihren inneren organisierenden Wurzeln vordringen. So versteht der individualistische Objektivismus den Ausdruck.
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Diese Theorie des Ausdrucks, die der ersten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens zugrunde liegt, ist völlig falsch.
Das Erlebnis - das Auszudrückende und seine äußere Objektivation - bestehen, wie wir wissen, aus ein und demselben Material. Denn es gibt kein Erlebnis ohne Zeicheninkarnation. Folglich kann also von Anfang an von einem qualitativen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren auch nicht die Rede sein. Mehr noch: das organisierende und gestaltende Zentrum befindet sich nicht innen (d. h. nicht im Material innerer Zeichen), sondern außen. Nicht das Erlebnis organisiert den Ausdruck, sondern umgekehrt, der Ausdruck organisiert das Erlebnis, gibt ihm zum ersten Mal Form und bestimmt seine Richtung.
Und wirklich, welches Moment der Ausdrucksäußerung wir auch immer nehmen, es wird immer von den Bedingungen der gegebenen Äußerung bestimmt, vor allem von der unmittelbaren sozialen Situation.
Denn die Äußerung wird zwischen zwei gesellschaftlich organisierten Menschen aufgebaut, und auch wenn es keinen realen Gesprächspartner gibt, wird er in der Gestalt eines, wenn man so sagen darf, normalen Vertreters der sozialen Gruppe angenommen, zu der auch der Sprechende gehört. Das Wort ist auf den Gesprächspartner orientiert, es ist darauf orientiert, wer dieser Gesprächspartner ist: ein Mensch der gleichen sozialen Gruppe oder nicht, ein höher oder niedriger Stehender (der hierarchische Rang des Gesprächspartners), ein mit dem Sprechenden durch irgendwelche engeren sozialen Bande Verbundener oder nicht (Vater, Bruder, Ehemann usw.). Einen abstrakten Gesprächspartner, sozusagen den Menschen an sich, kann es nicht geben; wir könnten mit ihm keine gemeinsame Sprache finden, weder im buchstäblichen, noch im übertragenen Sinne. Wenn wir auch manchmal den Anspruch erheben, urbi et orbi zu erleben und zu äußern, so sehen wir natürlich auch »die Stadt und die Welt« in Wirklichkeit durch das Prisma des uns umgebenden konkreten sozialen Milieus. Meistenteils setzen wir dabei einen gewissermaßen typischen und stabilisierten sozialen Gesichtskreis voraus, auf den sich das ideologische Schaffen der sozialen Gruppe und der Zeit orientiert, zu denen wir selbst gehören, sozusagen auf den Zeitgenossen unserer Literatur, unserer Wissenschaft, unserer Moral und unseres Rechts.
Die innere Welt und das Denken eines jeden Menschen haben
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ihr eigenes stabilisiertes soziales Auditorium, in dessen Atmosphäre sich seine Beweise, inneren Motive, Bewertungen usw. formen. Je mehr Kultur und Bildung dieser Mensch besitzt, um so mehr nähert sich das Auditorium dem normalen Auditorium des ideologischen Schaffens an, doch kann auch der ideale Gesprächspartner in keinem Fall über die Grenzen einer bestimmten Klasse und Epoche hinausgehen.
Die Bedeutung der Orientierung des Wortes auf einen Gesprächspartner ist ungeheuer groß. Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch, für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechendem und Zuhörendem. Jedes Wort drückt »den einen« in Beziehung zum »anderen« aus. Im Wort gestalte ich mich vom Standpunkt des anderen, letzten Endes vom Standpunkt der ganzen Gemeinschaft. Das Wort ist eine Brücke, die von mir zum anderen führt. Wenn sie sich mit einem Ende auf mich stützt, dann stützt sie sich mit dem anderen auf den Gesprächspartner. Das Wort ist das gemeinsame Territorium von Sprechendem und Gesprächspartner.
Doch was ist der Sprechende? Wenn auch das Wort ihm nicht ganz gehört - es ist sozusagen das Grenzgebiet zwischen ihm und dem Gesprächspartner -, so gehört es ihm doch zu einer guten Hälfte.
Hier gibt es ein Moment, bei dem er des Wortes nicht enteignet werden kann. Es handelt sich um den physiologischen Akt der Verwirklichung des Wortes. Doch kann man auf diesen Akt, wenn man ihn als rein physiologischen Akt betrachtet, die Kategorie des Besitzes nicht anwenden.
Nehmen wir nicht den physiologischen Akt der Verwirklichung des Lautes, sondern die Verwirklichung des Wortes als Zeichen, so kompliziert sich die Frage des Besitzes außerordentlich. Reden wir schon gar nicht davon, daß das Wort in seiner Eigenschaft als Zeichen vom Sprechenden aus dem sozialen Reservoir der vorhandenen Zeichen entlehnt wurde, denn auch die allerindividuellste Gestaltung dieses gesellschaftlichen Zeichens in der konkreten Äußerung ist gänzlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt. Eben jene stilistische Individualisierung der Äußerung, von der die Vosslerianer sprechen, ist die Widerspiegelung der sozialen Wechselbeziehungen, in deren Atmosphäre die jeweilige Äußerung geschaffen wird. Die unmittelbare soziale Situation und
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das soziale Milieu im weiteren Sinne bestimmen - sozusagen von innen - die Struktur der Äußerung.
In der Tat, welche Äußerung wir auch immer nehmen - sogar eine solche, die keine sachliche Mitteilung (also keine Kommunikation im engeren Sinne) ist, sondern der sprachliche Ausdruck irgendeines Bedürfnisses wie z. B. des Hungers -, wir werden feststellen, daß sie ganz und gar gesellschaftlich orientiert ist. Sie wird vor allem in unmittelbarer Weise von den Beteiligten am Ereignis der Äußerung - mögen sie ihm nahestehen oder nicht - in Verbindung mit einer gewissen Situation bestimmt: die Situation bildet die Äußerung und zwingt sie, so zu klingen und nicht anders, als Forderung oder als Bitte, als Verteidigung eines Rechts oder als Flehen um Gnade, in geschraubtem oder einfachem Stil, selbstbewußt oder bescheiden usw. usf.
Diese unmittelbare Situation sowie die daran unmittelbar sozial Beteiligten bestimmen die okkasionale Form und den Stil der Äußerung. Die tieferen Schichten ihrer Struktur werden durch länger andauernde und wesentliche soziale Bindungen bestimmt, in die der Sprechende eingeschlossen ist.
Nehmen wir die Äußerung im Prozeß ihres Werdens noch »in der Seele«, so ändert sich auch dann an der Sache nichts Wesentliches, denn die Struktur des Erlebnisses ist ebenso sozial wie die Struktur seiner äußeren Objektivierung. Der Grad des bewußten Verstehens, der Deutlichkeit und der Ausformung des Erlebnisses sind seiner sozialen Orientiertheit direkt proportional.
Und wirklich kann sogar ein einfaches, verschwommenes Bewußtwerdens irgendeines Gefühls, z. B. des Hungers, auch ohne daß es nach außen ausgedrückt wird, nicht ohne irgendeine ideologische Form auskommen. Denn jedes Bewußtsein braucht die innere Rede, eine innere Intonation und einen rudimentären inneren Stil: man kann sich seines Hungers bittend, ärgerlich, böse oder empört bewußt werden. Hier zählen wir natürlich nur die grob und scharf abgeteilten Richtungen der inneren Intonation auf, in Wirklichkeit sind ganz feine und komplizierte Intonationen möglich. Der äußere Ausdruck führt in den meisten Fällen die Richtung der inneren Rede und die in ihr bereits angelegten Intonationen lediglich fort und verdeutlicht sie.
In welcher Richtung die Intonation des inneren Hungerempfindens geht, hängt sowohl von der unmittelbaren Erlebnissituation als auch von der allgemeinen sozialen Lage des Hungernden ab.
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Denn diese Bedingungen bestimmen, in welchem Wertkontext und unter welchem sozialen Gesichtskreis das Hungererlebnis empfunden wird. Der unmittelbare soziale Kontext wird jene möglichen Zuhörer, Verbündete oder Feinde, bestimmen, auf die Bewußtsein und Erleben des Hungers gerichtet sind: es kann Wut auf die böse Natur sein, Wut auf sich selbst, auf die Gesellschaft, auf eine bestimmte soziale Gruppe, auf einen bestimmten Menschen usw. Möglich sind natürlich die verschiedensten Grade des bewußten Verstehens, der Genauigkeit und Differenzierung dieser sozialen ErlebniШorientierung; doch außerhalb einer wertmäßig sozialen Orientierung - wie sie auch immer aussehen mag - gibt es kein Erlebnis. Sogar das Weinen eines Säuglings ist auf die Mutter »orientiert«. Möglich ist auch eine appellierende, agitierende Färbung des Hungererlebnisses: das Erlebnis strukturiert sich in Richtung auf einen möglichen Aufruf, eine agitative Beweisführung, und wird in Form vom Protest empfunden usw. usf.
In bezug auf den potenziellen (und manchmal deutlich spürbaren) Zuhörer kann man zwei Pole unterscheiden, zwei Grenzen, zwischen denen das Erlebnis bewußt verstanden und ideologisch geformt werden kann, indem es mal zum einen, mal zum anderen Pol strebt. Nennen wir die beiden Pole unter Vorbehalt »Ich-Erlebnis« und »Wir-Erlebnis«.
Das »Ich-Erlebnis« strebt eigentlich der Vernichtung zu; je mehr es sich der Grenze nähert, um so mehr verliert es seine ideologische Gestaltung und damit auch die Bewußtheit, es nähert sich der physiologischen Reaktion des Tieres. Indem es diesen Pol anstrebt, verliert das Erlebnis alle Potenzen, alle Keime der sozialen Orientierung, es verliert seine sprachliche Gestalt; Einzelne oder ganze Gruppen von Erlebnissen können sich dieser Grenze nähern, wobei sie ihre ideologische Klarheit und Gestaltung einbüßen und von einem Bewußtsein zeugen, dessen soziale Wurzeln nicht tief reichen .
Das »Wir-Erlebnis« ist keinesfalls ein dumpfes Herdenerlebnis:
es ist differenziert. Mehr noch, die ideologische Differenzierung, das Wachsen der Einsicht, sind der Festigkeit und Sicherheit der sozialen Orientierung direkt proportional. Je stärker, organisierter
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und differenzierter das Kollektiv, in dem das Individuum sich orientiert, um so klarer und komplexer seine innere Welt.
Es gibt verschiedene Grade des »Wir-Erlebnisses« und verschiedene Typen seiner ideologischen Gestaltung.
Nehmen wir an, der Hungernde empfindet seinen Hunger innerhalb einer Anzahl voneinander isolierter zufällig hungernder Menschen (Pechvögel, Bettler usw.). Das Erlebnis eines solchen deklassierten Einzelgängers wird spezifisch gefärbt sein und bestimmte ideologische Formen anstreben, deren Amplitude ziemlich weit sein kann: Demut, Scham, Neid und andere Schattierungen der Bewertung werden seinem Erlebnis ihren Anstrich geben. Die ideologischen Formen, in deren Richtung sich das Erlebnis entwickelt, werden entsprechend sein: individualistischer Protest des Heruntergekommenen oder büßende, mystische Demut.
Nehmen wir nun an, daß der Hungernde einer Gemeinschaft angehört, wo der Hunger nicht zufällig ist und einen kollektiven Charakter hat, die Gemeinschaft aber keine starke materielle Verbindung untereinander hat und jeder isoliert hungert. Der Hunger wird »weltweit« erlebt, doch in materieller Isoliertheit und durch keine einheitliche Ökonomie verbunden, leidet jeder für sich in der kleinen und abgeschlossenen Welt seiner Einzelwirtschaft. Einem solchen Kollektiv fehlt ein einheitlicher materieller Körper zu einem einheitlichen Handeln. Unter solchen Umständen wird ein demutsvolles, doch nicht mit Scham und Erniedrigung vermischtes, Bewußtsein des Hungers vorherrschen: »Alle leiden, also leide auch du.« Auf solchem Boden entwickeln sich die philosophischen und religiösen Systeme des widerstandslosen und fatalistischen Typs (das frühe Christentum, die Tolstoj-Bewegung).
Völlig anders erleidet das Mitglied einer objektiv-materiell zusammengefaßten und vereinheitlichten Gemeinschaft den Hunger (ein militärisches Regiment; die innerhalb der Fabrikmauern versammelten Arbeiter; die Tagelöhner einer kapitalistischen Großfarm; schließlich die ganze Klasse, wenn sie zur »Klasse an sich« herangereift ist). Hier werden im Erlebnis die Töne eines aktiven und überzeugten Protestes vorherrschen, hier besteht keine Grundlage für eine demutsvolle und unterwürfige Intonation. Hier haben wtr vielmehr die günstigste Grundlage für die ideologische Klarheit und Ausformung des Erlebnisses .
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Alle von uns untersuchten Erlebnistypen mit ihren wesentlichen Intonationen gehen aber auch mit den entsprechenden Bildern und Formen möglicher Äußerungen schwanger. Die soziale Situation bestimmt überall, welches Bild, welche Metapher oder welche Form der Hungeräußerung aus der jeweilig intonierten Richtung sich entwickeln kann.
Einen besonderen Charakter hat das individualistische Selbsterlebnis. Es handelt sich nicht um ein »Ich-Erlebnis« im von uns weiter oben definierten eigentlichen Sinne. Das individualistische Erlebnis ist völlig differenziert und gestaltet. Es ist eine besondere ideologische Form des »Wir-Erlebnisses« der Bourgeoisklasse (es gibt auch einen analogen Typ des individualistischen Selbsterlebnisses der feudaladligen Klasse). Der individualistische Typ des Erlebnisses wird durch eine feste und sichere soziale Orientierung bestimmt. Meine individualistische Selbstsicherheit und mein Selbstwertgefühl schöpfe ich nicht von innen, aus den Tiefen meiner Persönlichkeit, sondern von außen: sie sind die ideologische Auslegung dessen, daß meine individuelle wirtschaftliche Tätigkeit durch das Recht sozial anerkannt und beschützt und durch die ganze politische Ordnung objektiv gesichert und verteidigt ist. Die Struktur der bewußten individuellen Persönlichkeit ist ebenso sozial wie der kollektivistische Erlebnistyp: es ist die bestimmte ideologische Auslegung einer komplexen und beständigen, in die Seele des Individuums projizierten sozio-ökonomischen Situation. Doch diesem Typ des individualistischen »Wir-Erlebnisses« wohnt, wie auch der ihm entsprechenden Ordnung, ein innerer Widerspruch inne, der früher oder später seine ideologische Gestalt sprengen wird.
Eine analoge Struktur weist der Typus des einsamen Selbsterlebnisses auf (»Die Fähigkeit und Kraft, in seiner Unschuld allein zu sein«, wie Romain Rolland diesen Typ kultiviert, teilweise auch Tolstoj). Der Stolz dieser Einsamkeit stützt sich ebenfalls auf das »Wir«. Das ist die typische Variante des »Wir-Erlebnisses« der zeitgenössischen westeuropäischen Intelligenz. Die Worte Tolstojs,
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daß es ein Denken für sich und ein Denken fürs Publikum gibt, stellt nur zwei Konzeptionen des Begriffs Publikum einander gegenüber. Dieses Tolstojsche »für sich« bedeutet in Wirklichkeit nur eine andere, ihm gemäße Konzeption des Zuhörers. Ein Denken, das nicht auf einen möglichen Ausdruck gerichtet wäre und folglich außerhalb der sozialen Orientierung dieses Ausdrucks und des Denkens selbst stünde, gibt es nicht.
So erweist sich also die sprechende Persönlichkeit, auch sozusagen von innen gesehen, ganz als das Produkt der gesellschaftlichen Interaktion. Nicht nur der äußere Ausdruck, sondern auch das innere Erlebnis sind soziales Territorium. Folglich führt auch der ganze Weg, der zwischen dem inneren Erlebnis (»Ausdruck«) und seiner äußeren Objektivierung (»Äußerung«) liegt, durch soziales Territorium. Wenn das Erlebnis sich aber in einer fertigen Äußerung aktualisiert, kompliziert sich seine soziale Orientierung durch die Einstellung auf die unmittelbare soziale Situation des Sprechens, vor allem aber auf die Gesprächspartner.
Unsere Ausführungen werfen ein neues Licht auf das von uns untersuchte Problem des Bewußtseins und der Ideologie.
Außerhalb einer Objektivation, außerhalb der Inkarnation in einem bestimmen Material (im Material der Geste, des inneren Wortes, des Schreis) ist das Bewußtsein eine Fiktion. Es ist eine schlechte ideologische Konstruktion, die durch Abstraktion von den konkreten Fakten des sozialen Ausdrucks geschaffen wurde. Doch das Bewußtsein als organisierender materieller Ausdruck (im ideologischen Material des Wortes, des Zeichens, der Zeichnung, der Farben, des Tons in der Musik usw.), dieses Bewußtsein ist ein objektives Faktum und eine gewaltige soziale Kraft. Es ist wahr, daß das Bewußtsein sich nicht über dem Sein befindet und das Sein nicht konstitutiv bestimmen kann, doch es ist ein Teil des Seins, eine der Kräfte des Seins, und deswegen besitzt es Wirksamkeit und spielt eine Rolle in der Arena des Seins. Solange das Bewußtsein im Kopf des Erkennenden als innersprachliches Embryo des Ausdrucks eingeschlossen ist, stellt es noch ein zu kleines Stückchen des Seins dar, und sein Wirkungsbereich ist sehr wenig ausgedehnt. Doch hat es alle Stadien der sozialen Objektivierung durchlaufen und tritt in das Wirkungssystem der Wissenschaft, der Kunst, der Moral und des Rechts, so wird es zu einer wirklichen Kraft, die sogar imstande ist, auf die ökonomische Basis des ge
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sellschaftlichen Lebens zurückzuwirken. Natürlich hat sich diese Kraft des Bewußtseins in bestimmten sozialen Organisationen inkarniert und in dauerhaftem ideologischem Ausdruck (der Wissenschaft, der Kunst usw.) verankert, doch war es schon in der anfänglichen verschwommenen Form eines aufblitzenden Gedankens und Erlebnisses ein kleines soziales Ereignis, und kein individueller innerer Akt.
Das Erlebnis ist von Anfang an auf einen vollständig aktualisierten äußeren Ausdruck orientiert und tendiert auf diesen hin. Dieser Ausdruck des Erlebnisses kann verwirklicht oder aber zurückgehalten, gebremst werden. In diesem letzten Fall ist das Erlebnis ein gehemmter Ausdruck (wobei wir hier die recht komplizierte Frage nach den Gründen und Bedingungen der Hemmung außer acht lassen). Der verwirklichte Ausdruck seinerseits hat eine mächtige Rückwirkung auf das Erlebnis: er beginnt, das innere Leben zu verknüpfen, indem es ihm einen bestimmteren und beständigeren Ausdruck verleiht.
Diese Rückwirkung des gestalteten und stabilen Ausdrucks auf das Erlebnis (d. h. den inneren Ausdruck) ist von ungeheurer Bedeutung und muß stets berücksichtigt werden. Man kann sagen, daß sich der Ausdruck weniger unserer inneren Welt anpaßt als unsere innere Welt sich den Möglichkeiten unseres Ausdrucks mit all seinen möglichen Wegen und Richtungen anpaßt.
Die Ganzheit der alltäglichen Erlebnisse und der mit ihnen unmittelbar verbundenen äußeren Ausdrücke wollen wir, zum Unterschied von den geformten ideologischen Systemen - der Kunst der Moral, des Rechts - Ideologie des Alltagslebens nennen. Die Ideologie des Alltagslebens ist das Element der unregulierten unfixierten inneren und äußeren Rede, welche jede Handlung und jede Tat sowie unseren ganzen »bewußten« Zustand begreift. Unter Berücksichtigung des Soziologischen in der Struktur des Ausdrucks und des Erlebnisses können wir sagen, daß unser Verständnis der Alltagsideologie im wesentlichen dem entspricht, was in der marxistischen Literatur mit »Sozialpsychologie« bezeichnet wird. Im gegebenen Kontext ziehen wir es vor, das Wort »Psychologie« zu vermeiden, weil für uns ausschließlich der Inhalt der Psyche und des Bewußtseins wichtig ist, und der ist durch und durch ideologisch, er wird nicht durch individuell-organische (biologische oder physiologische) Faktoren bestimmt, sondern durch rein soziologische. Der individuell-organische Faktor ist für das Verstehen der
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wesentlichen schöpferischen und lebendigen Züge im Inhalt des Bewußtseins völlig nichtig.
Die gestalteten ideologischen Systeme der gesellschaftlichen Moral, der Wissenschaft, der Kunst und der Religion kristallisieren sich aus der Ideologie des Alltagslebens heraus und haben ihrerseits eine starke Rückwirkung auf sie, wobei sie dort normalerweise den Ton angeben. Doch gleichzeitig bewahren alle diese fertigen ideologischen Produkte die lebendigste organische Verbindung mit der Ideologie des Alltagslebens, nähren sich von ihren Säften und sind außerhalb ihrer tot, so tot wie z. B. ein vollendetes Werk der Literatur oder eine Erkenntnisidee außerhalb ihrer lebendigen wertenden Wahrnehmung. Denn diese Wahrnehmung, für die jedes ideologische Werk - was es auch immer sei - ja nur existiert, vollzieht sich in der Sprache der Ideologie des Alltagslebens. Die Ideologie des Alltagslebens zieht das Werk in die gegebene soziale Situation mit hinein. Das Werk verbindet sich mit seinem ganzen Inhalt mit dem Bewußtsein der Wahrnehmenden und wird nur im Kontext dieses zeitgenössischen Bewußtseins apperzerpiert. Es wird im Geiste des jeweiligen Bewußtseinsinhaltes (des Bewußtseins des Wahrnehmenden) interpretiert und von ihm neu beleuchtet. Darin liegt das Leben eines ideologischen Werkes. In jeder Epoche seiner historischen Existenz muß das Werk eine enge Verbindung mit der wechselnden Ideologie des Alltagslebens eingehen, sie in sich eindringen lassen und sich mit ihren neuen Säften vollsaugen. Nur in dem Maße, wie das Werk imstande ist, eine solche unlösbare organische Verbindung mit der Alltagsideologis der jeweiligen Epoche einzugehen, ist es innerhalb dieser Epoche auch lebensfähig (natürlich in einer bestimmten sozialen Gruppe). Außerhalb dieser Verbindung hört es auf zu existieren, denn es wird nicht mehr als ideologisch relevant erlebt.
In der Ideologie des Alltagslebens müssen wir einige Schichten unterscheiden. Diese Schichten werden von jenen gesellschaftlichen Maßstäben bestimmt, mit denen auch Erlebnis und Ausdruck gemessen werden, von jenen sozialen Kräften, auf die sie sich unmittelbar orientieren müssen.
Der Horizont, in dem sich das jeweilige Erlebnis oder der Ausdruck verwirklichen, kann, wie wir bereits wissen, mehr oder minder weit gespannt sein. Die kleine Erlebniswelt kann eng und dunkel sein, die soziale Orientierung des Erlebnisses zufällig und flüchtig und nur für die jeweilige zufällige und instabile Gruppie-
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rung weniger Personen charakteristisch. Natürlich sind auch solche launischen Erlebnisse ideologisch und soziologisch, doch sie liegen schon auf der Grenze zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Ein solches zufälliges Erlebnis bleibt im seelischen Leben einer Person isoliert. Es wird nicht in der Lage sein, sich zu festigen und einen differenzierten und vollendeten Ausdruck zu finden: wenn es kein sozial bedingtes und festes Auditorium hat woher sollen dann die Grundlagen für eine Differenzierung und Vollendung kommen? Noch weniger ist die Fixierung eines solchen zufälligen Erlebnisses möglich schriftlich oder gar gedruckt). Natürlich hat ein solches aus einer zufälligen und momentanen Situation entstandenes Erlebnis keine Chancen, zur sozialen Kraft zu werden oder Wirksamkeit zu erlangen.
Solche Erlebnisse bilden die unterste fließende und leicht veränderliche Schicht der Ideologie des Alltagslebens. Zu dieser Schicht gehören folglich auch alle jene verschwommenen und unreifen, durch unsere Seele huschenden Erlebnisse, Gedanken und zufälligen, müßigen Worte. Dies alles sind nicht lebensfähige Frühgeburten sozialer Orientierungen, Romane ohne Helden und Auftritte ohne Publikum. Sie entbehren jeder wie auch immer gearteten Logik und jeder Einheit. Es ist sehr schwer, in diesen ideologischen Fragmenten eine soziologische Gesetzmäßigkeit aufzuspüren. In der unteren Schicht der Alltagsideologie kann man nur eine statistische Gesetzmäßigkeit finden; nur in einer großen Masse von Produkten dieser Art offenbaren sich die Grundzüge einer sozio-ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Die sozio-ökonomischen Voraussetzungen eines einzelnen zufälligen Erlebnisses oder Ausdrucks praktisch offenzulegen, ist natürlich unmöglich.
Andere, höhere Schichten der Ideologie des Alltagslebens, welche einem ideologischen System unmittelbar angeschlossen sind, sind wesentlicher, verbindlicher und haben einen schöpferischen Charakter. Sie sind viel beweglicher und unruhiger als die gestaltete Ideologie; sie sind schneller und genauer in der Lage, Veränderungen an der sozio-ökonomischen Basis zu bewirken. Gerade hier sammeln sich auch jene schöpferischen Energien an, mit deren Hilfe partielle oder radikale Umgestaltungen ideologischer Systeme vonstatten gehen. Die neu auftretenden gesellschaftlichen Kräfte finden ihren ideologischen Ausdruck und ihre Gestalt zuerst in diesen höheren Schichten der Alltagsideologie, noch bevor es ihnen gelingt, den Kampfplatz der organisierten, offiziellen
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Ideologie für sich zu gewinnen. Nätürlich unterliegen diese neuen Strömungen der Alltagsideologie im Verlaufe des Kampfes und des allmählichen Einsickerns in die ideologischen Organisationen (Presse, Literatur, Wissenschaft), wie revolutionär sie auch immer sein mögen, dem Einfluß gestalteter ideologischer Systeme und eignen sich teilweise die darin angesammelten Formen, ideologischen Gewohnheiten und Standpunkte an.
Das, was gewöhnlich die »schöpferische Persönlichkeit« genannt wird, ist der Ausdruck einer grundlegenden festen und beständigen Linie in der sozialen Orientierung eines Menschen. Hierzu gehören vor allem die obersten, am meisten ausgestalteten Schichten der inneren Rede (die Ideologie des Alltagslebens), jedes Bild, dessen einzelne Intonationen durch das Stadium des Ausdrucks gegangen sind und die Prüfung durch den Ausdruck bestanden haben. Hierher gehören auch die Worte, Intonationen und inneren Gesten, welche die Erfahrung des äußeren Ausdrucks in mehr oder weniger großem gesellschaftlichem Maßstab hinter sich gebracht haben und gesellschaftlich sozusagen bereits durch Reaktionen und Repliken, Ablehnung oder Unterstützung von seiten des sozialen Auditoriums abgewetzt und geschliffen sind.
In den unteren Schichten der Ideologie des Alltagslebens spielt natürlich der bio-biographische Faktor eine wesentliche Rolle, doch je stärker die Äußerung in das ideologische System eindringt, um so schwächer wird seine Bedeutung. Wenn folglich die bio-biographischen Erklärungen zu den unteren Erlebnis- und Ausdrucksschichten noch etwas beitragen können, so ist ihre Rolle in den oberen Schichten ziemlich bescheiden. Die objektive soziologische Methode ist hier absoluter Herrscher.
So muß also die Theorie des Ausdrucks, die dem individualistischen Subjektivismus zugrundeliegt, von uns abgelehnt werden. Das Organisationszentrum jeder Äußerung, jeden Ausdrucks, liegt nicht innen, sondern außen: in dem das Einzelwesen umgebenden sozialen Milieu. Nur der unartikulierte tierische Schrei bildet sich wirklich innen und kommt aus dem physiologischen Apparat des Einzelwesens. Er ist eine physiologische Reaktion ohne jedes ideologische Plus. Doch schon die allerprimitivste menschliche Äußerung, die von einem einheitlichen Organismus vom Standpunkt seines Inhalts, seines Sinns und seiner Bedeutung verwirklicht wird, bildet sich außerhalb seiner, unter den außerorganischen Be-
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dingungen des sozialen Milieus. Die Äußerung als solche ist voll und ganz das Produkt der gesellschaftlichen Interaktion, sowohl der unmittelbaren, von der Sprechsituation veranlaßten, als auch der vermittelten, von der Gesamtheit aller Bedingungen des jeweiligen sprechenden Kollektivs bestimmten.
Die einzelne Äußerung (parole) ist entgegen der Lehre des abstrakten Objektivismus keinesfalls ein individueller Akt, der sich wegen seiner Individualität einer soziologischen Analyse entzieht. Wenn es nämlich so wäre, könnten weder die Summe dieser individuellen Akte, noch irgendwelche allen diesen individuellen Akten gemeinsamen abstrakten Faktoren (»die normativ-identischen Formen«) auch nur ein einziges soziales Produkt schaffen.
Der individualistische Subjektivismus hat recht, wenn er sagt, daß die einzelnen Äußerungen die eigentliche, konkrete Realität der Sprache darstellen und daß ihnen in der Sprache schöpferische Bedeutung zukommt.
Doch der individualistische Subjektivismus hat unrecht, wenn er die soziale Natur der Äußerung ignoriert und nicht versteht, indem er versucht, sie von der inneren Welt des Sprechenden und als deren Ausdruck herzuleiten. Die Struktur der Äußerung und des auszudrückenden Erlebnisses selbst ist eine gesellschaftliche Struktur. Die stilistische Gestaltung der Äußerung ist eine soziale Gestaltung, und selbst der Redestrom der Äußerungen, aus dem die Realität der Sprache wirklich entsteht, ist ein sozialer Strom. Jeder Tropfen in ihm ist sozial, und sozial ist die ganze Dynamik seines Werdens.
Vollkommen recht hat der individualistische Subjektivismus darin, daß man die sprachliche Form nicht von ihrem ideologischen Inhalt trennen darf. Jedes Wort ist ideologisch, und jede Anwendung der Sprache ist mit einer Veränderung der Ideologie verbunden. Doch der individualistische Subjektivismus hat unrecht, wenn er diesen ideologischen Inhalt ebenfalls aus den Bedingungen der individuellen Psyche ableitet.
Unrecht hat der individualistische Subjektivismus auch darin, daß er, ähnlich wie der abstrakte Objektivismus, im wesentlichen von der monologischen Äußerung ausgeht. Freilich beginnen einige Vosslerianer sich dem Problem des Dialogs und folglich auch einem richtigeren Verständnis der sprachlichen Interaktion zu nähern. In hohem Grade charakteristisch in diesem Zusammenhang ist das von uns bereits erwähnte Buch von Leo Spitzer »Italienische
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Umgangssprache«, in dem der Versuch unternommen wird, die Formen der italienischen Umgangssprache in enger Verbindung mit den Sprechbedingungen und vor allem unter Berücksichtigung des Gesprächspartners zu analysieren . Die Methode Leo Spitzers ist indessen deskriptiv-psychologisch. Entsprechende prinzipiell-soziologische Schlußfolgerung zieht Leo Spitzer aus seiner Analyse nicht. Die wesentliche Realität ist und bleibt so für die Vosslerianer die monologische Äußerung.
Das Problem der sprachlichen Interaktion wurde mit großer Deutlichkeit von Otto Dietrich zur Sprache gebracht . Er geht von der Kritik der Theorie der Äußerung als Ausdruck aus. Die wesentliche Funktion der Sprache ist für ihn nicht Ausdruck, sondern Mitteilung. Dies bringt ihn dazu, die Rolle des Zuhörers zu berücksichtigen. Die Minimalbedingung für eine sprachliche Erscheinung sind, laut Dietrich, zwei Personen (der Sprechende und der Zuhörer). Die allgemeinpsychologischen Voraussetzungen teilt Dietrich indessen mit dem individualistischen Subjektivismus. Ebenso fehlt den Forschungen Dietrichs eine bestimmte soziologische Basis.
Jetzt können wir die Fragen beantworten, die wir am Anfang des ersten Kapitels dieses Teils gestellt haben. Die wahre Realität der Sprache als Rede ist nicht das abstrakte System sprachlicher Formen, nicht die isolierte monologische Äußerung und nicht der psycho-physiologische Akt ihrer Verwirklichung, sondern das soziale Ereignis der sprachlichen Interaktion, welche durch Äußerung und Gegenäußerung realisiert wird.
Die sprachliche Interaktion ist also die eigentliche Realität der Sprache.
Der Dialog im engeren Sinne dieses Wortes ist natürlich nur eine Form der sprachlichen Interaktion, wenn auch die wichtigste. Doch man kann den Begriff des Dialogs auch weiter fassen und
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darunter nicht nur die hörbar artikulierte sprachliche Kommunikation zweier Menschen von Angesicht zu Angesicht verstehen, sondern jegliche Art sprachlicher Kommunikation. Das Buch, d. h. eine gedruckte sprachliche Handlung, ist ebenfalls ein Element der sprachlichen Kommunikation. Es wird im unmittelbaren, lebendigen Dialog erörtert und richtet sich außerdem auf eine aktive, mit Verarbeitung und innerer Erwiderung verbundene Wahrnehmung sowie auf eine organisierte gedruckte Reaktion in einer der in dieser Sphäre der sprachlichen Kommunikation herausgearbeiteten Form (Rezensionen, kritische Referate, der bestimmende Einfluß auf die nachfolgenden Arbeiten usf.). Ferner orientiert sich ein solcher Redeakt notwendig auf vorhergegangene Akte in der gleichen Sphäre, sei es vom selben Autor, sei es von anderen Autoren; er geht von einer bestimmten Position eines wissenschaftlichen Problems oder künstlerischen Stils aus. Auf diese Weise tritt die gedruckte sprachliche Handlung gleichsam in eine ideologische Diskussion in großem Maßstab ein: sie antwortet auf etwas, widerlegt oder bestätigt es, nimmt mögliche Antworten und Widerlegungen vorweg, sucht Unterstützung usw.
Jede Äußerung, wie bedeutungsvoll und vollendet sie in sich auch immer sein mag, ist nur ein Moment in der kontinuierlichen sprachlichen Kommunikation (der alltäglichen, literarischen, erkenntnistheoretischen oder politischen). Doch auch diese kontinuierliche sprachliche Kommunikation selbst ist wiederum nur ein Moment des ständigen allseitigen Werdens des jeweiligen gesellschaftlichen Kollektivs. Daraus ergibt sich ein wichtiges Problem: die Untersuchung der Verbindung zwischen der konkreten Interaktion und der unmittelbaren Situation, von der man dann auch auf die vermittelte schließen kann. Die Formen dieser Verbindung können verschieden sein, und je nach Zusammenhang mit der einen oder anderen Form kommt den verschiedenen Momenten der Situation unterschiedliche Bedeutung zu (so sind die Verbindungen mit den verschiedenen Situationsmomenten in der künstletischen oder wissenschaftlichen Kommunikation verschieden). Niemals kann sprachliche Kommunikation außerhalb dieser Verbindung mit einer konkreten Situation verstanden oder erklärt werden. Die sprachliche Kommunikation ist untrennbar mit andersartigen Kommunikationsweisen verbunden, die sich auf dem ihnen gemeinsamen Boden der Kommunikation in der Produktionssphäre entwickeln. Man kann das Wort natürlich aus dieser
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ewig werdenden, einheitlichen Kommunikation nicht lösen. In dieser ihrer konkreten Verbindung mit der Situation wird die sprachliche Kommunikation immer von gesellschaftlichen Akten unsprachlichen Charakters (Arbeit, symbolischem Ritual, Zeremonien usw.) begleitet, die oft nur ihre Ergänzung bilden, denen lediglich eine Hilfsfunktion zukommt.
Gerade hier, in der konkreten sprachlichen Kommunikation, lebt die Sprache und entwickelt sich historisch, und nicht in dem abstrakten System der sprachlichen Formen oder der individuellen Psyche des Sprechenden.
Hieraus folgt, daß die methodologisch begründete Ordnung des Sprachstudiums folgendermaßen aussehen muß:
- Formen und Typen der sprachlichen Interaktion im Zusammenhang mit ihren konkreten Bedingungen;
- die Formen der einzelnen Äußerungen, der einzelnen Redeakte in enger Verbindung mit der Interaktion, deren Elemente sie
sind, d. h. die durch die sprachliche Interaktion bestimmten Genres der Redeakte im Leben und im ideologischen Schaffen;
- hiervon ausgehend, Revision der Sprachformen in der üblichen linguistischen Auslegung.
In dieser Reihenfolge verläuft auch das Werden der Sprache:
zuerst entsteht die gesellschaftliche Kommunikation (auf der Basis), in ihr entsteht die sprachliche Kommunikation und Interaktion:
in diesen die Formen der Redeakte, deren Werden sich schließlich in der Veränderung der Sprachformen widerspiegelt.
Aus allem bisher Gesagten ergibt sich die außerordentliche Bedeutung des Problems der Form der Äußerung als Ganzes. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die moderne Linguistik zur Äußerung selbst keinen Zugang hat. Ihre Analyse geht nicht über die Behandlung der Elemente der Äußerung hinaus. Indessen sind die Äußerungen die realen Einheiten des Sprachflusses. Doch gerade wenn man die Formen dieser realen Einheit studieren will, darf man sie nicht aus dem historischen Strom der Äußerungen herauslösen. Als Ganzes verwirklicht sich die Äußerung nur im Strom der sprachlichen Kommunikation. Denn das Ganze definiert sich durch seine Grenzen, und die Grenzen liegen an der Berührungslinie der jeweiligen Äußerung zum außersprachlichen und sprachlichen Milieu (d. h. zu anderen Äußerungen).
Das erste Wort und das letzte Wort - der Anfang und das Ende einer lebendigen Äußerung - da haben wir schon das Problem des Ganzen. Der Sprachprozeß, wenn man ihn weit faßt und als Pro-
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zeß des äußeren und inneren sprachlichen Lebens versteht, ist überhaupt nicht unterbrechbar, er kennt keinen Anfang und kein Ende. Die äußerlich aktualisierte Äußerung ist eine Insel, die aus dem uferlosen Ozean der inneren Rede ragt; die Dimensionen und Formen dieser Insel werden durch die jeweilige Situation der Äußerung und durch ihr Auditorium bestimmt. Die Situation und das Auditorium zwingen die innere Rede, sich in einem bestimmten äußeren Ausdruck zu aktualisieren, der in den nicht sich äußernden Kontext des Lebens unmittelbar eingeschlossen ist und wo er sich zu einer Handlung, einer Tat oder einer gesprochenen Antwort anderer Kommunikationsteilnehmer vervollständigt. Die abgeschlossene Frage, der Ausruf, der Befehl, die Bitte, - das sind sehr typische ganze Äußerungen aus dem Alltagsleben. Sie alle (besonders solche wie der Befehl oder die Bitte) fordern eine außersprachliche Vervollständigung, ja sogar einen außersprachlichen Beginn. Die Vollendung selbst dieser kleinen Genres aus dem Leben bestimmt sich durch das Reiben des Wortes am außer-sprachlichen Milieu und am fremden Wort (der anderen Menschen). So wird die Form des Befehls durch die Widerstände bestimmt, auf die er stoßen kann, dem Grad des Gehorsams usw. Die Vollendung des Genres antwortet hier auf die zufälligen und unwiederholbaren Besonderheiten der Lebenssituation. Von besonderen Typen, von genremäßigen Vollendungen in der Rede des Alltags kann man nur da sprechen, wo zumindest einigermaßen beständige, durch die Lebensweise und die Umstände gefestigte Formen der Kommunikation des täglichen Lebens vorkommen. So ist ein besonderer Typ der genremäßigen Vollendung in dem leichten und zu nichts verpflichtenden Salongeschwätz entstanden, wo man unter sich ist und wo die wesentlichste Differenzierung der Versammelten (des Auditoriums) in der Unterscheidung von Männern und Frauen besteht. Hier haben sich besondere Formen von Wortspielen, Andeutungen, Reminiszenzen an kleine, absichtlich unernste Geschichten usw. entwickelt. Ein anderer Typ der Vervollständigung hat sich in den Gesprächen zwischen Mann und Frau oder Bruder und Schwester entwickelt. Ganz anders beginnen, beenden und formulieren die zufällig in einer Schlange oder bei einer Behörde zusammengekommenen verschiedenartigen Leute ihre Erklärungen und Repliken. Die abendlichen Versammlungen der Dorfjugend, die städtischen Promenaden, der Mittagspausenschwatz der Arbeiter usw., entwickeln ihre eigenen Typen. Jede
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beständige Situation aus dem täglichen Leben hat ein ganz bestimmt gestaltetes Auditorium und folglich auch ein gewisses Repertoire von kleinen alltäglichen Genres. Überall ordnet sich das Genre aus dem Alltagsleben in die ihm zugewiesene Bahn der sozialen Kommunikation; es ist die ideologische Widerspiegelung ihres Typs, ihrer Struktur, ihres Ziels und ihres sozialen Bestandes. Das Genre des Alltagslebens ist ein Teil des sozialen Milieus: des Feiertags, der Mußestunden, des Verkehrs im Gasthaus, in der Werkstatt usw. Es kommt mit diesem Milieu in Berührung, wird von ihm begrenzt und in allen seinen inneren Momenten bestimmt.
Produktive Arbeitsprozesse und der Geschäftsverkehr verfügen für ihre Äußerungen über andere Konstruktionsformen.
Was aber die Formen der ideologischen Kommunikation im wahrsten Sinne dieses Wortes betrifft, der Formen politischer Ansprachen und politischer Aktionen, der Gesetze, Formeln, Deklarationen usw. usw., die Formen poetischer Äußerungen, wissenschaftlicher Abhandlungen usw. - so wurden diese einer speziellen Untersuchung in der Rhetorik oder der Poetik unterzogen, doch, wie wir schon gesagt haben, sind diese Untersuchungen einerseits vom Problem der Sprache und andererseits von den Problemen der sozialen Kommunikation völlig losgelöst .
Eine produktive Analyse der Formen der Äußerungen in ihrer Gesamtheit, als reale Einheiten des Sprachflusses sind nur auf der Grundlage der Anerkennung der einzelnen Äußerung als rein soziologischer Erscheinung möglich. Die marxistische Sprachphilosophie muß deshalb auf der Äußerung als realem Phänomen der Sprache als Rede und als sozio-ideologischer Struktur basieren.
Nachdem wir die soziologische Struktur der Äußerung aufgezeigt haben, kehren wir zu den beiden Richtungen im philosophisch linguistischen Denken zurück, um die Schlußfolgerungen zu ziehen.
Die Moskauer Linguistin R. Шor, die der zweiten Richtung im
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philosophisch-linguistischen Denken (dem abstrakten Objektivismus) anhängt, schließt ihren kurzen Abriß über den Stand der modernen Sprachwissenschaft mit folgenden Worten:
»Die Sprache ist kein Gegenstand (εΡγον), sondern eine natürliche und naturhafte menschliche Tätigkeit (ενεΡγεια) - sagt die romantische Sprachwissenschaft des XIX. Jahrhunderts. Die moderne theoretische Linguistik sagt etwas anderes: »Die Sprache ist keine individuelle Tätigkeit (ενεΡγεια), sondern ein kulturhistorisches Gut der Menschheit (εΡγον)
.«
Diese Schlußfolgerung überrascht durch ihre Einseitigkeit und Voreingenommenheit. Faktisch ist sie vollkommen unrichtig. Denn zur modernen theoretischen Linguistik gehört auch die Vossler-Schule, die in Deutschland eine der mächtigsten Bewegungen des modernen linguistischen Denkens darstellt. Es ist unzulässig, die zeitgenössische Linguistik nur mit einer ihrer Richtungen gleichzusetzen.
Vom theoretischen Standpunkt her müssen sowohl die von R. Шor aufgestellte These als auch die Antithese gleichermaßen abgelehnt werden, denn sie sind der wahren Natur der Sprache nicht adäquat.
Bemühen wir uns, zum Schluß in wenigen Grundsätzen unseren Standpunkt zu formulieren:
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Die Sprache als beständiges System normativ identischer Formen ist nur eine wissenschaftliche Abstraktion, die lediglich bei der Verfolgung bestimmer praktischer und theoretischer Ziele produktiv sein kann. Der konkreten Wirklichkeit der Sprache ist diese Abstraktion nicht adäquat.
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Die Sprache ist ein ständiger Prozeß des Werdens, der durch die gesellschaftliche sprachliche Interaktion der Sprechenden verwirklicht wird.
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Die Gesetze des sprachlichen Werdens sind keinesfalls individualpsychologische Gesetze, noch können sie von der Tätigkeit der sprechenden Individuen losgelöst werden. Die Gesetze des sprachlichen Werdens sind soziologische Gesetze.
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Das sprachliche Schaffen fällt nicht mit dem künstlerischen oder irgendeinem anderen speziell ideologischen Schaffen zusammen. Doch gleichzeitig kann das sprachliche Schaffen nicht losgelöst
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von den es erfüllenden idelogischen Werten und Bedeutungen verstanden werden. Das Werden der Sprache kann, wie jedes historische Werden, als blinde mechanische Notwendigkeit wahrgenommen werden; doch es kann auch, indem es bewußt verstanden und gewünscht wird, zu einer »freien Notwendigkeit« werden.
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Die Struktur der Äußerung ist eine rein gesellschaftliche Struktur. Die Äußerung als solche ist zwischen den Sprechenden präsent. Der individuelle Redeakt (im wahren Sinne des Wortes »individuell«) ist eine contradictio in adjecto.
1.4. Thema und Bedeutung der Sprache
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Thema und Bedeutung.
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Das Problem der aktiven Wahrnehmung.
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Die Dialektik der Bedeutung.
Das Problem der Bedeutung ist eins der schwierigsten Probleme der Linguistik. Im Prozeß seiner Lösung wird der einseitige Monologismus der Linguistik besonders deutlich offenbar. Die Theorie des passiven Verstehens ermöglicht keinen Zugang zu den grundlegendsten und wesentlichsten Besonderheiten der sprachlichen Bedeutung. In den Grenzen unserer Arbeit sind wir gezwungen, uns auf eine überaus kurze und oberflächliche Betrachtung dieser Frage zu beschränken. Wir werden uns bemühen, wenigstens die Grundzüge ihrer produktiven Ausarbeitung zu skizzieren.
Eine bestimmte und einheitliche Bedeutung, ein einheitlicher Sinn, sind jeder Äußerung als Ganzen eigen. Nennen wir diesen Sinn der ganzen Äußerung ihr Thema . Das Thema muß einheitlich sein; denn wäre das Gegenteil der Fall, so hätten wir keinen Anlaß, von einer Äußerung zu sprechen. Das Thema der Äußerung ist seinem Wesen nach individuell und unwiederholbar wie die Äußerung selbst. Das Thema ist der Ausdruck der konkreten historischen Situation, welche die Äußerung hervorgebracht hat. Die Äußerung »Wie spät ist es?« hat jedesmal eine andere Bedeutung und folglich - nach unserer Terminologie - auch ein anderes
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Thema, das von der konkreten historischen Situation (historisch im mikroskopischen Maße), abhängt, in der sie artikuliert und von der sie eigentlich auch ein Teil ist.
Daraus folgt, daß das Thema einer Äußerung nicht nur durch die ihren Bestand bildenden linguistischen Formen wie Wörter, morphologische und syntaktische Formen, Laute und Intonationen, bestimmt wird, sondern auch durch die außersprachlichen Faktoren der Situation. Wenn wir diese Situationsfaktoren außer acht lassen, können wir die Äußerung ebensowenig verstehen wie wenn uns daraus die wichtigsten Wörter fehlten. Das Thema der Äußerung ist konkret, so konkret wie jener historische Augenblick, dem diese Äußerung angehört. Nur die Äußerung, die als historisches Phänomen in ihrer ganzen konkreten Fülle aufgenommen wird, hat ein Thema. So sieht das Thema der Äußerung aus.
Beschränkten wir uns indessen auf diese historische Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit einer jeden konkreten Äußerung und ihres Themas, wären wir schlechte Dialektiker. Neben dem Thema, oder genauer, mitten im Thema selbst, hat die Äußerung auch eine Bedeutung. Zum Unterschied vom Thema verstehen wir unter Bedeutung alle jene Faktoren der Äußerung, die wiederholbar und selbstidentisch bleiben. Natürlich sind diese Faktoren abstrakt: in der bedingt isolierten Form haben sie keine konkrete selbständige Existenz, doch gleichzeitig sind sie ein untrennbarer und notwendiger Teil der Äußerung. Das Thema der Äußerung ist seinem Wesen nach unteilbar. Umgekehrt zerfällt die Bedeutung der Äußerung in eine Reihe von Bedeutungen, die sich auf die in ihr enthaltenen sprachlichen Elemente beziehen. Das unwiederholbare Thema der Äußerung »Wie spät ist es?« in der untrennbaren Verbindung mit einer konkreten historischen Situation, kann nicht in Elemente zerteilt werden. Die Bedeutung der Äußerung »Wie spät ist es?«, die natürlich in allen historischen Fällen, in denen sie ausgesprochen wird, gleich ist, setzt sich aus den Bedeutungen der darin enthaltenen Wörter, der Aspekte ihrer morphologischen und syntaktischen Verbindungen, der Frageintonation usw. zusammen.
Das Thema ist ein komplexes dynamisches System von Zeichen, das versucht, einem gegebenen Augenblick des generativen Prozesses adäquat zu sein. Das Thema ist die Reaktion des werdenden Bewußtseins auf das werdende Sein. Die Bedeutung ist der technische Apparat der Verwirklichung des Themas. Natürlich ist es un-
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möglich, zwischen Thema und Bedeutung eine absolute mechanische Grenze zu ziehen. Es gibt keine Bedeutung ohne Thema und kein Thema ohne Bedeutung. Darüber hinaus kann man nicht einmal die Bedeutung irgendeines einzelnen Wortes zeigen (z. B. wenn man einen anderen Menschen in einer Fremdsprache unterrichtet), ohne, es zu einem ungefähren Element eines Themas zu machen, d. h. ohne eine Äußerung als »Beispiel« zu konstruieren. Andererseits muß das Thema sich auf irgendeine Konsistenz der Bedeutung stützen, weil es sonst seine Verbindung mit dem Vorhergegangenen und dem Nachfolgenden, d. h. überhaupt seinen Sinn verliert.
Das Studium der Sprachen der Urvölker und die moderne Paläontologie der Bedeutungen schließen auf eine sogenannte Komplexität des Urdenkens. Der Urmensch gebrauchte ein Wort zur Bezeichnung der vielfältigsten Erscheinungen, die von unserem Standpunkt aus gesehen untereinander durch nichts verbunden sind. Mehr noch: ein und dasselbe Wort konnte direkt einander entgegengesetzte Begriffe bezeichnen, sowohl oben als unten, sowohl Erde als Himmel, sowohl gut als böse usw. »Es genügt zu erwähnen«, - sagt das Akademiemitglied N. J. Marr, »daß die moderne Paläontologie der Sprache uns die Möglichkeit gibt, in der Forschung bis zu der Epoche vorzudringen, wo ein Stamm nur über ein Wort verfügte, das in allen Bedeutungen angewandt wurde, welche der Menschheit auch nur bewußt waren .«
Doch war solch ein allesbedeutendes Wort überhaupt ein Wort? könnte man uns fragen. Eben darum war es ein Wort. Hätte umgekehrt irgendein lautlicher Komplex eine einzige inerte und unveränderliche Bedeutung, dann wäre dieser Komplex kein Wort und auch kein Zeichen, sondern nur ein Signal . Die Vieldeutigkeit ist ein konstitutives Merkmal des Wortes. Was das allesbedeutende Wort betrifft, von dem N. J. Marr spricht, so können wir dazu folgendes sagen: ein solches Wort hat eigentlich überhaupt keine Be-
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deutung; es ist ganz Thema. Seine Bedeutung ist von der konkreten Situation seiner Verwirklichung nicht zu trennen. Diese Bedeutung ist jedesmal eine andere, ebenso wie die Situation jedesmal eine andere ist. So verschlingt in einem solchen Fall das Thema die Bedeutung, löst sie in sich auf und gibt ihr keine Gelegenheit, sich zu stabilisieren oder wenigstens irgendwie zu fixieren. Doch in dem Maße, in dem sich die Sprache entwickelt und der Bestand an Lautkomplexen sich erweitert, beginnen auch die Bedeutungen sich nach den wesentlichen, im Leben des Kollektivs sich am häufigsten wiederholenden Linien der thematischen Anwendung des einen oder andern Wortes zu stabilisieren.
Ein Thema ist, wie wir gesagt haben, nur einer ganzen Äußerung eignen, dem einzelnen Wort hingegen nur dann, wenn es für eine ganze Äußerung steht. So steht z. B. das allesbedeutende Wort N. J. Marrs immer für ein Ganzes (deswegen hat es auch keine feste Bedeutung). Die Bedeutung gehört dem Element und der Gesamtheit der Elemente in ihrem Verhältnis zum Ganzen an. Wenn wir natürlich vom Verhältnis zum Ganzen, d. h. zur Äußerung, völlig absehen, so geht uns die Bedeutung völlig verloren. Deswegen kann man auch zwischen Thema und Bedeutung keine klare Grenze ziehen.
Am richtigsten wäre es, die Wechselbeziehung von Thema und Bedeutung folgendermaßen zu formulieren: Das Thema ist die obere reale Grenze des sprachlichen Sinns; eigentlich bedeutet nur das Thema etwas Bestimmtes. Die Bedeutung ist die untere Grenze des sprachlichen Sinns. Eigentlich bedeutet die Bedeutung nichts, sie besitzt nur die Potentialität, die Möglichkeit einer Bedeutung innerhalb eines konkreten Themas. Die Untersuchung der Bedeutung des einen oder anderen Sprachelements kann - unserer Definition gemäß - zwei Richtungen einschlagen: entweder zur oberen Grenze, dem Thema; in diesem Fall wäre das die Untersuchung der kontextualen Bedeutung des jeweiligen Wortes unter den Bedingungen einer konkreten Äußerung; oder aber sie strebt zur unteren Grenze, der Grenze der Bedeutung. In diesem Fall handelte es sich um die Untersuchung der Bedeutung des Wortes im System der Sprache, oder, mit anderen Worten, um eine Untersuchung des Wörterbuch-Wortes.
Der Unterschied zwischen Thema und Bedeutung und das richtige Verstehen ihrer Wechselbeziehung sind für die Konstruktion einer wirklichen Wissenschaft von den Bedeutungen sehr wichtig.
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Bisher wurde die Wichtigkeit dieser Tatsache überhaupt nicht begriffen. Die Unterscheidung zwischen der usuellen und der okkasionellen Bedeutung des Wortes, von primärer und sekundärer Bedeutung, von Bedeutung und Nebenbedeutung usw. sind völlig unbefriedigend. Die Haupttendenz, die allen solchen Unterscheidungen zugrundeliegt, dem usuellen Hauptmoment der Bedeutung, der dabei als real existent und beständig gedacht wird, einen großen Wert zuzuschreiben, ist völlig falsch. Außerdem bleibt das Thema unverstanden, das natürlich nicht aus der okkasionellen oder der Nebenbedeutung der Wörter abgeleitet werden kann.
Der Unterschied zwischen Thema und Bedeutung wird besonders klar im Zusammenhang mit dem Problem des Verstehens, das wir hier kurz streifen werden.
Wir hatten bereits Gelegenheit, vom philologischen Typ des passiven Verstehens mit von vornherein ausgeschlossener Antwort zu sprechen. Jedes echte Verstehen ist aktiv und trägt den Keim der Antwort in sich. Nur das aktive Verstehen kann sich eines Themas bemächtigen, und das Werden kann nur mit Hilfe des Werdens begriffen werden.
Eine fremde Äußerung verstehen heißt, sich auf sie hin zu orientieren, für sie den ihr gebührenden Platz im entsprechenden Kontext zu finden. Jedes zu verstehende Wort einer Äußerung beschichten wir gleichsam mit einer Reihe unserer Antwortwörter. Je zahlreicher und wesentlicher sie sind, um so tiefer und wesentlicher ist das Verstehen.
Auf diese Weise übersetzen wir jedes gesonderte Sinnelement einer Äußerung ebenso wie die Äußerung als Ganzes in einen anderen aktiv antwortenden Kontext. Jedes Verstehen ist dialogisch. Das Verstehen steht der Äußerung gegenüber wie eine Replik des Anderen im Dialog. Das Verstehen sucht für das Wort des Sprechenden ein Gegenwort. Nur das Verstehen des fremdsprachigen Wortes sucht in der eigenen Sprache das »gleiche« Wort.
Deswegen kann man nicht sagen, daß die Bedeutung dem Wort als solchem eigen ist. Eigentlich gehört sie dem Wort, das sich zwischen den Sprechenden befindet, d. h. sie verwirklicht sich nur im Prozeß des antwortenden, aktiven Verstehens. Die Bedeutung liegt nicht im Wort, nicht in der Seele des Sprechenden und auch nicht in der Seele des Zuhörenden. Die Bedeutung ist die Wirkung der Interaktion zwischen Sprechendem und Hörendem im Mate-
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rial des gegebenen Lautkomplexes. Sie ist der elektrische Funke, der nur bei der Vereinigung zweier verschiedener Pole entsteht. Jene, die das Thema ignorieren, das nur dem aktiv antwortenden Verstehen zugänglich ist, und die versuchen, sich bei der Bestimmung der Wortbedeutung seiner unteren, beständigen, selbstidentischen Grenze zu nähern, wollen faktisch - indem sie den Strom ausschalten - eine Glühbirne anmachen. Nur der Strom der sprachlichen Kommunikation gibt dem Wort Licht und Bedeutung.
Gehen wir nun zu einem der wichtigsten Probleme der Wissenschaft von den Bedeutungen, zum Problem der Wechselbeziehung von Bewertung und Bedeutung über.
Jedes wirklich ausgesprochene Wort hat nicht nur ein Thema und eine Bedeutung im gegenständlichen, inhaltlichen Sinne dieser Wörter, sondern auch eine Bewertung, d. h. alle gegenständlichen Inhalte werden in der lebendigen Sprache gegeben, sie werden gesagt oder geschrieben im Zusammenhang mit einem bestimmten Wertakzent. Es gibt kein Wort ohne Wertakzent. Was aber ist der Wertakzent und wie verhält er sich zur gegenständlichen Seite der Bedeutung?
Die deutlichste, doch gleichzeitig auch oberflächlichste Schicht der im Wort eingeschlossenen sozialen Bewertung wird mit Hilfe der expressiven Intonation wiedergegeben. Die Intonation wird in den meisten Fällen von der unmittelbaren Situation und oft von ihren flüchtigsten Umständen bestimmt. Sicherlich kann die Intonation auch wesentlicher bestimmt sein. Hier ist ein klassisches Beispiel der Anwendung der Intonation in einer aus dem Leben gegriffenen Rede. Dostojevskij erzählte im »Tagebuch eines Schriftstellers«:
»An einem Sonntag ging ich einmal am späten Abend an die fünfzehn Schritte neben einer Gesellschaft von sechs betrunkenen Handwerkern, und ich gewann plötzlich die Überzeugung, daß es möglich ist, alle seine Gedanken, Gefühle und sogar ganze tiefe Betrachtungen mittels dieses einen Hauptwortes, das zudem aus außerordentlich wenig Silben besteht, auszudrücken (es geht um ein sehr verbreitetes, nicht zensurfähiges Wörtchen. V. V.). Da sagt ein Bursche scharf und energisch dieses Hauptwort, um etwas, worüber sie vorhin alle sprachen, in der verächtlichsten Weise abzulehnen. Der andere antwortet ihm mit dem gleichen Hauptwort, das aber schon ganz anders klingt und einen anderen Sinn
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hat: es drückt nämlich seinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der vom ersten Burschen geäußerten Ablehnung aus. Der dritte empört sich plötzlich gegen den ersten Burschen; er fällt mit großer Hitze ins Gespräch ein und ruft ihm das gleiche Hauptwort zu, doch im Sinne eines Fluches und Schimpfwortes. Nun mischt sich wieder der zweite Bursche ein; er ist über den dritten, der den ersten beleidigt hat, empört und stellt ihn zur Rede: »Was fällt dir ein, mein Bester? Wir haben doch ganz ruhig gesprochen, und du fängst plötzlich auf den Filjka zu schimpfen an!« Diesen ganzen Gedanken äußert er mit Hilfe dieses gleichen geheiligten Wortes, nur, daß er dabei die Hände erhebt und den dritten Burschen an der Achsel packt. Da findet aber der vierte Bursche, der jüngste in der ganzen Gesellschaft, der bisher geschwiegen hat, wohl die Lösung für die ursprüngliche Schwierigkeit, aus der der ganze Streit entstanden ist, und schreit ganz entzückt mit erhobener Hand ... Ihr glaubt wohl: »Heureka?« »Ich hab's, ich hab's?« Nein, durchaus nicht »Heureka« und nicht »Ich hab's«; er wiederholt nur das gleiche, in keinem Wörterbuch verzeichnete Hauptwort, nur dieses eine Wort, doch mit Entzücken, kreischend vor Wonne, wohl viel zu laut, denn dies mißfällt dem sechsten, düsteren Burschen, der das jugendliche Entzücken des Bürschleins dämpft, indem er ihm mit einer düsteren, belehrenden Baßstimme ... wieder das gleiche, in allen Familien verbotene Hauptwort zuruft, welches übrigens klar und deutlich besagt: »Was schreist du so!« So wiederholten sie, ohne auch nur ein einziges anderes Wort zu gebrauchen, das beliebte Wörtchen sechsmal hintereinander, einer nach dem anderen, und sie verstanden sich vollkommen. Es ist ein wahres Geschehnis, dessen Zeuge ich war !
Alle sechs »Redeakte« der Handwerker sind verschieden, obgleich sie nur aus ein und demselben Wort bestehen. Eigentlich ist dieses Wort nur eine Stütze für die Intonation. Das Gespräch wird hier mit Intonationen geführt, welche die Wertungen der Sprechenden ausdrücken. Diese Bewertungen und die ihnen entsprechenden Intonationen werden durch die unmittelbare soziale Situation des Gesprächs bestimmt, deswegen brauchen sie auch kei-
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nen gegenständlichen Halt. In der Rede des Alltagslebens hat die Intonation oft eine von dem Sinnbestand der Rede unabhängige Bedeutung. Das im Inneren angesammelte Intonationsmaterial verschafft sich oft in zu der jeweiligen Intonation völlig unpassenden Sprachkonstruktionen Ausdruck. Dabei dringt die Intonation nicht bis zur intellektuellen, sachlich-gegenständlichen Bedeutung der Konstruktion vor. Wir drücken unser Gefühl aus, indem wir expressiv und bedeutungsvoll irgendein Wort intonieren, das uns zufällig in den Sinn kommt, oft eine leere Interjektion oder ein Adverb. Fast jeder Mensch hat seine bevorzugte Interjektion oder sein Adverb oder auch manchmal ein semantisch vollwertiges Wort, das er gewöhnlich für die rein intonationale Lösung unwichtiger, manchmal aber auch wichtiger Lebenssituationen oder Stimmungen benutzt. Als Intonationsventile dienen Ausdrücke in der Art von »so, so«, »ja, ja«, »da, schau her!«, »na, na« usw. Charakteristisch ist die übliche Verdoppelung solcher kleinen Wörter, d. h. die künstliche Dehnung des Lautbildes, damit die angesammelte Intonation sich ausleben kann. Das gleiche Lieblingswort wird natürlich mit einer riesigen Vielfalt von Intonationen ausgesprochen, je nachdem, von welcher der vielfältigen Lebenssituationen oder Stimmungen es abhängt.
In allen Fällen verwirklicht sich das Thema, das jeder Äußerung eigen ist (denn jede der Äußerungen der sechs Handwerker hat ein Thema), allein durch die Kraft der expressiven Intonation ohne Hilfe von Wortbedeutungen oder grammatischen Verbindungen. Eine solche Bewertung und die ihr entsprechende Intonation kann die engen Grenzen der unmittelbaren Situation und der kleinen, intimen, sozialen Welt nicht überschreiten. Eine solche Bewertung kann man nur als begleitende Nebenerscheinung sprachlicher Bedeutungen bezeichnen.
Allein dies gilt nicht für alle Bewertungen. Welche Äußerung wir auch immer nehmen, - und sei es eine mit einem besonders weiten Sinnmaßstab und einem ebenso breiten sozialen Auditorium - wir werden immer feststellen, daß der Bewertung eine ungeheure Bedeutung zukommt. Sicher wird hier diese Bewertung nicht einigermaßen adäquat durch die Intonation wiedergegeben, doch wird sie die Auswahl und die Verteilung aller wesentlichen Bedeutungselemente der Äußerung bestimmen. Eine Äußerung ohne Bewertung gibt's einfach nicht, Jede Äußerung ist vor allem eine wertende Orientierung. Deswegen bedeutet jedes Element in
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einer lebendigen Äußerung nicht nur etwas, sondern es bewertet auch. Nur das abstrakte Element, das im Sprachsystem und nicht in der Struktur der Äußerung wahrgenommen wird, ist jeder Bewertung bar. Die Ausrichtung auf das abstrakte Sprachsystem hat auch dazu geführt, daß die meisten Linguisten die Bewertung von der Bedeutung lösen und sie für einen Nebenfaktor der Bedeutung halten, für einen Ausdruck des individuellen Verhältnisses des Sprechenden zum Gegenstand der Rede .
In der russischen Literatur spricht G. Шpett von der Bewertung und auch von der Nebenbedeutung des Wortes. Charakteristisch für ihn ist die scharfe Trennung von gegenständlicher Bedeutung und bewertender Nebenbedeutung, die er in verschiedenen Wirklichkeitssphären ansiedelt. Ein solcher Bruch zwischen der gegenständlichen Bedeutung und der Bewertung ist völlig unannehmbar und basiert auf der Ignorierung der tiefergehenden Funktionen der Bewertung in der Rede. Die gegenständliche Bedeutung wird durch die Bewertung ausgerichtet, denn die Bewertung bewirkt, daß die gegebene gegenständliche Bedeutung in den Gesichtskreis der Sprechenden tritt, sowohl in den engeren als auch in den weiteren gesellschaftlichen Gesichtskreis der jeweiligen sozialen Gruppe. Weiterhin kommt der Bewertung gerade eine schöpferische Rolle in der Veränderung der Bedeutungen zu. Eine Bedeutungsveränderung ist eigentlich immer eine Umwertung: die Verlagerung des jeweiligen Wortes von einem Wertkontext in einen anderen. Das Wort wird entweder in einen höheren Rang versetzt oder degradiert. Die Trennung der Bedeutung des Wortes von seiner Bewertung führt dahin, daß die Bedeutung, die ihren Platz im lebendigen sozialen Werden verloren hat (wo es immer von Bedeutung durchdrungen war), ontologisiert wird und sich in ein ideales, vom historischen Werden abgeschnittenes Sein verwandelt.
Gerade wenn man das historische Werden des Themas und der sie verwirklichenden Bedeutungen verstehen will, muß man unbedingt die soziale Bewertung berücksichtigen. Das Werden des Sinns in der Sprache ist immer mit dem Werden des Werthori-
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zonts der gegebenen sozialen Gruppe verbunden, während das Werden des Werthorizonts - im Sinne der Gesamtheit alles dessen, was für die gegebene Gruppe von Bedeutung oder von Wert ist - gänzlich von der Erweiterung der ökonomischen Basis bestimmt wird. Auf der Grundlage der Erweiterung der Basis erweitert sich auch real der dem Menschen zugängliche, verständliche und wesentliche Seinsradius. Den viehzüchtenden Urmenschen geht fast nichts etwas an, er hat mit fast nichts zu schaffen. Der Mensch vom Ende der kapitalistischen Epoche hat mit allem direkt zu tun, mit den entferntesten Erdteilen, sogar mit den entferntesten Sternen. Diese Erweiterung des Werthorizonts vollzieht sich dialektisch. Neue, in den sozialen Interessenkreis einbezogene und sich dem menschlichen Wort und Pathos anpassende Seiten des Seins lassen die schon früher eingedrungenen Seinselemente nicht ruhen, sondern greifen sie an, werten sie um und weisen ihnen innerhalb der Einheit des Werthorizonts einen anderen Platz zu. Dieses dialektische Werden spiegelt sich im Werden der sprachlichen Bedeutungen wider. Ein neuer Sinn offenbart sich im alten und mit Hilfe des alten, doch nur um mit diesem alten Sinn in Widerspruch zu treten und ihn umzugestalten.
Daher der fortwährende Kampf der Akzente in jedem Sinngebiet des Seins. Im Bestand des Sinns gibt es nichts, das über dem Werden stehen würde, das von der dialektischen Erweiterung des sozialen Horizonts unabhängig wäre. Die werdende Gesellschaft erweitert ihre Wahrnehmung vom werdenden Sein. In diesem Prozeß kann es nichts absolut Beständiges geben. Deswegen wird die Bedeutung als abstraktes, selbstidentisches Element vom Thema verschlungen und von seinen lebendigen Widersprüchen zerrissen, um dann als neue Bedeutung mit der gleichen flüchtigen Beständigkeit und Selbstidentität wiederzukehren.
Anmerkungen
(Die Original-Seiten-Fußnoten, Ullstein Verlag 1975, sind in dieser HTML-Version als End-Fußnoten gesetzt und mit der Seitenzahl indiziert):
Dies betrifft in erster Linie die experimentelle Phonetik, die sich genau genommen nicht mit den Lauten der Sprache befaßt, sondern mit den Lauten, wie sie von den Sprechorganen artikuliert und vom Ohr aufgenommen werden, ganz unabhängig von dem Platz des jeweiligen Lautes im Sprachsystem oder in der Konstruktion der Äußerung. Auch in den übrigen Gebieten der Phonetik sind die ungeheuren Massen des mit großer Mühe zusammengetragenen faktischen Materials noch in keiner Weise methodisch lokalisiert.
Bis jetzt gibt es keine Arbeiten, die sich speziell mit der Geschichte der Sprachphilosophie befassen würden. Grundlegende Untersuchungen gibt es nur über Sprachphilosophie und Linguistik des Altertums, z. B.: Steinthal »Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern« (1890). Aus der europäischen Geschichte existieren lediglich Monographien über einzelne Denker und Linguisten (Humboldt, Bundte, Marti u. a.). Auf sie werden wir an entsprechender Stelle hinweisen. Den bisher einzigen soliden Abriß der Geschichte der Sprachphilosophie und der Linguistik finden wir in dem Buch Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«, erster Teil: Die Sprache (1923), Kap. 1 »Das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie« (S. 55-121).
In russischer Sprache liegt ein kurzer, doch grundlegender Abriß des gegen wärtigen Standes der Linguistik und der Sprachphilosophie von R. Шor in dem Aufsatz »Krizis sovremennoj lingvistiki« [Die Krise in der modernen Linguistik] (in »Jafetiшeskij sbornik« V, 1927, S. 32-71) vor. Einen allgemeinen, wenn auch lange nicht vollständigen Überblick über die soziologischen Arbeiten über Linguistik findet man in dem Aufsatz von M. N. Peterson »Jazyk kak socialnoe javlenie« (»Ucennye zapiski instituta jazyka i literatury« [Die Sprache als soziales Phänomen in: Wissenschaftliche Aufzeichnungen des Instituts für Sprache und Literatur] - (Ranion, M. 1927, S. 3-21), Arbeiten über die Geschichte der Linguistik bleiben hier unberücksichtigt.
Beide Bezeichnungen entsprechen - wie es bei solchen Bezeichnungen oft der Fall ist - in keiner Weise der ganzen Fülle und Komplexität der charakterisierten Richtungen. Als besonders inadäquat erweist sich die Kennzeichnung der ersten Richtung, wie wir noch sehen werden. Jedoch fallen uns keine besseren Bezeichnungen ein.
Seine Vorläufer waren, was diese Richtung betrifft, Hamann und Herder.
Seine Ideen zur Philosophie der Sprache hat Humboldt in seiner Arbeit »Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues«, (Vorstudie zur Einleitung zum Kawiwerk) niedergelegt (gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. VI). Es existiert eine sehr alte russische Übersetzung von P. Biljarskij »O razliшii organizmov шelovecшeskogo jazyka« (1859) [Von der Realisierung der Organismen der menschlichen Sprache]. Über Humboldt gibt es eine sehr umfangreiche Literatur. Nennen wir das Buch von R. Haym »Wilhelm von Humboldt«, das es auch in russischer Übersetzung gibt. Von den neueren Untersuchungen sei das Buch Eduard Sprangers »Wilhelm von Humboldt« (Berlin, 1909) genannt.
Über Humboldt und seine Bedeutung für das linguistische Denken kann sich der Leser in dem Buch von B. M. Engelgardt »A. N. Veselovskij« informieren (Petrograd, 1922). Vor kurzem ist ein sehr herausforderndes und interessantes Buch von G. Шpett erschienen: »Vnutrenjaja forma slova (Etjudy i variacii na temu Gumboldta«) [Die innere Form des Wortes] (Studien und Variationen zum Thema Humboldt). Er versucht, unter den Schichten der traditionellen Auslegung den echten Humboldt vorzuholen (es gibt mehrere Traditionen der Auslegung Humboldts). Die Konzeption Шpetts ist sehr subjektiv; er beweist ein weiteres Mal, wie kompliziert und widersprüchlich Humboldt ist; die Variationen sind recht frei geraten.
Seine wichtigste philosophische Arbeit ist »Mysl' i jnzyk« [Denken und Sprache] (wiederaufgelegt von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften). Die Nachfolger Potebnjas, die sogenannte »Char'kover Schule« (Ovsjaniko-Kulikovskij, Lezin, Charшiev u. a.) gaben ein Periodikum heraus »Voprosy teorii i psichologii tvorшestva« [Fragen der Theorie und Psychologie des Schaffens], in dem posthum Arbeiten Potebnjas sowie von seinen Schülern verfaßte Aufsätze über ihn erschienen. Das wichtigste Buch Potebnjas enthält eine Auslegung der Ideen Humboldts.
Steinthals Konzeption basiert auf der Psychologie Herbarts, der das ganze Gebäude der menschlichen Psyche aus durch assoziative Verbindungen zusammengehaltenen Elementen der Vorstellung aufzubauen versucht.
Die Verbindung zu Humboldt ist hier schon sehr schwach.
Der Voluntarismus nimmt als Grundlage der Psyche ein Element des Willens an.
Den Terminus »ethnische Psychologie« hat G.Шpett als Ersatz für die wörtliche Übersetzung des deutschen Ausdrucks »Völkerpsychologie« vorgeschlagen. Der Terminus »Völkerpsychologie« ist wirklich völlig unbefriedigend, während uns die Bezeichnung G.Шpetts sehr gelungen erscheint. Vgl. G.Шpett »Vvedenie v etniшeskuju psichologiju« [Einführung in die ethnische Psychologie] (Staatl. Akademie der Kunstwissenschaften, Moskau, 1927). Das Buch enthält eine grundlegende Kritik der Konzeption Wundts, doch ist die eigene Theorie G.Шpetts völlig unannehmbar.
"Grammatik und Geschichte der Sprache" in "Logos", Buch I, 1910. S. 170
Im folgenden werden wir zur Kritik dieser Idee zurückkommen.
Die wichtigsten philosophisch-linguistischen Arbeiten Vosslers, die nach dem von uns bereits genannten Buch erschienen, sind in dem Band »Philosophie der Sprache« (1926) zusammengefaßt. Es ist Vosslers letztes Buch. Es vermittelt eine vollständige Vorstellung seiner philosophischen und allgemein-linguistischen Konzeption. Von den linguistischen Arbeiten, die für die Methode Vosslers charakteristisch sind, sei sein Werk »Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung« (1913) genannt. Eine vollständige Bibliographie der Arbeiten Vosslers (bis 1922) findet der Leser in dem ihm gewidmeten Sammelband »Idealistische Neuphilologie. Festschrift für K. Vossler« (1922). In russischer Sprache sind zwei Aufsätze erschienen: der von uns bereits zitierte Aufsatz und »Das Verhältnis der Geschichte der Sprachen zur Geschichte der Literatur« (»Logos«, 1912-1913, Bd. I-II). Beide tragen zum Verständnis der Grundlagen der Vosslerschen Konzeption bei. In der russischen linguistischen Literatur wurden die Anschauungen Vosslers und seiner Schule überhaupt nicht diskutiert. Einige Hinweise gibt V. M. Жirmunskij in seinem Aufsatz über die gegenwärtige deutsche Literaturwissenschaft (»Poetika« Bd. III, 1927, Verl. »Academia«). In dem von uns bereits genannten Abriß von R.Шor wird die Vossler Schule nur in einer Fußnote erwähnt. Über die Arbeiten der Nachfolger Vosslers, die von philosophischer und methodologischer Bedeutung sind, werden wir zu gegebener Zeit sprechen.
In russischer Sprache gibt es den ersten Teil der Ästhetik Benedetto Croces »Estetika kak nauka o vyraжenii i kak obшчaja lingvistika« Moskau 1920. [Die Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und als allgemeine Linguistik] Schon aus diesem begrenzten übersetzten Teil werden die allgemeinen Anschauungen Croces über Sprache und Linguistik deutlich.
Obgleich, wie wir sehen werden, die von uns charakterisierten Grundlagen der zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens sich auf dem Boden des Rationalismus mit der Idee einer künstlich geschaffenen rationalen Universalsprache verbanden.
Die Engländer sagen bis heute »I was«.
Die tiefgehende innere Verbindung der zweiten Richtung mit dem cartesianischen Denken und der allgemeinen Weltanschauung des Klassizismus mit seinem Kult der von allem gelösten, rationalen und unbeweglichen Form unterliegt keinem Zweifel. Descartes selbst hat keine Arbeiten über Sprachphilosophie hinterlassen, aber es finden sich bezeichnende Äußerungen in seinen Briefen. Dazu vgl. das entsprechende Kapitel der Arbeit von Cassirer, S. 67-68.
Die entsprechenden Ansichten Leibniz' kann man durch das sehr gründliche Buch Cassirers »Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen« (Marburg 1902) kennenlernen.
Es ist interessant zu bemerken, daß im Gegensatz zur zweiten, die erste Richtung sich besonders auf deutschem Boden entwickelt hat und noch entwickelt.
Die Arbeit von R. Шor »Jazyk i obшчstvo« [Sprache und Gesellschaft] (Moskau 1926) ist ganz im Geist der »Genfer Schule« geschrieben. Auch in dem von uns bereits erwähnten Aufsatz »Die Krise in der gegenwärtigen Linguistik« erweist sich Шor als feuriger Apologet der Grundideen de Saussures. Auch V. V. Vinogradov kann man zu den Nachfolgern der »Genfer Schule« zählen. Die beiden russischen linguistischen Schulen, die Schule Fortunatovs und die sogenannte »Schule von Kazan'« (Kruшevskij und Bodouin-de-Courtenay), beide klar auf den linguistischen Formalismus ausgerichtet, passen vollkommen in den Rahmen der von uns skizzierten zweiten Richtung des philosophisch-linguistischen Denkens.
Die wichtigste Arbeit de Saussures ist das von seinen Schülern nach seinem Tode herausgegebene Buch »Cours de Linguistique Générale« (1916). Wir zitieren nach der 2. Auflage von 1922. Man kann sich nur wundern, daß das Buch trotz seines großen Einflusses noch nicht ins Russische übersetzt worden ist. Eine kurze Darstellung der Anschauungen de Saussures kann man in dem schon erwähnten Aufsatz von Шor und dem Aufsatz von Peterson »Obшчaja lingvistika«, Peчat' i revolucija«, [Allgemeine Linguistik, Presse und Revolution] finden. 1923. Bd. 6.
»Il n'y a, selon nous, qu'une solution á toutes ces difficultés: il faut se placer de prime sur le terrain dé la langue et la prendre pour norme de toutes autres manifestations du langage. En effect, parmi tant de dualites, la langue seule parait tre susceptible d'une définition autonome et fournit un point d'appui satisfaisant pour lesprit« (Cours de Linguistique Générale, S. 24). Hervorhebungen von de Saussure selbst [S. 11].
Deutsche Zitate nach: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Verlag Walter de Gruyter u.Co., Berlin 1967 (übersetzt von Herman Lommel). Angabe der Seitenzahlen der deutschen Übersetzung in [ ]
»Pris dans son tout, le language est multiforme et hétéroclite; á cheval sur plusieurs domaines, á la fois physique, physiologique et psychique, il appartient encore au domaine individuel et au domaine social; il ne se laisse classer dans aucune catégorie des faits humains, parce qu'on ne sait comment dégager son unité.
La langue, au contraire, est un tout en soi et un principe dc classification.
Dès que nous lui donnons la premiére place parmi les faits de language, nous introduisons un ordre naturel dans un ensemble qui ne se prte aucune autre classification« ( a. o. 0. S. 25) [S. 11].
»En séparant la langue de la parole, on sépare du mme coup: 1 ce qui est social de ce qui est individuel; 2 ce qui est essentiel de ce qui est accessoire et plus ou moins accidentel.
La langue nest pas fonction du sujet parlant, elle est produit que lindividu enregistre passivement; elle ne suppose jamais de préméditation et la réfexion ny intervient que pour l'activité de classement dont il sera question.
La parole est au contraire un acte individuel de volonté et d'intelligence, dans lequel il convient de distinguer: 1 les combinaisons. par lesquelles le sujet parlant utilise le code de la langue en vue d'exprimer sa pensée personelle; 2 le mécanisme psycho-physique lui permet d'extérioriser ces combinaisons« (a.o.O. S. 30). [S. 16]
De Saussure gesteht die Möglichkeit einer gesonderten Linguistik der Äußerung (»Linguistique de la parole«) zu, doch wie diese aussehen soll, darüber schweigt er. Er sagt dazu folgendes: »II faut choisir entre deux routes quil est impossible de prendre en mme temps; elles doivent tre suivies séparement. On peut á la rigeur conserver le nom de linguistique de la parole. Mais il ne faudra pas la confondre avec la linguistique proprement dite, celle dont la langue est l'unique objet« (a.o.0. S. 39). [S. 23 f.]
De Saussure schreibt: »Tout ce qui est diachronique dans la langue ne lest que par la parole. Cest dans la parole que se trouve le terme de tout les changements« (S. 138). [S. 117]
»C'est ainsi que le 'phénomène' synchronique n'a rien, commun avec le diachronique .. (S. 129). [S. 108] La linguistique synchronique s'occupera des rapports logiques et psychologiques reliant des termes coexistants et formant systeme, tels quils ont aperçus par la mme consience collective.
La linguistique diachronique étudiera au contraire les rapports reliant des termes successifs non aperçus par la mme conscience collective, et qui se substituent les un aux autres sans former systeme entre eux« (a.a.0. S. 140).
Hervorhebungen von de Saussure. [S. 119]
Die Ansichten Meillets werden im Zusammenhang mit der soziologischen Methode Durkheims in dem von uns genannten Aufsatz von M. N. Peterson »Sprache als soziales Phänomen« dargestellt. Dort findet sich auch eine Bibliographie.
Die wichtigsten Arbeiten der junggrammatischen Bewegung sind: Osthoff »Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen Formenbildung« (Berlin 1879); Brugmann und Delbrück, »Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen« (5 Bände, 1. Aufl. des 1. Bandes 1886). Das Programm des Junggrammatikers ist im Vorwort des Buches von Osthoff und Brugmann, »Morphologische Untersuchungen« (I, Leipzig 1878), dargelegt.
Interessante und geistreiche Unterscheidungen des Signals und einer Kombination von Signalen (z. B. in der Marine), sowie einer Sprachform und einer Kombination von Sprachformen im Zusammenhang mit dem Problem der Syntax gibt Karl Bühler in seinem Aufsatz »Vom Wesen der Syntax« in »Festschrift für Karl Vossler«, S. 61-69.
Wir werden später sehen, daß eben ein solches Verstehen im eigentlichen Sinne des Wortes, das Verstehen des Werdens, der Antwort, d. h. der Sprachlichen Interaktion zugrundeliegt. Zwischen dem Verstehen und der Antwort kann man überhaupt keine scharfe Grenze ziehen. Jedes Verstehen antwortet, d. h. es übersetzt das zu Verstehende in einen neuen Kontext, in den möglichen Kontext der Antwort.
Die von uns aufgezeigte These liegt praktisch, wenn auch ohne das richtige theoretische Bewußtsein, allen vernünftigen Methoden der Erlernung einer lebenden Fremdsprache zugrunde. Denn der Kern dieser Methoden liegt im wesentlichen darin, den Lernenden mit einer sprachlichen Form nur im konkreten Kontext und in einer konkreten Situation bekanntzumachen. So wird ihm z. B. ein Wort nur in den verschiedenen Kontexten vorgestellt, wo es eine Rolle spielt. Dank dieser Methode wird das Moment des Wiedererkennens des gleichen Wortes von Anfang an dialektisch mit den Momenten seiner kontextualen Veränderlichkeit, Verschiedenheit und Neuheit verbunden und von ihnen absorbiert. Indessen wird das aus dem Kontext herausgelöste, ins Vokabelheft geschriebene und entsprechend der russischen Bedeutung gelernte Wort sozusagen auch zum Signal, wird eindeutig gegenständlich und träge, und das Moment des Wiedererkennens tritt im Prozeß seines Verstehens zu stark hervor. Kurz und gut, bei einer richtigen und vernünftigen Methode der praktischen Spracherlernung muß die Form nicht als selbstidentische Form in einem abstrakten System angeeignet werden, sondern in der konkreten Struktur einer Äußerung, als veränderliches und flexibles Zeichen.
Auf dieser Basis kann man, wie wir später sehen werden, sich mit Vossler in der Anerkennung eines besonderen und bestimmten sprachlichen Geschmacks nicht einverstanden erklären, eines Gesschmacks, der nicht jedesmal in einem spezifischen ideologischen - künstlerischen, cognitiven, ethischen o. a. - »Geschmack« aufgehen würde.
N. J. Marr, »Po etapam jefetiчeskoj teorii«, 1926, S. 269
Nach der Religion der Veden wird das heilige Wort - wenn es in der Weise verwendet wird, wie es der »wissende«, eingeweihte Priester bestimmt - zum Gebieter über alle Sitten und Gebräuche, sowohl der Götter als auch der Menschen. Der »wissende« Priester definiert sich hier als derjenige, der über das Wort verfügt, darin liegt seine Macht. Diese Lehre ist schon im Rig-Veda enthalten. Das altgriechische Philosophem und die alexandrinische Lehre vom Logos sind allgemein bekannt.
N.J. Marr, »Po etapant jefetiчeskoj teorii«, S. 268. [Auf den Etappen der
japhetitischen Theorie.]
So wird die urtümliche, magische Auffassung des Wortes im wesentlichen
vom fremden Wort bestimmt. Wir meinen dabei alle Erscheinungen, die sich
irgendwie darauf beziehen.
Dabei darf nicht vergessen werden, daß der abstrakte Objektivismus in seiner neuen Entwicklung der Ausdruck eines bestimmten Zustandes des fremden Wortes ist: es hat schon im wesentlichen seine Autorität und produktive Kraft eingebüßt. Außerdem ist das Spezifische in der Rezeption des fremden Wortes durch den abstrakten Objektivismus dadurch geschwächt, daß seine wesentlichen Denkkategorien auch auf die Rezeption sowohl der lebendigen als auch der Muttersprachen angewandt wurden. Denn die Linguistik studiert die lebendige Sprache so, als sei sie tot, und die Muttersprache, als sei sie fremd. Infolgedessen sind auch die Leitsätze des abstrakten Objektivismus so sehr von den früheren Philosophemen über das fremde Wort verschieden.
Die Äußerung ist nur das indifferente Milieu, in dem sprachliche Formen verändert werden.
vgl. den angegebenen Aufsatz Vosslers, »Grammatik und Geschichte der
Sprache«, S. 170.
Wir lassen vorläufig den Unterschied von Bedeutung und Thema unberücksichtigt: darüber wird später die Rede sein (Kap. IV).
Die Weiterentwicklung der hier aufgestellten Behauptungen zeigen wir im
IV. Kapitel dieses Teils.
Der Prozeß der Aneignung der Muttersprache durch das Kind ist ein Prozeß des allmählichen Hineinwachsen des Kindes in die sprachliche Kommunikation. Je tiefer es hineinwächst, um so stärker formt und füllt sich sein Bewußtsein mit Inhalt.
»Der ausgesprochene Gedanke ist Lüge« (Tjutчev): »0, wäre es doch möglich, die Worte mit der Seele zu sprechen« (Fet). Solche Erklärungen sind für die idealistische Romantik äußerst charakteristisch.
Über die Möglichkeit der Herauslösung der Gruppe der sexuellen Erlebnisse des Menschen aus dem sozialen Kontext und dem damit verbundenen Verlust der sprachlichen Bewußtheit vgl. unser Buch »Frejdizm« [Freudismus] 1927, S. 135-136.
Interessantes Material über den Ausdruck des Hungers kann man in den Büchern des bekannten zeitgenössischen Linguisten aus der Vossler-Schule finden, in Leo Spitzers »Italienischen Kriegsgefangenenbriefen« und in »Die Umschreibung des Begriffes Hunger«. Das Grundproblem ist hier die flexible Anpassung des Wortes und Bildes an die Bedingungen einer Ausnahmesituation. Einen wirklich soziologischen Ansatz gibt der Autor jedoch nicht.
In diesem Zusammenhang ist selbst der Aufbau des Buches kennzeichnend. Das Buch zerfällt in vier Kapitel. Hier sind die Überschriften: 1. Eröffnungsformen des Gesprächs. II. Sprecher und Hörer: A. Höflichkeit (Rücksicht auf den Partner); B. Sparsamkeit und Verschwendung im Ausdruck: C. Ineinandergreifen von Rede und Gegenrede. III. Sprecher und Situation. IV. Der Abschluß des Gesprächs. Der Nachfolger Spitzers in der Erforschung der Umgangssprache unter den Bedingungen des realen Sprechens war Hermann Wunderlich. Vgl. sein Buch »Unsere Umgangssprache (1894).
Vgl. »Die Probleme der Sprachpsychologie« (1914)
Über das Loslösen des poetischen Werkes von den Bedingungen der künstlerischen Kommunikation und seiner daraus resultierenden Vergegenständlichung vgl. unsere Arbeit »Slovo v жizni i slovo v poezii(»Zvezda« Giz, 1926, Nr. 6) [»Das Wort im Leben und das Wort in der Poesie«, in: »Stern«, Staatsverlag]
Der schon enwähnte Aufsatz von R. Шor »Krizis sovremennoj lingvistiki«,
S.71 [Die Krise der zeitgenössischen Linguistik].
Die Bezeichnung ist natürlich relativ. Hier umfaßt das Thema auch seine Ausführung; deswegen darf unser Begriff nicht mit dem Thema eines Kunstwerks verwechselt werden. Der Begriff der »thematischen Einheit« kommt ihm näher.
»Po etapam jafetiчeskoj teorii«, S. 278
Daraus kann man ersehen, daß sogar das Urwort, von dem N.J. Marr spricht, in nichts einem Signal ähnelt, von dem einige es abzuleiten sich bemühen. Denn ein Signal, das alles bedeutet, ist weniger als alles andere dazu geeignet, Signalfunktion auszuüben. Das Signal ist sehr wenig geeignet, sich den veränderlichen Bedingungen der Situation anzupassen, und im Grunde genommen bedeutet die Veränderung eines Signals die Ersetzung eines Signals durch ein anderes.
F. M. Dostojevskij, Sämtliche Werke, 1906, Bd. IX. S. 274-275. [Zitiert nach: F. M. Dostojevskij »Tagebuch eines Schriftstellers«, 1. Bd. 1873, herausgegeben und übertragen von Alexander Eliasberg, Musarionverlag, München 1921, S. 207-208.]
So definiert Anton Marty, von dem die schärfste und detaillierteste Analyse der Wortbedeutungen stammt, die Bewertung; vgl. A. Marty »Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie« (Halle, 1908).
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last update : Sun Dec 12 23:26:52 CET 2004 Valentin N. Voloшinov
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