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Team | Peter Heilbronn | ||||
Thema | Zu Luxemburgs Organisationsfrage 1904 ( excerpt ) | ||||
Original |
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Verweis | [ lokales Original ] | ||||
Home | www.mxks.de |
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Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet,
ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel-
und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen
Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche
politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der
hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten
Organisationsformen die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die
Selbstherrlichkeit der Lokalorganisationen war, so wurde naturgemäß die Losung
der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes:
Zentralismus. Die Betonung des zentralistischen Gedankens war das
Leitmotiv der Iskra in ihrer dreijährigen glänzenden Kampagne zur Vorbereitung
des letzten, tatsächlich konstituierenden Parteitags,...
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Das uns vorliegende Buch des Genossen Lenin, eines der hervorragenden
Leiter und Streiter der Iskra in ihrer vorbereitenden Kampagne vor dem
russischen Parteitag [2*], ist die systematische Darstellung der Ansichten der
ultrazentralistischen Richtung der russischen Partei. Die Auffassung, die
hier in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist
die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die
scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der
ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch
unorganisierten, aber revolutionär- aktiven Milieu, andererseits die straffe
Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der
Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei. [3]
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| [Ultrazentralismus als Reaktion auf Zersplitterung] |
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Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Sozialdemokratie im allgemeinen ein
starker zentralistischer Zug innewohnt. Erwachsen aus dem wirtschaftlichen Boden
des seinen Tendenzen nach zentralistischen Kapitalismus und angewiesen in ihrem
Kampfe auf den politischen Rahmen des zentralisierten bürgerlichen Großstaats,
ist die Sozialdemokratie von Hause aus eine ausgesprochene Gegnerin jedes
Partikularismus und nationalen Föderalismus. Berufen dazu, allen partiellen und
Gruppeninteressen des Proletariats gegenüber im Rahmen eines gegebenen Staates
die Gesamtinteressen des Proletariats als Klasse zu vertreten, hat sie überall
die natürliche Bestrebung, alle nationalen, religiösen, beruflichen Gruppen der
Arbeiterklasse zur einheitlichen Gesamtpartei zusammenzuschweißen, wovon sie nur
in exklusiven, abnormen Verhältnissen, wie zum Beispiel in Österreich,
notgedrungen eine Ausnahme zugunsten des föderalistischen Prinzips macht.
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Vom Standpunkt der formalen Aufgaben der Sozialdemokratie als einer Kampfpartei
erscheint der Zentralismus in ihrer Organisation von vornherein als eine
Bedingung, von deren Erfüllung die Kampffähigkeit und die Tatkraft der Partei in
direktem Verhältnis abhängen. Allein viel wichtiger als die Gesichtspunkte der
formalen Erfordernisse jeder Kampforganisation sind hier die spezifischen
historischen Bedingungen des proletarischen Kampfes.
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Zentralismus auch nach ihr notwendig für
| [Objektive Ursachen des Zentralismus] |
{ Das ist eine gute Frage, wie sich diese Zentralität zur spontanen und unorganisierten Masse verhält. (d.V.)}
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In der Organisation und dem Klassenbewußtsein des Proletariats im Gegensatz zur
Verschwörung einer kleinen Minderheit erblickt Lenin die erschöpfenden
Unterschiedsmomente zwischen der Sozialdemokratie und dem Blanquismus. Er
vergißt, daß damit auch eine völlige Umwertung der Organisationsbegriffe, ein
ganz neuer Inhalt für den Begriff des Zentralismus, eine ganz neue Auffassung
von dem wechselseitigen Verhältnis der Organisation und des Kampfes gegeben ist.
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Blanquismus hingegen als die Revolution im Handstreich vorbereitende Minderheit,
brauch keine Massenpartei.
| [Im Unterschied zum Blanquismus] |
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Zugleich waren auch die Taktik und die näheren Aufgaben der Tätigkeit, da diese
ohne Zusammenhang mit dem Boden des elementaren Klassenkampf es, aus freien
Stücken, aus dem Handgelenk improvisiert wurde, im voraus bis ins Detail
ausgearbeitet, als bestimmter Plan fixiert und vorgeschrieben. Deshalb
verwandelten sich die tätigen Mitglieder der Organisation naturgemäß in reine
Ausführungsorgane eines außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsfeldes im voraus
bestimmten Willens, in Werkzeuge eines Zentralkomitees. Damit war auch
das zweite Moment des verschwörerischen Zentralismus gegeben: die absolute,
blinde Unterordnung der Einzelorgane der Partei unter ihre Zentralbehörde und
die Erweiterung der entscheidenden Machtbefugnisse dieser letzteren bis an die
äußerste Peripherie der Parteiorganisation.
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| [Werkzeuge des Zentralkomitees] |
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Grundverschieden sind die Bedingungen der sozialdemokratischen Aktion. Diese
wächst historisch aus dem elementaren Klassenkampf heraus. Sie bewegt sich dabei
in dem dialektischen Widerspruch, daß hier die proletarische Armee sich erst im
Kampfe selbst rekrutiert und erst im Kampfe auch über die Aufgaben des Kampfes
klar wird. Organisation, Aufklärung und Kampf sind hier nicht getrennte,
mechanisch und auch zeitlich gesonderte Momente, wie bei einer blanquistischen
Bewegung, sondern sie sind nur verschiedene Seiten desselben Prozesses.
Einerseits gibt es - abgesehen von allgemeinen Grundsätzen des Kampfes - keine
fertige, im voraus festgesetzte detaillierte Kampftaktik, in die die
sozialdemokratische Mitgliedschaft von einem Zentralkomitee eingedrillt werden
könnte. Andererseits bedingt der die Organisation schaffende Prozeß des Kampfes
ein beständiges Fluktuieren der Einflußsphäre der Sozialdemokratie.
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Wie Lukacs betont auch Luxemburg die dialektische Bewegung zwischen Organisation
und Masse und die Organisation selbst als teil des Prozesses.
| [Hingegen die sozialdemokratische Organisationsform] |
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Daraus ergibt sich schon, daß die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf
blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer
unter ihre Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits
in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der
vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung
befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet
werden kann. Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf
diesen zwei Grundsätzen
- auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kernes der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird - erscheint uns deshalb als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. " { Diese Frage wird sich ständig neu stellen als praktische Frage. Man kann sich zwar hierzu die verschiedenen historischen Beispiele aneignen und einen Standpunkt entwickeln, aber ausser dem Beharren auf dem Standpunkt der Dialektik bleibt nicht viel theoretisch übrig. Dies ist eine nur historisch praktisch zu lösende Aufgabe, der die Theorie als Rahmen mitgibt, worauf zu achten ist und die historischen Beispiele die Möglichkeiten aufzeigen. (d.V.)} | [Luxemburgs Kritik an Lenins Zentralismus] |
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Es erhellt weiter aus derselben Reflexion, daß der Zentralismus im
sozialdemokratischen Sinne überhaupt nicht ein absoluter Begriff ist, der sich
auf jeder Stufenleiter der Arbeiterbewegung in gleichem Maße durchführen läßt,
sondern daß er vielmehr als Tendenz aufgefaßt werden muß, deren
Verwirklichung gleichmäßig mit der Aufklärung und der politischen Schulung der
Arbeitermasse im Prozeß ihres Kampfes fortschreitet.
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| [Als Prozeß gefaßt in Tendenz] |
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Ihre wichtigsten und fruchtbarsten taktischen Wendungen des letzten Jahrzehntes
sind nicht etwa von bestimmten Leitern der Bewegung, geschweige von leitenden
Organisationen "erfunden" worden, sondern sie waren jedesmal das spontane
Produkt der entfesselten Bewegung selbst. So die erste Etappe der eigentlichen
proletarischen Bewegung in Rußland, die mit dem elementaren Ausbruch des
Petersburger Riesenstreiks im Jahre 1896 [10] einsetzte und die zuerst die
ökonomische Massenaktion des russischen Proletariats inauguriert hatte.
Desgleichen war die zweite Phase - die der politischen Straßendemonstrationen -
ganz spontan durch die Petersburger Studentenunruhen im März 1901 [11] eröffnet.
... Die Initiative und die bewußte Leitung der sozialdemokratischen Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle. Es lag dies jedoch nicht sowohl an der mangelhaften Vorbereitung dieser speziellen Organisationen für ihre Rolle - wenn dieses Moment in beträchtlichem Maße auch mitgewirkt haben mag - und erst recht nicht am Fehlen dazumal in der russischen Sozialdemokratie einer allmächtigen Zentralgewalt nach dem bei Lenin entwickelten Plane. ... Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht "erfunden", sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konservativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen auszuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren. " | [Treibende Rolle der Spontanität der Massen entgegen der zentralen Leitung] |
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Das bedeutet aber nur, daß unsere Partei sich in ihrem Tageskampf wunderbar an
den gegenwärtigen parlamentarischen Boden bis ins kleinste Detail angepaßt hat,
daß sie das gesamte vom Parlamentarismus gebotene Kampfesterrain auszubeuten und
den Grundsätzen entsprechend zu beherrschen versteht. Zugleich aber verdeckt
bereits diese spezifische Gestaltungder Taktik so sehr die weiteren
Horizonte, daß in hohem Maße die Neigung zur Verewigung und zur Betrachtung der
parlamentarischen Taktik als der Taktik des sozialdemokratischen Kampfes
schlechthin hervortritt.
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| [Anpassung der Partei an den parlamentarischen Tageskampf] |
{ Hier sieht man (1904!) geradezu schon die Stalinsche Kaderpartei vor sich, welcher das Korrektiv der Beteiligten und agierenden Parteimitglieder verlohrengegangen ist, zugunsten einer Führer-Gefolgschaft Struktur. (d.V.)}
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Wir haben bis jetzt die Frage des Zentralismus vom Standpunkt der allgemeinen
Grundlagen der Sozialdemokratie sowie zum Teil der heutigen Verhältnisse in
Rußland betrachtet. Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden
befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt
von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste
Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum -
Opportunismus.
"Es handelt sich darum", meint Lenin (5. 52), "vermittels der Paragraphen des Organisationsstatuts eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer die Quellen des Opportunismus liegen, um so schärfer muß diese Waffe sein." [13] " | [Zentralismus als Reaktion auf Opportunismus] |
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Lenin erblickt auch in der absoluten Gewalt des Zentralkomitees und in der
strengen statutarischen Umzäunung der Partei eben den wirksamen Damm gegen die
opportunistische Strömung, als deren spezifische Merkmale er die angeborene
Vorliebe des Akademikers für Autonomismus, für Desorganisation und seinen
Abscheu vor strenger Parteidisziplin, vor jedem Bürokratismus im Parteileben
bezeichnet. Nur der sozialistische "Literat", kraft der ihm angeborenen
Zerfahrenheit und des Individualismus, kann sich nach Lenins Meinung gegen so
unbeschränkte Machtbefugnisse des Zentralkomitees sträuben, ein echter
Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes
ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit
seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben
Operationen der "Parteidisziplin" mit freudig geschlossenen Augen.
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Vor allem muß bemerkt werden, daß in der starken Herausstreichung der
angeborenen Fähigkeiten der Proletarier zur sozialdemokratischen Organisation
und in der Verdächtigung der "akademischen" Elemente der sozialdemokratischen
Bewegung an sich noch nichts "Marxistisch-Revolutionäres" liegt, vielmehr darin
ebensoleicht die Verwandtschaft mit opportunistischen Ansichten nachgewiesen
werden kann. Der Antagonismus zwischen dem rein proletarischen Element und der
nichtproletarischen sozialistischen Intelligenz - das ist ja der gemeinsame
ideologische Schild, unter dem sich der französische halbanarchistische
Nurgewerkschaftler mit seinem alten Rufe: Méfiez-vous de politiciens!, das
Mißtrauen des englischen Trade-Unionismus gegen die sozialistischen "Phantasten"
und endlich - wenn wir richtig orientiert sind - auch der reine "Ökonomismus"
der ehemaligen Petersburger Rabotschaja Mysl (Arbeitergedanke) mit ihrer
Übertragung der trade- unionistischen Borniertbeit nach dem absolutistischen
Rußland die Hand reichen.
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{ Hierzu sollten auch die GIK mit 'Intelligenz und Klassenkampf' aus den 'Ergänzugsheften' gegengelesen werden. (d.V.)} | [Intelligenz und Klassenkampf] |
{ Die Frage ist für heute zb aber auch, inwieweit der Akademiker nicht selbst schon sozio-ökonomisch einfach Wissenschaftsarbeiter oder hoch qualifizierter Facharbeiter geworden ist und so auch die geistige Verbundenheit mit der Bürgerlichkeit objektiv beschränkt ist. Das ist die eine Seite. (d.V.)}
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Abstrakt genommen, läßt sich nur soviel feststellen, daß der "Akademiker", als ein seiner Herkunft nach dem Proletariat fremdes, von der Bourgeoisie abstammendes Element, nicht im Einklang mit dem eigenen Klassenempfinden, sondern nur durch dessen Überwindung, auf dem Wege der Ideologie zum Sozialismus gelangen kann und deshalb eher zu opportunistischen Seitensprüngen prädisponiert ist als der aufgeklärte Proletarier, dem - wofern er den lebendigen Zusammenhang mit seinem sozialen Mutterboden, mit der proletarischen Masse, nicht verloren hat - sein unmittelbarer Klasseninstinkt einen sicheren revolutionären Halt gibt. In welcher konkreten Form jedoch diese Veranlagung des Akademikers zum Opportunismus erscheint, welche handgreiflichste Gestalt namentlich von Organisationstendenzen sie annimmt, das hängt jedesmal von dem konkreten sozialen Milieu der Gesellschaft ab, um die es sich handelt
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| [Intelligenz als dem Proletariat fremdes ELement] |
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Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennengelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet derselbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letztere zum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unterschlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht.
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| [Parlamentarismus als praktischer Illusionsmaschine und Arbeitsplatz der Intellligenz] |
{ Die andere Seite ist: Dieser Punkt hat heute eine gewaltiges Ausmaß. Da über NGO wie attac bis hin zu den Universitäten ein ganzes auch ökonomisches Netzwerk von Förderungtöpfen und Stellen wie ein riesiger Schwamm das Potentien "sozialistischer Intelligenz" in Lohn und Brot bringen assimiliert. (d.V.)}
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Die zweite bestimmte Voraussetzung der gegenwärtigen opportunistischen Strömung ist nämlich das Vorhandensein einer bereits hohen Entwicklungsstufe der sozialdemokratischen Bewegung, also auch einer einflußreichen sozialdemokratischen Parteiorganisation. Die letztere erscheint nun als derjenige Schutzwall der revolutionären Klassenbewegung gegen bürgerlich-parlamentarische Tendenzen, den es zu zerbröckeln, auseinanderzutragen gilt, um den kompakten aktiven Kern des Proletariats wieder in der amorphen Wählermasse aufzulösen. So entstehen die historisch wohlbegründeten und bestimmten politischen Zwecken vortrefflich angepaßten "autonomistischen" und dezentralistischen Tendenzen des modernen Opportunismus, die somit nicht aus der angeborenen Liederlichkeit und Waschlappigkeit des "Intellektuellen", wie Lenin annimmt, sondern aus den Bedürfnissen des bürgerlichen Parlamentariers, nicht aus der Psychologie des Akademikers, sondern aus der Politik des Opportunisten zu erklären sind.
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{ Das liest sich, als würde sie auf die heutigen Akteure SPD und PDS blicken. (d.V.)} | [Starke Sozialdemokratie als Bollwerk gegen die Revolution] |
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Dem Opportunismus zuschreiben, wie Lenin dies tut, daß er überhaupt für irgendeine bestimmte Form der Organisation sagen wir für Dezentralisation schwärmt, heißt jedenfalls seine innere Natur verkennen. Opportunistisch wie er ist, hat der Opportunismus auch in Organisationsfragen zum einzigen Prinzip die Prinzipienlosigkeit. Seine Mittel wählt er immer nach den Umständen, insofern sie seinen Zwecken entsprechen.
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| [Das Prinzip der Prinzipenlosigkeit] |
{ Als hätte Luxemburg den bürokratischen Parteiapparat mit seinem Vertreter Stalin schon vorausgesehen. (d.V.)}
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Doch ist der Zufluß bürgerlicher Elemente, wie gesagt, durchaus nicht die einzige Quelle der opportunistischen Strömung in der Sozialdemokratie. Die andere Quelle liegt vielmehr im Wesen des sozialdemokratischen Kampfes selbst, in seinen inneren Widersprüchen. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist ein Prozeß, dessen Besonderheit darin liegt, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, ihn aber ins Jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber andererseits nur im alltäglichen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, also nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß.
[Herv. v. P.H.]
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Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor opportunistischen Seitensprüngen ein für allemal bewahrt werden.
... Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erscheint der Opportunismus auch als ein Produkt der Arbeiterbewegung selbst, als ein unvermeidliches Moment ihrer geschichtlichen Entwicklung. ... Das Mittel wendet sich gegen den Zweck. "
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In diesem ängstlichen Bestreben eines Teiles der russischen Sozialdemokraten, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat.
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Endlich erscheint auf der Bildfläche als ein noch legitimeres Kind des Geschichtsprozesses die russische Arbeiterbewegung, die den schönsten Anlauf nimmt, zum erstenmal in der russischen Geschichte nun wirklich einmal einen Volkswillen zu schaffen. Jetzt aber stellt sich das Ich des russischen Revolutionärs schleunigst auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt diese Rolle des Lenken zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.
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| [Die Dialektik zwischen Tagekampf und Endziel] |