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Team Peter Heilbronn
Thema Zu Luxemburgs Organisationsfrage 1904 ( excerpt )
Original
Autor Rosa Luxemburg
Titel "Organisationsfrage der Russischen Sozialdemokratie"
Verweis [ lokales Original ]
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I
II

I

" Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten Organisationsformen die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die Selbstherrlichkeit der Lokalorganisationen war, so wurde naturgemäß die Losung der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes: Zentralismus. Die Betonung des zentralistischen Gedankens war das Leitmotiv der Iskra in ihrer dreijährigen glänzenden Kampagne zur Vorbereitung des letzten, tatsächlich konstituierenden Parteitags,... "
" Das uns vorliegende Buch des Genossen Lenin, eines der hervorragenden Leiter und Streiter der Iskra in ihrer vorbereitenden Kampagne vor dem russischen Parteitag [2*], ist die systematische Darstellung der Ansichten der ultrazentralistischen Richtung der russischen Partei. Die Auffassung, die hier in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär- aktiven Milieu, andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei. [3] "
  • Zentralismus als Lebensprinzip
  • Scharfe Trennung der revolutionären Aktiven vom Rest der Klasse
  • straffe Disziplin
  • Durchgriff der Zentralbehörde durch alle Ebenen
 
[Ultrazentralismus als Reaktion auf Zersplitterung]
" Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Sozialdemokratie im allgemeinen ein starker zentralistischer Zug innewohnt. Erwachsen aus dem wirtschaftlichen Boden des seinen Tendenzen nach zentralistischen Kapitalismus und angewiesen in ihrem Kampfe auf den politischen Rahmen des zentralisierten bürgerlichen Großstaats, ist die Sozialdemokratie von Hause aus eine ausgesprochene Gegnerin jedes Partikularismus und nationalen Föderalismus. Berufen dazu, allen partiellen und Gruppeninteressen des Proletariats gegenüber im Rahmen eines gegebenen Staates die Gesamtinteressen des Proletariats als Klasse zu vertreten, hat sie überall die natürliche Bestrebung, alle nationalen, religiösen, beruflichen Gruppen der Arbeiterklasse zur einheitlichen Gesamtpartei zusammenzuschweißen, wovon sie nur in exklusiven, abnormen Verhältnissen, wie zum Beispiel in Österreich, notgedrungen eine Ausnahme zugunsten des föderalistischen Prinzips macht. "
" Vom Standpunkt der formalen Aufgaben der Sozialdemokratie als einer Kampfpartei erscheint der Zentralismus in ihrer Organisation von vornherein als eine Bedingung, von deren Erfüllung die Kampffähigkeit und die Tatkraft der Partei in direktem Verhältnis abhängen. Allein viel wichtiger als die Gesichtspunkte der formalen Erfordernisse jeder Kampforganisation sind hier die spezifischen historischen Bedingungen des proletarischen Kampfes. "
Zentralismus auch nach ihr notwendig für
  • die Partikularität und Unterschiede im großen Russland zu überwinden und
  • als Vorbedingung für eine Kampfpartei.
 
[Objektive Ursachen des Zentralismus]
" Die sozialdemokratische Bewegung ist die erste in der Geschichte der Klassengesellschaften, die in allen ihren Momenten, im ganzen Verlauf auf die Organisation und die selbständige direkte Aktion der Masse berechnet ist. "

{ Das ist eine gute Frage, wie sich diese Zentralität zur spontanen und unorganisierten Masse verhält. (d.V.)}

" In der Organisation und dem Klassenbewußtsein des Proletariats im Gegensatz zur Verschwörung einer kleinen Minderheit erblickt Lenin die erschöpfenden Unterschiedsmomente zwischen der Sozialdemokratie und dem Blanquismus. Er vergißt, daß damit auch eine völlige Umwertung der Organisationsbegriffe, ein ganz neuer Inhalt für den Begriff des Zentralismus, eine ganz neue Auffassung von dem wechselseitigen Verhältnis der Organisation und des Kampfes gegeben ist. "
Blanquismus hingegen als die Revolution im Handstreich vorbereitende Minderheit, brauch keine Massenpartei.
 
[Im Unterschied zum Blanquismus]
" Zugleich waren auch die Taktik und die näheren Aufgaben der Tätigkeit, da diese ohne Zusammenhang mit dem Boden des elementaren Klassenkampf es, aus freien Stücken, aus dem Handgelenk improvisiert wurde, im voraus bis ins Detail ausgearbeitet, als bestimmter Plan fixiert und vorgeschrieben. Deshalb verwandelten sich die tätigen Mitglieder der Organisation naturgemäß in reine Ausführungsorgane eines außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsfeldes im voraus bestimmten Willens, in Werkzeuge eines Zentralkomitees. Damit war auch das zweite Moment des verschwörerischen Zentralismus gegeben: die absolute, blinde Unterordnung der Einzelorgane der Partei unter ihre Zentralbehörde und die Erweiterung der entscheidenden Machtbefugnisse dieser letzteren bis an die äußerste Peripherie der Parteiorganisation. "
 
[Werkzeuge des Zentralkomitees]
" Grundverschieden sind die Bedingungen der sozialdemokratischen Aktion. Diese wächst historisch aus dem elementaren Klassenkampf heraus. Sie bewegt sich dabei in dem dialektischen Widerspruch, daß hier die proletarische Armee sich erst im Kampfe selbst rekrutiert und erst im Kampfe auch über die Aufgaben des Kampfes klar wird. Organisation, Aufklärung und Kampf sind hier nicht getrennte, mechanisch und auch zeitlich gesonderte Momente, wie bei einer blanquistischen Bewegung, sondern sie sind nur verschiedene Seiten desselben Prozesses. Einerseits gibt es - abgesehen von allgemeinen Grundsätzen des Kampfes - keine fertige, im voraus festgesetzte detaillierte Kampftaktik, in die die sozialdemokratische Mitgliedschaft von einem Zentralkomitee eingedrillt werden könnte. Andererseits bedingt der die Organisation schaffende Prozeß des Kampfes ein beständiges Fluktuieren der Einflußsphäre der Sozialdemokratie. "
Wie Lukacs betont auch Luxemburg die dialektische Bewegung zwischen Organisation und Masse und die Organisation selbst als teil des Prozesses.
 
[Hingegen die sozialdemokratische Organisationsform]
" Daraus ergibt sich schon, daß die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer unter ihre Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann. Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen

- auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kernes der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird - erscheint uns deshalb als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. "

{ Diese Frage wird sich ständig neu stellen als praktische Frage. Man kann sich zwar hierzu die verschiedenen historischen Beispiele aneignen und einen Standpunkt entwickeln, aber ausser dem Beharren auf dem Standpunkt der Dialektik bleibt nicht viel theoretisch übrig. Dies ist eine nur historisch praktisch zu lösende Aufgabe, der die Theorie als Rahmen mitgibt, worauf zu achten ist und die historischen Beispiele die Möglichkeiten aufzeigen. (d.V.)}

 
[Luxemburgs Kritik an Lenins Zentralismus]
" Schon aus der Untersuchung dieses eigentlichen Inhalts des sozialdemokratischen Zentralismus wird klar, daß für einen solchen heutzutage in Rußland die erforderlichen Bedingungen noch nicht in vollem Maße gegeben sein können. Es sind dies nämlich: das Vorhandensein einer beträchtlichen Schicht im politischen Kampfe bereits geschulter Proletarier und die Möglichkeit, ihrer Dispositionsfähigkeit durch direkte Ausübung des Einflusses (auf öffentlichen Parteitagen, in der Parteipresse usw.) Ausdruck zu geben.

Letztere Bedingung kann offenbar er mit der politischen Freiheit in Rußland geschaffen werden, die erstere aber - die Heranbildung einer klassenbewußten, urteilsfähigen Vorhut des Proletariats - ist eben erst im Werden begriffen und muß als der leitende Zweck der nächsten agitatorischen wie auch organisatorischen Arbeit betrachtet werden. "
Luxemburg kritisiert mechanische Auffassung Lenins an Dagegen setzt sie gleich Lukacs gerade die Überwindung der Fabrik- und Kasernendisziplin als bewußte freie Tat zur Organisierung.
" Um so überraschender wirkt die umgekehrte Zuversicht Lenins, der zufolge alle Vorbedingungen zur Durchführung einer großen und äußerst zentralisierten Arbeiterpartei in Rußland bereits vorhanden sind. [7] Und es verrät wiederum eine viel zu mechanische Auffassung von der sozialdemokratischen Organisation, wenn er optimistisch ausruft, daß jetzt schon "nicht dem Proletariat, sondern manchen Akademikern in der russischen Sozialdemokratie die Selbsterziehung im Sinne der Organisation und der Disziplin not tue" (S.145) [8], wenn er die erzieherische Bedeutung der Fabrik für das Proletariat rühmt, die es von Hause aus für "Disziplin und Organisation" reif mache (S.147). [9] Die "Disziplin", die Lenin meint, wird dem Proletariat keineswegs bloß durch die Fabrik, sondern auch durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus, kurz, durch den Gesamtmechanismus des zentralisierten bürgerlichen Staates eingeprägt. "
" Nicht durch die Anknüpfung an die ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin - mit der bloßen Übertragung des Taktstocks aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemokratischen Zentralkomitees - sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen Disziplingeistes kann der Proletarier erst für die neue Disziplin - die freiwillige Selbstdisziplin der Sozialdemokratie - erzogen werden. "
Luxemburg betont in folge die große Rolle der spontanen Massen und hebt dagegen den konservativen Charakter der zentralen Leitung hervor. Sie sieht in den spontanen Aktionen das objektiv treibende Moment gegen eine subjektiv gebaute zentrale Parteitaktik.
" Es erhellt weiter aus derselben Reflexion, daß der Zentralismus im sozialdemokratischen Sinne überhaupt nicht ein absoluter Begriff ist, der sich auf jeder Stufenleiter der Arbeiterbewegung in gleichem Maße durchführen läßt, sondern daß er vielmehr als Tendenz aufgefaßt werden muß, deren Verwirklichung gleichmäßig mit der Aufklärung und der politischen Schulung der Arbeitermasse im Prozeß ihres Kampfes fortschreitet. "
 
[Als Prozeß gefaßt in Tendenz]
" Doch ist es unseres Erachtens verkehrt, zu denken, daß sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation vorläufig "durch eine übertragene" Alleinherrschaft der Zentralgewalt der Partei ersetzen lasse und daß die fehlende öffentliche Kontrolle der Arbeitermassen über das Tun und Lassen der Parteiorgane ebensogut durch die umgekehrte Kontrolle der Tätigkeit der revolutionären Arbeiterschaft durch ein Zentralkomitee ersetzt wäre. "
" Ihre wichtigsten und fruchtbarsten taktischen Wendungen des letzten Jahrzehntes sind nicht etwa von bestimmten Leitern der Bewegung, geschweige von leitenden Organisationen "erfunden" worden, sondern sie waren jedesmal das spontane Produkt der entfesselten Bewegung selbst. So die erste Etappe der eigentlichen proletarischen Bewegung in Rußland, die mit dem elementaren Ausbruch des Petersburger Riesenstreiks im Jahre 1896 [10] einsetzte und die zuerst die ökonomische Massenaktion des russischen Proletariats inauguriert hatte. Desgleichen war die zweite Phase - die der politischen Straßendemonstrationen - ganz spontan durch die Petersburger Studentenunruhen im März 1901 [11] eröffnet.
...
Die Initiative und die bewußte Leitung der sozialdemokratischen Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle. Es lag dies jedoch nicht sowohl an der mangelhaften Vorbereitung dieser speziellen Organisationen für ihre Rolle - wenn dieses Moment in beträchtlichem Maße auch mitgewirkt haben mag - und erst recht nicht am Fehlen dazumal in der russischen Sozialdemokratie einer allmächtigen Zentralgewalt nach dem bei Lenin entwickelten Plane.
...
Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht "erfunden", sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konservativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen auszuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren. "
 
[Treibende Rolle der Spontanität der Massen entgegen der zentralen Leitung]
Wie bei Lukacs sucht sie die Kritik am Zusammenhang von tagespolitischer Taktik und Organisationsziel.
" Das bedeutet aber nur, daß unsere Partei sich in ihrem Tageskampf wunderbar an den gegenwärtigen parlamentarischen Boden bis ins kleinste Detail angepaßt hat, daß sie das gesamte vom Parlamentarismus gebotene Kampfesterrain auszubeuten und den Grundsätzen entsprechend zu beherrschen versteht. Zugleich aber verdeckt bereits diese spezifische Gestaltungder Taktik so sehr die weiteren Horizonte, daß in hohem Maße die Neigung zur Verewigung und zur Betrachtung der parlamentarischen Taktik als der Taktik des sozialdemokratischen Kampfes schlechthin hervortritt. "
 
[Anpassung der Partei an den parlamentarischen Tageskampf]
Luxemburg betont das Moment der Gesamtbewegung gegenüber der Leitung, welche beim Überzentralismus seine konservative Rolle noch mächtiger ausüben kann. Nur die breite Beteiligung der Massen sichert auch die notwendige Dynamik der Taktik der Partei gemessen an der Dynamik einer revolutionären Situation.

{ Hier sieht man (1904!) geradezu schon die Stalinsche Kaderpartei vor sich, welcher das Korrektiv der Beteiligten und agierenden Parteimitglieder verlohrengegangen ist, zugunsten einer Führer-Gefolgschaft Struktur. (d.V.)}

" Es hieße aber den aus ihrem Wesen notwendigerweise entspringenden Konservatismus jeder Parteileitung gerade künstlich in gefährlichstem Maße potenzieren, wenn man sie mit so absoluten Machtbefugnissen negativen Charakters ausstatten wollte, wie es Lenin tut. Wird die sozialdemokratische Taktik nicht von einem Zentralkomitee, sondern von der Gesamtpartei, noch richtiger, von der Gesamtbewegung geschaffen, so ist für einzelne Organisationen der Partei offenbar diejenige Ellenbogenfreiheit nötig, die allein die völlige Ausnutzung aller von der jeweiligen Situation gebotenen Mittel zur Potenzierung des Kampfes sowie die Entfaltung der revolutionären Initiative ermöglicht. Der von Lenin befürwortete Ultrazentralismus scheint uns aber in seinem ganzen Wesen nicht vom positiven schöpferischen, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten. "
" Diese Fassüng hängt naturgemäß in letzter Instanz von den konkreten Umständen ab, unter denen sich die Tätigkeit in der gegebenen Periode vollzieht, und kann - da es sich in Rußland doch um den ersten Versuch einer großen proletarischen Parteiorganisation handelt - kaum im voraus auf Unfehlbarkeit Anspruch erheben, muß vielmehr auf jeden Fall erst die Feuerprobe des praktischen Lebens bestehen. Was sich aber aus der allgemeinen Auffassung des sozialdemokratischen Organisationstypus ableiten läßt, das sind die großen Grundzüge, das ist der Geist der Organisation, und dieser bedingt, namentlich in den Anfängen der Massenbewegung, hauptsächlich den koordinierenden, zusammenfassenden und nicht den reglementierenden und exklusiven Charakter des sozialdemokratischen Zentralismus. "

II

" Wir haben bis jetzt die Frage des Zentralismus vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen der Sozialdemokratie sowie zum Teil der heutigen Verhältnisse in Rußland betrachtet. Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum - Opportunismus.

"Es handelt sich darum", meint Lenin (5. 52), "vermittels der Paragraphen des Organisationsstatuts eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer die Quellen des Opportunismus liegen, um so schärfer muß diese Waffe sein." [13] "
 
[Zentralismus als Reaktion auf Opportunismus]
" Lenin erblickt auch in der absoluten Gewalt des Zentralkomitees und in der strengen statutarischen Umzäunung der Partei eben den wirksamen Damm gegen die opportunistische Strömung, als deren spezifische Merkmale er die angeborene Vorliebe des Akademikers für Autonomismus, für Desorganisation und seinen Abscheu vor strenger Parteidisziplin, vor jedem „Bürokratismus“ im Parteileben bezeichnet. Nur der sozialistische "Literat", kraft der ihm angeborenen Zerfahrenheit und des Individualismus, kann sich nach Lenins Meinung gegen so unbeschränkte Machtbefugnisse des Zentralkomitees sträuben, ein echter Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben Operationen der "Parteidisziplin" mit freudig geschlossenen Augen. "
" Vor allem muß bemerkt werden, daß in der starken Herausstreichung der angeborenen Fähigkeiten der Proletarier zur sozialdemokratischen Organisation und in der Verdächtigung der "akademischen" Elemente der sozialdemokratischen Bewegung an sich noch nichts "Marxistisch-Revolutionäres" liegt, vielmehr darin ebensoleicht die Verwandtschaft mit opportunistischen Ansichten nachgewiesen werden kann. Der Antagonismus zwischen dem rein proletarischen Element und der nichtproletarischen sozialistischen Intelligenz - das ist ja der gemeinsame ideologische Schild, unter dem sich der französische halbanarchistische Nurgewerkschaftler mit seinem alten Rufe: Méfiez-vous de politiciens!, das Mißtrauen des englischen Trade-Unionismus gegen die sozialistischen "Phantasten" und endlich - wenn wir richtig orientiert sind - auch der reine "Ökonomismus" der ehemaligen Petersburger Rabotschaja Mysl (Arbeitergedanke) mit ihrer Übertragung der trade- unionistischen Borniertbeit nach dem absolutistischen Rußland die Hand reichen. "

{ Hierzu sollten auch die GIK mit 'Intelligenz und Klassenkampf' aus den 'Ergänzugsheften' gegengelesen werden. (d.V.)}

 
[Intelligenz und Klassenkampf]
Aber:
" Allerdings läßt sich in der bisherigen Praxis der westeuropäischen Sozialdemokratie ein unleugbarer Zusammenhang zwischen Opportunismus und akademischem Element sowie andererseits zwischen Opportunismus und Dezentralisationstendenzen in den Organisationsfragen bemerken. Löst man aber diese Erscheinungen, die auf einem konkreten historischen Boden entstanden sind, von diesem Zusammenhang los, um sie zu abstrakten Schablonen von allgemeiner und absoluter Gültigkeit zu stempeln, so ist ein solches Verfahren die größte Sünde wider den "Heiligen Geist" des Marxismus, nämlich gegen seine historisch-dialektische Denkmethode. "
Der Akademiker kann über den Weg der Ideologie zum Sozialismus gelangen.

{ Die Frage ist für heute zb aber auch, inwieweit der Akademiker nicht selbst schon sozio-ökonomisch einfach Wissenschaftsarbeiter oder hoch qualifizierter Facharbeiter geworden ist und so auch die geistige Verbundenheit mit der Bürgerlichkeit objektiv beschränkt ist. Das ist die eine Seite. (d.V.)}

" Abstrakt genommen, läßt sich nur soviel feststellen, daß der "Akademiker", als ein seiner Herkunft nach dem Proletariat fremdes, von der Bourgeoisie abstammendes Element, nicht im Einklang mit dem eigenen Klassenempfinden, sondern nur durch dessen Überwindung, auf dem Wege der Ideologie zum Sozialismus gelangen kann und deshalb eher zu opportunistischen Seitensprüngen prädisponiert ist als der aufgeklärte Proletarier, dem - wofern er den lebendigen Zusammenhang mit seinem sozialen Mutterboden, mit der proletarischen Masse, nicht verloren hat - sein unmittelbarer Klasseninstinkt einen sicheren revolutionären Halt gibt. In welcher konkreten Form jedoch diese Veranlagung des Akademikers zum Opportunismus erscheint, welche handgreiflichste Gestalt namentlich von Organisationstendenzen sie annimmt, das hängt jedesmal von dem konkreten sozialen Milieu der Gesellschaft ab, um die es sich handelt "
 
[Intelligenz als dem Proletariat fremdes ELement]
" Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennengelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet derselbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letztere zum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unterschlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht. "
 
[Parlamentarismus als praktischer Illusionsmaschine und Arbeitsplatz der Intellligenz]

{ Die andere Seite ist: Dieser Punkt hat heute eine gewaltiges Ausmaß. Da über NGO wie attac bis hin zu den Universitäten ein ganzes auch ökonomisches Netzwerk von Förderungtöpfen und Stellen wie ein riesiger Schwamm das Potentien "sozialistischer Intelligenz" in Lohn und Brot bringen assimiliert. (d.V.)}

" Die zweite bestimmte Voraussetzung der gegenwärtigen opportunistischen Strömung ist nämlich das Vorhandensein einer bereits hohen Entwicklungsstufe der sozialdemokratischen Bewegung, also auch einer einflußreichen sozialdemokratischen Parteiorganisation. Die letztere erscheint nun als derjenige Schutzwall der revolutionären Klassenbewegung gegen bürgerlich-parlamentarische Tendenzen, den es zu zerbröckeln, auseinanderzutragen gilt, um den kompakten aktiven Kern des Proletariats wieder in der amorphen Wählermasse aufzulösen. So entstehen die historisch wohlbegründeten und bestimmten politischen Zwecken vortrefflich angepaßten "autonomistischen" und dezentralistischen Tendenzen des modernen Opportunismus, die somit nicht aus der angeborenen Liederlichkeit und Waschlappigkeit des "Intellektuellen", wie Lenin annimmt, sondern aus den Bedürfnissen des bürgerlichen Parlamentariers, nicht aus der Psychologie des Akademikers, sondern aus der Politik des Opportunisten zu erklären sind. "

{ Das liest sich, als würde sie auf die heutigen Akteure SPD und PDS blicken. (d.V.)}

 
[Starke Sozialdemokratie als Bollwerk gegen die Revolution]
" Die russische Intelligenz, aus der sich der sozialistische Akademiker rekrutiert, hat begreiflicherweise einen viel unbestimmteren Klassencharakter, ist viel mehr deklassiert im genauen Sinne des Wortes als die westeuropäische Intelligenz. Daraus ergibt sich zwar – im Verein mit der Jugendlichkeit der proletarischen Bewegung in Rußland – im allgemeinen ein viel weiterer Spielraum für theoretische Haltlosigkeit und opportunistisches Herumvagieren, das sich bald in einer gänzlichen Negierung der politischen Seite der Arbeiterbewegung, bald in dem entgegengesetzten Glauben an den alleinseligmachenden Terror verläuft, um schließlich auf den Morästen des Liberalismus politisch oder des kantischen Idealismus „philosophisch“ auszuruhen.

Allein für die spezifische aktive Tendenz zur Desorganisation fehlt dem russischen sozialdemokratischen Akademiker unseres Erachtens nicht nur der positive Anhaltspunkt im bürgerlichen Parlamentarismus, sondern auch das entsprechende sozialpsychische Milieu. Der moderne westeuropäische Literat, der sich dem Kultus seines angeblichen „Ich“ widmet und diese „Herrenmenschenmoral“ auch in die sozialistische Kampf- und Gedankenwelt verschleppt, ist der Typus nicht der bürgerlichen Intelligenz überhaupt, sondern einer bestimmten Phase ihrer Existenz, nämlich er ist das Produkt einer dekadenten, verfaulten, im schlimmen Zirkel ihrer Klassenherrschaft bereits festgerannten Bourgeoisie. Die utopischen und opportunistischen Schrullen des russischen sozialistischen Akademikers neigen hingegen in erklärlicher Weise eher dazu, die umgekehrte theoretische Gestalt der Selbstentäußerung, der Selbstgeißelung anzunehmen. War doch das einstige „Ins-Volk- Gehen“, das heißt der obligatorische Mummenschanz des Akademikers als Bauer, bei den alten „Volkstümlern“ gerade eine verzweifelte Erfindung desselben Akademikers, ebenso wie neuerdings der grobe Kultus der „schwieligen Faust“ bei den Anhängern des reinen „Ökonomismus“. "
" Dem Opportunismus zuschreiben, wie Lenin dies tut, daß er überhaupt für irgendeine bestimmte Form der Organisation – sagen wir für Dezentralisation – schwärmt, heißt jedenfalls seine innere Natur verkennen. Opportunistisch wie er ist, hat der Opportunismus auch in Organisationsfragen zum einzigen Prinzip die Prinzipienlosigkeit. Seine Mittel wählt er immer nach den Umständen, insofern sie seinen Zwecken entsprechen. "
 
[Das Prinzip der Prinzipenlosigkeit]
" Im allgemeinen kann unter Verhältnissen, wo die Arbeitermasse in ihrem revolutionären Teile noch locker, die Bewegung selbst schwankend, kurz, wo die Verhältnisse ähnlich den gegenwärtigen in Rußland sind, als die adäquate organisatorische Tendenz des opportunistischen Akademikers gerade der straffe, despotische Zentralismus leicht nachgewiesen werden. Genauso wie in einem späteren Stadium – im parlamentarischen Milieu und gegenüber einer starken, festgefügten Arbeiterpartei – im Gegenteil die Dezentralisation zur entsprechenden Tendenz des opportunistischen Akademikers wird. "
Solcher Zentralismus hingegen stärk die Verbürgerlichung der Bewegung in ein starres Leitungskomitee-Masse System. Er erreicht genau das Gegenteil von dem, was er will. Anstatt die Arbeiter zu eigener Initiative und Bewegung zu entwickeln, bereitet er mit der Knebelung der Arbeiter in ihrer eigenen Organisationsform die Herrschaft der Bürgerlichen in dieser vor und gibt damit dem zu bekämpfenden Opportunismus gerade das Heft in die Hand.
" Tatsächlich liefen nichts eine noch junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus [3*], der die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines „Komitees“ herabwürdigt. Und nichts bewahrt umgekehrt die Arbeiterbewegung so sicher vor allen opportunistischen Mißbräuchen seitens einer ehrgeizigen Intelligenz wie die revolutionäre Selbstbetätigung der Arbeiterschaft, wie die Potenzierung ihres politischen Verantwortlichkeitsgefühle.

Und zwar kann das, was Lenin heute als Gespenst sieht, sehr leicht morgen zur greifbaren Wirklichkeit werden. "

{ Als hätte Luxemburg den bürokratischen Parteiapparat mit seinem Vertreter Stalin schon vorausgesehen. (d.V.)}

" Ist heute die Sozialdemokratie die einzige Führerin der russischen Arbeitermasse, so wird am Morgen nach der Revolution das Bürgertum und in erster Reihe seine Intelligenz naturgemäß die Masse zum Piedestal seiner parlamentarischen Herrschaft formen wollen. Je weniger nun in der gegenwärtigen Kampfperiode die Selbstbetätigung, die freie Initiative, der politische Sinn der auf gewecktesten Schicht der Arbeiterschaft entfesselt, je mehr sie durch ein sozialdemokratisches Zentralkomitee politisch geleithammelt und gedrillt wird, um so leichter wird das Spiel der bürgerlichen Demagogen in dem renovierten Rußland sein, um so mehr wird die Ernte der heutigen Mühen der Sozialdemokratie morgen in die Scheunen der Bourgeoisie wandern. "
Auch betont sie Wann ist also der Zentralismus zwecknmäßig?
" Es kommt nur darauf an, daß sie die Gegenwartsschmerzen dieser bunten Schar von Mitläufern nachhaltig den Endzielen der Arbeiterklasse zu unterordnen, den nichtproletarischen Oppositionsgeist der revolutionären proletarischen Aktion einzugliedern, mit einem Worte, die ihr zufließenden Elemente sich zu assimilieren, sie zu verdauen versteht. Letzteres ist aber nur möglich, wo, wie bis jetzt in Deutschland, bereits kräftige, geschulte proletarische Kerntruppen in der Sozialdemokratie den Ton angeben und klar genug sind, die deklassierten und kleinbürgerlichen Mitläufer ins revolutionäre Schlepptau zu nehmen. In diesem Falle ist auch eine strengere Durchführung des zentralistischen Gedankens im .Organisationsstatut und die straffere Paragraphierung der Parteidisziplin als ein Damm gegen die opportunistische Strömung sehr zweckmäßig. "
" Doch ist der Zufluß bürgerlicher Elemente, wie gesagt, durchaus nicht die einzige Quelle der opportunistischen Strömung in der Sozialdemokratie. Die andere Quelle liegt vielmehr im Wesen des sozialdemokratischen Kampfes selbst, in seinen inneren Widersprüchen. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist ein Prozeß, dessen Besonderheit darin liegt, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, ihn aber ins Jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber andererseits nur im alltäglichen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, also nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß. [Herv. v. P.H.] "
" Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor opportunistischen Seitensprüngen ein für allemal bewahrt werden.
...
Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erscheint der Opportunismus auch als ein Produkt der Arbeiterbewegung selbst, als ein unvermeidliches Moment ihrer geschichtlichen Entwicklung.
...
Das Mittel wendet sich gegen den Zweck. "
" In diesem ängstlichen Bestreben eines Teiles der russischen Sozialdemokraten, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat. "
" Endlich erscheint auf der Bildfläche als ein noch legitimeres Kind des Geschichtsprozesses – die russische Arbeiterbewegung, die den schönsten Anlauf nimmt, zum erstenmal in der russischen Geschichte nun wirklich einmal einen Volkswillen zu schaffen. Jetzt aber stellt sich das „Ich“ des russischen Revolutionärs schleunigst auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte – diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt diese Rolle des Lenken zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees. "
 
[Die Dialektik zwischen Tagekampf und Endziel]

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last update : Wed Jun 16 17:23:12 CEST 2004 Heilbronn
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