Exzerpte | |||||||
Team | Peter Heilbronn | ||||||
Thema | Zu Ute Osterkamp: Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt ... ( excerpt ) | ||||||
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Letzte Bearbeitung | 05/2004 | ||||||
Home | www.mxks.de |
"
In den laufenden Diskussionen darüber, warum der reale Sozialismus
zusammengebrochen sei, wird in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder die
Frage gestellt, ob im Marxismus nicht die "Natur des Menschen" auf eine
grundsätzliche Weise verkannt werde und ob nicht der Sozialismus schon deswegen
notwendig scheitern müsse, weil die Menschen für das, was ihnen hier abverlangt
werde, nicht geschaffen seien. Ich möchte in diesem Beitrag zu derartigen
Problematisierungen einige grundsätzliche Klärungen beisteuern. Ehe ich jedoch
versuchen kann, verschiedene in diesem Diskussionszusammenhang vorgebrachte
Argumente kritisch zu analysieren und von da aus eine Antwort auf die dem
zugrundeliegende Fragestellung zu geben, muß ich bestimmte allgemeine
Voraussetzungen, auf denen meine spätere Argumentation aufbaut, wenigstens kurz
verdeutlichen.
"
| [Scheiterte Realsozialismus an Überforderung des Menschen?] |
{ Es wird zu zeigen sein, dass es die "Natur des Menschen" gar nicht gibt, bzw. dass die Natur des Menschen die Gesellschaftlichkeit ist. (d.V.)}
D.h.,
| [Menschen >verhalten< sich zu ihren Lebensbedingungen] |
"
Der qualitative Sprung von der tierischen zur menschlichen =
gesellschaftlichen
Existenz besteht somit in der neuen Qualität der Beziehungen von innerer und
äußerer Natur: Während selbst die höchstentwickelten Tierarten nur zur
individuellen Anpassung an die vorgegebenen Lebensbedingungen gelangen,
verändern die Menschen die äußere Natur in einem selbständigen,
gesellschaftlich-historischen Prozeß und schaffen damit die Bedingungen
ihrer
eigenen Entwicklung. Menschliche Existenz bedeutet somit weit mehr als das
Bemühen um das individuelle Überleben unter den jeweils gegebenen Bedingungen;
sie ist identisch mit der Überwindung von Abhängigkeit und Ausgeliefertheit zur
Verbesserung allgemeiner Lebensmöglichkeiten. In diesem Prozeß der
vorausschauenden Veränderung der relevanten Lebensbedingungen entwickeln sich
zugleich die menschlichen Fähigkeiten, Erkenntnisse, Bedürfnisse und Beziehungen
zueinander.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Neue Qualität] |
"
Das bewußte Verhalten zu den äußeren Bedingungen bedeutet potentiell auch ein
bewußtes Verhalten zur eigenen Bedürftigkeit. Die Menschen werden - jedenfalls
unter ihnen gemäßen Bedingungen - im Gegensatz zu den Tieren nicht unter dem
Druck ihrer unmittelbaren Bedürftigkeit aktiv, sondern schaffen im Wissen um
ihre Bedürfnisse vorsorgend die Bedingungen ihrer Befriedigung.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Bewußtes Verhalten zu den eigenen Bedürfnisse] |
"
Das Dilemma, um der kurzfristigen Interessen, nämlich der unmittelbaren
Absicherung der Existenz willen, gegen die langfristigen Interessen der
Überwindung der Abhängigkeit und Ausgeliefertheit verstoßen zu müssen, ist das
zentrale Konfliktpotential menschlicher Existenz. In Klassengesellschaften
erscheint dieser Konflikt als Nötigung, sich um der unmittelbaren
Existenzsicherung bzw. Anerkennung willen der Macht jener zu unterstellen und
diese damit zu festigen, die über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Zentraler Konflikt kurz- und langfristige Interessen] |
"
Die zentrale Kritik von Marx und Engels an der bisherigen gesellschaftlichen
Entwicklung als einer Bewegung in Klassengegensätzen bezieht sich somit im
wesentlichen darauf, daß die Einflußnahme auf die gesellschaftlichen
Lebensbedingungen und damit die Entwicklung individueller Handlungs- und
Erlebnismöglichkeiten für die Mehrheit der Bevölkerung massiv behindert
ist. Mit
anderen Worten: die Koordination individueller Kräfte zur Verbesserung der
Lebensverhältnisse geschieht i.d.R. nicht als selbstbewußte Tat im Interesse
aller Beteiligten, sondern ist den Angehörigen der abhängigen Klassen gemäß den
bornierten Interessen der jeweils Herrschenden aufgezwungen.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Klassengesellschaft - Einschränkung der Mehrheit] |
"
Unter
kapitalistischen Klassenverhältnissen verbirgt sich diese Abhängigkeit hinter
dem Schein der Freiwilligkeit, indem die Menschen nicht mit direkter Gewalt,
sondern auf Grund ihrer eigenen Bedürftigkeit gezwungen sind, sich "freiwillig"
den Interessen jener zu unterstellen, die über die Mittel der Produktion und
damit der Bedürfnisbefriedigung verfügen. Niemand zwingt die Lohnarbeiter,
ihre
Arbeitskraft zu verkaufen, sondern ganz im Gegenteil: Angesichts der
Alternative
drohender Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen erhöhten Ausgeliefertheit,
Isolation und Ohnmacht müssen diese für ihre eigene Ausbeutung noch dankbar
sein.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Der Schein der Freiwilligkeit] |
{ Dieser Schein für bare Münze genommen ist nichts anderes als die bürgerliche Ideologie des Glückes eigener Schmied zu sein und wenn man es nicht schafft, es als persönliches Versagen zu deuten. Der Schein entsteht durch die Unsichtbarkeit des Zwanges als unpersönliche Herrschaft des Sachzwanges. (siehe auch Fetischkapitel, Marx 'Kapital Bd.I') (d.V.)} | [Persönliches Versagen als Schein] |
[Bedürfnisse sind RELATIV] |
"
Sie entwickeln sich mit dem Stand der Mittel ihrer Befriedigung: "Hunger ist
Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegessenes
Fleisch befriedigt, ist ein anderer Hunger, als der, der rohes Fleisch mit Hilfe
von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion,
sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion
produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft
also den Konsumenten." (MEW 15, 624) Zugleich sagen der Grad und die Art der
Bedürfnisbefriedigung stets auch etwas über die gesellschaftliche Position und
damit über die Sicherheit der individuellen Existenz aus. Man leidet -
jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad des Mangels - nicht primär an diesem,
sondern vielmehr daran, daß man in einer Situation ist, in der einem
gesellschaftliche Lebensmöglichkeiten, die anderen ohne weiteres zur Verfügung
stehen, vorenthalten sind.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Hunger ist nicht gleich Hunger] |
{ Dies ist eine klare Absage an jegliche Form der Naturalisierung menschlicher Verhältnisse. Auch biologische Bedürfnisse sind bei Menschen gesellschaftlich. So ist Hungerstreik oder Suizid krasse Beispiele gerade für eine bestimmte Überwindung sogenannter biologischer Bedürfnisse. Andererseits ist klar, dass die Bedürfnisse selbstverständlich auch biologisch determiniert sind. Ohne Hunger oder andere Bedürfnisse keinen Kapitalismus. Aber sie verändern ihre Form und Wirkung in der Gesellschaft. Schmerz kann zu Lust werden und umgekehrt. (d.V.)} | [Sogenannte >biologische< Bedürfnisse sind gesellschaftlich] |
"
Marx und Engels bringen dies folgendermaßen zum Ausdruck: "Ein Haus mag groß
oder klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind,
befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich
aber neben dem kleinen Haus ein Palast, und das kleine Haus schrumpft zur Hütte
zusammen. Das kleine Haus beweist nun, daß sein Inhaber keine oder nur die
geringsten Ansprüche zu machen hat; und es mag im Laufe der Zivilisation in die
Höhe schießen noch so sehr, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar in
höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen
Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier
Pfählen finden. Ein merkliches Zunehmen des Arbeitslohns setzt ein rasches
Wachsen des produktiven Kapitals voraus. Das rasche Wachsen des produktiven
Kapitals ruft ebenso rasches Wachstum des Reichtums, des Luxus, der
gesellschaftlichen Bedürfnisse und Genüsse, hervor. Obgleich also die Genüsse
des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie
gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten,
die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der
Gesellschaft überhaupt. Unsre Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der
Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an
den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind,
sind sie relativer Natur." (MEW 6, 411f)
"
[Herv. v. P.H.]
| [Das Haus wird zur Hütte neben dem Palast] |
"
(MEW 26,3, 93): Diese nehmen Triebcharakter an, d.h. gewinnen unmittelbar
verhaltensbestimmende Macht. Wenn ich Hunger leide, wird mein Denken
vorrangig
ums Essen kreisen; wenn ich um meine Existenz fürchten muß, werde ich auf
Sicherheit setzen und versuchen, durch Demonstration besonderen Wohlverhaltens
mir die Zuwendungen jener, von denen ich mich abhängig sehe, zu erhalten. Auch
die Bemühungen um die Bestimmung der eigenen Lebensbedingungen können
'Triebcharakter" annehmen: indem ich quasi zwanghaft meine Ausgeliefertheit an
die gesellschaftliche Entwicklung etwa dadurch zu kompensieren trachte, daß ich
von diesen isoliert und damit noch ohnmächtiger und ausgelieferter werde.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Bedürfnisse ERHALTEN Triebcharakter in Klassengesellschaften ] |
{ Also haben die Bedürfnisse in menschlicher Gesellschaft gerade keinen Triebcharakter im Sinne der Tiere, sondern werden erst wieder zu solchen regrediert, sobald ihre Befriedigung massiv behindert wird, wie es in der Klassengesellschaft passiert. (d.V.)}
"
Mit der Herausbildung der Klassenantagonismen sind auch die gesellschaftlichen
Denkformen nicht mehr klassenneutral, sondern repräsentieren jeweils
verschiedene Klassenstandpunkte, und zwar den Gegensatz der Notwendigkeit
gesellschaftlicher Veränderungen vom Standpunkt der unterdrückten Klasse
einerseits und der herrschenden Klassen andererseits. Eine uralte Technik der
Herrschaftssicherung besteht darin, die Klassenspaltung als Folge der
unterschiedlichen Fähigkeit der Menschen zu erklären, ihre Triebe zu
beherrschen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Theoriengeschichte die
These von der Triebbestimmtheit der Massen, die, sich selbst überlassen,
zum
Feind der Kultur bzw. Gesellschaft würden und darum im Interesse aller der
äußeren Lenkung und Kontrolle bedürften.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Denkformen besitzen IMMER Klassencharakter] |
"
Theorien, die zumindest der Masse der Menschen Triebhaftigkeit unterstellen,
bedeuten also nichts anderes, als daß die Folgen der Unterdrückung zu deren
Ursachen erklärt werden und man diese zugleich durch Verschärfung der
Disziplinierung zu kurieren sucht. Dem ist entgegenzusetzen, daß Bedürfnisse nur
unter den Bedingungen ihrer mangelnden Befriedigung "Triebcharakter" annehmen,
wobei die mangelnde Befriedigung stets auf die allgemeine Ausgeliefertheit
verweist.
"
| [Klassengesellschaft ist URSACHE der Triebhaftigkeit nicht Folge] |
"
In heute gängigen psychologischen Auffassungen spricht man häufig weniger von
der menschlichen Triebhaftigkeit und der Notwendigkeit ihrer Unterdrückung,
sondern propagiert eher die Selbstverwirklichung, die unabhängig von den
konkreten Verhältnissen möglich sein, nur die Besinnung auf die inneren
Wesenskräfte erfordern soll. Das Leiden an der mangelnden Befriedigung der
Bedürfnisse bekämpft man demzufolge dadurch, daß man sich diese Bedürfnisse
einfach abschminkt. Wenn man nicht so sicherheitsfixiert, sondern
risikofreudiger wäre, würde einem die allgemeine Unsicherheit und
Perspektivlosigkeit nichts ausmachen; wenn man zu seiner wahren Identität
gefunden hätte, wäre man weniger von äußerer Anerkennung und von Statussymbolen
abhängig. Auch in solchen Theorien der Selbstverwirklichung geraten die
Bedürfnisse statt die Behinderungen ihrer Befriedigung, d.h. die Folgen statt
die Ursachen der Unterdrückung, in das Blickfeld der Kritik.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Abstrakte Selbstverwirklichung vs. realer Bedingungen] |
"
Eine solche Sichtweise ist zweifellos die der Herrschenden: Statt die
Lebensbedingungen gemäß den Bedürfnissen der Menschen zu gestalten, haben sich
die Menschen den herrschenden Verhältnissen anzupassen, und alle, die sich
dagegen verwahren, werden sich gefallen lassen müssen, als Ballast oder
Behinderung gehandelt zu werden. Die herrschende Kahlschlagpolitik gegenüber den
Ländern der ehemaligen DDR findet damit eine erneute wissenschaftliche
Rechtfertigung.
... Diesen Vorstellungen liegt die psychoanalytische Auffassung vom genuin ungesellschaftlichen, spannungsflüchtigen Individuum zugrunde, das zur Berücksichtigung der Interessen anderer, selbst wenn sie dem eigenen Lebensinteresse entsprechen, durch gesellschaftlichen Druck gezwungen werden muß. Eine solche Haltung, von der aus jede gesellschaftliche Aktivität als Zwangsverhältnisse interpretiert wird, mag manchen also besonders realistisch oder gar radikal erscheinen. Genau besehen handelt es sich hier jedoch wohl eher um eine Pseudoradikalität, die letztlich zu nichts anderem führt als zur Rechtfertigung jeder Form von Unterdrückung und zur Empfehlung der Anpassung an ihre jeweiligen Erscheinungsformen als Ausweis flexibler Lebenstüchtigkeit und vernünftiger Lebensführung. " [Herv. v. P.H.] | [Nur die Anpassung ist vernünftig] |
"
Die abstrakte Gegenüberstellung der bedürftigen = defizitären Menschen
einerseits und der Gesellschaft andererseits geht immer mit der ideologischen
Trennung und Dichotomisierung von Gefühl und Vernunft einher. Die
"Gesellschaft"
repräsentiert danach die Vernunft, die Individuen verkörpern hingegen die
Gefühle und Leidenschaften, die sich in ihrer mangelnden Bereitschaft erweist,
sich den herrschenden Interessen = der "allgemeinen Vernunft" zu beugen.
... Gefühl und Vernunft geraten jedoch nur unter Bedingungen der Fremdbestimmtheit in Gegensatz zueinander, wenn sich nämlich "Vernunft" auf Anpassung beschränkt, die darin besteht, alle unbotmäßigen Erkenntnisse und Impulse zu verdrängen: "Vernünftig" wäre demzufolge, das zu tun, was man tun soll, "unvernünftig" bzw. "irrational", dagegen zu opponieren und sich auf diese Weise entsprechende Sanktionen einzuhandeln. " [Herv. v. P.H.] | [Herrschenden Interessen = der 'allgemeinen Vernunft' = Einsicht in die Anpassung] |
{ Dies zeigt, dass jedes Rekurrieren auf das sogenannte Allgemeininteresse dem bürgerlichen Schema auf den Leim geht. Es kommt gerade darauf an, sich bewußt zu werden, dass man nur ein Klasseninteresse haben und nicht die ganze Menschheit hinter sich wissen kann bzw. sich als Stellvertreter ihrer gebärden. So sind die allgemeine Menschenrechte die, die das Kapital als notwendig für sich setzt, Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.*1 (d.V.)} | [Es gibt kein Allgemeininteresse] |
"
Sofern man jedoch von der subjektiven Notwendigkeit der Einflußnahme auf die
Verhältnisse ausgeht, wird klar, daß die Gefühle keineswegs als solche im
Gegensatz zur Vernunft stehen, sondern selbst eine Form der Erkenntnis
darstellen: sie sind die spontane Bewertung der jeweiligen Realität am Maßstab
der individuellen Besinnlichkeit bzw. am Maßstab der subjektiven
Handlungsmöglichkeiten dieser Realität gegenüber. Gefühle haben orientierende
und handlungsanleitende Funktion.
... Gefühle sind also keineswegs von sich aus irrational, sondern die Irrationalität ergibt sich erst aus der gesellschaftlichen Behinderung ihres Ausdrucks: bestimmte "kritische" Gefühle - wie etwa Angst und Aggression -, die auf die Ungesichertheit individueller Existenz sowie die mangelnde Befriedigung zentraler Lebensansprüche verweisen und damit eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen implizieren, werden in ihrem Ausdruck mehr oder weniger direkt eingeschränkt. " [Herv. v. P.H.] | [Gefühle als Form der Erkenntnis] |
"
Der Umstand, daß wenn man der gängigen Auseinanderreißung von Vernunft und
Gefühl erst einmal aufsitzt, man - ob man dies nun will und bemerkt oder nicht -
zwangsläufig die Position der Herrschenden einnimmt und die
Naturalisierung der
gegebenen Machtverhältnisse betreibt, zeigt, sich auch an den Ausführungen
von
Hans-Dieter Schmidt im ND (1990). Dieser unterstellt den unterschiedlichen
Auslegungen des Marxismus und letztlich diesem selbst ein "realitätsfernes
Wunschbild": Demgemäß sei der Mensch ein vernunftgeleitetes Lernwesen, das durch
äußere (vor allem ökonomische) Umstände hochgradig formbar sei; er beherrsche
die Natur und sich selbst, weil er intelligent, leistungs- und arbeitswillig
sei; als Kollektivwesen sei er gesittet und diszipliniert einordnungs- und
verzichtswillig, wobei diese Eigenschaften in der sozialistischen Gesellschaft
voll zum Tragen kämen.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Dichotomie = Naturalisierung der gegebenen Machtverhältnisse] |
"
Die Naturalisierung der Klassenverhältnisse, die sich in der
Entgegensetzung von
Individuum und Gesellschaft, Gefühl und Vernunft spiegelt, unterliegt auch der
verbreiteten Aufteilung der Bedürfnisse in "primäre" und "sekundäre", elementare
und geistige, materielle und ideelle etc. Jede Form der Kategorisierung
und
Hierarchisierung der Bedürfnisse geschieht vom Standpunkt der Herrschenden, d.h.
derer, die die aktzeptierbaren und nichtakzeptierbaren, d.h. über die
zugestandenen Lebensräume hinausgehenden Ansprüche sondieren. Vom
Subjektstandpunkt hingegen ist die Befriedigung aller Bedürfnisse
wichtig. Dies
bedeutet keineswegs, daß auch immer alle Bedürfnisse befriedigt werden können.
Es ist jedoch ein zentraler Unterschied, ob bestimmte Bedürfnisse aktuell und
aus angebbaren Gründen unbefriedigt bleiben müssen oder ob die Bedürfnisse
selbst zensiert, d.h. in ihrer Berechtigung hinterfragt werden, was bei ihrer
Hierarchisierung letztlich immer der Fall ist.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Aufteilung der Bedürfnisse in primär und sekundär] |
"
Engels leugnet die demoralisierenden Auswirkungen von Ausbeutung und
Unterdrückung also nicht, lastet sie aber im Gegensatz zur Bourgeoisie nicht den
Arbeitern an, sondern verweist auf ihre gesellschaftlichen Ursachen. "Unter den
jetzigen sozialen Verhältnissen ist es ganz klar, daß der Arme gezwungen
wird,
Egoist zu sein, und wenn er die Wahl hat und gleich gut lebt, lieber nichts
tut
als arbeitet. Daraus folgt aber nur, daß die jetzigen sozialen Verhältnisse
nichts taugen." (MEW 2, 495) "Noch viel demoralisierender als die Armut" sei
aber, so Engels "die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom
Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie (die Arbeiter/U.O.) zu
Proletariern macht." (MEW 2,344)
"
[Herv. v. P.H.]
| [Gesellschaftlicher Zwang zum Egoismus] |
"
Dementsprechend wirft man den "Massen" weniger - wie zu Zeiten Engels -, ihre
Trunksucht und sexuelle Unzucht, als vielmehr ihre mangelnde Flexibilität und
Kreativität, ihre Fixiertheit auf Sicherheit und Konsum vor. Der verbreitete
Vorwurf der Konsumorientierung bedeutet jedoch nichts anderes, als die
Forderungen der Menschen nach gleichen Lebensmöglichkeiten als Ausdruck
charakterlicher Schwäche oder Defekte zu werten. Statt "haben" zu wollen - so
etwa die humanistische Psychologie -, sollten die Menschen lieber "sein", d.h.
sich auf ihre inneren Werte besinnen und sich mit dem zufrieden geben,
was ihnen
gegeben ist. Solche "humanistischen" Appelle haben immer die Funktion, die
Besitzstände derer, die Anspruch auf die Lebensmöglichkeiten der
Herrschenden und Privilegierten erheben, zu wahren.
... Wer die Frage stellt, für wessen Nutzen und Interesse man diese Art von Anstrengung auf sich nehmen soll, ist dieser Theorie nach von vornherein als materiell orientiert und damit moralisch-geistig unterentwickelt disqualifiziert. Statt über die Konsumorientierung und das Überwiegen "egoistisch-materieller" gegenüber "allgemein-geistigen" Interessen zu klagen, wäre vielmehr von marxistischer Seite deutlich zu machen, daß auch der persönliche Konsum letztlich nur über die Einflußnahme auf die gesellschaftliche Entwicklung gesichert werden kann, was immer entsprechende intellektuelle Anstrengungen erfordert, und daß die Behauptung, die "geistigen" Interessen stünden im Gegensatz zu den materiellen, genau besehen, die Funktion hat, die materiellen Besitzstände der Herrschenden zu sichern. " [Herv. v. P.H.] | [Sei zufrieden! - Sein statt Haben = Machterhalt] |
{ Hier schließt sich auch die ganze Esotherik an, die den wahren Kern des Individuums, das wahre Sein, das Eins mit dem Kosmos usw. erreichen möchte, selbstverständlich ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich verändern zu wollen. Nur der Einzelne soll dies für sich tun. Man soll ja nicht grobstofflich oder materialistisch orientiert sein. (d.V.)}
"
Mit anderen Worten: Man wäre durchaus zu Einschränkungen des Konsums bereit,
wenn man Einfluß darauf nehmen könnte, daß dies zum allgemeinen Nutzen wäre;
wenn dem aber so wäre, würde es sich dabei jedoch keineswegs mehr um Verzicht,
sondern ganz im Gegenteil um die Erweiterung individueller Lebensmöglichkeit
handeln.
Engels hat diese Zusammenhänge schon 1845 in einem seiner Elberfelder Briefe auf den Begriff gebracht: Es ginge nicht um die Schmälerung der eigenen Lebensmöglichkeiten, indem man diese mit anderen teilt, sondern vielmehr darum, "eine solche Lebenslage für alle Menschen zu schaffen, daß ein jeder seine menschliche Natur frei entwickeln, mit seinen Nächsten in einem menschlichem Verhältnis leben kann und vor keinen gewaltsamen Erschütterungen seiner Lebenslage sich zu fürchten braucht". Dabei sei zu berücksichtigen, "daß dasjenige, was einzelne aufopfern sollen, nicht ihr wahrhaft menschlicher Lebensgenuß, sondern nur der durch unsere schlechten Zustände erzeugte Schein des Lebensgenusses ist, etwas, was wider die eigne Vernunft und das eigne Herz derer geht, die sich jetzt dieser scheinbaren Vorzüge erfreuen." (MEW 2, 556) " [Herv. v. P.H.] | [Wer hat Einfluß auf allgemeinen Nutzen] |
"
Auch die Umsetzung solcher Erkenntnisse von Marx und Engels über die
menschlichen Bedürfnisse in die politische Praxis wird u.a. dadurch behindert,
daß selbst Marxisten immer wieder herrschenden Denkweisen darüber aufsitzen.
Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, daß auch sie die Bedürfnisse statt deren
mangelnde Befriedigung zu bekämpfen suchen und sich berechtigt fühlen, die
Unterordnung der Menschen unter die von ihnen vertretenen sozialistischen Ziele
zu fordern.
Auf die Gefahr, daß auch Kommunisten unter Sozialismus nicht die Bestimmung der Verhältnisse durch die von ihnen betroffenen Menschen, sondern vielmehr deren Unterordnung unter ein vorgegebenes sozialistisches Ziel verstehen, verweist z.B. Alexander Zipko (1992) in seinem Artikel "Der Egoismus der Träumer". Er spricht in diesem Zusammenhang von einer elitären Erhebung über die Alltagssorgen der Menschen und einer Antikonsumenthaltung revolutionärer Schöngeister, der zufolge viele der bolschewistischen Kämpfer die abstrakte sozialistische Idee mitunter höher als die Interessen der Volksmassen gesetzt hätten. ... Diese These von der notwendigen Selbstaufopferung ist bei genauerem Hinsehen immer falsch: auf sich selbst bezogen sind Verzichtsleistungen jeder Art, sofern sie freiwillig geschehen, keine Selbstaufopferung; und auf andere bezogen bedeutet sie nichts weiter als deren Aufopferung für etwas zu fordern, was man selbst für wichtig und richtig hält, den anderen jedoch nicht einsichtig machen kann. Wenn die vorgeblich allgemeinen Ziele wirklich im Interesse aller sind, sind die jeweils individuellen Interessen schon logischerweise in ihnen aufgehoben; wie weit dies jedoch konkret der Fall ist, muß durch die einzelnen Individuen jederzeit überprüfbar sein, damit sie die allgemeinen Interessen bewußt mittragen können. Die auch von manchen Sozialisten vertretene These von dem "lumpigen Selbst", das hinter den Interessen der "Menschheit" zurückzustehen habe, nennen Marx und Engels einen "infamen und ekelhaften Servilismus", eine "Wollust der Kriecherei und Selbstverachtung". (MEW 4, 15) " [Herv. v. P.H.] | [Unterordnung unter ''sozialistische'' Ziele] |
"
Auf diese Weise sei die reale Entmündigung großer Teile der Bevölkerung
theoretisch abgesegnet und bewirkt worden, daß die an sich richtige These von
der Dominanz der gesellschaftlichen Interessen - als Grundlage und Voraussetzung
individueller Interessenbefriedigung - von vornherein nur als eine
Interssenshierarchie, d.h. als die prinzipielle Unterordnung des Individuellen
unter das Gesellschaftliche gedacht werden konnte, die durch Aufklärung über die
"wahren" Interessen und Erziehung zu vermitteln sei. "Die materialistische Lehre
von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt", wie schon Marx
gegen Feuerbach einwandte, "daß die Umstände von den Menschen verändert und der
Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile
- von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren." (MEW 3, 5f.)
"
| [Entmündigung der Bevölkerung - Erziehung der Erzieher] |
"
Der Verrat an den eigenen Zielen und Ansprüchen beginnt nicht da, wo man diese
unter dem Druck der Situation ermäßigt, sondern da, wo man zur Abwehr von Kritik
solches Zurückfallen hinter die eigenen Erkenntnisse verschleiert oder gar als
wahre Lehre darzustellen versucht. Solche "Schutzmaßnahmen" sind, so
nachvollziehbar sie auch sein mögen, letzten Endes immer selbstzerstörerisch:
Wenn man die Problematik des eigenen Verhaltens leugnet bzw. diese sogar in ihr
Gegenteil umzuinterpretieren sucht, verwischt man für sich und andere die Grenze
zwischen (Selbst-)täuschung und Realität, entzieht sich die
Orientierungsgrundlage und beraubt sich damit der Möglichkeit, die realen
Ursachen der Behinderung konkret aufzuzeigen und offensiv anzugehen. Sichtbar
bleibt dann nur die eigene Unglaubwürdigkeit, die sich mit allen Versuchen, sie
zu bemänteln, immer weiter verstärkt.
"
| [Verhinderung der Kritik ist Selbstzerstörung] |
"
Um die Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage, die im bisherigen
Text nur implizit enthalten ist, nämlich inwieweit die marxistische Theorie die
Menschen überfordert bzw. inwieweit diese für den Sozialismus geschaffen sind,
abschließend auf den Punkt zu bringen: Diese Frage ist, wie aus meinen
Ausführungen hoffentlich hervorgegangen ist, prinzipiell falsch gestellt, indem
sie von verkehrten Prämissen, nämlich einem Verständnis von Sozialismus ausgeht,
demzufolge dieser der Bevölkerung von der Partei oder anderen Instanzen
anerzogen bis aufgedrückt werden muß. Da die Bevölkerung bei der Entwicklung
des
Sozialismus, wie Marx und Engels sie verstehen, in immer höherem Maße ihre
Lebensbedingungen den eigenen Bedürfnissen gemäß verändern kann, ist die Frage
danach, wieweit sie von solchen selbst geschaffenen und der eigenen Verfügung
unterliegenden sozialistischen Verhältnissen überfordert wird, von vornherein
widersinnig.
"
[Herv. v. P.H.]
| [Die Frage ist falsch gestellt] |
"
Statt also die Menschen ob ihrer Zurückgebliebenheit hinter irgendwelchen
humanistischen oder sozialistischen Idealen zu diffamieren und sie mehr oder
weniger gewaltsam verbessern zu wollen oder aber diese Zurückgebliebenheit
einfach zu ihrer Natur zu erklären und damit zugleich die bestehenden
Unterdrückungsverhältnisse zu rechtfertigen, gilt es vielmehr - diese
Zukunftsaufgabe ist aufgrund der Pervertierung und Selbstauflösung einer
bestimmten Form von Realsozialismus eher noch dringlicher geworden - die
Fremdbestimmtheit individueller Existenz in ihren Ursachen und Auswirkungen
sowie die vielfältigen Mechanismen ihrer Verschleierung so präzis wie möglich
auf den Begriff zu bringen, um sie umfassend und gemeinsam angehen zu können,
auf diese Weise die Bedingungen wirklich menschlicher Existenz zu schaffen.
"Der
Kommunismus ist", so Marx und Engels, "nicht ein Zustand, der hergestellt
werden
soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird).
Wir
nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand
aufhebt."
(MEW 3,35)
"
[Herv. v. P.H.]
| [Kommunismus ist kein Ideal] |