prev-arrow Exzerpte
Team Peter Heilbronn
Thema Zu Ute Osterkamp: Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt ... ( excerpt )
Original
Autor Ute Osterkamp
Titel "Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt oder: Sind die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen?"
Quelle KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 6 - 15.10.2000
Verweis [ Struktur ] [ lokales Original ] externes Original
Letzte Bearbeitung 05/2004
Home www.mxks.de

I
II
III
IV
V
VI
VII
Anhang

Kurzbeschreibung
Dabei wird insbesondere auf den Zusammenhang von Unterscheidung der Bedürfnisse in primäre und sekundäre, sowie vernunftgeleiteter Führung und triebgesteuerter Masse, als Erscheinungsform von Klassengesellschaft eingegangen. Es wird die Subjektkonstitution, z.B. Denkformen und Bedürfnisse, unter den Bedingungen der Einschränkung der Befriedigung der Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen in der Gesellschaft untersucht. Biologische Bedürfnisse werden als gesellschaftliche erkannt und somit in ihren Bedingtheiten erfaßt der bürgerlichen Ideologie und dem Schein der Freiheit entgegengehalten.
Die Triebbestimmtheit des Verhaltens der Masse ist Folge und nicht Ursache der Klassengesellschaft.

I

" In den laufenden Diskussionen darüber, warum der reale Sozialismus zusammengebrochen sei, wird in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder die Frage gestellt, ob im Marxismus nicht die "Natur des Menschen" auf eine grundsätzliche Weise verkannt werde und ob nicht der Sozialismus schon deswegen notwendig scheitern müsse, weil die Menschen für das, was ihnen hier abverlangt werde, nicht geschaffen seien. Ich möchte in diesem Beitrag zu derartigen Problematisierungen einige grundsätzliche Klärungen beisteuern. Ehe ich jedoch versuchen kann, verschiedene in diesem Diskussionszusammenhang vorgebrachte Argumente kritisch zu analysieren und von da aus eine Antwort auf die dem zugrundeliegende Fragestellung zu geben, muß ich bestimmte allgemeine Voraussetzungen, auf denen meine spätere Argumentation aufbaut, wenigstens kurz verdeutlichen. "
 
[Scheiterte Realsozialismus an Überforderung des Menschen?]

{ Es wird zu zeigen sein, dass es die "Natur des Menschen" gar nicht gibt, bzw. dass die Natur des Menschen die Gesellschaftlichkeit ist. (d.V.)}

D.h.,
  • er verändert die Lebensbedingungen bzgl. seiner Erkenntnisse und Bedürfnisse,
  • schließt sich bewußt mit anderen zusammen,
  • entwickelt so gesellschaftliche Kooperation und Integration.
 
[Menschen >verhalten< sich zu ihren Lebensbedingungen]
" Der qualitative Sprung von der tierischen zur menschlichen = gesellschaftlichen Existenz besteht somit in der neuen Qualität der Beziehungen von innerer und äußerer Natur: Während selbst die höchstentwickelten Tierarten nur zur individuellen Anpassung an die vorgegebenen Lebensbedingungen gelangen, verändern die Menschen die äußere Natur in einem selbständigen, gesellschaftlich-historischen Prozeß und schaffen damit die Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung. Menschliche Existenz bedeutet somit weit mehr als das Bemühen um das individuelle Überleben unter den jeweils gegebenen Bedingungen; sie ist identisch mit der Überwindung von Abhängigkeit und Ausgeliefertheit zur Verbesserung allgemeiner Lebensmöglichkeiten. In diesem Prozeß der vorausschauenden Veränderung der relevanten Lebensbedingungen entwickeln sich zugleich die menschlichen Fähigkeiten, Erkenntnisse, Bedürfnisse und Beziehungen zueinander. " [Herv. v. P.H.]
 
[Neue Qualität]
" Das bewußte Verhalten zu den äußeren Bedingungen bedeutet potentiell auch ein bewußtes Verhalten zur eigenen Bedürftigkeit. Die Menschen werden - jedenfalls unter ihnen gemäßen Bedingungen - im Gegensatz zu den Tieren nicht unter dem Druck ihrer unmittelbaren Bedürftigkeit aktiv, sondern schaffen im Wissen um ihre Bedürfnisse vorsorgend die Bedingungen ihrer Befriedigung. " [Herv. v. P.H.]
 
[Bewußtes Verhalten zu den eigenen Bedürfnisse]
" Das Dilemma, um der kurzfristigen Interessen, nämlich der unmittelbaren Absicherung der Existenz willen, gegen die langfristigen Interessen der Überwindung der Abhängigkeit und Ausgeliefertheit verstoßen zu müssen, ist das zentrale Konfliktpotential menschlicher Existenz. In Klassengesellschaften erscheint dieser Konflikt als Nötigung, sich um der unmittelbaren Existenzsicherung bzw. Anerkennung willen der Macht jener zu unterstellen und diese damit zu festigen, die über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen. " [Herv. v. P.H.]
 
[Zentraler Konflikt kurz- und langfristige Interessen]
" Die zentrale Kritik von Marx und Engels an der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung als einer Bewegung in Klassengegensätzen bezieht sich somit im wesentlichen darauf, daß die Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen und damit die Entwicklung individueller Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten für die Mehrheit der Bevölkerung massiv behindert ist. Mit anderen Worten: die Koordination individueller Kräfte zur Verbesserung der Lebensverhältnisse geschieht i.d.R. nicht als selbstbewußte Tat im Interesse aller Beteiligten, sondern ist den Angehörigen der abhängigen Klassen gemäß den bornierten Interessen der jeweils Herrschenden aufgezwungen. " [Herv. v. P.H.]
 
[Klassengesellschaft - Einschränkung der Mehrheit]
" Unter kapitalistischen Klassenverhältnissen verbirgt sich diese Abhängigkeit hinter dem Schein der Freiwilligkeit, indem die Menschen nicht mit direkter Gewalt, sondern auf Grund ihrer eigenen Bedürftigkeit gezwungen sind, sich "freiwillig" den Interessen jener zu unterstellen, die über die Mittel der Produktion und damit der Bedürfnisbefriedigung verfügen. Niemand zwingt die Lohnarbeiter, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern ganz im Gegenteil: Angesichts der Alternative drohender Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen erhöhten Ausgeliefertheit, Isolation und Ohnmacht müssen diese für ihre eigene Ausbeutung noch dankbar sein. " [Herv. v. P.H.]
 
[Der Schein der Freiwilligkeit]

{ Dieser Schein für bare Münze genommen ist nichts anderes als die bürgerliche Ideologie des Glückes eigener Schmied zu sein und wenn man es nicht schafft, es als persönliches Versagen zu deuten. Der Schein entsteht durch die Unsichtbarkeit des Zwanges als unpersönliche Herrschaft des Sachzwanges. (siehe auch Fetischkapitel, Marx 'Kapital Bd.I') (d.V.)}

 
[Persönliches Versagen als Schein]
 [Bedürfnisse sind RELATIV]
" Sie entwickeln sich mit dem Stand der Mittel ihrer Befriedigung: "Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegessenes Fleisch befriedigt, ist ein anderer Hunger, als der, der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten." (MEW 15, 624) Zugleich sagen der Grad und die Art der Bedürfnisbefriedigung stets auch etwas über die gesellschaftliche Position und damit über die Sicherheit der individuellen Existenz aus. Man leidet - jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad des Mangels - nicht primär an diesem, sondern vielmehr daran, daß man in einer Situation ist, in der einem gesellschaftliche Lebensmöglichkeiten, die anderen ohne weiteres zur Verfügung stehen, vorenthalten sind. " [Herv. v. P.H.]
 
[Hunger ist nicht gleich Hunger]

{ Dies ist eine klare Absage an jegliche Form der Naturalisierung menschlicher Verhältnisse. Auch biologische Bedürfnisse sind bei Menschen gesellschaftlich. So ist Hungerstreik oder Suizid krasse Beispiele gerade für eine bestimmte Überwindung sogenannter biologischer Bedürfnisse. Andererseits ist klar, dass die Bedürfnisse selbstverständlich auch biologisch determiniert sind. Ohne Hunger oder andere Bedürfnisse keinen Kapitalismus. Aber sie verändern ihre Form und Wirkung in der Gesellschaft. Schmerz kann zu Lust werden und umgekehrt. (d.V.)}

 
[Sogenannte >biologische< Bedürfnisse sind gesellschaftlich]
" Marx und Engels bringen dies folgendermaßen zum Ausdruck: "Ein Haus mag groß oder klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Haus ein Palast, und das kleine Haus schrumpft zur Hütte zusammen. Das kleine Haus beweist nun, daß sein Inhaber keine oder nur die geringsten Ansprüche zu machen hat; und es mag im Laufe der Zivilisation in die Höhe schießen noch so sehr, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar in höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier Pfählen finden. Ein merkliches Zunehmen des Arbeitslohns setzt ein rasches Wachsen des produktiven Kapitals voraus. Das rasche Wachsen des produktiven Kapitals ruft ebenso rasches Wachstum des Reichtums, des Luxus, der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Genüsse, hervor. Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt. Unsre Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie relativer Natur." (MEW 6, 411f) " [Herv. v. P.H.]
 
[Das Haus wird zur Hütte neben dem Palast]
" (MEW 26,3, 93): Diese nehmen Triebcharakter an, d.h. gewinnen unmittelbar verhaltensbestimmende Macht. Wenn ich Hunger leide, wird mein Denken vorrangig ums Essen kreisen; wenn ich um meine Existenz fürchten muß, werde ich auf Sicherheit setzen und versuchen, durch Demonstration besonderen Wohlverhaltens mir die Zuwendungen jener, von denen ich mich abhängig sehe, zu erhalten. Auch die Bemühungen um die Bestimmung der eigenen Lebensbedingungen können 'Triebcharakter" annehmen: indem ich quasi zwanghaft meine Ausgeliefertheit an die gesellschaftliche Entwicklung etwa dadurch zu kompensieren trachte, daß ich von diesen isoliert und damit noch ohnmächtiger und ausgelieferter werde. " [Herv. v. P.H.]
 
[Bedürfnisse ERHALTEN Triebcharakter in Klassengesellschaften ]

{ Also haben die Bedürfnisse in menschlicher Gesellschaft gerade keinen Triebcharakter im Sinne der Tiere, sondern werden erst wieder zu solchen regrediert, sobald ihre Befriedigung massiv behindert wird, wie es in der Klassengesellschaft passiert. (d.V.)}


II

" Mit der Herausbildung der Klassenantagonismen sind auch die gesellschaftlichen Denkformen nicht mehr klassenneutral, sondern repräsentieren jeweils verschiedene Klassenstandpunkte, und zwar den Gegensatz der Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen vom Standpunkt der unterdrückten Klasse einerseits und der herrschenden Klassen andererseits. Eine uralte Technik der Herrschaftssicherung besteht darin, die Klassenspaltung als Folge der unterschiedlichen Fähigkeit der Menschen zu erklären, ihre Triebe zu beherrschen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Theoriengeschichte die These von der Triebbestimmtheit der Massen, die, sich selbst überlassen, zum Feind der Kultur bzw. Gesellschaft würden und darum im Interesse aller der äußeren Lenkung und Kontrolle bedürften. " [Herv. v. P.H.]
 
[Denkformen besitzen IMMER Klassencharakter]
Es geht um
" Theorien, die zumindest der Masse der Menschen Triebhaftigkeit unterstellen, bedeuten also nichts anderes, als daß die Folgen der Unterdrückung zu deren Ursachen erklärt werden und man diese zugleich durch Verschärfung der Disziplinierung zu kurieren sucht. Dem ist entgegenzusetzen, daß Bedürfnisse nur unter den Bedingungen ihrer mangelnden Befriedigung "Triebcharakter" annehmen, wobei die mangelnde Befriedigung stets auf die allgemeine Ausgeliefertheit verweist. "
 
[Klassengesellschaft ist URSACHE der Triebhaftigkeit nicht Folge]

III

" In heute gängigen psychologischen Auffassungen spricht man häufig weniger von der menschlichen Triebhaftigkeit und der Notwendigkeit ihrer Unterdrückung, sondern propagiert eher die Selbstverwirklichung, die unabhängig von den konkreten Verhältnissen möglich sein, nur die Besinnung auf die inneren Wesenskräfte erfordern soll. Das Leiden an der mangelnden Befriedigung der Bedürfnisse bekämpft man demzufolge dadurch, daß man sich diese Bedürfnisse einfach abschminkt. Wenn man nicht so sicherheitsfixiert, sondern risikofreudiger wäre, würde einem die allgemeine Unsicherheit und Perspektivlosigkeit nichts ausmachen; wenn man zu seiner wahren Identität gefunden hätte, wäre man weniger von äußerer Anerkennung und von Statussymbolen abhängig. Auch in solchen Theorien der Selbstverwirklichung geraten die Bedürfnisse statt die Behinderungen ihrer Befriedigung, d.h. die Folgen statt die Ursachen der Unterdrückung, in das Blickfeld der Kritik. " [Herv. v. P.H.]
 
[Abstrakte Selbstverwirklichung vs. realer Bedingungen]
" Nicht die gesellschaftlichen Selektionsprozesse, sondern die individuellen Ängste, sich diesen zu stellen, behindern seiner Auffassung nach den zivilen Fortschritt. Menschliche Entwicklungsfähigkeit erweist sich solchen Vorstellungen gemäß offensichtlich in der Eilfertigkeit, mit der man sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen bereit und fähig ist. Die Möglichkeit, daß die Verhältnisse nicht den Interessen und Bedürfnissen der Menschen entsprechen und die Anpassung an die jeweiligen Anforderungen einen massiven Selbstverrat bedeuten, gerät gar nicht erst in den Blick. "
" Eine solche Sichtweise ist zweifellos die der Herrschenden: Statt die Lebensbedingungen gemäß den Bedürfnissen der Menschen zu gestalten, haben sich die Menschen den herrschenden Verhältnissen anzupassen, und alle, die sich dagegen verwahren, werden sich gefallen lassen müssen, als Ballast oder Behinderung gehandelt zu werden. Die herrschende Kahlschlagpolitik gegenüber den Ländern der ehemaligen DDR findet damit eine erneute wissenschaftliche Rechtfertigung.
...
Diesen Vorstellungen liegt die psychoanalytische Auffassung vom genuin ungesellschaftlichen, spannungsflüchtigen Individuum zugrunde, das zur Berücksichtigung der Interessen anderer, selbst wenn sie dem eigenen Lebensinteresse entsprechen, durch gesellschaftlichen Druck gezwungen werden muß. Eine solche Haltung, von der aus jede gesellschaftliche Aktivität als Zwangsverhältnisse interpretiert wird, mag manchen also besonders realistisch oder gar radikal erscheinen. Genau besehen handelt es sich hier jedoch wohl eher um eine Pseudoradikalität, die letztlich zu nichts anderem führt als zur Rechtfertigung jeder Form von Unterdrückung und zur Empfehlung der Anpassung an ihre jeweiligen Erscheinungsformen als Ausweis flexibler Lebenstüchtigkeit und vernünftiger Lebensführung. "
[Herv. v. P.H.]
 
[Nur die Anpassung ist vernünftig]

IV

" Die abstrakte Gegenüberstellung der bedürftigen = defizitären Menschen einerseits und der Gesellschaft andererseits geht immer mit der ideologischen Trennung und Dichotomisierung von Gefühl und Vernunft einher. Die "Gesellschaft" repräsentiert danach die Vernunft, die Individuen verkörpern hingegen die Gefühle und Leidenschaften, die sich in ihrer mangelnden Bereitschaft erweist, sich den herrschenden Interessen = der "allgemeinen Vernunft" zu beugen.
...
Gefühl und Vernunft geraten jedoch nur unter Bedingungen der Fremdbestimmtheit in Gegensatz zueinander, wenn sich nämlich "Vernunft" auf Anpassung beschränkt, die darin besteht, alle unbotmäßigen Erkenntnisse und Impulse zu verdrängen: "Vernünftig" wäre demzufolge, das zu tun, was man tun soll, "unvernünftig" bzw. "irrational", dagegen zu opponieren und sich auf diese Weise entsprechende Sanktionen einzuhandeln. "
[Herv. v. P.H.]
 
[Herrschenden Interessen = der 'allgemeinen Vernunft' = Einsicht in die Anpassung]

{ Dies zeigt, dass jedes Rekurrieren auf das sogenannte Allgemeininteresse dem bürgerlichen Schema auf den Leim geht. Es kommt gerade darauf an, sich bewußt zu werden, dass man nur ein Klasseninteresse haben und nicht die ganze Menschheit hinter sich wissen kann bzw. sich als Stellvertreter ihrer gebärden. So sind die allgemeine Menschenrechte die, die das Kapital als notwendig für sich setzt, Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.*1 (d.V.)}

 
[Es gibt kein Allgemeininteresse]
" Sofern man jedoch von der subjektiven Notwendigkeit der Einflußnahme auf die Verhältnisse ausgeht, wird klar, daß die Gefühle keineswegs als solche im Gegensatz zur Vernunft stehen, sondern selbst eine Form der Erkenntnis darstellen: sie sind die spontane Bewertung der jeweiligen Realität am Maßstab der individuellen Besinnlichkeit bzw. am Maßstab der subjektiven Handlungsmöglichkeiten dieser Realität gegenüber. Gefühle haben orientierende und handlungsanleitende Funktion.
...
Gefühle sind also keineswegs von sich aus irrational, sondern die Irrationalität ergibt sich erst aus der gesellschaftlichen Behinderung ihres Ausdrucks: bestimmte "kritische" Gefühle - wie etwa Angst und Aggression -, die auf die Ungesichertheit individueller Existenz sowie die mangelnde Befriedigung zentraler Lebensansprüche verweisen und damit eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen implizieren, werden in ihrem Ausdruck mehr oder weniger direkt eingeschränkt. "
[Herv. v. P.H.]
 
[Gefühle als Form der Erkenntnis]
" Der Umstand, daß wenn man der gängigen Auseinanderreißung von Vernunft und Gefühl erst einmal aufsitzt, man - ob man dies nun will und bemerkt oder nicht - zwangsläufig die Position der Herrschenden einnimmt und die Naturalisierung der gegebenen Machtverhältnisse betreibt, zeigt, sich auch an den Ausführungen von Hans-Dieter Schmidt im ND (1990). Dieser unterstellt den unterschiedlichen Auslegungen des Marxismus und letztlich diesem selbst ein "realitätsfernes Wunschbild": Demgemäß sei der Mensch ein vernunftgeleitetes Lernwesen, das durch äußere (vor allem ökonomische) Umstände hochgradig formbar sei; er beherrsche die Natur und sich selbst, weil er intelligent, leistungs- und arbeitswillig sei; als Kollektivwesen sei er gesittet und diszipliniert einordnungs- und verzichtswillig, wobei diese Eigenschaften in der sozialistischen Gesellschaft voll zum Tragen kämen. " [Herv. v. P.H.]
 
[Dichotomie = Naturalisierung der gegebenen Machtverhältnisse]
" Die Naturalisierung der Klassenverhältnisse, die sich in der Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, Gefühl und Vernunft spiegelt, unterliegt auch der verbreiteten Aufteilung der Bedürfnisse in "primäre" und "sekundäre", elementare und geistige, materielle und ideelle etc. Jede Form der Kategorisierung und Hierarchisierung der Bedürfnisse geschieht vom Standpunkt der Herrschenden, d.h. derer, die die aktzeptierbaren und nichtakzeptierbaren, d.h. über die zugestandenen Lebensräume hinausgehenden Ansprüche sondieren. Vom Subjektstandpunkt hingegen ist die Befriedigung aller Bedürfnisse wichtig. Dies bedeutet keineswegs, daß auch immer alle Bedürfnisse befriedigt werden können. Es ist jedoch ein zentraler Unterschied, ob bestimmte Bedürfnisse aktuell und aus angebbaren Gründen unbefriedigt bleiben müssen oder ob die Bedürfnisse selbst zensiert, d.h. in ihrer Berechtigung hinterfragt werden, was bei ihrer Hierarchisierung letztlich immer der Fall ist. " [Herv. v. P.H.]
 
[Aufteilung der Bedürfnisse in primär und sekundär]

V

" Engels leugnet die demoralisierenden Auswirkungen von Ausbeutung und Unterdrückung also nicht, lastet sie aber im Gegensatz zur Bourgeoisie nicht den Arbeitern an, sondern verweist auf ihre gesellschaftlichen Ursachen. "Unter den jetzigen sozialen Verhältnissen ist es ganz klar, daß der Arme gezwungen wird, Egoist zu sein, und wenn er die Wahl hat und gleich gut lebt, lieber nichts tut als arbeitet. Daraus folgt aber nur, daß die jetzigen sozialen Verhältnisse nichts taugen." (MEW 2, 495) "Noch viel demoralisierender als die Armut" sei aber, so Engels "die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie (die Arbeiter/U.O.) zu Proletariern macht." (MEW 2,344) " [Herv. v. P.H.]
 
[Gesellschaftlicher Zwang zum Egoismus]
" Dementsprechend wirft man den "Massen" weniger - wie zu Zeiten Engels -, ihre Trunksucht und sexuelle Unzucht, als vielmehr ihre mangelnde Flexibilität und Kreativität, ihre Fixiertheit auf Sicherheit und Konsum vor. Der verbreitete Vorwurf der Konsumorientierung bedeutet jedoch nichts anderes, als die Forderungen der Menschen nach gleichen Lebensmöglichkeiten als Ausdruck charakterlicher Schwäche oder Defekte zu werten. Statt "haben" zu wollen - so etwa die humanistische Psychologie -, sollten die Menschen lieber "sein", d.h. sich auf ihre inneren Werte besinnen und sich mit dem zufrieden geben, was ihnen gegeben ist. Solche "humanistischen" Appelle haben immer die Funktion, die Besitzstände derer, die Anspruch auf die Lebensmöglichkeiten der Herrschenden und Privilegierten erheben, zu wahren.
...
Wer die Frage stellt, für wessen Nutzen und Interesse man diese Art von Anstrengung auf sich nehmen soll, ist dieser Theorie nach von vornherein als materiell orientiert und damit moralisch-geistig unterentwickelt disqualifiziert.

Statt über die Konsumorientierung und das Überwiegen "egoistisch-materieller" gegenüber "allgemein-geistigen" Interessen zu klagen, wäre vielmehr von marxistischer Seite deutlich zu machen, daß auch der persönliche Konsum letztlich nur über die Einflußnahme auf die gesellschaftliche Entwicklung gesichert werden kann, was immer entsprechende intellektuelle Anstrengungen erfordert, und daß die Behauptung, die "geistigen" Interessen stünden im Gegensatz zu den materiellen, genau besehen, die Funktion hat, die materiellen Besitzstände der Herrschenden zu sichern. "
[Herv. v. P.H.]
 
[Sei zufrieden! - Sein statt Haben = Machterhalt]

{ Hier schließt sich auch die ganze Esotherik an, die den wahren Kern des Individuums, das wahre Sein, das Eins mit dem Kosmos usw. erreichen möchte, selbstverständlich ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich verändern zu wollen. Nur der Einzelne soll dies für sich tun. Man soll ja nicht grobstofflich oder materialistisch orientiert sein. (d.V.)}

" Mit anderen Worten: Man wäre durchaus zu Einschränkungen des Konsums bereit, wenn man Einfluß darauf nehmen könnte, daß dies zum allgemeinen Nutzen wäre; wenn dem aber so wäre, würde es sich dabei jedoch keineswegs mehr um Verzicht, sondern ganz im Gegenteil um die Erweiterung individueller Lebensmöglichkeit handeln.

Engels hat diese Zusammenhänge schon 1845 in einem seiner Elberfelder Briefe auf den Begriff gebracht: Es ginge nicht um die Schmälerung der eigenen Lebensmöglichkeiten, indem man diese mit anderen teilt, sondern vielmehr darum, "eine solche Lebenslage für alle Menschen zu schaffen, daß ein jeder seine menschliche Natur frei entwickeln, mit seinen Nächsten in einem menschlichem Verhältnis leben kann und vor keinen gewaltsamen Erschütterungen seiner Lebenslage sich zu fürchten braucht". Dabei sei zu berücksichtigen, "daß dasjenige, was einzelne aufopfern sollen, nicht ihr wahrhaft menschlicher Lebensgenuß, sondern nur der durch unsere schlechten Zustände erzeugte Schein des Lebensgenusses ist, etwas, was wider die eigne Vernunft und das eigne Herz derer geht, die sich jetzt dieser scheinbaren Vorzüge erfreuen." (MEW 2, 556) "
[Herv. v. P.H.]
 
[Wer hat Einfluß auf allgemeinen Nutzen]

VI

" Auch die Umsetzung solcher Erkenntnisse von Marx und Engels über die menschlichen Bedürfnisse in die politische Praxis wird u.a. dadurch behindert, daß selbst Marxisten immer wieder herrschenden Denkweisen darüber aufsitzen. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, daß auch sie die Bedürfnisse statt deren mangelnde Befriedigung zu bekämpfen suchen und sich berechtigt fühlen, die Unterordnung der Menschen unter die von ihnen vertretenen sozialistischen Ziele zu fordern.

Auf die Gefahr, daß auch Kommunisten unter Sozialismus nicht die Bestimmung der Verhältnisse durch die von ihnen betroffenen Menschen, sondern vielmehr deren Unterordnung unter ein vorgegebenes sozialistisches Ziel verstehen, verweist z.B. Alexander Zipko (1992) in seinem Artikel "Der Egoismus der Träumer". Er spricht in diesem Zusammenhang von einer elitären Erhebung über die Alltagssorgen der Menschen und einer Antikonsumenthaltung revolutionärer Schöngeister, der zufolge viele der bolschewistischen Kämpfer die abstrakte sozialistische Idee mitunter höher als die Interessen der Volksmassen gesetzt hätten.
...
Diese These von der notwendigen Selbstaufopferung ist bei genauerem Hinsehen immer falsch: auf sich selbst bezogen sind Verzichtsleistungen jeder Art, sofern sie freiwillig geschehen, keine Selbstaufopferung; und auf andere bezogen bedeutet sie nichts weiter als deren Aufopferung für etwas zu fordern, was man selbst für wichtig und richtig hält, den anderen jedoch nicht einsichtig machen kann. Wenn die vorgeblich allgemeinen Ziele wirklich im Interesse aller sind, sind die jeweils individuellen Interessen schon logischerweise in ihnen aufgehoben; wie weit dies jedoch konkret der Fall ist, muß durch die einzelnen Individuen jederzeit überprüfbar sein, damit sie die allgemeinen Interessen bewußt mittragen können. Die auch von manchen Sozialisten vertretene These von dem "lumpigen Selbst", das hinter den Interessen der "Menschheit" zurückzustehen habe, nennen Marx und Engels einen "infamen und ekelhaften Servilismus", eine "Wollust der Kriecherei und Selbstverachtung". (MEW 4, 15) "
[Herv. v. P.H.]
 
[Unterordnung unter ''sozialistische'' Ziele]
" Auch in der DDR verstand man, wie Eva Kellner und Angelika Soldan in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie darlegen (1991), unter Sozialismus offensichtlich weniger die bewußte Gestaltung der Lebensbedingungen durch die betroffenen Menschen, sondern setzte ihn eher als Maßstab, an dem sich die Menschen zu bewähren hatten. "
" Auf diese Weise sei die reale Entmündigung großer Teile der Bevölkerung theoretisch abgesegnet und bewirkt worden, daß die an sich richtige These von der Dominanz der gesellschaftlichen Interessen - als Grundlage und Voraussetzung individueller Interessenbefriedigung - von vornherein nur als eine Interssenshierarchie, d.h. als die prinzipielle Unterordnung des Individuellen unter das Gesellschaftliche gedacht werden konnte, die durch Aufklärung über die "wahren" Interessen und Erziehung zu vermitteln sei. "Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt", wie schon Marx gegen Feuerbach einwandte, "daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren." (MEW 3, 5f.) "
 
[Entmündigung der Bevölkerung - Erziehung der Erzieher]
" Der Verrat an den eigenen Zielen und Ansprüchen beginnt nicht da, wo man diese unter dem Druck der Situation ermäßigt, sondern da, wo man zur Abwehr von Kritik solches Zurückfallen hinter die eigenen Erkenntnisse verschleiert oder gar als wahre Lehre darzustellen versucht. Solche "Schutzmaßnahmen" sind, so nachvollziehbar sie auch sein mögen, letzten Endes immer selbstzerstörerisch: Wenn man die Problematik des eigenen Verhaltens leugnet bzw. diese sogar in ihr Gegenteil umzuinterpretieren sucht, verwischt man für sich und andere die Grenze zwischen (Selbst-)täuschung und Realität, entzieht sich die Orientierungsgrundlage und beraubt sich damit der Möglichkeit, die realen Ursachen der Behinderung konkret aufzuzeigen und offensiv anzugehen. Sichtbar bleibt dann nur die eigene Unglaubwürdigkeit, die sich mit allen Versuchen, sie zu bemänteln, immer weiter verstärkt. "
 
[Verhinderung der Kritik ist Selbstzerstörung]

VII

" Um die Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage, die im bisherigen Text nur implizit enthalten ist, nämlich inwieweit die marxistische Theorie die Menschen überfordert bzw. inwieweit diese für den Sozialismus geschaffen sind, abschließend auf den Punkt zu bringen: Diese Frage ist, wie aus meinen Ausführungen hoffentlich hervorgegangen ist, prinzipiell falsch gestellt, indem sie von verkehrten Prämissen, nämlich einem Verständnis von Sozialismus ausgeht, demzufolge dieser der Bevölkerung von der Partei oder anderen Instanzen anerzogen bis aufgedrückt werden muß. Da die Bevölkerung bei der Entwicklung des Sozialismus, wie Marx und Engels sie verstehen, in immer höherem Maße ihre Lebensbedingungen den eigenen Bedürfnissen gemäß verändern kann, ist die Frage danach, wieweit sie von solchen selbst geschaffenen und der eigenen Verfügung unterliegenden sozialistischen Verhältnissen überfordert wird, von vornherein widersinnig. " [Herv. v. P.H.]
 
[Die Frage ist falsch gestellt]
" Statt also die Menschen ob ihrer Zurückgebliebenheit hinter irgendwelchen humanistischen oder sozialistischen Idealen zu diffamieren und sie mehr oder weniger gewaltsam verbessern zu wollen oder aber diese Zurückgebliebenheit einfach zu ihrer Natur zu erklären und damit zugleich die bestehenden Unterdrückungsverhältnisse zu rechtfertigen, gilt es vielmehr - diese Zukunftsaufgabe ist aufgrund der Pervertierung und Selbstauflösung einer bestimmten Form von Realsozialismus eher noch dringlicher geworden - die Fremdbestimmtheit individueller Existenz in ihren Ursachen und Auswirkungen sowie die vielfältigen Mechanismen ihrer Verschleierung so präzis wie möglich auf den Begriff zu bringen, um sie umfassend und gemeinsam angehen zu können, auf diese Weise die Bedingungen wirklich menschlicher Existenz zu schaffen. "Der Kommunismus ist", so Marx und Engels, "nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt." (MEW 3,35) " [Herv. v. P.H.]
 
[Kommunismus ist kein Ideal]

Anhang

1 Karl Marx 'Das Kapital', Bd.I, 10. Auflage, Dietz Verlag GmbH, Berlin, 1961, S.184; [k1]

^ top

last update : Wed Jun 16 17:23:14 CEST 2004 Heilbronn
automatically created by Linux/X86; vendor=Apache Software Foundation; version=1; http://xml.apache.org/xalan-j