Das Proletariat
Ich kann nun zu der Frage nach der historischen Rolle der Arbeiterklasse
und dem grundlegenden Widerspruch des Kapitalismus zurückkehren und darlegen,
wie sie in der späten Marxschen kritischen Theorie implizit beantwortet wird.
Mit meiner Konzentration auf seine Analyse der für den Kapitalismus konstitutiven
strukturierenden Formen gesellschaftlicher Vermittlung habe ich zeigen können,
daß nicht der Klassenkonflikt an und für sich die historische Dynamik des
Kapitalismus erzeugt, und daß er nur deshalb ein treibendes Element dieser
Entwicklung ist, weil er durch gesellschaftliche Formen strukturiert ist,
die eine Dynamik aus sich heraus besitzen. Wie festgestellt, widerspricht
die Marxsche Analyse der Auffassung, der Kampf zwischen der Kapitalistenklasse
und dem Proletariat sei einer zwischen der herrschenden Klasse im Kapitalismus
und einer, die den Sozialismus verkörpere, und der Sozialismus bedeute deshalb
die Selbstverwirklichung des Proletariats. Diese Vorstellung entspringt notwendig
dem traditionellen Verständnis des grundlegenden Widerspruchs des Kapitalismus
als einem zwischen industrieller Produktion auf der einen, Markt und Privateigentum
auf der anderen Seite. Dabei wird jede der beiden großen Klassen des Kapitalismus
mit einer Seite dieses angenommenen Widerspruchs identifiziert und der Antagonismus
zwischen Arbeitern und Kapitalisten als gesellschaftlicher Ausdruck des strukturellen
Widerspruchs zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen
interpretiert. Diese gesamte Konzeption beharrt auf einem Begriff von ›Arbeit‹
als transhistorischer Quelle gesellschaftlichen Reichtums und als dem konstituierenden
Element gesellschaftlichen Lebens.
Ich habe die dieser Vorstellung
zugrundeliegenden Annahmen umfassend kritisiert, indem ich die Marxsche Unterscheidung
zwischen abstrakter und konkreter Arbeit, Wert und stofflichem Reichtum nachzeichnete
und als zentral für seine kritische Theorie auswies. Auf der Grundlage dieser
Unterscheidungen habe ich die Dialektik von Arbeit und Zeit entwickelt, die
den Kern der Marxschen Analyse der für den Kapitalismus charakteristischen
Muster von Wachstum und Entwicklungsverlauf der Produktion ausmacht. Weit
davon entfernt lediglich die Materialisierung der Produktivkräfte darzustellen,
die strukturell im Widerspruch zum Kapital stehen, ist die auf dem Proletariat
basierende industrielle Produktion ihrem inneren Wesen nach durch das Kapital
geformt. Sie ist die materialisierte Form sowohl der Produktivkräfte als
auch der Produktionsverhältnisse. Deshalb kann sie nicht als eine Art und
Weise des Produzierens aufgefaßt werden, die unverändert dem Sozialismus
als Grundlage dienen könnte. Die historische Negation des Kapitalismus in
der späten Marxschen Kritik kann nicht verstanden werden, wenn sie den Bedingungen
einer Transformation der Distributionsweise gemäß formuliert sind, die der
industriellen, im Kapitalismus entwickelten Produktionsweise entsprechen.
Es ist ebenfalls deutlich geworden, daß das Proletariat in der Marxschen
Analyse nicht den gesellschaftlichen Repräsentanten einer möglichen nicht-kapitalistischen
Zukunft darstellt. Die logische Stoßrichtung der Marxschen Entfaltung des
Kapitalbegriffs, also seiner Analyse der industriellen Produktion, steht
im vollkommenen Widerspruch zu den traditionellen Annahmen vom Proletariat
als revolutionärem Subjekt. Für Marx ist die kapitalistische Produktion durch
eine enorme Ausdehnung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und des gesellschaftlichen
Wissens charakterisiert, die sich unter den vom Wert bestimmten Bedingungen
konstituiert und deshalb in entfremdeter Form als Kapital existiert. Mit
der vollständigen Entwicklung der industriellen Produktion werden diese Produktivkräfte
des gesellschaftlichen Ganzen größer als die kombinierten Fähigkeiten, größer
als die Arbeit und die Erfahrung des Gesamtarbeiters. Sie sind gesellschaftlich-allgemein
und repräsentieren die akkumulierten Erfahrungen und Potenzen der Menschheit,
die sich als solche selbst in entfremdeter Form konstituieren. Als die objektivierten
Potenzen des Proletariats können sie jedenfalls nicht adäquat verstanden
werden. »Tote Arbeit«, um Marxens Begriff zu gebrauchen, ist nicht mehr nur
die Vergegenständlichung »lebendiger Arbeit« – sie wurde zur Vergegenständlichung
historischer Zeit.
Marx zufolge wird die Erzeugung von stofflichem
Reichtum mit der Entwicklung der kapitalistischen industriellen Produktion
immer weniger von der Verausgabung unmittelbarer menschlicher Arbeit in der
Produktion abhängig. Dennoch spielt solche Arbeit auch weiterhin insofern
eine notwendige Rolle, als die Produktion von (Mehr) Wert notwenig von ihr
abhängt. Die strukturell begründete Rekonstitution des Werts, die wir oben
untersucht haben, ist gleichzeitig die Rekonstitution der Notwendigkeit proletarischer
Arbeit. Dies resultiert darin, daß proletarische Arbeit mit der fortdauernden
Entwicklung der kapitalistischen industriellen Produktion vom Standpunkt
der Produktion von stofflichem Reichtum zunehmend überflüssig und deshalb
letztlich anachronistisch wird – als Quelle des Werts bleibt sie allerdings
notwendig. Je mehr sich das Kapital entwickelt und diese Dualität zum Tragen
kommt, desto mehr entleert und fragmentiert es genau die Arbeit, die es für
seine Konstitution benötigt.
Die von Marx analysierte ›Ironie‹
dieser Situation besteht darin, daß sie durch proletarische Arbeit selbst
konstituiert wird. Es ist in dieser Hinsicht von Bedeutung, daß Marx bei
der Erörterung der polit-ökonomischen Kategorie der ›produktiven Arbeit‹
diese nicht als eine gesellschaftliche Tätigkeit behandelt, die Gesellschaft
und Reichtum im allgemeinen konstituiert – anders gesagt, er behandelt sie
nicht als ›Arbeit‹. Vielmehr definiert er produktive Arbeit im Kapitalismus
als Arbeit, die Mehrwert produziert, was gleichbedeutend damit ist, daß sie
zur Selbstverwertung des Kapitals beiträgt. (MEW 23, 532) Dadurch verwandelt
er eine ehemals transhistorische und affirmative Kategorie der politischen
Ökonomie in eine, die historisch spezifisch und kritisch ist, darin erfassend,
was für den Kapitalismus zentral ist. Gegen eine Glorifizierung produktiver
Arbeit argumentiert Marx:
Der Begriff des produktiven Arbeiters
schließt daher keineswegs bloß ein Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt
... ein, sondern auch ein spezifisch gesellschaftliches ... Produktionsverhältnis,
welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel des Kapitals stempelt.
Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern ein Pech. (MEW
23, 532)11
Anders gesagt: produktive Arbeit ist die strukturelle Quelle ihrer eigenen Beherrschung.
In der Marxschen Analyse kommt dem Proletariat also weiterhin eine strukturell
wichtige Funktion für den Kapitalismus zu: Quelle des Werts zu sein, nicht
jedoch Quelle des stofflichen Reichtums. Dies ist dem traditionellen Verständnis
vom Proletariat diametral entgegengesetzt. Weit davon entfernt, die vergesellschafteten
Produktivkräfte darzustellen, die in Widerspruch mit den kapitalistischen
gesellschaftlichen Verhältnissen geraten und dadurch auf die Möglichkeit
einer postkapitalistischen Zukunft verweisen, ist die Arbeiterklasse für
Marx das wesentliche, konstituierende Element dieser Verhältnisse selbst.
Sowohl Arbeiterklasse als auch Kapitalistenklasse bleiben an das Kapital
gebunden, die erstere jedoch um einiges mehr: das Kapital könnte ohne Kapitalisten
existieren, jedoch nicht ohne wertproduzierende Arbeit. Der Logik der Marxschen
Analyse zufolge ist die Arbeiterklasse, statt eine mögliche zukünftige Gesellschaft
zu verkörpern, die notwendige Grundlage derjenigen, unter der sie leidet:
der gegenwärtigen. Sie ist an die bestehende Ordnung auf eine Art und Weise
gebunden, die sie zum Objekt der Geschichte macht.
Kurz gesagt
weist die Marxsche Analyse des Entwicklungsverlaufs des Kapitals in keiner
Weise auf die mögliche Selbstverwirklichung des Proletariats – als dem wahren
Subjekt der Geschichte – im Sozialismus hin.12 Ganz im Gegenteil verweist
sie, als Bedingung für Emanzipation, auf die mögliche Abschaffung des Proletariats
und der von ihm verrichteten Arbeit. Diese Interpretation reflektiert notwendigerweise
das Verhältnis der Kämpfe der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft
zur möglichen Aufhebung des Kapitalismus in neuer Weise – ein Thema, das
wir in dieser Arbeit nur streifen können. Sie läuft darauf hinaus, daß die
durch die Marxsche Kritik implizierte mögliche historische Negation des Kapitalismus
nicht so verstanden werden kann, als würde sich das Proletariat das, was
es konstituiert hat, wieder aneignen, also bloß in der Abschaffung des Privateigentums
bestünde. Vielmehr impliziert die logische Stoßrichtung der Marxschen Darstellung
eindeutig, daß man sich diese historische Negation als Wiederaneignung der
gesellschaftlich-allgemeinen Fähigkeiten, die letztlich nicht in der Arbeiterklasse
ihren Ursprung haben und historisch in entfremdeter Form als Kapital konstituiert
wurden, durch alle Menschen vorstellen sollte.13 Eine solche Wiederaneignung
setzt die Abschaffung der strukturellen Grundlage dieses Entfremdungsprozesses
– Wert, und somit proletarische Arbeit – voraus. Das historische Auftreten
dieser Möglichkeit hängt wiederum von dem Widerspruch ab, der der kapitalistischen
Gesellschaft zugrundeliegt.