Bibliothek
|
Team |
Kollektivarbeit der Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) |
Thema |
Intelligenz im Klassenkampf und andere Schriften
( original )
|
Status |
in Arbeit |
Letzte Bearbeitung |
07/2003 |
Home |
www.mxks.de
|
1. DIE ZUSAMMENBRUCHSTHEORIE DES KAPITALISMUS
1.1. MARX UND ROSA LUXEMBURG
1.2. ROSA LUXEMBURG UND OTTO BAUER
1.3. DAS GROSSMANNSCHE REPRODUKTIONSSCHEMA
1.4. GROSSMANN CONTRA MARX
1.5. DER HISTORISCHE MATERIALISMUS
1.6. DIE NEUE ARBEITERBEWEGUNG
2. DIE INTELLIGENZ IM KLASSENKAMPF
3. DAS WERDEN EINER NEUEN ARBEITERBEWEGUNG
3.1. DIE OHNMACHT
3.2. DIE KLASSE 'AN SICH' UND DIE KLASSE 'FUR SICH'
3.3. DER NATIONALSOZIALISMUS
3.4. DER KAMPF PUR DIE DEMOKRATISCHEN RECHTE
3.5. KLASSENKAMPF UND KOMMUNISMUS
3.6. DIE SELBSTBEWEGUNG DER MASSEN
a) Bedeutung der Massenbewegung
b) Die Ausdehnung
c) Die Beherrschung der Klassenkräfte durch die Arbeiterräte
3.7. DIE NEUE ARBEITERBEWEGUNG
3.8. Partei oder Arbeitsgruppe?
3.9. Die Arbeitsgruppen
3.10. Die 'Kinderkrankheiten'
3.11. ZUSAMMENFASSUNG
4. DIE GEGENSÄTZE ZWISCHEN LUXEMBURG UND LENIN
4.1. GEGEN DEN REFORMISMUS
4.2. DIE NATIONALE FRAGE
4.3. DER ZUSAMMENBRUCH DES KAPITALS
4.4. ZUR FRAGE DER SPONTANEITÄT UND DER ROLLE DER ORGANISATION
5. ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS ZU DEN TEXTEN
5.1. DIE ZUSAMMENBRUCHSTHEORIE DES KAPITALISMUS
5.2. DAS WERDEN EINER NEUEN ARBEITERBEWEGUNG
5.3. DIE GEGENSÄTZE ZWISCHEN LUXEMBURG UND LENIN
1. DIE ZUSAMMENBRUCHSTHEORIE DES KAPITALISMUS
In den ersten Jahren nach der russischen Revolution herrschte die Ansicht, daß
der Kapitalismus sich in einer Endkrise, in seiner Todeskrise befinde. Als die
revolutionäre Bewegung der Arbeiter in Westeuropa abflaute, gab die 3.
Internationale diese Theorie auf. Sie wurde
dann aber festgehalten von der Oppositionsbewegung der KAP., die die Anerkennung
der Todeskrise zu einem
Unterscheidungsmerkmal zwischen dem revolutionären und dem reformistischen
Standpunkt machte. Die Frage der
Notwendigkeit und Unabwendbarkeit des
kapitalistischen Zusammenbruchs, und in welcher Weise dieser zu verstehen sei,
ist für die Arbeiterklasse, für ihre Erkenntnis und Taktik, die wichtigste aller
Fragen. Rosa Luxemburg hatte sie schon 1912 in ihrem Buch 'Die Akkumulation des
Kapitals' behandelt, und sie kam dort zu dem Ergebnis, daß in einem
reinen, geschlossenen kapitalistischen System der für Akkumulation dienende
Mehrwert nicht realisiert werden könne, daß daher stetige Ausdehnung des
Kapitalismus durch Handel mit nichtkapitalistischen Ländern nötig sei. Das
bedeutet: Wenn diese Ausbreitung nicht mehr möglich ist, bricht der
Kapitalismus zusammen; er kann als wirtschaftliches System nicht mehr weiter
bestehen. Auf diese Theorie, die sofort nach ihrem Erscheinen von verschiedenen
Seiten bestritten wurde, hat sich die K.A.P. oft berufen. Eine ganz andre
Theorie wurde 1929 von Henryk Großmann entwickelt in seinem Werk
'Das
Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen
Systems' . Darin weist er nach, daß der Kapitalismus rein ökonomisch
zusammenbrechen müsse, indem er, unabhängig von menschlichem Eingreifen,
Revolutionen u. dgl., als ökonomisches System unmöglich weiterbestehen könne.
Die schwere und andauernde Krise, die 1930 einsetzte ,
hat zweifellos die
Geister für eine solche Theorie der Todeskrise empfänglicher gemacht. In dem
kürzlich erschienenen Manifest der 'United Workers of Ametica' wird Großmanns
Theorie zu der theoretischen Basis einer Neuorientierung der Arbeiterbewegung
gemacht. Daher ist es notwendig, sie kritisch
zu untersuchen. Dazu ist es unvermeidlich, zuerst die Fragestellung bei Marx und
die damit verbundenen vorherigen Diskussionen darzulegen.
1.1. MARX UND ROSA LUXEMBURG
Im 2. Teil des 'Kapitals' hat Marx die allgemeinen Bedingungen des
Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion behandelt. In dem abstrakten
Fall der reinen kapitalistischen Produktion findet alle Produktion für den
Markt statt: alle Produkte sind als Waren zu kaufen und zu verkaufen. Der Wert
der Produktionsmittel geht auf das Produkt über, und neuer Wert wird durch die
Arbeit hinzugefügt. Dieser neue Wert zerfällt in zwei Teile: den Wert der
Arbeitskraft, der als Lohn be-
-114-
zahlt und von den Arbeitern zum Kaufen von Lebensmitteln benutzt wird, und den
Rest, den Mehrwert, der dem Kapitalisten zufällt. Wird letzterer für Lebens- und
Genußmittel verwendet, so findet einfache Reproduktion statt; wird ein Teil
akkumuliert zu neuem Kapital, dann hat man eine Reproduktion auf erweiterter
Stufenleiter.
Damit die Kapitalisten die Produktionsmittel, die sie brauchen, auf dem Markt
finden, und sie und die Arbeiter gleichfalls die Lebensmittel, die sie brauchen,
muß ein bestimmtes Verhältnis zwischen allen Produktionsgebieten vorhanden
sein. Ein Mathematiker würde dies leicht in algebraischen Formeln zum Ausdruck
bringen. Marx
hat statt dessen Zahlenbeispiele gegeben, phantasierte Fälle mit dazu gewählten
Zahlen, die als Illustration dienen, um diese Verhältnisse zum Ausdruck zu
bringen. Er unterscheidet zwei Sphären oder Hauptgebiete der Produktion,
diejenige der Produktionsmittel (1) und diejenige der Konsumtionsmittel (II).
In jedem wird ein bestimmter Wert der gebrauchten Produktionsmittel auf das
Produkt ungeändert übertragen (konstantes Kapital, c). Von dem neu hinzugefügten
Wert wird ein bestimmter Teil für die Arbeitskraft bezahlt (variables Kapital,
v), und der andre Teil ist der Mehrwert (m). Setzt man im Zahlenbeispiel, daß
das konstante Kapital 4 mal das variable ist (mit der Entwicklung der Technik,
steigt. diese Zahl) und daß der Mehrwert gleich dem variablen Kapital ist (das
wird bestimmt durch die Ausbeutungsrate), so genügen im Fall der einfachen
Reproduktion die folgenden Zahlen diesen Bedingungen.
14000 c plus 1000 v plus 1000 m = 6000 (Produkt)
112000 c plus 500 v plus 500 m = 3000 (Produkt)
Jede Zeile genügt den Bedingungen. Weil v plus m, die für Konsumtionsmittel
verwendet werden, zusammen die Hälfte sind von c, dem Wert der
Produktionsmittel, muß in der 2. Sphäre halb soviel an Wert produziert werden
wie in der 1. Sphäre. Dann ist das richtige Verhältnis getroffen: die 6ooo
produzierten Produktionsmittel sind gerade nötig, um für die folgende
Umschlagsperiode 4000 c für die erste und 2000 c für die 2. Sphäre zu liefern;
und die 3000 in II produzierten Lebensmittel reichen genau, um 1000 plus 500
für die Arbeiter und 1000 plus 500 für die Kapitalisten bereitzustellen.
Um den Fall der Kapitalakkumulation in ähnlicher Weise zu illustrieren, muß man
angeben, welcher Teil des Mehrwerts der Akkumulation dient; dieser Teil wird im
nächsten Jahr (der Einfachheit wegen nimmt man eine Produktionsperiode von
jedesmal einem Jahre) zum Kapital geschlagen, so daß dann ein größeres Kapital
in jeder Produktionssphäre verwandt wird. Wir nehmen in unserem Beispiel an, daß
die Hälfte des Mehrwerts akkumuliert (also für neues c und v verwandt) und die
andre Hälfte verzehrt wird (Konsum k). Die Berechnung des Verhältnisses von I
zu II wird nun etwas verwickelter, aber es läßt sich natürlich finden. Es stellt
sich heraus, daß bei den gegebenen Annahmen das Verhältnis 11 zu 4 ist, wie
sich in den folgenden Zahlen zeigt.
-115-
I 4400 c plus 1100 v plus 1100 m
(= 550 k plus 550 akk (= 440 c plus 110 v ) ) = 6600
II 1600 c plus 400 V plus 400 m
(= 200 k plus 200 akk (= 160 c plus 40 v ) ) = 2400
Die Kapitalisten brauchen 4400 plus 1600 zur Erneuerung, 440 plus 160 zur
Erweiterung ihrer Produktionsmittel, und sie finden in der Tat 66oo an
Produktionsmitteln auf dem Markt. Die Kapitalisten brauchen
550 plus 200 für ihren Konsum, die alten Arbeiter 1100 plus 400, die neu
eingestellten 110 plus 40 für Lebensmittel; was zusammen den tatsächlich an
Lebensmitteln produzierten 2400 gleich ist. Im nächsten Jahre findet dann alles
auf einer um 10% erweiterten Stufenleiter statt:
I 4840 c plus 1210 V plus 1210 m
(= 605 k plus 484 c plus 121 v) = 7260
II 1760 c plus 440 v plus 440 m
(= 220 k plus 176 c plus 44 v) = 2640
So kann dann, jedes Jahr in derselben Proportion steigend, weiter produziert
werden.
Natürlich bildet dies einen ungeheuer vereinfachten Fall. Man kann es
verwickelter und damit der Wirklichkeit ähnlicher machen, wenn man für die
Gebiete I und II eine verschiedene organische Zusammensetzung (Verhältnis c zu
v) annimmt, oder auch eine verschiedene Akkumulationsrate, oder wenn man das
Verhältnis c zu v allmählich zunehmen läßt, wobei auch das Verhältnis von I zu
II jedes Jahr anders wird. In allen diesen Fällen wird die Rechnung
komplizierter, aber sie läßt sich durchführen; immer kann eine unbekannte Zahl
(das Verhältnis von I zu II) aus der Bedingung berechnet werden, so daß
Nachfrage und Angebot sich decken. Solche Beispiele sind in der Literatur zu
finden. In der Wirklichkeit findet natürlich nie ein völliger Ausgleich in einer
Periode statt; Waren werden für Geld verkauft, und erst nachher wird das Geld
zum Kauf verwendet, wobei eine Schatzbildung als Puffer und Reservoir dient.
Auch bleiben Waren unverkauft liegen; außerdem wird mit nicht kapitalistischen
Gebieten Handel getrieben. Aber das Wesentliche, worauf es ankommt, ist an
diesen Reproduktionsschemata klar zu sehen:
Damit die Produktion, sich erweiternd, ihren stetigen Fortgang nimmt, müssen
bestimmte Verhältnisse zwischen den Produktionsgebieten gegeben sein, und diese
Verhältnisse hängen von folgenden Daten ab: organische Zusammensetzung des
Kapitals, Ausbeutungsrate, akkumulierter Teil des Mehrwerts.
Marx hatte keine Gelegenheit, diese Beispiele alle fein sauber auszuarbeiten
(vgl. Engels? Einleitung zu Bd. II des
'Kapitals') . Das war wohl die Ursache,
daß Rosa Luxemburg glaubte, hier eine Lücke zu finden ? ein Problem, das Marx
nicht gesehen und daher ungelöst gelassen habe und zu dessen Lösung sie die
dann ihr Werk 'Die Akkumulation des Kapitals' (1912) abgefaßt hat. Das Problem
schien offen, wer die Produkte kaufen muß, in denen der Mehrwert enthalten sei.
Wenn die
-116-
Abteilungen I und II sich gegenseitig immer mehr Produktionsmittel und
Lebensmittel verkaufen, so wäre das ein zweckloses Sich-im-Kreis-Drehen, wobei
nichts herauskommt. Die Lösung liege darin, daß außerhalb des Kapitalismus
stehende Käufer auftreten, fremde überseeische Märkte, deren Eroberung daher
eine Lebensfrage für den Kapitalismus sei. Dies sei die wirtschaftliche
Grundlage des Imperialismus.
Nach dem Obenstehenden ist wohl klar, daß Rosa Luxemburg sich hier geirrt hat.
An dem Schema als Beispiel ist unzweideutig die Tatsache zu erkennen, daß alle
Produkte innerhalb des Kapitalismus selbst verkauft werden könnten. Nicht nur
die übertragenen Wertteile 4400 plus 1600, sondern auch die 440 plus 160, in
denen der akkumulierte Mehrwert enthalten ist, werden als körperliche
Produktionsmittel von den Kapitalisten gekauft, die im nächsten Jahr nun mit im
ganzen 6600 an Produktionsmitteln anfangen wollen. Und ähnlich werden die 110
plus 40 aus dem Mehrwert tatsächlich von den hinzukommenden Arbeitern gekauft.
Zwecklos ist auch nichts daran: produzieren, einander verkaufen, konsumieren,
akkumulieren, mehr produzieren ist der ganze Inhalt des Kapitalismus, also der
Zweck des Lebens der Menschen in dieser Produktionsweise. Ein ungelöstes
Problem, das Marx nicht gesehen haben sollte, ist hier nicht vorhanden.
1.2. ROSA LUXEMBURG UND OTTO BAUER
Bald nach dem Erscheinen des Buches von Rosa Luxemburg ist daher von
verschiedener Seite Kritik gekommen. So hat auch in einem Artikel in der 'Neuen
Zeit' (7. - 14. März 1913) Otto Bauer eine Kritik verfaßt. Natürlich wird darin,
wie bei jeder anderen Kritik, gezeigt, daß Produktion und Abnahme zueinander
stimmen können. Aber hier hat die Kritik die besondre Form, daß die
Akkumulation mit dem Bevölkerungswachstum in Zusammenhang gebracht wird. Otto
Bauer setzt zuerst eine sozialistische Gesellschaft voraus, wo die Bevölkerung
jährlich um 5% wächst; daher muß auch die Produktion von Lebensmitteln in
demselben Verhältnis wachsen, wobei, durch den Fortschritt der Technik, die
Produktionsmittel stärker zunehmen müssen. Ähnlich muß im Kapitalismus, aber
hier nicht durch planmäßige Regelung, sondern durch Akkumulation von Kapital,
diese Erweiterung stattfinden. Deshalb wird als Zahlenbeispiel ein Schema
aufgestellt, das diesen Bedingungen in einfachster Weise genügt: eine jährliche
Zunahme des variablen Kapitals um 5%, des konstanten Kapitals um 10% und eine
Ausbeutungsrate von 100% (m = v). Durch diese Bedingungen ist dann zugleich
festgelegt, welcher Teil des Mehrwerts akkumuliert wird, um gerade die
angenommene Zunahme des Kapitals zu ergeben, und welcher Teil verzehrt wird. Es
erfordert keine schwere Berechnung, ein Schema aufzustellen, das von Jahr zu
Jahr die richtige Zunahme aufweist.
-117-
1. Jahr 200 000 c plus 100000 v plus 100 000 m (= 20000 c plus 100000 m plus 75
000 k)
2. Jahr 220 000 c plus 105 000 v plus 105 000 m (= 22000 c plus 5250 m plus
77750 k)
3. Jahr 242 000 c plus 110 250 v plus 110 250 m (= 24200 c plus 5512 m plus
80538 k)
Bauer führt dies für 4 Jahre durch und berechnet auch die Zahlen für die
Produktsgebiete I und II gesondert. Für den Zweck, daß kein Problem im Sinne
Rosa Luxemburgs vorlag, war das ausreichend.
Aber der Charakter dieser Kritik mußte selbst Kritik hervorrufen. Bauers
Grundgedanke erhellt schon aus der Einführung des ?Bevölkerungszuwachses bei
einer sozialistischen Gesellschaft". Der Kapitalismus erscheint hier als ein
noch nicht geregelter Sozialismus, als ein noch nicht gebändigtes, noch wild um
sich schlagendes Füllen, das nur der zähmenden Hand des sozialistischen
Dompteurs bedarf. Die Akkumulation dient hier nur der durch den
Bevölkerungszuwachs nötigen Erweiterung der Produktion, wie der Kapitalismus
überhaupt allein der Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln dient; beides
findet aber, durch den Mangel an Planmäßigkeit, schlecht, unregelmäßig, bald zu
viel, bald zu wenig, in Katastrophen statt. Nun mag auch die zahme Zunahme von
5%
jährlich passen für eine sozialistische Gesellschaft, wo alles Menschtum
sauber einrangiert ist. Aber als Beispiel für den Kapitalismus, wie er war und
ist, paßt dies schlecht. Seine ganze Geschichte ist ein Vorwärtsstürmen, eine
gewaltige Ausbreitung, weit über die Grenzen des Bevölkerungszuwachses hinaus.
Die treibende Kraft war der Akkumulationstrieb: möglichst viel von dem Mehrwert
wurde als neues Kapital angelegt, und zu seiner Verwertung wurden stets größere
Kreise der Bevölkerung in den Prozeß hineingezogen. Es war ja, und es ist noch
ein großer Überschuß an Menschen vorhanden, die noch außerhalb oder halbwegs
außerhalb als Reserve stehen und - je nach dem Bedürfnis aufgesogen oder
abgestoßen - für das Verwertungsbedürfnis des akkumulierten Kapitals bereit
stehen. Dieser wesentliche Grundcharakter des Kapitalismus wurde in der
Bauerschen Darstellung völlig verkannt.
Es war selbstverständlich, daß Rosa Luxemburg dies zum Zielpunkt ihrer
Gegenkritik nahm. Gegen den Nachweis, daß in den Marxschen Schemata kein Problem
in ihrem Sinne lag, konnte sie nicht viel andres vorbringen als den höhnenden
Ausruf, daß in künstlichen Zahlenbeispielen doch alles schön zum Klappen
gebracht werden könne. Aber die Verbindung mit dem Wachstum der Bevölkerung als
dem regulierenden Prinzip der Akkumulation war dem Geiste der Marxscheh Lehren
so völlig zuwider, daß hier der Nebentitel ihrer Antikritik paßte: 'Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht
haben'.
Es handelt sich hier nicht
einfach um einen wissenschaftlichen Irrtum (wie bei Rosa Luxemburg selbst), es
spiegelt sich darin der praktisch-politische Standpunkt der damaligen
Sozialdemokraten (des sog. Zentrums). Sie fühl-
-118-
ten sich als die künftigen Staatsmänner, die an die Stelle der herrschenden
Politiker tretend die Organisation der Produktion durchführen würden und die
daher im Kapitalismus nicht den völligen Gegensatz zu einer -durch Revolution zu
verwirklichenden - proletarischen Diktatur sahen, sondern vielmehr eine noch
ungeregelte, verbesserungsfähige Form der Lebensmittelbeschaffung.
1.3. DAS GROSSMANNSCHE REPRODUKTIONSSCHEMA
An das von Otto Bauer aufgestellte Reproduktionsschema knüpft Henryk Großmann
an. Er hat bemerkt, daß es sich nicht unbeschränkt fortsetzen läßt, sondern bei
längerer Fortsetzung auf Widersprüche stößt. Das ist sehr leicht einzusehen.
Otto Bauer setzt ein konstantes Kapital von 200 000 voraus, das jedes Jahr um
10% zunimmt, und ein variables Kapital von 100 000, das jedes Jahr um 5%
zunimmt; die Mehrwertsrate wird mit 100% angesetzt, d. h. der Mehrwert ist in
jedem Jahre gleich dem variablen Kapital. Eine Größe, die jedes Jahr um 10%
zunimmt, hat sich, den Regeln der Mathematik gemäß, nach 7 Jahren verdoppelt,
nach 14 Jahren vervierfacht, nach 23 Jahren verzehnfacht, nach 46 Jahren
verhundertfacht. Eine Größe, die jedes Jahr um 5 % zunimmt, hat sich nach 46
Jahren nur verzehnfacht. Das variable Kapital und der Mehrwert, die im ersten
Jahr halb so groß wie das konstante Kapital waren, sind nach 46 Jahren nur noch
der zwanzigste Teil des viel kolossaler gewachsenen konstanten Kapitals. Der
Mehrwert reicht also gar nicht für den 10-prozentigen Zuwachs des konstanten
Kapitals aus.
Das liegt nicht einfach an den von Bauer gewählten Zuwachsraten von 10% und 5%.
Denn tatsächlich nimmt der Mehrwert im Kapitalismus weniger rasch zu als das
konstante Kapital. Daß dadurch die Profitrate in der Entwicklung des
Kapitalismus fortwährend abnehmen muß, ist eine bekannte Tatsache, und Marx
widmet diesem Fallen der Profitrate mehrere Kapitel. Wenn die Profitrate auf 5%,
fällt, kann das konstante Kapital nicht mehr um 10% vergrößert werden, denn die
Vergrößerung des Kapitals aus akkumuliertem Mehrwert ist notwendig kleiner als
dieser Mehrwert selbst. Die Akkumulationsrate hat selbstverständlich die
Profitrate als obere Grenze (vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 234, wo er
sagt, daß mit der Profitrate die Rate der Akkumulation falle). Die Benutzung
einer festen Zahl von 10%, die für ein paar Jahre, wie bei Bauer, zulässig ist,
wird unzulässig, wenn man das Reproduktionsschema auf längere Zeit fortsetzt.
Großmann führt jedoch das Bauersche Schema unbekümmert von Jahr zu Jahr weiter
und glaubt damit den wirklichen Kapitalismus wiederzugeben. Er findet dann die
folgenden Werte für konstantes und vanables Kapital, für den Mehrwert (für
Akkumulation nötiger und für den Konsum der Kapitalisten übrig bleibender Betrag
- alles auf Tausende abgerundet):
-118-
| Konst. Kap. | Var. Kap. |
Mehrw. | Akkumulation | Konsum |
anfangs | 200 | 100 | 100 | 20 plus 5 =
25 | 75 |
nach 20 Jahren | 1222 | 253 | 253 | 122
plus | 13 = 135 | 118 |
nach 30Jahren | 3170 | 412 | 412 |
371plus |
21=338 | 74 |
nach 34 Jahren | 4641 | 500 | 500 | 464
plus |
25 = 489 |
11 |
nach 35 Jahren | 5106 | 525 | 525 | 510 plus
26 = 536 | -11 |
Nach dem 21. Jahr nimmt der für den Konsum übrigbleibende Teil des Mehrwerts ab;
im 34. Jahr verschwindet er nahezu, und im 35. Jahr ist sogar ein Defizit
vorhanden; der Shylock des konstanten Kapitals
fordert
unerbittlich sein Pfund
Fleisch, es will um 10% zunehmen, während die armen Kapitalisten hungernd
daneben
stehen und nichts zum eignen Konsum behalten.
"
Vom 35. Jahre an könnte somit die Akkumulation nicht mit dem
Bevölkerungszuwachs -auf Basis des jeweiligen technischen Fortschritts - Schritt
halten. Die Akkumulation wäre zu klein, es würde notwendig eine Reservearmee
entstehen, die mit jedem Jahr anwachsen müßte.
"
(Großmann, a. a. 0., S. 126)
Unter solchen Umständen werden die Kapitalisten nicht an die Fortführung der
Produktion denken. Und sollten sie, sie können es nicht; denn wegen eines
Fehlbetrags von 11 an Akkumulationskapital müssen sie die Produktion
einschränken. (Tatsächlich hätten sie das schon früher tun müssen, wegen ihrer
Konsumausgaben.) Damit wird ein Teil der Arbeiter arbeitslos; dann ist ein Teil
des Kapitals unbeschäftigt, und der produzierte Mehrwert wird weniger, die massa
des Mehrwerts sinkt, und ein noch größeres Defizit bei der Akkumulation tritt
auf - mit noch mehr zunehmender Arbeitslosigkeit. Das ist dann der ökonomische
Zusammenbruch des Kapitalismus. Er ist wirtschaftlich unmöglich geworden. Damit
ist die Aufgabe gelöst, die Großmann auf S. 79 sich stellt:
"Wie, auf welche Weise kann die Akkumulation die kapitalistische Produktion zum
Zusammenbruch bringen?"
Hier findet also statt, was in der älteren marxistischen Literatur immer als ein
blödes Mißverständnis der Gegner behandelt wurde, für das der Name 'der große
Kladeradatsch' gebräuchlich war. Ohne daß eine revolutionäre Klasse da ist, um
die Bourgeoisie zu besiegen und zu enteignen, tritt rein wirtschaftlich ein Ende
des Kapitalismus ein; die Maschine will sich nicht mehr drehen, sie stockt, die
Produktion ist unmöglich geworden. Mit den Worten Großmanns:
"
...trotz aller periodischen Unterbrechungen und Abschwächungen der
Zusammenbruchstendenz geht der Gesamtmechanismus mit dem Fortschreiten der
Kapitalakkumulation immer mehr seinem Ende notwendig entgegen [...] dann gewinnt
die Zusammenbruchstendenz die Oberhand und setzt sich in ihrer absoluten Geltung
als 'letzte Krise' durch.
"
(S. 140)
Und an einer späteren Stelle:
"
aus unserer Darstellung [ist] zu ersehen, daß der Zusammenbruch des
Kapitalismus, obwohl unter gegebenen Voraussetzungen objektiv notwendig
"
-120-
"
und in bezug auf den Zeitpunkt seines Eintretens exakt berechenbar, dennoch
nicht 'von selbst' automatisch zu dem erwarteten Zeitpunkt zu erfolgen braucht
und deshalb bloß passiv abzuwarten sei.
"
(S. 601)
In diesem Satze, wo man einen Augenblick glauben möchte, daß von der aktiven
Rolle des Proletariats als Auctor der Revolution die Rede ist, wird nur über die
Änderungen des Lohns und der Arbeitszeit gehandelt, die die zahlenmäßigen
Grundlagen und Resultate der Rechnung etwas verschieben. Und in diesem Sinne
führt er weiter aus:
"
So zeigt es sich, daß der Gedanke eines aus objektiven Gründen notwendigen
Zusammenbruchs durchaus nicht im Widerspruch zum Klassenkampf steht, daß
vielmehr der Zusammenbruch, trotz seiner objektiv gegebenen Notwendigkeit durch
die lebendigen Kräfte der kämpfenden Klassen im starken Maße beeinflußbar ist
und für das aktive Eingreifen der Klassen einen gewissen Spielraum läßt. Eben
deshalb mündet bei Marx die ganze Analyse des Reproduktionsprozesses in den
Klassenkampf aus
"
(S. 602)
Das 'deshalb' ist köstlich; als ob Klassenkampf bei Marx nur Kampf um
Lohnforderungen und Arbeitszeit bedeute.
Sehen wir uns die Grundlage dieses Zusammenbruchs etwas näher an. Worauf beruht
die notwendige Zunahme des konstanten Kapitals mit jedesmal 10%? In dem oben
gegebenen Zitat wird gesagt, daß der technische Fortschritt (bei gegebenem
Bevölkerungszuwachs) einen bestimmten jährlichen Zuwachs des konstanten Kapitals
vorschreibt. Man könnte dann - ohne den Umweg des Reproduktionsschemas -
sagen:Wenn die Profitrate kleiner wird als diese vom technischen Fortschritt
geforderte Zuwachsrate, muß der Kapitalismus zugrunde gehen. Abgesehen davon,
daß dies nichts mit Marx zu tun hat: was ist der von der Technik geforderte
Kapitalzuwachs? Verbesserungen in der Technik werden eingeführt in gegenseitiger
Konkurrenz, um den Extraprofit (relativen Mehrwert) zu ergattern; aber das geht
nicht weiter, wie die finanziellen Mittel vorhanden sind. Jedermann weiß auch,
daß Dutzende von neuen Erfindungen, von technischen Verbesserungen, nicht
eingeführt und oft absichtlich von den Unternehmern unterdrückt werden, damit
nicht der vorhandene technische Apparat entwertet wird. Die Notwendigkeit des
technischen Fortschritts wirkt nicht als äußerer Zwang; sie wirkt mittels der
Menschen, und für diese gilt das Müssen nicht weiter als ihr Können.
Aber nehmen wir an, daß es richtig ist und daß infolge des technischen
Fortschritts das konstante Kapital sich nach dem Schema veränderlich verhalten
muß: im 30. Jahre wie 3170 zu 412, im 34. wie 4641 zu 500, im 35. wie 5106 zu
525 im 36. wie 5616 zu 551. Der Mehrwert im
35. Jahr ist nur 525 000 und reicht nicht aus, 510 000 zum konstanten und 26000
zum variablen Kapital hinzuzufügen. Großmann läßt das konstante Kapital um 510
000 wachsen und behält dann bloß 15 000 als Zuwachs des variablen Kapitals: 11
000 zu wenig. Er sagt dazu:
-121-
"
111 509 Arbeiter bleiben arbeitslos, es bildet sich die Reservearmee. Und weil
nicht die ganze Arbeiterbevölkerung in den Produktionsprozeß eintritt, so wird
nicht die ganze Summe des zusätzlichen konstanten Kapitals (51 0563 ac) Zum
Ankauf von Produktionsmitteln erforderlich sein. Sollte bei einer Bevölkerung
von 5511 584 ein konstantes Kapital von 5 616 200 angewendet werden, so muß bei
einer Bevölkerung von 540 075 ein konstantes Kapital von nur 5 499 015
angewendet werden. Somit verbleibt ein Kapitaliiberschuß von
117 185 ohne Anlagemöglichkeit. So zeigt uns das Schema ein Schulbeispiel für
den Tatbestand, an den Marx dachte, als er den entsprechenden Abschnitt des 3.
Bandes des 'Kapital' mit der Überschrift versah: 'Überfluß an Kapital bei
Überfluß an Bevölkerung'.
"
(S. 126)
Großmann hat offenbar nicht bemerkt, daß diese 11 000 nur deshalb arbeitslos
werden, weil er, ganz willkürlich, ohne einen Grund anzugeben, das Defizit ganz
auf das variable Kapital abwälzt und das konstante Kapital ruhig 10% zunehmen
läßt, als ob nichts los sei; als er dann aber inne wird, daß für all diese
Maschinen keine Arbeiter da sind, oder richtiger, kein Geld da ist, ihnen Löhne
zu zahlen, läßt er auch diese Maschinen lieber nicht bauen und muß nun Kapital
unbenutzt liegen lassen. Nur durch diesen Schnitzer gerät er in das
'Schulbeispiel' für eine Erscheinung, die bei den gewöhnlichen kapitalistischen
Krisen auftritt. In Wirklichkeit werden die Unternehmer ihre Produktion nur um
so viel erweitern können, wie ihr Kapital - für Maschinen und Lohn zusammen -
reicht. Ist im ganzen zu wenig Mehrwert da, so wird er (bei dem angenommenen
technischen Zwang) proportional auf die Bestandteile des Kapitals verteilt
werden; die Rechnung zeigt, daß von dem 525 3119 betragenden Mehrwert 500 409 zu
dem konstanten, 24 910 zu dem variablen Kapital geschlagen werden muß, um das
richtige, dem technischen Fortschritt entsprechende Verhältnis zu haben; nicht
11 000, sondern 11356 Arbeiter werden freigesetzt, und von einem überschussigen
Kapital ist keine Rede. Führt man das Schema in dieser richtigen Weise weiter,
so findet statt einer katastrophalen eine sehr langsam zunehmende Freisetzung
von Arbeitern statt.
Wie ist es nun möglich, diesen angeblichen Zusammenbruch auf das Konto von Marx
zu schieben und durch viele Kapitel hindurch Dutzende von Zitaten aus Marx dazu
zu bringen? Diese Zitate beziehen sich alle auf die wirtschaftlichen Krisen, auf
den Konjunkturwechsel von Aufschwung und Niedergang. Während das Schema dazu
dienen sollte, einen nach 35 Jahren einsetzenden endgültigen ökonomischen
Zusammenbruch zu zeigen, heißt es 2 Seiten weiter:
"
Die hier zur Darstellung gelangte Marx'sche Theorie des Wirtschaftszyklus.
"
(S. 123)
Nur dadurch, daß er fortwährend Sätze von Marx, die über die periodischen Krisen
handeln, durch seine Ausführungen streut, kann Großmann den Anschein erwecken,
er stelle eine Theorie von Marx dar. Bei Marx findet sich aber nichts von einem
endgültigen Zusammenbruch nach Art des Großmannschen Schemas. Allerdings: ein
paar Zitate führt Großmann an, die nicht über die Krisen handeln. So schreibt er
S. 263:
-123-
"
Es zeigt sich, 'daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der
Produktivkräfte eine Schranke findet...'
"
(Marx, Kapital III/1, MEW, S. 252)
Schlägt man aber Das Kapital III/1, S. 252, auf, so liest man dort:
"
Das Wichtige aber in ihrem [d. h. Ricardos und der anderen Ökonomen] Horror vor
der fallenden Profitrate ist das Gefühl, daß die kapitalistische
Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet.
"
Das ist wohl etwas anderes. Und auf S.79 zitiert er, um nachzuweisen, daß sogar
das Wort Zusammenbruch von Marx stammt:
"
Dieser Prozeß würde bald die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch
bringen, wenn nicht widerstrebende Tendenzen beständig wieder dezentralisierend
neben der zentripetalen Kraft wirkten.
"
(Marx, Kapital III/1, a. a. O. S., S. 256)
Diese widerstrebenden Tendenzen, das betont Großmann mit Recht, beziehen sich
auf das 'bald', so daß der Prozeß mit ihnen eben langsamer stattfindet.
Spricht Marx hier nun von einem rein wirtschaftlichen Zusammenbruch? Lesen wir
den vorhergehenden Satz bei Marx:
"
Es ist diese Scheidung zwischen Arbeitsbedingungen hier und Produzenten dort,
die den Begriff des Kapitals bildet, die mit der ursprünglichen Akkumulation
sich eröffnet, dann als beständiger Prozeß in der Akkumulation und Konzentration
des Kapitals erscheint, und hier endlich sich als Zentralisation schon
vorhandner Kapitale in weniger Händen und Entkapitahisierung (dahin verändert
sich nun die Expropriation) vieler ausdrückt.
"
Es ist hiernach wohl klar, daß der dann folgende Zusammenbruch, wie so oft bei
Marx, einfach für das Ende des Kapitalismus durch den Sozialismus steht.
Mit den Marx-Zitaten ist es also nichts: aus ihnen ist eine wirtschaftliche
Endkatastrophe ebensowenig herauszulesen, wie sie aus dem Reproduktionsschema
abzuleiten ist. Kann es dann aber zur Darstellung und Erklärung der periodischen
Krisen dienen? Großmann sucht beides zu einer festen Einheit zu vereinigen:
"
Die Marx'sche Zusammenbruchstheorie ist zugleich eine Krisentheorie,
"
lautet die Überschrift des 8. Kapitels (S. 137). Aber als Nachweis gibt er
nichts als eine Figur (S. 141), in der eine schief emporlaufende
'Akkumulationslinje' in kleinere Stücke zerschnitten wird. Nach dem Schema soll
aber erst nach 35 Jahren der Zusammenbruch beginnen, während nach 5 oder 7
Jahren doch jedesmal die Krise einsetzt, wobei in dem Schema alles noch in
schönster Ordnung ist. Will man einen rascheren Zusammenbruch bekommen, so geht
das, wenn der jährliche Zuwachs des konstanten Kapitals nicht 10%, sondern viel
größer ist. Tatsächlich findet bei steigender Konjunktur in dem
Wirtschaftszyklus ein viel rascheres Wachstum des Kapitals statt, der dann aber
nichts mit dem technischen Fortschritt zu tun hat; der Produktionsumfang wird
sprunghaft erweitert. Allerdings nimmt dabei auch das variable Kapital rasch und
sprunghaft zu. Woher dann nach 5 oder 7 Jahren ein Zusammen-
-123-
bruch kommen muß, bleibt dunkel. Das heißt: die wirklichen Ursachen, die die
rasch steigende und dann zusammenbrechende Konjunktur bewirken, sind ganz
anderer Natur als das, was in dem Großmann'schen Reproduktionsschema steht.
Marx spricht von Überakkumulation, die die Krise einleitet, einem Zuviel an
akkumuliertem Mehrwert, das keine Anlage findet und den Profit drückt; Großmanns
Zusammenbruch entsteht durch ein Zuwenig an akkumuliertem Mehrwert.
Marx spricht von Überakkumulation, die die Krise einleitet, einem Zuviel an
akkumuliertem Mehrwert, das keine Anlage findet und den Profit drückt; Großmanns
Zusammenbruch entsteht durch ein Zuwenig an akkumuliertem Mehrwert.
Gleichzeitiger Überfluß an unbeschäftigtem Kapital und an unbeschäftigten
Arbeitern ist eine typische Krisenerscheinung; Großmanns Schema führt zu einem
Mangel an Kapital, der nur durch den schon erwähnten Fehler Großmanns zu einem
Kapitalüberfluß umkonstruiert werden kann. Also: wie das Großmann'sche Schema
einen endgültigen Zusammenbruch nicht beweisen kann, so paßt es auch nicht auf
die wirklichen Zusammenbruchserscheinungen, die Krisen.
Es mag noch hinzugefügt werden, daß es, seinem Ursprunge nach, an dem Fehler
Otto Bauers leidet: das wirkliche stürmische Vorwärtsdrängen des Kapitalismus
über die Welt, immer mehr Völker in seine Gewalt bringend, wird hier durch eine
zahme regelmäßige Bevölkerungszunahme von 5% jährlich dargestellt, als wäre
der Kapitalismus in eine geschlossene Staatswirtschaft eingepfercht.
1.4. GROSSMANN CONTRA MARX
Großmann brüstet sich damit, daß er hier zum ersten Male die Theorie von Marx
wieder richtiggestellt habe gegenüber den Entstehungen der Sozialdemokraten.
"
Eine dieser neu gewonnenen Erkenntnisse», sagt er stolz im Anfang der
Einleitung, «ist die nachfolgende Zusammenbruchstheorie, die tragende Säule im
ökonomischen Gedankensystem von Karl Marx.
"
(S. V)
Wie wenig dasjenige, was er als Zusammenbruchstheorie ansieht, mit Marx zu tun
hat, haben wir gesehen. Immerhin konnte er bei seiner besondren Interpretation
doch glauben, mit Marx in Übereinstimmung zu sein. Aber es gibt andre Punkte, wo
das nicht gilt. Weil er sein Schema für ein richtiges Bild der kapitalistischen
Entwicklung hält, leitet er aus ihm zu verschiedenen Punkten Erklärungen ab,
die, wie er zum Teil selbst bemerkt hat, den im 'Kapital' entwickelten
Anschauungen widersprechen.
Das gilt, erstens, für die industrielle Reservearmee. Nach dem Großmann'schen
Schema muß vom 35. Jahre an eine Anzahl Arbeiter arbeitslos werden, eine
Reservearmee entstehen.
"
Die Entstehung der Reservearmee, d. h. die Freisetzung der Arbeiter, von der
hier gesprochen wird, muß streng von der Freisetzung der Arbeiter durch die
Maschine unterschieden werden. Die Verdrängung der Arbeiter durch die Maschine,
die Marx im empirischen Teil des I. Bandes des 'Kapital' beschreibt
"
"
(13. Kapitel), ist eine technische Tatsache.. .
"
(S. 128-129)
-124-
"
Aber die Freisetzung der Arbeiter, die Entstehung der Reservearmee, von der Marx
im Akkumulationskapitel (Kap. 23) spricht, ist - das wurde bisher in der
Literatur gänzlich außer Acht gelassen - nicht durch die technische Tatsache der
Einführung von Maschinen verursacht, sondern durch die mangelnde Verwertung...
"
(S. 130)
Das kommt auf den Tiefsinn hinaus: daß die Spatzen davonflogen, kam nicht durch
den Flintenschuß, sondern durch ihre Schreckhaftigkeit. Die Arbeiter werden
durch die Maschinen verdrängt; durch Erweiterung der Produktion finden sie
teilweise wieder Arbeit; in diesem Gehen und Kommen bleibt ein Teil unterwegs
oder draußen. Soll nun die Tatsache, daß sie noch nicht wieder eingestellt sind,
als die Ursache ihrer Arbeitslosigkeit gelten? Liest man das 23. Kapitel des '
Kapital' [Bd. 1], so handelt es sich dort immer um die Verdrängung durch die
Maschine als Ursache der Reservearmee, die je nach der Konjunktur teilweise
aufgesogen oder aufs neue freigesetzt wird und sich selbst auch als
Überbevölkerung reproduziert. Großmann bemüht sich einige Seiten lang um den
Nachweis, daß hier das ökonomische Verhältnis c : v und nicht das technische
Verhältnis Pm : A wirkt; tatsächlich sind beide identisch. Aber die Bildung der
Reservearmee nach Marx, die von Anfang des Kapitalismus an immerfort und überall
stattfindet, wo Arbeiter durch Maschinen ersetzt werden, ist nicht
identisch mit der angeblichen Bildung der Reservearmee nach Großmann, die erst
als Folge der Überakkumulation nach 34 Jahren technischen Fortschritts eintritt.
Ähnliches gilt für den Kapitalexport. In langen Ausführungen werden nacheinander
alle marxistischen Autoren abgeschlachtet, Varga, Bucharin, Nachimson,
Hilferding, Otto Bauer, Rosa Luxemburg, weil sie alle die Ansicht bekunden, daß
der Kapitalexport wegen des größeren Profits stattfindet. Mit den Worten Vargas:
"
Nicht weil es absolut unmöglich wäre, Kapital im Inlande zu akkumulieren. . .
sondern weil Aussicht auf höheren Profit besteht, wird Kapital ausgeführt.
"
(Vgl. Großmann, S. 498)
Diese Auffassung bekämpft Großmann als unrichtig und als unmarxistisch:
"
Nicht der höhere Profit des Auslandes, sondern der Mangel an Anlagemöglichkeiten
im Inland ist der letzte Grund des Kapitalexports.
"
(S. 561)
Er bringt dann viele Zitate von Marx über die Überakkumulation und verweist auf
sein Schema, in dem nach dem 35. Jahr die steigenden Kapitalmassen keine
Verwendung im Inlande mehr finden; deshalb müssen sie exportiert werden.
Wir erinnern daran, daß nach dem Schema jedoch zu wenig Kapital vorhanden war
für die vorhandene Bevölkerung und der Überfluß an Kapital bei ihm nur ein
Rechnungsfehler war. Übrigens hat er bei all
-125-
seinen Marxzitaten vergessen, dasjenige anzuführen, wo Marx selbst über den
Kapitalexport spricht:
"
Wird Kapital ins Ausland geschickt, so geschieht es nicht, weil es absolut nicht
im Inland beschäftigt werden könnte. Es geschieht, weil es zu höherer Profitrate
im Auslande beschäftigt werden kann.
"
(Marx, Kapital III/1, a.a.O.S., S. 266)
Das Fahlen der Profitrate ist einer der wichtigsten Teile der Kapitaltheorie bei
Marx; er hat es zuerst theoretisch erklärt und nachgewiesen, wie in dieser
Falltendenz, die sich periodisch in den Krisen durchsetzt, die Vergänglichkeit
des Kapitalismus verkörpert ist. Bei Großmann ist es ein andres Phänomen, das
hervortritt: nach dem 35. Jahr werden Arbeiter massenhaft freigesetzt und es
wird zugleich Kapital überflüssig gemacht; dadurch wird das Defizit an Mehrwert
im nächsten Jahr schlimmer, werden also noch mehr Arbeiter und wird noch mehr
Kapital stillgelegt; mit der Abnahme der Arbeiterzahl nimmt die Masse des
produzierten Mehrwerts ab, und so sinkt der Kapitalismus immer tiefer in die
Katastrophe hinein. Hat Großmann da selbst nicht den Widerspruch bemerkt?
Ja.doch; und so macht er sich in dem Kapitel 'Die Ursachen der Verkennung der
Marx'schen Akkumulation- und Zusammenbruchstheorie', nach einer einleitenden
Betrachtung, ans Werk:
"
So ist die Zeit für die Rekonstruktion der Marx'schen Zusammenbruchslehre
herangereift.
"
(S. 195)
"Äußerlich mochte der Umstand den Anlaß zum Mißverständnis ... gegeben haben",
daß das 3. Kapitel von Bd. III, wie Engels im Vorwort sagte, "in einer Reihe
unvollständiger mathematischer Bearbeitungen" vorlag.
Engels nahm bei ihrer Bearbeitung die Hilfe seines
Freundes, des Mathematikers Samuel Moore, in Anspruch.
"
Aber Moore war kein Nationalökonom... Die Entstehungsweise dieses TeiIes des
Werkes also macht es schon im voraus glaubhaft, daß hier zu Mißverständnissen
und Irrtümern reichlich Gelegenheit bestand und daß diese Irrtümer dann auch auf
das Kapitel von dem tendenziellen Fall der Profitrate...
leicht übertragen werden konnten.
"
(Nota bene: diese Kapitel lagen von Marx fertig vor!)
"
Die Wahrscheinlichkeit des Irrtums erhebt sich fast zur Gewißheit, wenn wir
erwägen, daß es sich dabei um ein Wort handelt, das aber
unglücklicherweise den Sinn der ganzen Darstellung vollständig entstellt: das
unvermeidliche Ende des Kapitalismus wird dem relativen Fall der Profitrate,
statt -masse, zugeschrieben. Hier hat sich Engels oder Moore sicher
verschrieben.
"
(S. 195)
So sieht also die Rekonstruktion der Marx'schen Lehre aus! Und in einer Note
wird noch ein Zitat angeführt und gesagt:
"
Bei den in Klammern gesetzten Worten hat sich Engels oder Marx selbst
verschrieben; es sollte richtigerweise heißen >und zugleich eine Profitmasse,
welche relativ fällt
"
(Marx, Kapital III ,MEW 25, S. 229)
Nun ist es Marx selbst schon, der sich verschreibt! Und es handelt sich hier um
eine Stehle, wo der Sinn unzweideutig klar ist, wie der Wortlaut im 'Kapital'
sie gibt. Die ganze Darlegung bei Marx, die mit jenem
-126-
änderungsbedürftigen Satz endet, dient als Fortsetzung eines Satzes, wo Marx
erklärt:
"
die Masse des von ihm produzierten Mehrwerts, daher die absolute Masse des von
ihm produzierten Profit», kann also wachsen, trotz des progressiven Falls
der Profitrate. ... Dies kann nicht nur der Fall sein; es muß der
Fall sein
- vorübergehende Schwankungen abgerechnet - auf Basis der kapitalistischen
Produktion.
"
(Marx, Kapital III, a.a.O.S., S. 228)
Dann folgt eine Darlegung, weshalb die Profitmasse wachsen muß,
und wieder heißt es:
"
Im Fortschritt des Produktions- und Akkumulationsprozesses muß also die
Masse der aneignungsfähigen und angeeigneten Mehrarbeit, und daher die absolute
Masse des vom Gesellschaftskapital angeeigneten Profit wachsen.
"
(Marx, Kapital III, a.a.O.S., S. 229)
Also das völlige Gegenteil zu den von Großmann ausgedachten
Zusammenbruchserscheinungen. Und auf den folgenden Seiten wird das noch öfters
wiederholt; das ganze 13. Kapitel besteht aus einer Darlegung über:
"
Das Gesetz, daß der durch die Entwicklung der Produktivkraft verursachte Fall
der Profitrate begleitet, ist von einer Zunahme in der Profitmasse..
"
(Marx, Kapital III, a.a.O.S., S. 236)
Es kann also nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß Marx genau sagen
will, was dort gedruckt steht, und sich durchaus nicht verschrieben hat. Und
wenn Großmann schreibt:
"
Der Zusammenbruch kann indessen durch den Fall der Profitrate nicht erfolgen.
Wie könnte ein prozentuales Verhältnis, wie die Profitrate, eine reine
Zahl, den Zusammenbruch eines realen Systems herbeiführen!,
"
(S. 196)
so spricht er damit noch einmal aus, daß er vom ganzen Marx nichts verstanden
hat und daß sein Zusammenbruch sich in völligem Widerspruch zu Marx befindet.
Dies ist die Stelle, wo er sich von der Haltlosigkeit seiner Konstruktion hätte
überzeugen lassen können. Hätte er sich aber hier von Marx belehren lassen, dann
wäre seine ganze Theorie hinfällig und sein Buch
ungeschrieben geblieben.
Das Großmann'sche Werk kann man am richtigsten bezeichnen als eine
Zusammenstoppelung von Hunderten von Zitaten aus Marx, unrichtig angewandt und
zusammengeleimt durch eine selbstkonstruierte
Theorie. Jedesmal, wenn eine Beweisführung nötig wäre, wird ein Marx-Zitat
angeführt, das dazu nicht paßt, und die Richtigkeit der Marx'schen Aussagen muß
dem Leser den Eindruck der Richtigkeit der Theorie vortäuschen.
-127-
1.5. DER HISTORISCHE MATERIALISMUS
Die Frage verdient schließlich Beachtung, wie ein Nationalökonom, der glaubt die
Anschauungen von Marx richtig wiederzugeben, ja sogar mit naiver
Selbstsicherheit erklärt, als erster die richtige Interpretation zu geben, so
völlig daneben hauen kann und sich so in völligem Widerspruch zu Marx befindet.
Die Ursache liegt in dem Mangel an historisch-materialistischer Einsicht. Die
Marx'sche Ökonomie ist gar nicht zu verstehen, wenn man sich nicht die
historisch-materialistische Denkweise zu eigen gemacht hat.
Für Marx wird die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft - also auch die
wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus - durch feste Notwendigkeit wie
durch ein Naturgesetz bestimmt. Aber zugleich ist sie das Werk der Menschen, die
darin ihre Rolle spielen, indem jeder mit Bewußtsein und Absicht - obgleich
nicht mit Bewußtsein vorh gesellschaftlichen Ganzen - seine Taten bestimmt. Für
die bürgerliche Anschauungsweise liegt darin ein Widerspruch; entweder das
Geschehen hängt von menschlicher Willkür ab; oder, wenn es durch feste Gesetze
beherrscht wird, wirken diese als ein außermenschlicher, mechanischer Zwang. Für
Marx setzt sich alle gesellschaftliche Notwendigkeit mittels der Menschen durch;
das bedeutet, daß das menschliche Denken, Wollen und Handeln - obgleich es dem
eignen Bewußtsein als Willkür erscheint - durch die Wirkungen der Umwelt völlig
bestimmt wird; und nur durch die Gesamtheit dieser hauptsächlich durch
gesellschaftliche Kräfte bestimmten menschlichen Taten setzt sich in der
gesellschaftlichen Entwicklung Gesetzmäßigkeit durch.
Die gesellschaftlichen Kräfte, die die Entwicklung bestimmen, sind daher nicht
nur die rein ökonomischen, sondern auch die dadurch bestimmten
allgemein-politischen Taten, die der Produktion die nötigen Rechtsnormen
verschaffen müssen. Die kapitalistische Gesetzmäßigkeit liegt nicht nur in der
Wirkung der Konkurrenz, die die Preise und Profite ausgleicht und die Kapitalien
konzentriert, sondern auch in der Durchsetzung der freien Konkurrenz, der freien
Produktion durch die bürgerlichen Revolutionen. Nicht nur in der Bewegung der
Löhne, in der Ausdehnung und dem Zusammenschrumpfen der Produktion - in
Prosperität und Krise - in dem Schließen der Fabriken und dem Entlassen von
Arbeitern, sondern auch in der Empörung, dem Kampf der Arbeiter, in ihrer
Eroberung der Herrschaft über Gesellschaft und Produktion zur Durchführung neuer
Rechtsnormen verwirklichen sich die gesellschaftlichen Gesetze. Die Ökonomie,
als Totalität der für ihre Lebensnotwendigkeit arbeitenden und strebenden
Menschen, und die Politik (im weitesten Sinne), als das Wirken und Kämpfen
dieser Menschen für ihre Lebensnotwendigkeit als gesamte Klasse, bilden ein
einheitliches Gebiet gesetzmäßiger Entwicklung. Die Kapitalakkumulation, die
Krisen, die Verelendung, die proletarische Revolution, die Besitzergreifung der
Herrschaft durch die Arbeiterklasse bilden zusammen eine wie die Naturgesetze
wirkende, untrennbare Einheit. Diese führt zum
-128-
Zusammenbruch des Kapitalismus.
Die bürgerliche Denkweise, die diese Einheit nicht erfaßt, hat nicht nur
außerhalb, sondern auch innerhalb der Arbeiterbewegung immer eine große Rolle
gespielt. In der alten radikalen Sozialdemokratie galt die aus den
historischen Umständen verständliche - fatalistische Anschauung, die Revolution
werde naturnotwendig einmal kommen, aber jetzt sollten die Arbeiter keine
gefährlichen Aktionen versuchen. Der Reformismus bezweifelte die Notwendigkeit
der 'gewaltsamen' Revolution und glaubte, die Vernunft der Staatsmänner und
Führer werde durch Reform und Organisation das Kapital bändigen. Andre glaubten,
das Proletariat müsse durch moralische Predigten zu revolutionärer Tugend
erzogen werden. Immer fehlte das Bewußtsein, daß diese Tugend nur durch die
ökonomischen Kräfte, die Revolution nur durch die geistigen Kräfte der Menschen
ihre Naturnotwendigkeit finden. Jetzt treten andere Anschauungen auf. Der
Kapitalismus hat sich einerseits gegen allen Reformismus mächtig und
unangreifbar gezeigt. Alle Führerkunst und alle Revolutionsversuche: lächerlich
unbedeutend erscheint dies alles gegen seine gewaltige Kraft. Aber zugleich
tritt in furchtbaren Krisen seine innere Unhaltbarkeit hervor. Und wer jetzt
Marx zur Hand nimmt und studiert, erfährt tief die unabwendbare Gesetzmäßigkeit
des Zusammenbruchs und nimmt begeistert diesen Gedanken in sich auf.
Wenn aber seine tiefste Denkweise bürgerlich ist, kann er diese Notwendigkeit
nicht anders verstehen als wie eine außermenschhiche Macht. Der Kapitalismus ist
für ihn ein mechanisches System, in welchem die Menschen als
Wirtschaftspersonen, Kapitalisten, Käufer, Verkäufer, Lohnempfänger etc.
mitspielen, sonst aber einfach passiv zu erleiden haben, was der Mechanismus,
kraft seiner inneren Struktur, über sie verhängt.
Diese mechanistische Auffassung kann man auch in den Darlegungen Großmann» über
den Arbeitslohn erkennen, wo er heftig gegen Rosa Luxemburg losfährt:
"
Überall begegnet man einer unglaublichen, barbarischen Verstümmelung der
grundlegendsten Elemente der Marx'schen Lohntheorie.
"
(S. 586)
Gerade dort kritisiert er sie, wo sie vollkommen richtig den Wert der
Arbeitskraft als eine mit der gewonnenen Lebenshaltung selbst dehnbare Größe
behandelt. Für Großmann ist der Wert der Arbeitskraft "keine elastische, sondern
eine fixe Größe" (S. 586).
Solche Willkürlichkeiten wie der Kampf der Arbeiter können keinen Einfluß darauf
haben; nur bei einer größeren Intensität der Arbeit muß mehr verausgabte
Arbeitskraft ersetzt werden, nur deshalb muß der Lohn steigen.
Es ist hier die gleiche maschinenmäßige Auffassung: ein Mechanismus bestimmt die
ökonomischen Größen, während die kämpfenden und handelnden Menschen außerhalb
dieses Zusammenhanges stehen. Er beruft sich dabei wieder auf Marx, wo dieser
über den Wert der Arbeitskraft sagt:
-129-
"
Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der
Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.
"
(Kapital 1, MEW 23, S. 185)
Aber er hat leider wieder übersehen, daß bei Marx dem Satz unmittelbar
vorangeht:
"
Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der
Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element.
"
Von seiner bürgerlichen Denkweise aus sagt daher Großmann in seiner Kritik
verschiedener sozialdemokratischer Auffassungen:
"
Wir sehen: der Zusammenbruch des Kapitalismus wurde entweder geleugnet, oder
aber voluntaristisch mit politischen, außerökonomischen Momenten begründet. Ein
ökonomischer Nachweis der Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus
wurde nicht erbracht.
"
(S. 58-59)
Und er zitiert zustimmend Tugan-Baranowsky , daß
zuerst ein strenger Beweis zu
liefern sei für die Unmöglichkeit des Portbestehens des Kapitalismus und daß
damit erst die Notwendigkeit der Verwandlung des Kapitalismus in sein Gegenteil
bewiesen sei. Tugan selbst verneint diese Unmöglichkeit und will dem Sozialismus
eine ethische Begründung geben. Daß Großmann sich diesen liberalen russischen
Ökonomen, der bekanntlich dem Marxismus immer völlig fremd gegenüberstand, als
Schwurzeugen wählt, zeigt, wie sehr er ihm, trotz entgegengesetztem praktischen
Standpunkt, im Grunde des Denkens verwandt ist. (Vgl. auch Großmann 5. io8) Die
Marx'sche Auffassung dagegen, daß der Zusammenbruch des Kapitalismus die Tat der
Arbeiterklasse sein wird, also eine politische Tat ist (in der weitesten
Bedeutung dieses Wortes: allgemein-gesellschaftlich, was von der
Besitzergreifung der ökonomischen Herrschaft untrennbar ist), kann er nur
verstehen als "voluntaristisch", d. h. dem freien Willen, der Willkür der
Menschen anheim gegeben.
Der Zusammenbruch des Kapitalismus bei Marx hängt in der Tat von dem Willen der
Arbeiterklasse ab; aber dieser Wille ist nicht Willkür, nicht frei, sondern
selbst bestimmt durch die ökonomische Entwicklung. Die Widersprüche der
kapitalistischen Ökonomie, die in der Arbeitslosigkeit, in den Krisen, in den
Kriegen, in den Klassenkämpfen immer aufs neue hervortreten, bestimmen den
Willen des Proletariats immer aufs neue zur Revolution. Nicht weil der
Kapitalismus ökonomisch zusammenbricht und deshalb die Menschen - Arbeiter und
andere - durch die Notwendigkeit gezwungen, eine neue Organisation schaffen,
kommt der Sozialismus. Sondern weil der Kapitalismus, wie er lebt und wächst,
für die Arbeiter stets unerträglicher wird und sie in den Kampf treibt, immer
wieder, bis in ihnen der Wille und die Kraft gewachsen ist, die
Kapitalherrschaft zu stürzen und eine neue Organisation aufzubauen, bricht der
Kapitalismus zusammen. Nicht weil diese Unerträglichkeit von außen demonstriert,
sondern weil sie spontan als solche empfunden wird, treibt sie zur Tat. Die
Marx'sche Theorie - als
-130-
Ökonomie - zeigt, wie jene Krisenerscheinungen unabwendbar immer stärker
auftreten, und als Historischer Materialismus zeigt sie, daß aus den Krisen
notwendig der revolutionäre Wille und die revolutionäre Tat entstehen.
1.6. DIE NEUE ARBEITERBEWEGUNG
Daß das Buch Großmanns bei den Wortführern der neuen Arbeiterbewegung einige
Beachtung gefunden hat, ist verständlich, weil er sich gegen dieselben Gegner
wendet wie sie. Sie hat die Sozialdemokratie und den Parteikommunismus der 3.
Internationale - zwei Äste desselben Stammes - zu bekämpfen, weil diese die
Arbeiterklasse an dem Kapitalismus anpassen. Großmann wirft den Theoretikern
jener Richtungen vor, daß sie die Marx'schen Lehren verunstaltet und verfälscht
haben, und er betont daher den notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus. Seine
Schlußfolgerungen klingen ähnlich wie die unsrigen - Sinn und Wesen sind jedoch
völlig verschieden. Wir sind auch der Meinung, daß die sozialdemokratischen
Theoretiker, so gute Kenner der Theorie sie oft waren, doch die Marx'sche Lehre
verunstaltet haben; aber ihr Irrtum war ein historischer, war der zur Theorie
geronnene Niederschlag einer früheren Kampfperiode des Proletariats. Großmanns
Irrtum ist der eines bürgerlichen Nationalökonomen, der den Kampf des
Proletariats praktisch nie kannte und daher dem Wesen des Marxismus
verständnislos gegenübersteht.
Ein Beispiel, wie seine Schlußfolgerungen scheinbar mit den Anschauungen der
neuen Arbeiterbewegung übereinstimmen, aber im Wesen völlig entgegengesetzt
sind, finden wir in seiner Lohntheorie. Nach seinem Schema tritt nach dem 35.
Jahre im Zusammenbruch eine rasch steigende Arbeitslosigkeit ein. Dadurch wird
der Arbeitslohn tief unter den Wert der Arbeitskraft sinken, ohne daß ein
wirksamer Widerstand möglich wäre.
"
Hier ist die objektive Grenze der gewerkschaftlichen Aktion gegeben.
"
So bekannt dies klingt, so ist doch die Grundlage verschieden. Die schon lange
eingetretene Machtlosigkeit der gewerkschaftlichen Aktion ist nicht einem
ökonomischen Zusammenbruch, sondern einer gesellschaftlichen Machtverschiebung
zuzuschreiben. Jedermann weiß, wie die gestiegene Macht der Unternehmerverbände
des konzentrierten Großkapitals die Arbeiterklasse relativ machtloser macht.
Hierzu kommt jetzt die Wirkung einer schweren Krise, die die Löhne
herunterdrückt, wie das in jeder früheren Krise geschehen ist.
Der rein wirtschaftliche Zusammenbruch des Kapitalismus, den Großmann
konstruiert, bedeutet nicht eine völlige Passivität des Proletariats. Penn wenn
dieser Zusammenbruch stattfindet, dann muß eben die Arbeiterklasse aufstehen, um
die Produktion auf neuer Grundlage wieder zu errichten.
-131-
"
So drängt die Entwicklung zur Entfaltung und zur Zuspitzung der inneren
Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, bis die Lösung nur durch den Kampf
beider herbeigeführt werden kann.
"
Und dieser Endkampf steht auch mit dem Lohnkampf im Zusammenhang, weil (wie
schon oben erwähnt) bei Drückung des Lohnes die Katastrophe etwas aufgeschoben,
bei Lohnsteigerung dagegen beschleunigt wird. Aber die ökonomische Katastrophe
ist nach Großmann doch das wesentliche Moment, und die Neuregelung wird den
Menschen zwangsweise aufgenötigt. Zwar werden die Arbeiter als Bevölkerungsmasse
die wuchtige Kraft der Revolution ausmachen, genauso wie sie in früheren
bürgerlichen Revolutionen die Massenkraft der Aktion bildeten; dies ist aber,
wie bei einer Hungerrevolte, unabhängig von ihrer revolutionären Reife, von
ihrer Fähigkeit, selbst die Herrschaft über die Gesellschaft in die Hand zu
nehmen und zu behalten. Das bedeutet, daß eine revolutionäre Gruppe, eine Partei
mit sozialistischen Zielen, als neue Herrschaft an die Stelle der alten treten
muß, um irgendeine Planwirtschaft einzuführen. Diese Theorie der ökonomischen
Katastrophe paßt also gerade für Intelligenzler, die die Unhaltbarkeit des
Kapitalismus erkennen und eine Planwirtschaft wollen, welche durch fähige
Ökonomen und Führer aufgebaut werden muß. Und man wird damit rechnen müssen, daß
noch manche ähnliche Theorie aus diesen Kreisen aufkommen oder dort Beifall
finden wird.
Auch auf revolutionäre Arbeiter wird die Theorie von der notwendigen Katastrophe
eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Sie sehen die übergroßen Massen des
Proletariats noch an den alten Organisationen, den alten Führern, den alten
Methoden hängen, blind für die Aufgaben, die die neue Entwicklung ihnen
auferlegt, passiv, unbeweglich, ohne Anzeichen revolutionärer Tatkraft. Und die
wenigen Revolutionäre, die die Entwicklung erkennen, möchten den dumpfen Massen
eine tüchtige wirtschaftliche Katastrophe wünschen, damit sie endlich aus dem
Schlaf erwachen und in Aktion treten. Auch gäbe die Theorie, daß der
Kapitalismus jetzt in eine Endkrise getreten sei, eine schlagende und einfache
Widerlegung des Reformismus und all der Parteiprogramme, die die
Parlamentsarbeit und Gewerkschaftsbewegung voranstellen. [...] Aber so einfach
und bequem ist nun einmal der Kampf nicht, auch nicht der theoretische Kampf
[...]
Der Reformismus ist nicht nur in der Krise, sondern auch schon während der
Prosperität eine falsche Taktik, die das Proletariat schwächt. Parlamentarismus
und Gewerkschaftstaktik haben sich nicht nur in dieser Krise, sondern schon
während einiger Jahrzehnte als unfähig erwiesen. Nicht wegen des ökonomischen
Zusammenbruchs des Kapitalismus, sondern wegen seiner ungeheuren
Machtentfaltung, seiner Ausdehnung über die ganze Erde, seiner Zuspitzung der
politischen Gegensätze, seiner gewaltigen Stärkung der inneren Macht muß das
Proletariat zu Massenaktionen greifen, die Kraft der ganzen Klasse aufbieten. In
dieser gesellschaftlichen Machtverschiebung liegt der Grund für die
Neuorientierung der Arbeiterbewegung.
-132-
Nicht eine Endkatastrophe, aber viele Katastrophen hat die Arbeiterklasse zu
erwarten, politische - wie die Kriege - und ökonomische - wie die Krisen - die
periodisch bald regelmäßig, bald unregelmäßig auftreten, aber im ganzen mit dem
zunehmenden Umfang des Kapitalismus immer verheerender werden. Dadurch werden
die Illusionen und die Ruhetendenzen des Proletariats immer wieder
zusammenbrechen, werden immer schärfere und tiefere Klassenkämpfe ausbrechen. Es
erscheint als Widerspruch, daß die heutige Krise - so tief und so verheerend wie
keine zuvor - nichts von einer erwachenden proletarischen Revolution zeigt. Aber
die Beseitigung alter Illusionen ist ihre erste große Aufgabe:
einerseits der Illusion, durch sozialdemokratische Parlamentspolitik und
gewerkschaftliche Aktion, durch Reformen den Kapitalismus erträglich zu machen;
andererseits der Illusion, mittels einer sich revolutionär gebärdenden
kommunistischen Partei als Führerin den Kapitalismus in einem Sturmlauf
überrennen zu können. Die Arbeiterklasse selbst, als Masse, hat den Kampf zu
führen, und sie hat sich noch in den neuen Kampfformen zurechtzufinden, während
die Bourgeoisie ihre Macht immer fester ausbaut. Schwere Kämpfe können nicht
ausbleiben. Und mag diese Krise auch abflauen, neue Krisen werden kommen und
neue Kämpfe. In diesen Kämpfen wird die Arbeiterklasse ihre Kampfkraft
entwikkeln, ihre Ziele herausfinden, sich schulen, sich selbständig machen und
lernen, die eigenen Geschicke, d. h. die gesellschaftliche Produktion, selbst in
die Hand zu nehmen. In diesem Prozeß vollzieht sich der Untergang des
Kapitalismus. Die Selbstbefreiung des Proletariats ist der Zusammenbruch des
Kapitalismus.
2. DIE INTELLIGENZ IM KLASSENKAMPF
Die faschistische oder nationalsozialistische Bewegung wird zumeist als Revolte
des Kleinbürgertums und als neue Herrschaftsform des Großkapitals behandelt. Sie
hat aber noch eine andere Seite, die Klarheit über ihr Wesen geben kann und die
die Aufmerksamkeit der Arbeiter erfordert: das ist ihr Charakter als Bewegung
der Intelligenz.
Die Intelligenz, die neue Mittelklasse, die Klasse der im kapitalistischen
Produktionsprozeß auftretenden Zwischenschichten zwischen Bourgeoisie und
Proletariat, trägt einen ganz anderen Charakter als die alte selbständige
Mittelklasse, das Kleinbürgertum. Das Kleinbürgertum ist eine untergehende
Klasse. Mögen auch immer wieder neue Kleinbetriebe im Kapitalismus
emporschießen, oft aus neuen Bedürfnissen der Gesellschaft entstehend, wie
Reparaturwerkstätten und Ladengeschäfte, sie stehen außerhalb der eigentlichen
Produktion und sind oft sogar nur parasitär. Die Bedeutung dieser Klasse liegt
in der Vergangenheit, ihr Blick ist nach rückwärts gerichtet. Die Rolle, die sie
in den Klassenkämpfen und Revolutionen des 19. Jahrhunderts spielte, wird immer
bedeutungsloser; ihre selbständige Kraft verschwindet immer mehr. Die
Intelligenz dagegen ist eine neu emporkommende Klasse, deren Bedeutung mit der
Entwicklung des Kapitalismus zunimmt, eine Klasse, die vorwärts blickt und ihre
Kraft wachsen fühlt. Daher ist eine Betrachtung ihrer gesellschaftlichen Rolle
wichtig für die Arbeiterklasse.
Formal sind die Mitglieder dieser Klasse mit den Arbeitern vergleichbar: sie
verkaufen ihre Arbeitskraft und empfangen Lohn. Aber diese formale Seite
entscheidet nicht über das Wesen. Die alten selbständigen Mittelständler und
Handwerker waren ja oft in Wirklichkeit ausgebeutete Proletarier, obwohl sie
juristisch Besitzer von Produktionsmitteln waren. In Wirklichkeit sind auch in
dem neuen Mittelstand alle Zwischenschichten und Übergangsstufen zwischen
Bourgeoisie und Proletariat vorhanden, angefangen bei den gelernten Arbeitern
bis hin zu den Fabrikdirektoren. Die unteren Schichten sind auch im Wesen
Verkäufer ihrer Arbeitskraft, einer Arbeitskraft freilich, die etwas mehr an
Ausbildung gekostet hat; die oberen Schichten sind durch Abstammung,
Verwandtschaft und Lebensweise mit der Bourgeoisie verflochten. Sie sind die
Träger des geistigen Elements im Produktionsprozeß; sie sind die Akademiker, die
Theoretiker, die Spezialisten der Kopfarbeit. In ihren Händen ruht die
technische und geistige Leitung der Produktion; und auch in der politischen
Führung sind sie die Sachverständigen, die die Regierungsarbeit für die
Bourgeoisie, schon seit sie regiert, besorgen. Und ihre Bedeutung wächst; so wie
die kapitalistischen Betriebe in der Weltökonomie ausgedehnter und
verschlungener werden, die Anwendung der Wissenschaft auf Technik und Produktion
tiefer und breiter wird, nimmt die Wichtigkeit ihrer Arbeit für die Gesellschaft
zu. Das ist nicht nur qualitativ der Fall; auch quantitativ wird es in dem
raschen relativen Wachstum ihrer Zahl deutlich.
In Deutschland stieg von 1895 bis 1907 die Zahl der Arbeiter in der
-134-
Industrie von 6,5 Millionen auf 9,4 Millionen (also um 48 Prozent), die der
Angestellten in der Industrie von 500 000 auf 1 037 000 (also um 107 Prozent).
Ähnlich in anderen Ländern; und in den folgenden Jahren der zunehmenden
Rationalisierung hat sich diese Entwicklung noch beschleunigt.
Es gab eine Zeit, da es schien, als ob die emporkommende Arbeiterbewegung auch
die Intelligenz mit sich ziehen würde. Viele unter ihr erkannten die Richtigkeit
der sozialistischen Kritik am Kapitalismus. Sie sahen nicht nur die
unerträgliche Lage der Arbeiter, sondern sie sahen auch die Hilflosigkeit der
Kapitalisten bei der Verteidigung des Bestehenden. Wenn die Bourgeoisie sich als
die geistig führende Klasse über den unwissenden Massen aufspielen wollte, so
wußte die Intelligenz nur zu gut, daß diese geistige Führung bezahlten Kräften
überlassen wurde und daß der Kapitalist selbst immer mehr zum reinen
Kuponschneider und Börsenjobber wurde, ohne nützliche gesellschaftliche
Funktion. Sie sahen auch die junge Begeisterung für die emporkommenden Ideen des
Sozialismus und Kommunismus. Der revolutionäre Idealismus der proletarischen
Vorhut erhielt eine große Anzahl Sympathisierender in der Intelligenz, und eine
kleinere Anzahl wurde Mitkämpfer, die sich den Zielen des Proletariats
unterordneten. Allerdings die Mehrheit blieb den kapitalistischen Herren treu,
hielt sich abseits vom Felde des gesellschaftlichen Kampfes, nur auf das eigene
Fortkommen bedacht oder von seiner Fachspezialität ganz absorbiert. In der
längeren Prosperitätszeit, die dann einsetzte, von dem wachsenden Reichtum auch
ihnen wertvolle Brocken zuteilte und glänzende Ausblikke eröffnete, wuchs in der
Intelligenz die bürgerlich-nationale Ideologie, die sie der sozialistischen
Ideologie der Arbeiter gegenüberstellte, als Ausdruck des zurückgekehrten
Selbstvertrauens der Bourgeoisie. Zur gleichen Zeit verlegte die
Arbeiterbewegung sich ganz auf Reformen; sie wurde praktisch und verlor den
revolutionären Idealismus, der früher die Außenstehenden anziehen konnte. Sie
verlor ihre innere Kraft; und als der Kapitalismus nach dem Krieg in Niedergang
und Krise geriet, war das Proletariat zu schwach, um die Herrschaft zu erobern.
Damit waren die Bedingungen für eine selbständige Klassenbewegung der
Intelligenzler gegeben. Sehen wir zuerst, welche Anschauungen und Ziele ihrer
Klassenlage entsprechen. Sie sehen die Zeichen der Auflösung des
kapitalistischen Systems; sie fühlen am eigenen Leibe die schwere Krise; sie
erkennen mehr oder weniger klar, daß der Kapitalismus keine unbeschränkte
Zukunft vor sich hat, und sie ahnen, daß aus diesem Zustand gewaltige und
gefährliche Konflikte hervorkommen können. Weil sie sich zugleich als geistige
Führer der Gesellschaft, als die Pächter des Intellekts fühlen, als die
Spezialisten des Denkens, liegt hier eine besondre Aufgabe für sie. Sie sind die
Techniker, die die Arbeit, die Produktion zur höchsten Vollkommenheit
emporführen. -Aber durch Kräfte, die außerhalb ihres Einflusses liegen, bricht
die Produktion jämmerlich zusammen. Sie sehen nur allzu klar die Unfähigkeit des
Kapitalismus: einerseits die gehirnlose Anarchie der Produktion,
-135-
die auch ihnen selbst Arbeitslosigkeit und Armut bringt, andererseits die
ungeheure Vergeudung von Arbeitskraft in technisch rückständiger Zwergarbeit.
Sie wünschen Ordnung, Organisation, Produktivität und Vernunft im
gesellschaftlichen Arbeitsprozeß. Sie fühlen sich als die Gehirnmenschen die
geistige Elite, die fähig und dazu bestimmt ist, durch sachgemäße
wissenschaftliche Leitung die Produktion zu regeln und damit enorm zu steigern.
In Amerika ist schon eine Strömung unter den Technikern und Ingenieuren
aufgekommen, die mit der Losung 'Technokratie' zum Ausdruck bringt, daß die
technischen Fachleute die Herrschaft über die Produktion aus den unfähigen
Händen von Börsenleuten, Juristen und Politikern nehmen sollen. Eine vollständig
durchgeführte Organisation der Produktion, unter allgemeiner zentraler Leitung,
die dem einzelnen Kapitalisten die Macht zum Handeln nach eigener Willkür nimmt,
ist eine staatssozialistische Ordnung.
So muß das naturgemäße Klassenziel der Intelligenz beschaffen sein. Es ist eine
Art Sozialismus; aber es ist deshalb noch nicht gegen die Kapitalisten
gerichtet. Es beabsichtigt nicht, die Kapitalisten zu expropriieren oder ihnen
die Profite zu nehmen. Umgekehrt, indem es der wahnwitzigen Vergeudung und
Zerstörung durch die unfähigen Privatunternehmer ein Ende bereitet, wird es die
Gewinne steigern. Es soll nicht die Ausbeutung der Arbeiter, sondern nur die
Anarchie der Produktion aufheben. Aber selbstverständlich wird es auch den
Arbeitern dabei wohlergehen; durch die größere Produktivität der Planwirtschaft
werden die Löhne höher sein können, nominell und reell, während doch zugleich
höherer Mehrwert für das Kapital übrigbleibt. Wenn dann Hunger und Mangel
verschwinden, wird damit zugleich - ein zweites Interesse der Bourgeoisie - der
Anlaß zu Revolten und Revolutionen verschwinden.
Das Ziel ist in der Tat eine sozialistische Ordnung; nicht ein Sozialismus durch
die Arbeiter, sondern ein Sozialismus für die Arbeiter. Durch die höhere
Einsicht der technischen Führer wird die Welt für die Arbeiter besser gemacht.
Also beileibe kein demokratischer Sozialismus; von einer Demokratie, die die
Herrschaft in die Hände der unwissenden Massen legen würde, kann hierbei
natürlich keine Rede sein. Die Arbeiterklasse soll nicht glauben, selbst über
die Produktion herrschen und das Wirtschaftsgetriebe regeln zu können; sie hat,
wie die ganze Gesellschaft, das Heil von der überlegenen Wissenschaft einer
auserwählten Minorität, einer Klasse von Intelligenzlern, zu erwarten, innerhalb
deren die fähigsten Leute durch ihre Fähigkeit an die Spitze geraten.
Der Sozialismus, den die Arbeiterklasse als ihr Ziel aufstellte, ist
international, weil sie die Produktion und die Arbeit als Welteinheit und den
Klassenkampf als eine Weltangelegenhejt sieht. Es gibt mehrere Gründe, weshalb
der Sozialismus der Intelligenz national sein muß. Die Bourgeoisie ist national
und sucht die nationale Einheit fest auszubauen, und die Intelligenz
beabsichtigt zunächst nicht, ihre Ziele als eine der Bourgeoisie feindliche
Maßnahme durchzusetzen. Die Machtorgane, die
-136-
eventuell zur Durchführung nötig sind, bestehen auch nur als nationale Organe.
Die ganze Ideologie der Intelligenz ist bürgerlich und daher
national, weil sie eben diese Ideologie als eine nur-ideologische Denkweise
betrachtet, ohne ihre wirtschaftliche Grundlage zu erkennen. So
muß sie national-sozialistisch werden.
Der Nationalsozialismus in Deutschland ist nur eine erste primitive und rohe
Form dieser Bewegung, die an eine wirkliche sozialistische Ordnung noch gar
nicht denkt. Hier floß die Revolte der Intelligenz gegen die Demokratie zusammen
mit den anderen kleinbürgerlichen und groß-kapitalistischen Quellen der
Bewegung. Es ist bekannt, wie in Deutschland die Universitäten, die Hochschulen,
die Akademiker die besten Stützpunkte des Antisemitismus und die eifrigsten
Agitatoren Hitlers waren. Hier hat die Klassenbewegung der Intelligenz eine so
große innere Kraft entwickelt, daß sie sogar die Masse der jüngeren Arbeiter mit
sich riß. Das war nur möglich, weil durch die innere Entartung der
Arbeiterbewegung in SPD und KPD die Arbeiterjugend keinen eigenen festen
Klassenstandpunkt kannte. Daher schloß sie sich leicht den Zielen des
Nationalsozialismus an: Organisation der Gesellschaft, Aufhebung des
Parteienkampfes, Gleichschaltung der Klassen, Allmacht des Staates zum Zwecke
der Ordnung der Produktion.
In der heutigen nationalsozialistischen Bewegung kann das, was oben als
Klassenziel der Intelligenz dargelegt wurde, noch nicht mehr als eine Phrase
sein, oder eine kaum bewußte Stimmung hinter der Phrase. Ob es mehr werden kann,
wird von den Machtverhältnissen abhängen. Aber eine Macht gegen das Kapital kann
die Intelligenz, sogar wenn sie sich mit dem Kleinbürgertum und dem
rückständigen Teil des Proletariats verbindet, nicht sein. Die Bourgeoisie ist
in Westeuropa und Amerika noch so mächtig, daß sie eine Ordnung der Wirtschaft
nicht weiter zuläßt, als es das Kapital für seine Interessen zulässig erachtet.
Nur wenn durch innere oder äußere Bedrängnisse, Arbeiterrevolten oder Weltkrieg,
das Kapital sich stark bedroht fühlt und sich innerlich spaltet, wären die
Bedingungen für eine ernsthafte sozialistische Umwälzung im nationalen Rahmen
gegeben.
Anders liegt die Sache, wenn in Zukunft, gegen den Druck des faschistischen
Monopolkapitals, die Arbeiterklasse sich zu neuem Kampfe erhebt und sich in
siegreichen revolutionären Erhebungen durchsetzt. Dann ist das Kräfteverhältnis
wieder umgekehrt: das Proletariat schleppt alle Zwischenschichten mit und die
Intelligenz wird sich zu ihm fügen und mitmachen. Aber nur, weil sie diese
Revolution in ihrem eignen Sinne deutet, und nur um darin ihre eigenen Ziele zu
verwirklichen. Dann wird sich zeigen, daß trotz der gleichen Losungen: gegen den
Kapitalismus, für Sozialismus oder Kommunismus, ein tiefer Gegensatz zwischen
dem Klassenziel des Proletariats und dem Klassenziel der Intelligenz besteht.
Das Proletariat hat die Wirtschaft von unten aufzubauen, durch seine
unmittelbare Gewalt über Werkstatt und Produktion; es wird, unter völliger
Ausschaltung und Aufhebung der Bourgeoisie mittels des Rätesystems, die
demokratische Organisation der Gesamtwirtschaft und
-137-
der Gesellschaft durchführen. Das ist die Diktatur des Proletariats. Die
Intelligenz dagegen will die Revolution in einen organisierten Staatssozialismus
ausmünden lassen; sie wird sich dabei stützen auf die sozialdemokratischen und
parteikommunistischen Lehren, sie wird viele Arbeiterführer dieser Richtungen
als Bundesgenossen an ihrer Seite finden; sie wird sich stützen auf die Macht,
welche die bürgerliche Ideologie über die rückständigen Arbeiterschichten hat,
die um so mehr, als sie durch langjährige Krisen demoralisiert sind, noch vor
den radikalsten Zielen der kommunistischen Freiheit zurückschrecken. So wird
sich ein Block bilden, der unter der Fahne des 'Sozialismus' noch einmal die
Herrschaft einer herrschenden Klasse über die proletarische Masse
aufrechtzuerhalten sucht. Der Kampf der Arbeiterklasse für den Kommunismus, für
die völlige Herrschaft über Gesellschaft und Wirtschaft, wird dann der Kampf um
die Leitung der Produktion, gegen diesen Staatssozialismus sein.
3. DAS WERDEN EINER NEUEN ARBEITERBEWEGUNG
3.1. DIE OHNMACHT
Die Arbeiterbewegung zeigt ein Bild der größten Verwirrung. Zahlreiche
Organisationen und Strömungen bekämpfen einander, während die Hungerpeitsche der
besitzenden Klassen die breiten Massen immer aufs neue geißelt. Und nach jedem
Peitschenschlag steigt die Verwirrung im Lager der Arbeiter. Einheitsapostel
beschwören die Arbeiter, den Bruderstreit zu beenden und gemeinschaftlich den
Kampf gegen die besitzenden Klassen aufzunehmen. Sie begreifen nicht das
Geringste von der ganzen Situation. Sie meinen, daß die Arbeiterklasse machtlos
sei durch ihre Gespaltenheit, während in Wirklichkeit die noch stets zunehmende
Zersplitterung durch die immer deutlicher werdende Ohnmacht entsteht. Bei jedem
neuen Peitschenhieb demonstriert die besitzende Klasse den Arbeitermassen, daß
die in den letzten 50 Jahren in mühevollen aufopfernden Kämpfen aufgebaute
Arbeiterbewegung als Waffe dem Kapital gegenüber ohne jeden Wert ist. Die alte
Arbeiterbewegung erweist sich - um mit H.
Gorter zu sprechen - als ein Schwert aus Pappe gegen einen stählernen
Harnisch.
Wie kommt es nun, daß die alte Arbeiterbewegung der kapitalistischen Klasse
nicht gewachsen ist? Wodurch entsteht die Ohnmacht der alten Bewegung? Wir
weisen in diesem Zusammenhang zuerst auf zwei Ursachen hin. Erstens ist die alte
Bewegung völlig auf die schrittweise Verbesserung der Lebenslage im Rahmen des
Kapitalismus gerichtet. Das Fatale dabei ist, daß von einer Verbesserung keine
Rede mehr sein kann, wenn die Kapitale nicht genügend Profit abwerfen, welcher
Zustand bekanntlich in der Krisis allgemein wird. Dann entsteht die Ohnmacht
nicht aus der Schwäche der Arbeiterbewegung, sondern aus der 'natürlichen'
Unmöglichkeit, etwas holen zu wollen, wo nichts ist. Die zweite Ursache liegt
auf anderem Gebiet; es ist die gewaltige Macht des Kapitals.
Das war nicht immer so. Früher waren die Kapitalisten in viel geringerem Maße
organisiert. Darum konnten die Arbeiter auch etwas gegen die Unternehmer
ausrichten, wenn sie in ihrem Berufe die Arbeit niederlegten. Dadurch waren es
fast immer kleine Gruppen, die im Kampfe standen, und darum waren auch die
Gewerkschaften und Berufsvereine die geeigneten Führer dieser Bewegungen. Auch
wenn bei weitem nicht alle Arbeiter in den Gewerkschaften organisiert waren, so
wurde doch die Führung der Gewerkschaften als eine Selbstverständlichkeit
anerkannt. Die 'Bewegung der Arbeiter', d. h. der Streik von Organisierten,
Unorganisierten, Christlichen usw. stellte sich unter die Führung der
'Organisierten Arbeiterbewegung'. Die 'Bewegung der Arbeiter' und die
'Arbeiterbewegung' fallen hier zusammen.
Aber im Laufe der Zeit wird das anders. Die Unternehmer vereinigen sich in
Unternehmerverbänden, die Kleinbetriebe werden zu Großbetrie-
-139-
ben, und diese verbinden sich wieder zu größeren Wirtschaftsorganisationen, wie
Syndikaten, Trusts, Kartellen und Monopolen. Das Kapital bildet dadurch einen so
mächtigen Block, daß die auf einzelne Berufe beschränkten Streiks der Arbeiter
dagegen wirkungslos abprallten. Die Gewerkschaften trachteten. darum die Streiks
zu vermeiden; sie sahen mehr und mehr ihre Aufgabe in Verhandlungen und
Zusammenarbeit mit den Unternehmerverbänden, was sich schließlich zur
'Arbeitsgemeinschaft' verdichtete. Sie mußten diesen Weg wohl gehen, weil mit
der alten Kampfesweise auf der Basis des Berufes nichts mehr auszurichten war.
Doch die 'Arbeitsgemeinschaft' zwischen Kapital und Arbeit kann auf die Dauer
nur zur Folge haben, daß der Lebensstandard der Arbeiter den Kapitalsinteressen
zum Opfer gebracht wird. Und weil die Gewerkschaftsführer, als tatsächliche
Besitzer der Gewerkschaftsorganisation, überhaupt nicht imstande waren, der
Macht des Kapitals etwas Gleichwertiges entgegenzustellen, mußten sie in allem
zustimmen. Aber wenn die Arbeiter sich nicht an die Verträge und Abmachungen der
'Arbeitsgemeinschaft' hielten und durch wilde Streiks den Kampf selbst
aufnahmen, folgte ebenso sicher die Niederlage. Die Ursache dieser Niederlagen
ist darin zu suchen, daß eine Berufsgruppe viel zu schwach ist, um das Kapital
niederzuringen.
Von einer Machtentfaltung gegenüber dem Kapital kann erst dann die Rede sein,
wenn die Streikenden den Versuch machen, ihre beschrankte Berufsfront zu
durchbrechen, wenn sie die Bewegung ausdehnen, ohne Rücksicht zu nehmen auf
Berufs- oder Organisationsgrenzen, -wenn sie die ganze Arbeiterklasse mit in den
Kampf hineinziehen. Erst wenn sie sich von der 'Berufsfront' zur 'Klassenfront'
entwickeln, dann entfalten sie Macht.
3.2. DIE KLASSE 'AN SICH' UND DIE KLASSE 'FUR SICH'
In der kommenden Entwicklung wird die Klassenfront wachsen. Oder anders gesagt:
in der Zukunft werden die Arbeiter, getrieben durch die Verhältnisse, erst in
Wahrheit ihre Bindung, ihre Bewußtwerdung als Klasse finden. Denn wenn wir die
Dinge sehen wollen, wie sie tatsächlich sind, dann müssen wir uns darüber klar
sein, daß allerdings die Arbeiter gegenüber dem Kapital eine Klasse bilden; die
Besitzenden behandeln die Arbeiter ohne Frage als totale Klasse. Die Arbeiter
sind insofern eine Klasse als solche, sie bilden eine Klasse 'an sich'. Aber sie
sind sich dessen nicht bewußt; es ist noch nicht tief genug durchgedrungen, daß
sie als Klasse gemeinsame Interessen und Aufgaben haben. Sie bilden noch keine
Klasse 'für sich'. Zwar ist schon ein unbestimmtes Gefühl von
Kiassenzusammengehörigkeit vorhanden, aber es wird noch überschattet von dem
Gruppengefühl; man fühlt sich mit der Berufsgruppe enger verbunden als mit der
Klasse im allgemeinen.
Die revolutionären Arbeiter sind gar leicht geneigt, von der ganzen
-140-
Klasse anzunehmen, daß sie dem revolutionären Teil gleiche. Wenn sie in
Versammlungen ihre eigenen Auffassungen formulieren, dann geschieht das in der
Weise: Die Arbeiterklasse wolle dieses oder jenes, sie stelle sich auf diesen
oder jenen Standpunkt, sie sage dies oder das. -Aber in Wirklichkeit sagt die
Arbeiterklasse nichts, sie tut nichts und stellt sich auf keinen Standpunkt. Sie
ist nicht 'für' und nicht 'gegen'. Als aktive Klasse besteht sie nicht. Sie
besteht wie jedes tote Ding, also passiv. Als lebendes, aktives Wesen besteht
sie erst, wenn sie in Bewegung und zum Bewußtsein ihrer selbst kommt.
Ein vollkommener, unüberbrückbarer Gegensatz zwischen der Klasse 'an sich' und
der Klasse 'für sich' besteht natürlich nicht. Man wird mit Recht bemerken, daß
die Arbeiterklasse im verflossenen Jahrhundert mehrere Male als Klasse 'für
sich' aufgetreten ist. Daß die Arbeiterklasse tatsächlich etwas dachte und etwas
sagte, daß sie wohl einen Standpunkt eingenommen hat. So äußerte sich das
Klassenbewußtsein in der parlamentarischen Periode im Kampf um demokratische
Rechte und soziale Verbesserungen; es zeigte sich aktiv in Massenversammlungen,
Demonstrationen und politischen Streiks (Massenstreiks für allgemeines Wahlrecht
in Belgien, blutige Demonstrationen gegen das Dreiklassenwahlrecht in Preußen
u.a.)
So gesehen hat es den Anschein, als ob sich die Arbeiterklasse zurückentwickelt
habe und ein Klassenbewußtsein nicht mehr vorhanden sei. Doch dem ist nicht so.
Auch eine Klasse kann ihre Ziele nur nach -den erreichbaren Aufgaben richten,
Aufgaben, deren Durchführung im Bereich ihrer Kräfte liegt. Was für jeden
Menschen im besonderen gilt, das gilt in diesem Sinne auch für die ganze Klasse.
[...] Ein Arbeiter kann seine 'Ziele' nur innerhalb des Erreichbaren setzen.
So
steht es auch mit der Arbeiterklasse. Wenn große Teile der Arbeiterschaft in
Aktion treten, dann beginnen sie diese Bewegung nicht mit dem Ziel, den
Kapitalismus zu Fall zu bringen und das kommunistische Wirtschaftsleben
einzuführen, weil sie nur zu gut wissen, daß das weit außerhalb der
gegenwärtigen Klassenkräfte liegt. Die Arbeiterklasse handelt nicht, um die
eine oder andere Theorie zu verwirklichen, sondern
um diese oder jene Mißstände, die unerträglich geworden sind, aus dem Wege zu
räumen. Sie kann sich darum nur begrenzte Ziele setzen, die im Rahmen ihrer
jeweiligen Klassenkräfte bleiben. Wenn die Amsteriaamer Arbeiter bei den Unruhen
im Jahre 1934 nicht weiter gingen, als daß sie die Polizei aus ihrem Stadtteil
vertrieben, dann war daran nicht als Mangel an Klassenbewußtsein schuld, sondern
ein Mangel an Kräften, die ein Weitergehen nicht zuließen.
Wäre diese Bewegung durch größere Streiks unterstützt worden, dann hätte sich
zugleich das Ziel
erweitert. Größere Kräfte machen ein weiter gestecktes Ziel möglich. Das Ziel
ist nicht etwas Feststehendes, keine abgesteckte Fahrstraße, wodurch sich der
Strom der Geschehnisse zu richten hat, sondern es wächst mit den Kräften. Das
Ziel im Kampf ist eine Funktion der Kraftentfaltung.
Und mit den Mitteln, die die Massen im Kampf anwenden, verhält es
-141-
sich ebenso. Die Massen sind nicht frei in der Wahl ihrer Kampfmittel, sondern
sie sind an die Kraftverhältnisse der Klasse gebunden. Das Wachsen der Kräfte
bei den Arbeitern hat auch ein Wachsen der anzuwendenden Mittel im Gefolge.
Kraft, Mittel und Ziel stehen zueinander in Wechselbeziehung und sind in diesem
Sinne untrennbar miteinander verbunden.
Dieses Verbundensein von Kraft, Mittel und Ziel muß bei allen Fragen im Auge
behalten werden. Für den gegenwärtigen Zustand erklärt es das scheinbare
Zurückweichen der Arbeiterklasse, das scheinbare Zurückfallen in einen Zustand
ohne Klassenbewußtsein und die Zurückentwicklung von einer Klasse 'für sich' zu
einer Klasse 'an sich'. Das Zurückfallen in die Passivität, die scheinbar
endlose Geduld, womit alle Unterdrückung und Ausbeutung getragen wird, kann nur
erklärt werden durch die Unzulänglichkeit der bis dahin im Klassenkampf
angewandten Mittel; aber auch dadurch, daß die Klassenkräfte für andere Mittel
noch nicht groß genug sind. Die Lösung der für die Arbeitermassen brennenden
Fragen ist noch nicht im Bereich ihrer Kräfte, darum haben sie jetzt auch kein
'Ziel'. Aber dies ist kein Zurückfallen in einen Zustand ohne
Klassenbewußtse.in, es ist die Vorbereitung neuer Kräfte-bildung auf neuer
Grundlage, um die Lösung der Fragen in den Bereich ihrer Kräfte zu bringen. Die
hoffnungslose Verwirrung und Gespaltenheit der Arbeiterklasse, der Zusammenbruch
der alten Arbeiterbewegung ist in Wirklichkeit nur die Vorbereitung zu einem
neuen Sprung zur Entfaltung der Klassenkräfte. Und damit wird die Arbeiterklasse
wieder eine Klasse 'für sich'.
Die Arbeiter werden in der kommenden Entwicklungsperiode von einer Klasse 'an
sich' zu einer Klasse 'für sich' wachsen. Nicht durch die Propaganda der
Revolutionäre, sondern durch die harte Praxis des Lebens. Die besitzende Klasse
macht in Zukunft stets mehr und direkt, und für die Massen sichtbarer, die
Staatsmacht zum Ausbeutungsapparat. Dabei nimmt der unschuldigste Widerstand der
Arbeiter unmittelbar die Form eines Kampfes gegen den Staat an und tritt dieser
gegen sie auf, als ob sie schon wirkliche Revolutionäre, als ob sie
klassenbewußte Arbeiter wären. Wenn die meuternden Matrosen auf dem Panzerschiff
'De zeven Provincien' in ihrer Naivität bei der Annäherung des Flugzeuges
lachend an Deck standen, dann wurde ihnen durch eine fallende Bombe deutlich
gemacht, daß die herrschende Klasse in solchen Dingen keinen Spaß
versteht.
Und wenn die Bewohner des Amsterdamer Stadtteils Jordaan bei einer unschuldigen
Demonstration gegen die Herabsetzung der Erwerbslosenunterstützung mit Tanks und
Maschinengewehren bearbeitet werden, dann werden sie nicht behandelt als eine
Gruppe von Arbeitern, die nur gegen bestimmte Maßnahmen der Regierung
protestieren, sondern als ein Teil der revolutionären Klasse, die das ganze
kapitalistische System zu Fall bringen will.
Das Wesentliche der kommenden Periode ist, daß die herrschenden Klassen jeden
wirklichen Widerstand von seiten der Arbeiter im Blut ersticken müssen.
Belagerungszustand, Aufhebung der Vereins- und
-142-
Versammlungsfreiheit, Verbot von Zeitungen und Schriften; Tanks,
Maschinengewehre, Gasbomben und Handgranaten werden die gebräuchlichen Mittel um
die 'Ordnung' aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen
Die Ursache aber fur das gewalttätige Auftreten der herrschenden Klassen die den
Betrug mit den demokratischen Scheinrechten fahrenläßt liegt in der zugespitzten
Situation selbst. Die Bourgeoisie fühlt sehr gut, daß für die Arbeiter Grund
genug vorhanden ist, um aufständisch zu werden Sie fürchtet die Revolution mehr,
als die Arbeiter denken. So kommt bei dem kleinsten Widerstand sofort die Furcht
zum Durchbruch, daß er größeren Umfang annehmen könne. Es gibt für sie dann nur
die eine Möglichkeit, selbst den kleinsten Beginn im Keim zu ersticken. Das
Wissen von der eigenen, innerlich morschen Position macht sie gegenüber jedem,
noch so bedeutungslosem Widerstand mißtrauisch.
Das hilft ihr auch im Beginn. Die verschärfte Machtentfaltung der Bourgeoisie
erzeugt bei den Arbeitern ein Gefühl von Ohnmacht. Sie können dem gewaltigen
Machtapparat der Bourgeoisie nichts gegenüberstellen; sie fühlen nur die
Unzulänglichkeit der bis jetzt angewandten Mittel. Darum fühlen sie sich schwach
und machtlos. Nur Einzelne geben sich dann Rechenschaft von den neuen
Verhältnissen und kommen dabei zu der Überzeugung, daß neue Mittel und
Auffassungen nötig sind In verschwommenen Formen wächst dann auch bei den Massen
ein derartiges Bewußtsein. Aber erst spontane, durch schweren Druck und
unerträgliches Elend verursachte revolutionäre Ausbrüche zeigen den Massen ihre
eigene Kraft, und das Vertrauen in diese Kraft beginnt erneut zu wachsen.
Die Bourgeoisie macht aus jedem Widerstand einen politischen Machtkampf Aber
damit bringt sie selbst den Kampf auf eine viel breitere Front Denn während es
zuerst um die Interessen dieser oder jener Arbeitergruppe ging, zieht sie nun
selbst durch ihre politischen und militärischen Maßnahmen andere Gruppen in den
Konflikt hinein. Die Bourgeoisie bringt den Kampf von der Berufsfront zur
Klassenfront. Sie schweißt die Arbeiter von einer Klasse 'an sich' zusammen zur
Klasse 'für sich'.
Dieses Auftreten der besitzenden Klasse geschieht keineswegs aus 'freiem
Willen'. Was sie treibt, das ist der Zustand des Kapitalismus selbst Die
kapitalistische Produktion, und damit auch das Gesellschaftsleben kann nur
funktionieren, wenn sie genügend Profit abwirft. Fehlen die nötigen Profite,
dann kommt ein größerer Teil der Produktion zum Erliegen. Die Schaffung neuer
Profitbasen ist darum die erste Forderung der besitzenden Klasse. Dabei werden
die Interessen des Großkapitals in erster Linie berücksichtigt, weil sie den
wichtigsten Teil des gesellschaftlichen Lebens bestreiten. Darum wird auch die
Führung des Gesellschaftslebens dem Großkapital übertragen. Oder anders gesagt:
Die Konzentration des Wirtschaftslebens findet ihren politischen Ausdruck in der
Konzentration der politischen Macht in der Hand Einzelner. Und neben der
Konzentration der politischen Macht in der Hand einzel-
-143-
ner mächtiger Kapitalgruppen, die den Staat beherrschen, erscheint die
Notwendigkeit, die Lebenslage der Arbeitermassen herabzudrücken, um die
Rentabilität des Kapitals wiederherzustellen. Diese Entwicklung ist die
Entwicklung zum Faschismus und Nationalsozialismus;. sie ist unvermeidlich im
Gefolge des Monopolkapitals. Sie ist gleichbedeutend mit dem Ende der
demokratischen Entwicklung der Gesellschaft. Die 'demokratischen Rechte' -
Wahlrecht, Organisationsrecht, Versammlungsfreiheit usw. - können nicht mehr
geduldet werden. Es sind Rechte, die nur Organisationen, Gruppen oder Personen
zugestanden werden, die sich bedingungslos der Politik des Monopol-Kapitals
unterwerfen.
3.3. DER NATIONALSOZIALISMUS
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob sich die Arbeiter dem Drang zur
unverhüllten Diktatur des Großkapitals entgegenstellen. Doch ist das nicht so.
Es ist umgekehrt sehr wahrscheinlich, daß große Teile der Arbeiter in
West-Europa und Amerika diese Entwicklung kräftig
unterstützen. Die Massen denken im großen und ganzen noch vollkommen bürgerlich,
weil eben die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander in
bürgerlich-kapitalistischen Formen ablaufen. Erst wenn diese
Gesellschaftsordnung sich in den notwendig kommenden Zusammenstößen auflöst,
wenn sich die bürgerlich-kapitalistische Ordnung als absolut unfähig erweist,
die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu regeln, dann wird sich auch
das Denken der Massen verändern. Solange aber noch die besitzende Klasse unter
der Führung des Großkapitals den Konkurrenzkampf fortsetzt, so lange ist sie in
ihrem Lebenselement und reißt auch die Massen in diesem Kampfe mit sich fort.
Der tiefere, ökonomische Sinn des Nationalsozialismus ist doch nur, daß er die
Ordnung, die Organisation schafft, mit welcher das Monopol-Kapital den
Konkurrenzkampf auf erhöhter Stufe fortsetzt. Die Einheit der Nation, die
'Volksgemeinschaft', wird so zu dem 'erhabenen Ziel', dem sich alle besonderen
Gruppen- und Klasseninteressen unterzuordnen haben. Sie wird das Instrument, mit
dem das Monopol-Kapital seine ökonomischen und schließlich auch seine
militärischen Kämpfe führt. Von jedem Einzelnen wird verlangt, daß er am Aufbau
des Wirtschaftslebens mitarbeitet, um 'Brot und Arbeit für alle zu schaffen'.
Die Besitzenden müssen ebenso ihre Interessen dem 'Volksganzen' unterordnen,
nicht ihre besonderen Interessen im Auge haben (hinter dieser Phrase versteckt
sich der Kampf des Großkapitals gegen die kleineren Kapitale). Daß auch die
Arbeiter ihre besonderen Gruppen-Interessen zugunsten des 'Volksganzen'
fahrenlassen müssen, versteht sich von selbst, denn: "Wenn es der
Gesamtwirtschaft gut geht, kann es dem Arbeiter nicht schlecht gehen." Und
schließlich muß dann, um den Aufbau einer solchen 'Volksgemeinschaft'
sicherzustellen, jede Propaganda,
die dagegen gerichtet ist, unterdrückt werden (Aufhebung der Demokratie).
-144-
Diese Phraseologie knüpft offensichtlich an das Denken breiter Massen an. Die
Arbeiter, die unter dem Einfluß der christlichen und neutra- len Gewerkschaften
stehen, hatten schon immer die 'Volksgemeinschaft' als ideologische Grundlage.
Die Sozialdemokratie und die sogen. freien Gewerkschaften andererseits hatten
wohl eine Sprache, die dem Marxismus der Wissenschaft des KIassenkampfes
entlehnt war, aber ihre ganze Theorie und Praxis hatte schließlich doch die
'Volksgemeinschaft' als zentralen Punkt. Alle
bis dahin bekannt gewordenen Sozialisierungspläne -auch der 'Plan de Man' der
belgischen Arbeiterpartei - haben 'die Volksgemeinschaft' zur Basis. Man sagt sicher nicht zu viel, wenn man
konstatiert, daß dergleichen Auffassungen über die Volksgemeinschaft das Denken
großer Massen in West-Europa und Amerika beherrschen. Nur insofern die
Bourgeoisie bei der Durchführung der neuen Ordnung die Demokratie aufhebt, stößt
sie auf Widerstand, aber in der Praxis wird sich zeigen, daß dieser nicht sehr
groß sein wird. Die jetzt lebende junge Generation hat von der Demokratie noch
nicht viel Gutes gesehen und wird zu ihrer Verteidigung auch wohl kaum eine Hand
erheben. Sie verlangt die Lösung der täglichen Probleme; wenn es möglich ist,
mit der Demokratie, wenn es besser ohne diese geht, dann sind sie damit auch
zufrieden.
3.4. DER KAMPF PUR DIE DEMOKRATISCHEN RECHTE
Wie müssen sich nun die revolutionären Arbeiter zu der Aufhebung der
bürgerlich-demokratischen Rechte verhalten? Ist es 'harte revolutionäre
Pflicht', die politische Rechte bis zum äußersten zu verteidigen, wie die
'Fakkel' vom i. Februar schrieb (Organ der
O.S.P.)? Wir sagen nein! Wir sind der Ansicht, daß, wer für die
'demokratischen Rechte' kämpft,
eine verlorene Sache verteidigt. Die Demokratie ist in einer Gesellschaft, in
der das Kapital in wenigen Händen konzentriert ist, nicht am Platze. Die
Demokratie gehört in eine Gesellschaft, wo der Kleinbesitz vorherrscht, der auf
diesem Wege seine gegensätzlichen Interessen vertritt.
Aber wenn die Konzentration im Wirtschaftsleben sich durchsetzt, dann muß
dieser Prozeß notwendigerweise auch auf politischem Gebiet folgen. Es ist eine
bekannte marxistische Regel, daß die Entwicklung in der materiellen Grundlage
der Gesellschaft sich auch in ihrer Politik widerspiegelt. Von diesem
Gesichtspunkt aus ist die politische Herrschaft des Monopolkapitals ein
notwendiges Geschehen. Bei der Herrschaft des Großkapitals ist ein 'Zurück' zur
Demokratie unmöglich, ebenso wie im Augenblick ein Zurückgehen zum Kleinbetrieb
unmöglich ist. Wer heute für demokratische Rechte kämpft, versucht das Rad der
Geschichte zurückzudrehen, ebenso wie die Handweber vor hundert Jahren,
als sie die Fabriken stürmten, um die Maschinen zu vernichten. Oder auch wie die
Hafenarbeiter, die streikten, um die Einführung der Getreide-Elevatoren zu
verhindern. Man könnte ebensogut einen Verein zur Verhinderung von
Sonnenfinsternissen errichten.
-145-
Eine vorwärtsstrebende Klasse kann sich nur Ziele, die im Zuge der Entwicklung
liegen, setzen. Die neue Arbeiterbewegung muß den Blick nach vorne richten. Sie
hat keine Ursache, der verlorenen guten alten Zeit nachzutrauern; die neuen
Verhältnisse sind für sie richtunggebend. Es darf bei ihr kein Zweifel darüber
bestehen, daß die bürgerlich-demokratische Periode endgültig vorbei ist, weil
sie mit der Konzentration der Wirtschaft nicht übereinstimmt. Eine neue
Arbeiterbewegung kann erst dort beginnen, wo erkannt wird, daß die bürgerliche
Demokratie wirtschaftlich, und darum auch politisch, unmöglich geworden ist und
daß die Arbeiterklasse eine andere Demokratie erobern muß, und zwar die
Demokratie der Arbeiterklasse.
Die Entwicklung zur absoluten Herrschaft des Monopolkapitals ist eine Tatsache,
und die Aufhebung der Demokratie ist es nicht weniger, wenn auch bei der Art und
Weise, wie dieses geschieht, verschiedene Möglichkeiten offenstehen. Die
Groß-Bourgeoisie hat die Demokratie als eine für ihre Zwecke unbrauchbare Waffe
zur Seite gelegt, um sie später wahrscheinlich noch einmal aus der Rumpelkammer
hervorzuholen. Sie wird danach greifen, wenn die Arbeiter in Massenbewegungen
aufmarschieren und den Kapitalismus ernsthaft bedrohen. Dann kann die Demokratie
noch einmal ihre Dienste erweisen, indem sie die Arbeiter verwirrt und spaltet,
um so der drohenden Revolution zu begegnen. Dann wird die bürgerliche Demokratie
für die Arbeiter erneut von Bedeutung, aber nicht indem sie sich für ihre
Wiederherstellung einsetzen, sondern indem sie dieselbe bekämpfen. Die
proletarische Revolution muß die bürgerliche Demokratie ebenso überwinden wie
die absolute Herrschaft des Monopolkapitals; sie kann nur siegen unter der
Herrschaft der Arbeiterräte, unter der Demokratie der Arbeiterklasse.
Der Kampf für die demokratischen Rechte unter den heutigen Verhältnissen trägt
utopischen Charakter. Aber nicht nur das: er ist auch offensichtlich unmöglich.
Welchen Sinn hat es, eine Faust machen zu wollen, wenn man nicht einmal eine
Hand dazu hat? Vor Großsprecherei in Versammlungen, operettenhaften
Massendemonstrationen oder einem Streik hier und dort, womit man die Rechte der
Demokratie verteidigen will, weicht die Bourgeoisie keinen Schritt zurück. Für
die Niederkämpfung der Groß-Bourgeoisie sind andere Kräfte nötig.
Wir müssen der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen, daß die Massen die neue,
ihnen eigene Form des Kampfes noch finden müssen. Die alten Methoden des Kampfes
die Wahlen, die Demonstration, die Protestversammlung, die Petitionen, der auf
Berufe beschränkte Streik - mit oder ohne Führung der Gewerkschaften - der
örtliche Aufstand von einzelnen, bewaffneten Gruppen, wie heroisch dieser auch
ausgefochten sein mag -, es ist ihnen alles wie ein gebrochenes Schwert aus
der Hand geschlagen. Sie haben keine größere Wirkung wie eine Revolverkugel
gegen eine 40 mm-Panzerplatte. Die große Masse der Arbeiter weiß dies sehr gut,
und darum ist auch von irgendwelchem Widerstand nichts zu
bemerken, während doch der Hungerriemen immer enger geschnallt werden muß.
-146-
Nicht weniger wahr ist, daß im Klassenkampf der Gegenwart und Zukunft
Hunderttausende, ja Millionen aufmarschieren müssen, um den
Machtapparat der besitzenden Klasse zu erschüttern. Auch dies weiß die große
Masse sehr gut, und sie weiß ebensogut, daß noch kein geistiges
Band, kein Lebensprinzip vorhanden ist, wodurch die Millionen im Kampf vereint
werden.
Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Kampf in der zu
Ende gehenden Periode und dem, der jetzt beginnt. Bis jetzt kämpften die
Arbeitergruppen jede für sich, und was sie trieb, das war die Wahrnehmung ihrer
Berufsinteressen als Metallarbeiter, Hafenarbeiter, Transportarbeiter usw. Es
waren keine allgemeinen Klasseninteressen, und dazu hatten sie auch kein großes,
sie zur Einheit verbindendes Prinzip nötig. Ein organisatorischer Apparat
genügte, um den Kampf zu führen und ihm Richtung zu geben.
Aber der Führung des Kampfes der Millionen, die jetzt auftreten müssen, ist kein
organisatorischer Apparat gewachsen. Und doch müssen sich die Millionen in einer
Richtung bewegen, in ein gemeinschaftliches
Strombett geleitet werden, wenn sie zum gemeinschaftlichen Handeln kommen
sollen. Und weil ein organisatorischer Apparat dazu nicht imstande ist, muß
durch etwas anderes diese Funktion verrichtet werden.
Das geschieht, wenn in und durch den Kampf ein neues Lebensprinzip in den Massen
erwächst. Es entsteht nicht durch Predigen, man kann es nicht von außen den
Massen aufdrängen oder wie eine Flüssigkeit in ein leeres Faß hineingießen. Die
große Einheit der gleichgerichteten Klassenkräfte wächst im Kampf und durch den
Kampf, und sie kann sich nur festigen und von Dauer bleiben, wenn sich das
Selbsthandeln von unten auf, in neuen organisatorischen Formen bahnbricht, wenn
sich die Organisationen durchsetzen, die im Befreiungskampf das Selbsthandeln
zur ganzen Tat vereinen, die Bindeglieder sind im Kampfe um die Freiheit, und
hierbei erwächst ein Bewußtsein, das diese Freiheit, dieses Herr-Sein über die
eigene Arbeit, über die Arbeitsmittel, über die gesellschaftliche Produktion
überhaupt, zum Inhalt hat. Es ist die Umwälzung der Gedankenwelt der
unterdrückten Klasse zum Kommunismus. Alle Erfahrung des Kampfes, die auf die
Beherrschung der Klassenkraft gerichtet ist, findet in den Massen ihren
Niederschlag als Klasseneinheit, Freiheitskampf, Kommunismus. Es wird so ein
neues Lebensprinzip, wodurch die Massen fester verbunden, zu größerer
Aufopferung und größerem Mut getrieben werden, mehr Disziplin und Solidarität zu
üben wissen, als eine feste, formelle Organisation jemals von ihnen verlangen
konnte.
Der Kommunismus ist, so gesehen, nichts anderes als die Selbstbefreiung der
Massen, sie müssen selbstbewußt, d. h. in diesem Sinne kommunistisch sein. Hier
unterscheiden sich die russischen Kommunisten und die von ihnen beeinflußte
dritte Internationale von dem Kampf der Arbeiterklasse um den Kommunismus. Sie
sind der Ansicht, daß es ge~iüge, wenn die Masse die kommunistische Partei zur
Regierungspartei macht, und daß diese, einmal im Besitz der politischen Macht,
den Kom-
-147-
munismus aufbaut. Die Massen sind ihnen das Werkzeug, das von der Partei
angewandt wird. Wer so den Kommunismus auffaßt, kann damit auch die Lohnarbeit
verbinden und findet auch noch kein Haar in der Suppe, wenn die dritte
Internationale mit Charakterlosigkeit und Betrug gegenüber den eigenen Genossen
zusammengekittet ist. Die neue, revolutionäre Arbeiterbewegung aber muß den
Kommunismus wieder mit der Hingabe für die Klasse verbinden. Sie hat die Treue
und die Kameradschaft nötig; sie muß helfen bei der Überwindung der Lohnarbeit,
indem sie die Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens durch die große breite
Masse selbst befördert. Dann erst ist schließlich sowohl die Diktatur als auch
die 'Demokratie' einer herrschenden Schicht gegenstandslos geworden.
3.5. KLASSENKAMPF UND KOMMUNISMUS
Eine neue Arbeiterbewegung wird in ihrer Propaganda das Wort Kommunismus kaum
mehr nötig haben, und zwar, weil der allgemeine Begriff 'Kommunismus' konkretere
Formen annimmt. Die allgemeine Formulierung, daß er ein neues ökonomisches
System ist, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben ist,
genügt nicht mehr. Das 'neue ökonomische System' der Theorie war bis dahin ein
leeres Gefäß, es lebte nicht. Es beginnt jetzt im Klassenkampf, wo es darum
geht, die gesellschaftlichen Kräfte durch die Menschen selbst zu beherrschen,
mit konkreten Dingen, mit Leben zu füllen. Wenn wir uns bis dahin vom
Kommunismus als einem ökonomischen System eine Vorstellung gemacht haben, dann
sehen wir jetzt schon, daß wir nur eine Seite im Auge hatten, nur einen
schwachen Abglanz von den Problemen sahen. So wie die Naturwissenschaft auf dem
Wege der Technik für die Gesellschaft die Naturkräfte unterworfen hat, so muß
die Menschheit die gesellschaftlichen Kräfte leiten und beherrschen. Die
Menschheit muß diese gesellschaftlichen Kräfte, die sie selbst erzeugt und wovon
sie heimgesucht wird wie von blinden Naturprozessen, erkennen lernen und
unterwerfen. Die Menschen selbst müssen alle gesellschaftlichen Kräfte leiten
und beherrschen. Dazu aber ist es notwendig, daß alle Funktionen im
gesellschaftlichen Leben von den Massen unmittelbar ausgeübt werden; die Organe
- von den Massen dazu geschaffen - sind nicht mehr als besondere
Herrschaftsorgane von ihnen zu trennen. Sie können nur das Instrument sein,
womit die Massen verwirklichen, was sie in gemeinschaftlicher Beratung
beschlossen haben. Das erst ist der eigentliche Inhalt der Arbeiterräte. Darum
ist auch die Durchführung des Kommunismus zugleich die Durchführung der
Arbeiter-Demokratie. Die Verwaltung der ökonomisch-gesellschaftlichen Kräfte
erscheint in diesem Zusammenhang wohl als die materielle Unterlage der
Gesellschaft, aber doch nur als ein Teil der kommunistischen Gesellschaft, die
als Ganzes weit darüber hinaus geht.
So gesehen beginnt die Entwicklung des Kommunismus nicht erst
-148-
dann, wenn die Arbeiter die Macht in der Gesellschaft erobert haben und eme neue
Ordnung im Wirtschaftsleben durchführen. Sie beginnt schon jetzt, heute schon,
wenn die Arbeiter im Klassenkampf ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen und
ihre Kämpfe selbst führen. Dort wird die Arbeiter-Demokratie geboren, die die
gesellschaftlichen Kräfte beherrscht. So wächst in der Selbstbewegung der Massen
der Kommunismus heran; es ist ein Entwicklungsprozeß, in dem die Massen ihre
eigenen Klassenkräfte führen und zielbewußt anwenden lernen. Und erst dann, wenn
die Arbeiterklasse ihre eigenen Klassenkräfte in der Hand hat, dann erst ist sie
imstande, auch die wirtschaftlichen Kräfte der Gesellschaft zu leiten und zu
verwalten. In diesem Sinne wird auch der Ausspruch von Karl Marx zur Wahrheit,
daß die neue Gesellschaft im Schoße der alten geboren wird.
Hiermit ist für den Kommunismus die einfachste, aber auch zugleich wesentlichste
Formel gefunden. Sie kann von jedem Arbeiter ohne weiteres begriffen werden,
wenn er auch ihre praktische Durchführung noch so sehr anzweifelt. Zugleich wird
damit deutlich, daß die sogenannte Diktatur des Proletariats, wovor bürgerliche
Trabanten die Arbeiter graulich machen, in Wahrheit nichts anderes ist als die
Demokratie der Arbeiter. Aber jeder Arbeiter begreift auch, daß diese
Arbeiter-Demokratie nichts mit dem Wahlrecht zu bürgerlichen Parlamenten zu tun
hat. Die Verteidigung des allgemeinen Wahlrechtes als eine Verteidigung der
demokratischen Rechte der Arbeiterklasse zu propagieren bedeutet daher auch
nichts anderes, als dem Erkennen wirklicher demokratischer Rechte
entgegenzuarbeiten.
Die Beherrschung der eigenen Klassenkräfte durch die Masse wird nicht durch
Propaganda hervorgerufen; die harte Praxis des Lebens drängt die Massen in diese
Richtung. Die demokratische Periode ist praktisch international abgeschlossen.
Legale Organisationen können nur noch versuchen, beginnende Klassenaktionen so
schnell wie möglich einzudämmen. In einer Reihe von Niederlagen befreit sich die
Arbeiter-Masse von dieser Führung.
Unter diesen Bedingungen entsteht die neue Arbeiterbewegung mit völlig neuen
Prinzipien. Es sind kleine illegale Gruppen, die das Wesentliche des
Befreiungskampfes in der selbständigen Bewegung der Massen sehen. Darum
erstreben sie auch nicht die Macht für ihre Partei oder Gruppe; nicht ihre
Organisation soll stark werden, sondern die Klasse.
Das Werden der Selbständigkeit der Massen ist ein langwieriger Prozeß, der sich
in einer wahren Hölle vollzieht. Denn noch niemals in der Geschichte der
Menschheit stand eine unterdrückte Klasse einem so mächtigen Feinde gegenüber,
noch niemals einer solch mörderischen Macht; noch niemals zuvor war eine solche
umfangreiche, alles umfassende Aufgabe, wie die Beherrschung der
gesellschaftlichen Kräfte der Welt, zu lösen. Und doch muß die Arbeiterklasse
diesen gewaltigen Streit aus-fechten, weil er nicht zu umgehen ist und es keine
andere Macht gibt, die es kann. Denn die entfesselten Kräfte der
kapitalistischen Gesellschaft bedrohen die ganze Menschheit mit Vernichtung. Die
ganze
-149-
Menschheit sieht mit Angst und Beben dem näherkommenden Massenmord des Krieges
mit vergifteten Gasen und Pestbazillen entgegen dem Resultat der durch die
kapitalistische Produktion entfesselten, unbeherrschten gesellschaftlichen
Kräfte. Niemand will diesen Massenmord, und doch ist jeder davon überzeugt, daß
er schon in beängstigender Nähe ist und schließlich wie ein unabwendbares
Unwetter losbrechen wird. Es ist ein Wahnsinn, den niemand will und der doch mit
der Sicherheit einer Naturkatastrophe über die Welt heult. Und weil dies so ist,
muß um die Beherrschung der gesellschaftlichen Kräfte gekämpft werden. Auch wenn
in einem zweiten Weltkrieg ganze Völker vernichtet sind, dann bleibt noch immer
die Beherrschung der gesellschaftlichen Kräfte als Problem, das noch nicht
gelöst ist. Neue, noch schrecklichere Katastrophen tauchen am Horizont auf.
Darum ist die Beherrschung der gesellschaftlichen Kräfte durch die Massen selbst
das Problem von heute und auch der kommenden Zeit.
Allein die Arbeiterklasse mit ihrer Millionenmacht kann diese Aufgabe erfüllen.
Sie ist die produktive Klasse im Kapitalismus, und sie ist als solche allein
imstande, die gesellschaftlichen Produktivkräfte zu beherrschen. Das aber ist
der wichtigste Teil der Aufgabe, denn die Produktivkräfte sind der Bronn, aus
dem alle anderen gesellschaftlichen Kräfte gespeist werden.
Die Arbeiterklasse ist hierbei auf sich allein angewiesen. Sozialdemokraten und
III. Internationale rufen die Intellektuellen und den Mittelstand zu Hilfe, um
die Produktivkräfte zu zähmen. Sie suchen Hilfe dort, wo keine zu finden ist.
Der Versuch zur Beherrschung der Produktivkräfte durch Intellektuelle und
Mittelschichten nimmt die Form der nationalen Beherrschung der Arbeiterklasse
an, er endet im Nationalsozialismus. Nicht die Produktivkräfte werden gezähmt,
sondern die einzige Kraft, die dazu imstande ist, wird unterworfen, und dadurch
werden die Gegensätze im internationalen Maßstabe verschärft. Das Her-aufziehen
neuer Weltkatastrophen wird dadurch beschleunigt.
Die Arbeiterklasse, die den Mehrwert erzeugt, kann auch einzig und allein die
Quelle des Mehrwertes zum Versiegen bringen, indem sie die Lohnarbeit unmöglich
macht und neue Bewegungsgesetze für die gesellschaftliche Produktion durchsetzt.
Natürlich werden auch die Mittel-schichten und die Intellektuellen durch die
unbeherrschten gesellschaftlichen Kräfte mit dem Untergang bedroht. Aber sie
können als Klasse, die vom Mehrwert zehrt, dort keinen Hilfstrupp bilden, wo mit
der Durchführung neuer Bewegungsgesetze für die gesellschaftliche Produktion die
Quelle des Mehrwertes selbst aufgehoben wird. Die Existenz der Intellektuellen
und Mittelschichten als einer besonderen Schicht basiert auf der Lohnarbeit für
die Arbeiterklasse, sie können dort kein Bundgenosse sein, wo es darum geht, die
Lohnarbeit abzuschaffen. Die erste Vorbedingung dazu ist, daß die Arbeiterklasse
selbst ein Machtfaktor wird. Wenn gewaltige Arbeitermassen kämpfend auftreten
und sich die neue, alles überwindende Kraft der Arbeiterklasse offenbart, dann
wird sie auch zu dem Magnet, der die zerstreuten revolutionären
-150-
Kräfte aus allen anderen Schichten der Bevölkerung zu sich heranzieht. Nicht
eher. Die Suche nach dem Anschluß an die Mittelschichten oder die
Intellektuellen führt zum Gegenteil von dem, was man beabsichtigt. Die
Arbeiterklasse hat stolz auf ihre Fahne zu schreiben: Nur die Arbeiterklasse und
nur die Arbeiterklasse allein! Damit werden dann die Voraussetzungen geschaffen
für das Überlaufen wichtiger Gruppen aus den Intellektuellen- und
Mittelschichten. Klassenmacht brauchen wir! Klassenmacht!
3.6. DIE SELBSTBEWEGUNG DER MASSEN
a) Bedeutung der Massenbewegung
Die besitzende Klasse wird durch die direkte Aktion in der Form der
Massenbewegung unmittelbar bedroht. Vorläufig noch nicht durch ihre Kraft oder
ihren Umfang, denn die Massen ringen noch mit der Tradition, sie machen sich nur
langsam von der Partei- und Gewerkschaftspolitik frei. Darum kann die besitzende
Klasse die kommenden Bewegungen auch noch ziemlich leicht unterdrücken. Die
Gefahr besteht für sie denn auch nicht darin, daß die Macht der Besitzenden
direkt bedroht] wird, sondern daß keine selbständige Bewegung der Arbeiter
möglich ist ohne Überschreitung der gesetzlichen Schranken. - Die selbständige;
Bewegung der Arbeiter entwickelt ihre eigenen Gesetze, wonach sie sich
richtet und handelt, und diese haben die ausgesprochene Tendenz, die
gellschaftlichen Produktivkräfte in eigene Verwaltung zu nehmen.
Weil sich in der Massenbewegung zeigt, daß die Massen, wenn sie ihre
Klassenkraft bewußt anwenden, dies tun, um sich der gesellschaftlichen
Produktivkräfte zu bemächtigen, weil die Beherrschung der Klassenkräfte die
Verwaltung der Produktivkräfte einschließt, darum bleibt der besitzenden Klasse
keine Wahl. Sie muß diese Bewegungen sofort mit den
schärfsten Mitteln unterdrücken.
Sobald hier oder dort eine selbständige Streikbewegung entsteht, antwortet die
Bourgeoisie darauf ohne weiteres mit dem Belagerungszustand. Zeitungen,
Organisationen, Versammlungen werden verboten, Wenn sie nicht schon vorher
unterdrückt sind. Aber wenn eine Bewegung sich entwickelt, dann widersetzt sie
sich solcher Unterdrückung. Es werden doch Versammlungen abgehalten und
Zeitungen herausgegeben. Das aber bedeutet, den Kampf gegen die Staatsmacht
aufzunehmen. Schrecken die Arbeiter vor diesem Kampf zurück, dann ist auch die
Bewegung mit Erfolg von der herrschenden Klasse unterdrückt. Aber sobald
Widerstand geboten wird, setzt sich auch die Eigengesetzlichkeit der
Bewegung durch. Im Streikgebiet, wo die Arbeiter etwas zu sagen haben, gilt ein
anderes Gesetz als außerhalb. - Diese andere Gesetzlichkeit offenbart sich unter
anderem darin, daß im Streikgebiet die Gesetze zum Schutze des Privateigentums
keine Gültigkeit mehr haben können. Und zwar nicht, weil die kämpfenden Arbeiter
bewußte Kornmunisten sind, die sich leiten lassen von dem Gedanken, die
gesellschaft-
-151-
lichen Produktivkräfte in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen, sondern weil
es nicht anders geht, weil der Kampf selbst es notwendig macht.
Der erwähnte, ziemlich unschuldige Jordaan-Konflikt im Juli 1934 in Amsterdam
ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Im Kampf gegen Polizei und bewaffnete
Macht zogen die Arbeiter Brücken hoch, errichteten Barrikaden und Hindernisse,
um den Polizei-Autos das Fahren unmöglich zu machen, an den Straßenecken
begossen sie die Straße mit Maschinenöl, so daß die schnell fahrenden Autos
ausglitten. Hier zeigte sich die Kraft der Klasse in Aktion. Aber sie konnte
nicht handelnd auftreten, ohne die Grenzen des Pnivatbesitzes zu durchbrechen.
Es waren Schaufeln, Stacheldraht usw. nötig für die Errichtung der Barrikaden,
sie wurden aus einem Eisenwarengeschäft genommen. Das Maschinenöl wurde einigen
Garagen entnommen. Außerdem wurden ein paar Geschäfte geplündert zur größten
Entrüstung der Kommunistischen Partei, die der Meinung war, daß der
'Mittelstand' nicht geschädigt werden dürfe.
Wie begrenzt, stümperhaft und unreif diese Bewegung auch war, sie läßt trotzdem
die wichtigsten Kennzeichen einer Massenbewegung erkennen. Schon im
Vorhergehenden wiesen wir auf den innigen Zusammenhang zwischen Kräften, Mitteln
und Ziel hin. Wären die Kräfte größer gewesen, hätten z. B. größere Streiks sie
unterstützt -dann hätte mit dem Wachsen der Kräfte zugleich ein Wachsen der
angewandten Mittel stattgefunden. Man hätte dann mehr nehmen müssen, z. B.
Versammlungslokale, Druckereien, Frachtautos usw. Und dauert eine solche
Bewegung etwas länger, dann muß vor allem für die Ernährung des Streikgebiets
gesorgt werden, so daß die Beschlagnahmung von Lebensmitteln nur
selbstverständlich wird. Ja, es wird selbst notwendig sein, verschiedene
Industriezweige für die revolutionäre Bewegung arbeiten zu lassen
(Asturien/Spanien 1934, Ruhrgebiet 1920). Damit aber ist gesagt, daß eine
Massenbewegung sich nur entwickeln kann, indem sie die Gesetze zum Schutze des
Privatbesitzes durchbricht und einen Teil des Wirtschaftslebens in eigene
Leitung nimmt. In den Massenbewegungen zeigt sich im Prinzip, was später einmal
in der ganzen Gesellschaft Wirklichkeit werden wird. Es offenbart sich in ihnen,
daß die Massen mit ihrer Klassenkraft nichts beginnen können, wenn sie nicht
zugleich die Produktivkräfte sich dienstbar machen. Beides gehört zusammen.
Solange die Massenbewegungen noch klein sind und noch an der Oberfläche bleiben,
so lange tritt die Tendenz nach der Beherrschung aller gesellschaftlichen Kräfte
nicht so deutlich in Erscheinung. Aber werden diese Bewegungen größer, dann
werden auch stets neue Funktionen von den kämpfenden Massen übernommen, ihr
Wirkungsbereich dehnt sich aus. Und in dieser kämpfenden Masse vollziehen sich
dann vollkommen neue Beziehungen zwischen den Menschen und dem
Produktionsprozeß. Es entwickelt sich eine neue 'Ordnung'. Das sind die
wesentlichen Kennzeichen der selbständigen Klassenbewegungen, und sie sind denn
auch der Schrecken der Bourgeoisie.
Die Entwicklung der Massenbewegung ist deshalb eine Entwicklung zur allmählichen
Beherrschung der Klassenkräfte und damit auch des ge-
-152-
sellschaftlichen Lebens. Aber dieses 'nach und nach', dies schrittweise Werden,
geschieht so, daß das einmal Erreichte bleibt, um darauf weiterzubauen. Was an
direkten Erfolgen erreicht wird, bricht immer wieder in sich zusammen. Was
bleibt, das ist die Erfahrung. Jede Massenbewegung entwickelt sich von
neuem auf der Erfahrung der vorhergehenden Bewegungen. So entstehen verschiedene
Kampfmaßnahmen zur Ausdehnung der Bewegungen, für die Beschaffung von benötigtem
Material, zur Organisierung der Verteidigung, für die Verteilung von
Lebensmitteln usw., die als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden. Es
sind Dinge, über die man dann nicht mehr diskutiert, weil sie durch die
Erfahrung, durch die wiederholte Anwendung zum natürlichen Gedanken-Inhalt der
Massen geworden sind. So, wie heute keine großen Debatten mehr geführt werden,
wenn es gilt, bei einem Streik Posten aufzustellen, um die Streikbrecher
abzufangen, weil es sich 'von selbst' versteht, so ziehen die Massen dann alle
Funktionen des gesellschaftlichen Lebens an
-sich, ohne lange darüber zu beraten.
Die Unterdrückung einer Massenbewegung ist darum auch nur eine teilweise
Niederlage der Arbeiterklasse. Denn eine solche Niederlage offenbart neben der
augenblicklichen Ohnmacht auch die wachsende Macht; es ist nur die Niederlage
des jungen Riesen, der noch nicht ausgereiften Kraft.
b) Die Ausdehnung
Eine der ersten Aufgaben der kämpfenden Massen ist die Ausdehnung ihrer
Bewegung. Heute wird diese Frage noch kräftig umstritten, aber
die Machtverhältnisse bringen Klarheit hierin. Denn eine Bewegung wächst
entweder sehr schnell zur wirklichen Massenbewegung, oder sie wird schon im
Anfangsstadium unterdrückt.
Die alte Arbeiterbewegung kennt zwei Methoden, wie eine Bewegung ausgedehnt
wird. Entweder entscheidet die Gewerkschaftsführung darüber, ob und in welchem
Maße es geschehen soll, und setzt dafür den organisatorischen Apparat in
Bewegung, oder aber verschiedene Parteien rufen durch Flugblätter usw. die
Arbeiter anderer Betriebe und Betriebszweige zur Solidarität auf. Jedenfalls ist
die Ausdehnung hier keine Funktion der streikenden Arbeiter, sondern der
'Arbeiterbewegung'.
Eine kämpfende Masse, die selbsthandelnd auftritt, ist zuerst auf die Übernahme
dieser Aufgabe bedacht. Und dann nicht in dem Sinne, daß eine 'selbstgewählte'
Streikleitung sich mit einem Aufruf an die anderen Betriebsgruppen wendet,
sondern indem die streikende Masse selbst die anderen Betriebe aufsucht, um
ihre Klassengenossen zur Solidarität aufzufordern.
In der belgischen Streikbewegung vom Jahre 1932 zeigte sich dies
Prinzip besonders deutlich, wenn es sich auch noch nicht konsequent durchsetzte.
Schon sehr bald verlangten die Streikenden, daß die Gewerkschaften den Streik
weiter ausdehnen sollten, aber es ist kaum anzunehmen, daß die Arbeiter ihre
Zuflucht bei der alten Bewegung aus Unkenntnis über die zu ergreifenden
Maßnahmen suchten. Wahrschein-
-153-
lich ist, daß die Ausdehnung der Bewegung durch die Massen selbst ihre Grenze
erreicht hatte, als die Eisenbahner noch zu wenig Klassensolidarität besaßen,
dafür aber um so mehr Gewerkschaftsdisziplin zeigten. Deshalb verlangten die
Streikenden die Ausdehnung durch die Gewerkschaften. Als sich zeigte, daß die
Klassenkraft noch zu schwach war, rief man die 'Instanzen' zu Hilfe und rief
natürlich vergeblich.
In Amsterdam 1934 (Jordaan) waren die eigenen Klassenkräfte noch so schwach, daß
die kämpfenden Arbeiter die Ausdehnung der Bewegung als eine eigene Aufgabe noch
völlig unbeachtet ließen. Man war der Meinung, daß es nur ein Kampf der
Erwerbslosen sei und von ihnen allein ausgefochten werden müsse. Im Jordaan und
in der unmittelbaren Nähe liegen verschiedene Betriebe, und doch wurde von den
kämpfenden Erwerbslosen kein einziger Versuch unternommen, diese in den Kampf
hineinzuziehen.
Die 'wilde' Streikbewegung der Textilarbeiter in Twente (Nordholland, 1931)
zeigte kaum merkbare Tendenzen zur selbstvollzogenen Ausdehnung. Die Streikenden
verlangten von ihren Gewerkschaften, daß diese die Führung des Konfliktes
übernehmen sollten. Damit ging die Aufgabe der Ausdehnung des Konfliktes
natürlich auf die Gewerkschaften über. Diese aber hatten nichts Eiligeres zu
tun, als die Bewegung auf ihren Herd zu beschränken und selbst Textilbetriebe,
die außerhalb dieses Bezirks lagen, zurückzuhalten. Nur einige kleine
Gewerkschaften (N.A.S. und N.S.V.), die K.P.H.
und verschiedene kleine
politische Gruppierungen bemühten sich, auch die anderen Textilbetriebe mit in
die Bewegung hineinzuziehen. - Aber auch hier siegte die Gewerkschaftsdisziplin
über die Klassenzusammengehörigkeit.
Es ist übrigens leicht begreiflich, daß die noch im Betrieb stehenden Arbeiter
den Aufrufen anderer Organisationen nicht folgen. Die Organisationen führen
fortwährend einen heftigen gegenseitigen Kampf, sie konkurrieren miteinander,
weil jede Organisation ein Anwachsen der eigenen Organisation auf Kosten der
anderen erstrebt. Der gegenseitige Kampf der Organisationen wurzelt darum nicht
nur in der verschiedenen Auffassung über die anzuwendende Taktik, sondern wird
auch geführt aus Organisationsinteressen. Das weiß schließlich jeder Arbeiter,
und darum finden auch die Parolen anderer Organisationen bei ihm kein Gehör.
Aber wenn die streikenden Arbeiter selbst aufmarschieren und an die Solidarität
der anderen Arbeiter appellieren, dann bekommt die Sache ein anderes Ansehen.
Dann nimmt der Konflikt zwischen der Organisations-Disziplin und der
Klassen-Zusammengehörigkeit für jeden einzelnen Arbeiter eine viel schärfere
Form an und die 'Gefahr' einer Verbrüderung wird wahrscheinlicher. Die
herrschende Klasse wird darum alles in Bewegung setzen, um diese Verbrüderung zu
verhindern, auf jeden Versuch der Massen, die Ausdehnung selbst durchzuführen,
wird sie mit strengen militärischen Gewaltmaßnahmen antworten. Vorläufig kann
eine Streikbewegung gegen diese militärische Macht überhaupt
-154-
nichts ausrichten, so daß es sinnlos erscheint, die Ausdehnung auf diesem Wege
zu versuchen.
Und doch ist es nicht sinnlos. Denn die Arbeiter, die dann noch nicht an der
Bewegung teilnehmen, sind gezwungen, unter militärischem Schutze zu arbeiten.
Die von ihnen gehaßte militärische Staatsmacht muß sie gegen ihre eigenen
Klassengenossen in Schutz nehmen. Dadurch wird der psychische Konflikt zwischen
der Gewerkschaftsdisziplin und der Klassensolidarität verschärft und werden neue
Möglichkeiten für die Ausdehnung gewonnen.
In dem erwähnten Streik der Textilarbeiter, und auch sonst fast überall, war
davon, wie gesagt, noch wenig zu bemerken. Die Denkweise der Arbeiter ist, trotz
aller üblen Erfahrung, noch viel zu sehr mit ihren alten Organisationen
verbunden, weshalb denn auch eine intensive Propaganda, gerade in dieser Frage,
zu den wichtigsten Aufgaben der neuen
Arbeiterbewegung gehört. Heute schon, also in 'normaler Zeit', wo kein
Wölkchen von aktivem Auftreten der Arbeiter zu sehen ist, muß bei allen Fragen
die Funktion der Ausdehnung der Bewegung durch die Arbeiter selbst auf die
Tagesordnung gesetzt werden. Wo Arbeiter zusammenkommen, überall und an jedem
Ort, muß dieses Prinzip in den Mittelpunkt gestellt werden. Oberflächlich
gesehen, hat dies keinen direkten, praktischen Sinn. Tatsächlich ist auch nicht
direkt festzustellen, in welchem Maße dieses Prinzip einen Widerhall findet; das
kann nur in der Praxis bewiesen werden. Aber ein intensives Vorarbeiten,
Vorbereiten kann die praktische Anwendung des neuen Prinzips nur erleichtern.
Eine wirklich revolutionäre Propaganda besteht darum nicht in den immer erneuten
Aufrufen zur 'Revolution' oder in dem 'Auslösen' von allen möglichen
Konflikten.- Sie besteht in dem stetigen, unablässigen Vorbereiten der
Ausdehnungsmöglichkeiten, so daß die unvermeidlich kommenden Klassenkonflikte
eine möglichst große Ausdehnung bekommen.
c) Die Beherrschung der Klassenkräfte durch die Arbeiterräte
Die zweite, von den Massen selbst durchzuführende Funktion ist die organische
Beherrschung der Klassenkräfte - die 'eigene Führung'. Bis jetzt fiel die
'Bewegung der Arbeiter' mit der 'Arbeiterbewegung' zusammen; die alten
Organisationen waren ohne weiteres die Führer der
Bewegungen. Dieses Verhältnis zwischen 'Masse und Führer' wurde zwar
verschiedentlich von den kämpfenden Arbeitern bei revolutionären
Massenbewegungen durchbrochen, doch man sah darin noch kein neues Prinzip,das
aus der Praxis des Klassenkampfes geboren wird, sondern nur eine 'Abweichung'
vom gewöhnlichen Gang der Dinge, die sich eben aus dieser oder jener besonderen
Situation ergab. - Die 'Abweichung' aber bestand darin, daß die Arbeiter ohne -
und vielfach gegen den Willlen der alten Organisationen den Kampf aufnahmen,
sich von der alten Führung frei machten und unter eigener Führung ein
Massenziel ver-
wirklichten, das sich ohne und gegen die alte Führung bei den Massen selbst
gebildet hatte. Und diese 'Abweichung' wächst sich nun aus zu der
gebräuchlichen Form für die kämpfende Masse, wenn sie sich für eigene
Klassenziele in Bewegung setzt.
-155-
Die Bedingungen, an welche der Klassenkampf in der gegenwärtigen Zeit gebunden
ist, lassen keine andere Wahl. Gerade weil jede Bewegung der Arbeiter
unmittelbar mit der Staatsmacht in Konflikt gerät und den vorgeschriebenen
gesetzlichen Weg verläßt, weil jeder einzelne Kampf so geführt werden muß, als
ob es direkt um die Befreiung der Arbeiterklasse ging, darum muß jede Führung
über die Arbeiter versagen, und es bewährt sich nur, was unmittelbar von den
kämpfenden Arbeitern selbst ausgeht. Daran wird auch nichts geändert, wenn
vorläufig noch Parteien und Organisationen ihre Führung den Bewegungen, die ohne
sie und gegen ihren Willen entstanden sind, aufdrängen können. Denn wenn ihnen
das gelingt, so wird damit nur bewiesen, daß eine solche Bewegung zu schwach
ist, um sich selbständig weiterzuentf alten -sie befindet sich auf dem Rückzug.
Diese 'Führung' hat dann die Aufgabe, die Bewegung in 'geordnete Bahnen' zu
bringen, das heißt: sie wird so 'geführt', daß sie nicht mit den Gesetzen und
der Staatsmacht, die dahinter steht, in Konflikt gerät. Es ist darum notwendig,
daß das Prinzip der 'eigenen Führung der Massen' zum zentralen Punkt der
Klassenbewegung wird.
Dieses Prinzip. ist bis jetzt nur schwach vertreten. Die Tradition, daß
Klassenbewegungen durch Organisationen beherrscht und geleitet werden müssen,
sitzt noch so tief, daß noch fortwährend neue Gruppen entstehen, die sich diese
Führung zur Aufgabe stellen. Wenn die alten Organisationen den Klassenkampf
nicht führen können und wollen, dann wollen sie neue Organisationen errichten,
die dazu imstande sind.
Natürlich steckt in der alten überlieferten Auffassung ein Kern von Wahrheit,
und zwar, daß die Klassenkräfte beherrscht und geführt werden müssen. Denn wenn
eine proletarische Massenbewegung nur in spontanen Ausbrüchen besteht, dann sind
wohl die Klassenkräfte entfesselt, aber wenn diese Kräfte unbeherrscht sind,
noch nicht bewußt gerichtet werden, dann wirken sie wie ein Gewitter, das sich
entlädt - ohne weitere Folgen. Die Beherrschung von Kräften aber meint ihre
zielbewußte Anwendung. Und darum müssen diese Kräfte gerichtet und organisiert
werden. Dies ist heute noch ebenso wahr wie vor 50 Jahren und nicht veraltet.
Die neue Auffassung besteht in der Überzeugung, daß diese Kräfte nicht durch
eine Organisation beherrscht und geführt werden können. Die Funktionen, die von
den Arbeitern bei größeren Massenbewegungen erfüllt werden müssen, sind so
zahlreich und umfangreich, sie erstrecken sich schließlich auf das ganze Gebiet
des gesellschaftlichen Lebens, daß keine Partei imstande ist, die Führung aller
dieser Funktionen auf sich zu nehmen. Das kann schließlich nur durch diejenigen
geschehen, die diese Funktionen selbst ausüben müssen, und das sind die Arbeiter
selbst.
Darin besteht eben die gewaltige Schwierigkeit des Entwicklungspro-
-156-
esses, daß die Kräfte, solange sie sich chaotisch, ohne inneren Zusammenhang
entladen, auch mit Leichtigkeit niedergeschlagen werden. Aber aus der Erfahrung
in diesen Kämpfen wächst die Verbindung und die 'Gleichschaltung' der Kräfte.
Die einen übernehmen diese, die anderen jene Aufgaben, es entsteht daraus eine
bewußte Kräfte- und Arbeitsverteilung, d. h. die Kräfte werden beherrscht und
organisiert.
Soweit unsere Erfahrung reicht, haben wir gesehen, daß diese Gleichschaltung
sich in der Form von Aktionsausschüssen vollzog, die in der
revolutionären Bewegung von Rußland und Deutschland seit 1917 als
Arbeiterräte bekannt geworden sind. Für die Durchführung von
Kampfmaßnahmen allgemeiner Art entsteht ein allgemeiner Arbeiterrat. So er
kennen wir in der Geschichte z. B. den 'Großen Arbeiterrat' von Hamburg, den
'Allgemeinen Arbeiterrat' von Berlin, von Petersburg. Der 'Zentrale Arbeiterrat
für das Ruhrgebiet' z. B. beschlagnahmte (1920) die Banken, um die Lohnzahlung
während des Generalstreiks sicherzustellen. Der Hamburger Arbeiterrat ergriff
Maßnahmen, um die Versorgung des ganzen Stadtgebietes mit Lebensmitteln zu
regeln, und versuchte auch den Widerstand gegen die zentrale Staatsmacht zu
organisieren.
Die Beherrschung der Klassenkräfte findet darum unter den heutigen Verhältnissen
ihre praktische Form im Rätesystem. Als Klasse können
wir unsere Kräfte nur in dem Maße bewußt anwenden, wie wir es verstanden haben,
sie in den Arbeiterräten zu kristallisieren.
Die Beherrschung der Klassenkräfte findet darum unter den heutigen Verhältnissen
ihre praktische Form im Rätesystem. Als Klasse können
wir unsere Kräfte nur in dem Maße bewußt anwenden, wie wir es verstanden haben,
sie in den Arbeiterräten zu kristallisieren.
In jeder Massenbewegung nimmt die organisatorische Zusammenfassung und
Gleichschaltung der Kräfte und ihre bewußte Anwendung festere Formen an. In
dieser Linie liegt auch die Aufgabe der Revolutionäre deren Streben es nur sein
kann, jede Massenbewegung immer mehr zur Ratebewegung zu machen.
Das Wachsen der Massenbewegung zur Rätebewegung zeigt uns, in welchem Maße wir
lernen, unsere Klassenkräfte bewußt anzuwenden.
Aber ist es nun wohl so sicher, daß Massenbewegungen zur Rätebewegung
auswachsen? Hat der Nationalsozialismus in Deutschland und der Faschismus in
Italien nicht die Massen in Bewegung gebracht und bei keinen Rätecharakter
getragen, vielmehr ein ihm entgegengesetztes Prinzip, nämlich die Herrschaft
des 'Führers' über die Massen, durchgeetzt? Und eine zweite Frage erhebt sich:
Wird die wachsende wirtschaftliche Not, die immer schärfere Ausbeutung durch die
herrschende Klasse, zu einem Kampf um die Produktionsmittel, zu einem Kampf um
die Beherrschung der Produktivkräfte durch die Arbeiter führen? Hat die
Erfahrung in Deutschland und Italien gezeigt, daß die anhaltende
Verschlechterung der Lage der Arbeiter die Massen nicht nach links, sondern
nach rechts getrieben hat? Ist nicht eine Welle von Nationalismus und
Militarismus, von Vernichtungswut gegen alles, was an
Arbeiterbewegung erinnert, über die Massen gekommen? Kurz, ist nicht die
Gedankenwelt der Arbeitermassen mehr als zuvor kapitalistisch orientiert?
Und müssen wir nicht alle feststellen, daß in den faschistischen
-157-
Ländern die Arbeitermassen alle Kräfte einsetzen, um die kapitalistische
Wirtschaft zu retten?
In der Tat! Wir machen uns keine falschen Vorstellungen, daß die Arbeiterklasse
sich in gerader Linie auf die Beherrschung ihrer eigenen Kräfte hin bewegt (s.
o.). Aber wir wissen auch, daß dies kein dauernder Zustand sein kann, daß
dadurch das endgültige Emporsteigen unserer Klasse nicht verhindert wird. Wir
nehmen dieses Wissen aus der Wissenschaft von den Bewegungs-Gesetzen der
kapitalistischen Gesellschaft, die uns sagt, daß der Kapitalismus sich nur am
Leben erhalten kann, wenn er die breiten Massen fortwährend mehr verelendet.
Welche Vorstellungen über eine 'Regelung' der kapitalistischen Wirtschaft auch
in den Massen vorhanden sein mögen, sie ändern nichts daran, daß diese 'Ordnung'
von den Interessen des mächtigen Großkapitals diktiert wird.
Die großen Kapitale, die im modernen Kapitalismus die bewegende Kraft in der
Wirtschaft bilden, müssen Profit abwerfen, wenn nicht das ganze Wirtschaftsleben
zum Stillstand kommen soll. Sie können nur noch leben vorn Sterben der Massen.
Das Kernproblem in unserer heutigen Gesellschaft ist eben, daß die
Produktivkräfte nicht nur Produktionsmittel und Arbeitskraft sind, sondern
zugleich Kapitalbesitz, und daß sie nur produzieren, wenn sie als Kapitalbesitz
für diese besitzende Klasse genügend Profit erzeugen. Das wird versucht durch
ständig verschärfte Ausbeutung, diese führt zur absoluten Verelendung der
breiten Massen und stößt doch schließlich auf seine natürlichen Schranken.
Das Problem ist darum nicht eine 'Ordnung' des Kapitalismus, sondern seine
Aufhebung. Daß die Produktivkräfte zugleich Kapitalbesitz sind und als solche
Profite machen müssen, wird in immer ausgedehnterem Maße zum Hindernis für ihre
Anwendung. Darum muß im Interesse der breiten Masse das Wirtschaftsleben
funktionieren, auch ohne Profit für den Kapitalbesitz abzuwerfen. Damit aber ist
gesagt, daß die Produktionsmittel nicht mehr als Kapital erscheinen und daß die
Kapitalisten sich nicht mehr die Arbeit des Arbeiters durch den Kauf seiner
Arbeitskraft aneignen können. Sind die Produktionsmittel ihres Kapitalcharakters
entkleidet, dann sind sie nur noch Werkzeuge, mit denen die freien Arbeiter
Güter erzeugen, um den Bedarf der hungernden Masse zu befriedigen.
Die vollkommene Umwälzung aller ökonomischen Verhältnisse ist darum das Problem
unserer Zeit. Das Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln, das heute
gekennzeichnet wird durch die Lohnarbeit, das Verhältnis der Menschen zu dem in
der Gesellschaft vorhandenen Güterreichtum, an dem die Arbeiter nur teilhaben
können, indem sie ihre Arbeitskraft verkaufen -das Verhältnis des einen Menschen
zum andern, insofern sie verschiedenen Klassen angehören und das in der Form von
Herr und Knecht, von Aneigner und Enteignetem, von Käufer und Gekauftem
erscheint -alle diese Verhältnisse erfahren eine vollkommene und gründliche
Umwandlung. Denn mit dem Ausschalten des Profitstrebens und damit auch des
Kapitalcharakters der Produktiv-
-158-
kräfte wird der ganze gesellschaftliche Güterumlauf in andere Bahnen gebracht,
während alle Verhältnisse der Menschen untereinander neue Formen
annehmen.
Der Faschismus kann und will dieses Problem nicht lösen und wird darum, nachdem
er auch in dieser entscheidenden Frage sein wahres Gesicht gezeigt hat, von den
Massen selbst überwunden werden. Die Lösung gerade dieses Problems wird immer
dringender, und darum sind auch Massenbewegungen, die die Produktion für und
durch die Arbeitermasse in Bewegung bringen wollen, unvermeidlich.
Das Entscheidende hierbei ist, daß es geschehen muß - der Wille zu
wird aus der Notwendigkeit geboren - während die Arbeiterklasse es nur
kann, wenn sie sich dazu in den Arbeiterräten formiert. Die Eroberung der
Macht in einem bestimmten Gebiet wird dann nicht die größte Schwierigkeit sein.
Viel wichtiger noch wird es sein, ob es ihnen gelingt, die Produktion zu
beherrschen, d. h. das Verhältnis von Herr und Knecht aufzuheben und durch die
Verbindung der einzelnen Betriebe die gesellschaftliche Regelung der Produktion
durchzuführen. - Das ist nur möglich durch die Arbeiterräte. Und sie müssen auch
die Lebensmittelversorgung der breiten Masse sichern, indem sie die private
Aneignung der Arbeitsprodukte unmöglich machen durch die gesellschaftliche
Regelung ihrer Verteilung. Auch dies ist nur möglich, wenn die Arbeitermassen in
Räten organisiert sind.
Darum ist das Wachsen der Massenbewegung als Rätebewegung der Maßstab,
mit dem die bewußte Anwendung der Klassenkräfte gemessen werden kann. Die
Auffassung, daß die Arbeiterräte nur in der Revolution selbst erstehen, muß
darum als falsch zurückgewiesen werden. Bei jeder Bewegung, die aus der
Arbeiterklasse hervorgeht, muß die Herausbildung von Arbeiterräten zum Kernpunkt
der Bewegung werden. Die Bedeutung einer Massenbewegung ergibt sich nicht so
sehr daraus, welche materiellen Erfolge sie erreicht, sondern ob und in welchem
Maße es ihr gelingt, die Klassenkräfte durch ihre Räte anzuwenden.
3.7. DIE NEUE ARBEITERBEWEGUNG
Wenn wir bisher feststellen konnten, daß die 'Bewegung der Arbeiter' in den
Arbeiterräten die Form annimmt, wodurch sie imstande ist, die gesellschaftlichen
Kräfte zu beherrschen, so richten wir jetzt den Blick auf die neue
'Arbeiterbewegung', auf die organisatorische Zusammenfassung der noch
verhältnismäßig kleinen Zahl revolutionärer Arbeiter, die sich bewußt auf den
Standpunkt der Arbeiterräte gestellt haben. Dabei ist es zuerst nötig, eine
scharfe Grenze zu ziehen zwischen Organisationen, die sich revolutionär nennen,
in Wahrheit aber noch zu der alten 'Arbeiterbewegung' gehören, und solchen, die
sich in der Rich-
Siehe: Grundprinzipien kommunistischer Produktion und
Verteilung (Neuer Arbeiter Verlag, Berlin 1930). [Verf.]
-159-
tung zum Neuen entwickeln. Alle Organisationen, die die Führung der Kämpfe für
sich beanspruchen, die zum 'Generalstab' der Arbeiterklasse werden wollen,
stehen auf der anderen Seite, wenn ihre Geburtsstunde auch noch so jungen Datums
ist. Dagegen rechnen wir alle Organisationen, die nicht die Macht an sich reißen
wollen, sondern die Selbstbewegung der Massen durch die Arbeiterräte zum Prinzip
erheben, zu der neuen Arbeiterbewegung.
Diese neue Arbeiterbewegung ist bereits vorhanden, aber noch in den ersten
Anfängen, so daß von einer ausgebildeten organisatorischen Struktur noch kaum
gesprochen werden kann. Vorläufig erscheint sie noch in der Form von kleinen
illegalen Propagandagruppen, die hier und dort auftauchen, in vielerlei
praktischen und theoretischen Fragen verschiedener Meinung sind und auch wohl
noch fürs erste bleiben werden. Aber so wie sie sind, sind sie doch die Organe,
wodurch die Klasse um ihr Selbstverständnis ringt. In diesen Gruppen, die in der
Masse verwurzelt bleiben, offenbart sich die Neuorientierung des Denkens der
Klasse. Zuerst noch spontan, hier und dort, bilden sich Gruppen ohne viel
Zusammenhang und darum auch noch mit auseinandergehenden Auffassungen. Aber je
mehr sich diese Gruppenbildung durchsetzt zur allgemeinen Regel und schließlich
als notwendige Schulung der Arbeiterklasse erkannt wird, um so mehr werden auch
die auseinandergehenden Auffassungen zur Einheit verschmelzen.
3.8. Partei oder Arbeitsgruppe?
Nun gilt es die Frage zu beantworten, ob diese Propaganda- oder Arbeitsgruppen
auch als eine neue Partei angesehen werden müssen. Denn diese Gruppen haben,
ebenso wie die Parteien, ein politisches Programm; sie sind Gruppen mit mehr
oder weniger feste Meinungen, formulierten, von anderen Auffassungen
abgegrenzten Richtlinien sowohl für die eigene Tätigkeit als auch für den
Klassenkampf überhaupt. So scheint es dann, daß sie sich, ebenso wie die bis
dahin bekannten Parteiauffassungen, von der Masse abgrenzen, sich über diese
erheben und schließlich doch wieder die Herrschaft über die Masse anstreben.
Aber wer so urteilt, sieht nicht, daß die von den neuen Arbeitsgruppen
propagierten Auffassungen über den Weg, den die Arbeiterklasse zu ihrer
Befreiung gehen muß, auf die Überwindung jeder Herrschaft gerichtet sind. Der
Inhalt ihrer Propaganda macht die Gruppen nicht zu Herrschaftsorganen über die
Masse, sondern zu Organen, wodurch sich die Klasse selbst das nötige Wissen
aneignet und dadurch fähig wird, jede Herrschaft abzuschütteln.
Anders die bis heute bekannten politischen Parteien. Diese wollen zuerst die
Staatsmacht erobern und dann, im Besitze der Regierungsgewalt, auf dem Wege von
Dekreten, Verordnungen, Gesetzen und Regierungsmaßnahmen ihr politisches
Programm durchführen. Es ist der in der bürgerlichen Klassengesellschaft übliche
Weg. Aber eine solche Politik hat einmal die Klassengegensätze in der
Gesellschaft zur Vor-
-160-
ussetzung und ist zugleich daran gebunden. Sie kann nur zum Inhalt haben, die
Gegensätze zu mildern, zu 'überbrücken' oder 'auszugleichen'. Aber man kann den
Gegensatz zwischen Herr und Knecht noch so sehr 'ausgIeichen', es bleiben
trotzdem immer noch Herr und Knecht. Dieser Gegensatz, auf dem das ganze Gefüge
der heutigen Gesellschaft aufgebaut ist - und damit auch ihre Regierung - kann
nicht ausgeglichen werden auch nicht durch die Politik einer Regierung,
die sich kommunitisch nennt. Er kann nur aufgehoben werden, indem die
Arbeiter durch ihre Räte direkt und unmittelbar die Macht ergreifen, selbst alle
politijchen, d. h. gesellschaftlichen Maßnahmen vollziehen und in kollektiver
Vereinigung über die Bedingungen der Produktion ihres eigenen Lebens !verfügen.
Das aber kann nicht durch die Politik einer Regierung vollzogen werden, sondern
geschieht nur im Verlaufe eines revolutionären Prozesses, in dem die
Arbeitermassen selbst mündig werden und emporsteigen zur gesellschaftlichen
Macht.
Weil mit dem Begriff 'Partei' der spezifische Herrschaftscharakter der Partei
verbunden ist, die neuen Arbeitsgruppen aber gerade dagegen ihre Propaganda
richten und auch - insofern sie ein politisches Programm haben - sich im
völligen Gegensatz zu den bekannten Parteifassungen befinden, haben die neuen
Arbeitsgruppen mit dem, was unter 'Partei' versteht, so gut wie nichts gemein.
Sie sind davon wesentlich verschieden und können darum nicht als Parteien
angesehen werden. Wir nennen sie vorläufig Arbeitsgruppen und müssen es der
weiteren Entwicklung überlassen, welchen Namen sie schließlich erhalten.
3.9. Die Arbeitsgruppen
Die Aufgabe der Arbeitsgruppen ist äußerlich gesehen sehr bescheiden. Die
revolutionäre Phrase, glänzende Reden von großen Parteiführern,
Tamtam-Propaganda und Parteireklame haben hier allen Sinn verloren. Aber doch
ist ihre Bedeutung viel größer, als die gewaltigste Parteipropaganda jemals sein
könnte. Solange nur einzelne Gruppen, und nur sporadisch hier und dort, daran
gehen, durch ernstes Studium die Beweg der gesellschaftlichen Kräfte
kennenzulernen, so lange fällt die Bedeutung dieser Arbeit nicht direkt ins
Auge. Aber sobald sie mehr gemein werden, wenn sie eine bewußt verbreitete
Bewegung bilden, überall und an jedem Ort als Arbeitsgruppen entsteht, um den
Arbeitern wahre, d.h. wissenschaftliche Einsicht in den gesellschaftlichen
Lebensprozeß vermitteln, dann ändert sich das Bild. Ihre Aufgabe ist dann nicht
mehr klein und bescheiden, sondern riesengroß und alles beherrschend. In den
Arbeitsgruppen hat sich dann die Arbeiterklasse das Instrument geschaffen, mit
dem sie sich die Wissenschaft von den gesellschaftlichen Kräften zu eigen macht.
Die Zeit dafür ist reif, und mehr noch, -wenn nicht alle Zeichen trügen, dann
drängt die Entwicklung in diese Richtung. Was z. B. in Deutschland von der
vernichteten alten Arbeiterbewegung übriggeblieben ist, sind kleine illegale
Diskussionsgruppen, in denen die Arbeiter ver
-161-
suchen, sich in den neu geschaffenen Verhältnissen zurechtzufinden. Ja, eine
selbständige Arbeiterbewegung ist unter den heutigen Verhältnissen dort
überhaupt nicht anders möglich als eben in solch kleinen Diskussionsgruppen. Und
was heute schon in Deutschland zur Wirklichkeit geworden ist, wird in nicht
ferner Zeit auch in den anderen kapitalistischen Ländern seinen Einzug halten.
Dann ist auch dort der Zeitpunkt eingetreten, wo mit dem sichtbaren
Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung die neue Form der illegalen
Diskussions- und Propagandagruppen, oder wie wir sie nennen wollen, der
Arbeitsgruppen, notwendig wird.
Bis jetzt entstehen solche Arbeitsgruppen, indem sich einzelne Arbeiter
zusammenfinden, um über ihre Klassenlage zu diskutieren. Sie sind noch schwach
und unsicher und noch nicht imstande, selbständig auf zutreten. Es ist noch zu
wenig Wissen und ein Mangel an Geschicklichkeit, um als Einheit zu
funktionieren, von der die neuen Prinzipien ausgehen können. Das alles muß in
mühsamer, ernster Arbeit an sich selbst und an der Gruppe nachgeholt werden.
Dazu ist aber zuerst nötig, daß sie die eminente Bedeutung ihrer Arbeit für den
Befreiungskampf des Proletariats begreifen. Wird den Arbeitern erst deutlich,
daß sie hier selbst praktisch und aktiv an dem Mündig-Werden der ganzen Klasse
arbeiten können, jeder an seinem Ort und jede Gruppe als das Rädchen, das in dem
großen Gefüge der Arbeiterklasse nicht fehlen darf, wenn die Klasse schlagfertig
werden soll - dann werden sie sich auch mit voller Hingabe dieser Aufgabe
widmen. Dann wird aber auch zur Selbstverständlichkeit, was heute vielen noch
als unmöglich erscheint! Darum müssen die Arbeitsgruppen, die auf diesem
Wege vorangegangen sind und die, fußend auf der marxistischen
Gesellschaftslehre, die ganze Breite und Tiefe des Problems - der Mündigwerdung
des Proletariats -erkannt haben, ihre Klassengenossen auffordern, überall ihrem
Beispiel zu folgen. Sie müssen darauf hinweisen, daß es nötig ist, daß jede
Gruppe eine selbständige Einheit bildet, die imstande ist, selbst zu denken und
selbst ihr Propagandamaterial herzustellen. Jede neue Arbeitsgruppe muß zum
Ausstrahlungspunkt des Selbständigkeitsgedankens und der Anstoß zu immer neuen
Gruppen werden. - Hier liegt ein Arbeitsfeld von so gewaltigem Ausmaß brach, daß
nicht Kräfte genug sein werden, um es zu beackern. Aber diese Arbeit, einmal in
größerem Umfang begonnen, macht so viele neue Kräfte frei, daß sie schließlich
die ganze Klasse in Begeisterung mitreißt.
In den Arbeitsgruppen der neuen Arbeiterbewegung wird der Boden bereitet, auf
dem unsere Kenntnis und unsere Einsicht in die Bewegung der gesellschaftlichen
Kräfte erwächst. Was der Einzelne auf sich allein gestellt nicht kann, das ist
sehr gut möglich im kollektiven Gedankenaustausch - zuerst in der Arbeitsgruppe
und dann in der Verbindung der Gruppen miteinander, die schließlich das geistige
Band innerhalb der ganzen Klasse herstellen. - Die Analyse der stets wechselnden
gesellschaftlichen Erscheinungen - in der alten Bewegung das Monopol
-162-
der Intellektuellen und Führer - wird hier von den Arbeitern selbst
vollzogen.
Die viel verbreitete Meinung, daß die Arbeiter dazu nicht imstande seien, ist
völlig verkehrt. Umgekehrt: Die Intellektuellen und Führer der alten
Arbeiterbewegung sind nicht imstande, für das revolutionäre Proletariat eine
Analyse der gesellschaftlichen Geschehnisse zu geben. je sehen die Erscheinungen
anders als die revolutionären Arbeiter, weil ihr Ziel anders ist, - sie spielen
heute eine Führerrolle und wollen diese auch in der Zukunft behalten. Ihr Denken
kann nicht anders sein als die Funktion, die sie in dieser Gesellschaft ausüben.
Sie bilden eine besondre bevorrechtete Schicht, deren Funktion sich auf der
Lohnarbeit, der wirtschaftlichen Enteignung und Entrechtung der Arbeiterklasse
aufbaut. Sie kämpfen um die Erhaltung dieser Funktion, und darum muß ihnen auch
die Aufhebung der Lohnarbeit und die Herrschaft der Arbeiterklasse selbst als
Utopie erscheinen. Den Arbeitern aber steht nichts im Wege, sich die
Erkenntnisse zu eigen zu machen, die durch wissenschaftliche Forschung auf
gesellschaftlichem Gebiet in großer Fülle vorhanden sind. Diese Erkenntnisse,
die in den großen Werken des wissenschaftlichen Sozialismus zu
gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen formuliert sind und deren Richtigkeit durch
den Entwicklungsgang unserer heutigen Gesellschaft tausendfach bewiesen ist und
gerade jetzt immer mehr erhärtet wird, sie können nur von den Arbeitern
verstanden werden. Denn diese Erkenntnisse sagen uns, daß die kapitalistische
Ordnung unserer Gesellschaft mit den immer gewaltiger werdenden Produktiväften
in stets gesteigerte Konflikte gerät, die von ihr zuletzt nicht mehr bewältigt
werden können. Sie sagen uns, daß nur die Arbeiterklasse imstande ist, dem ein
Ende zu machen, indem sie sich aus der Lohnknechtaft befreit. Nur die
wissenschaftliche Forschung lehrt uns die Gesamtgesellschaft kennen. Die Methode
der Gesellschaftsforschung, die historisch-materialistische, die sich im Laufe
des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat und von Marx, Engels, Dietzgen u. a. in ihren Werken dargelegt worden ist, muß
jetzt von den Arbeitern angewandt, in die Praxis eingebracht werden.
Diese Aufgabe aber kann nur von der ganzen Klasse gelöst werden. Sie beginnt
überall dort, wo sich Gruppen bilden, die sich die Analyse der
gesellschaftlichen Geschehnisse zur Aufgabe stellen; sie entwickeln schließlich
zum allgemeinen Denkorgan, mit dem die Klasse denkt, wenn überall Gruppen
entstanden sind, die durch das Band der gleichen Denkweise verbunden sind. Die
Aufgabe ist gewaltig groß, aber sie wird eh schließlich von der unerschöpflichen
Energie der Arbeitermassen bewältigt werden, denn nur so wird der Weg frei
gemacht, der zur Befreiung der Arbeiterklasse führt.
3.10. Die 'Kinderkrankheiten'
Die so werdende neue Arbeiterbewegung hat natürlich ihre 'Kinderkrankheiten'.
Diese haben vielfach so gefährlichen Charakter, daß vor-
-163-
erst die meisten der neu entstandenen Gruppen daran zugrunde gehen. Allein in
den letzten 5 Jahren entstanden dergleichen Gruppen immer wieder von neuem, um,
ebenso wie sie gekommen, auch wieder zu verschwinden. Die Ursachen davon sind
doppelter Art. Die wesentlichste Ursache ist, daß sie keine genügende
theoretische Grundlage hatten; es war noch viel zu sehr ein Durcheinander von
überlieferten alten Gedanken und unausgegorenem Neuem. Daran gehen sie
unwiderruflich zugrunde. Die zweite Ursache liegt darin, daß unter den neuen
Verhältnissen die Zusammenarbeit in den Gruppen einen ganz anderen Charakter als
in der alten Arbeiterbewegung haben muß. Die dafür nötigen geistigen
Eigenschaften sind nicht ohne weiteres vorhanden, sie müssen erst im Kampfe
erlernt und erworben werden. Durch diese zwei Ursachen ist das Problem der
Gruppenbildung auch viel schwieriger, als es auf den ersten Blick erscheint.
Die ungenügende theoretische Grundlage wird gerade darum für neue Gruppen so
gefährlich, weil sie zu unbesonnenen Handlungen und zwecklosen Aktionen führt.
Wenn die Ungeduld, und nicht die Einsicht, zum Ratgeber für das Handeln wird,
dann versucht man die anderen Arbeiter in alle möglichen Aktionen
hineinzutreiben und erwartet, durch das künstliche Auslösen von Aktionen werde
ihnen schon der Fuhrer glaube ausgetrieben. Dies wird zuletzt zu einer bewußt
angewandten Methode, um die Arbeiterklasse zu 'revolutionieren' und zum
Klassenkampf zu 'erziehen'.
Darum ist ihre Sprache furchtbar 'revolutionär', ihre Beschreibung der
herrschenden Klasse schreckenerregend, und sie enden stereotyp mit der
Alternative: Revolution oder Untergang in Barbarei. Man fühlt sich dabei sehr
revolutionär und ist überzeugt, ein Vorkämpfer der proletarischen Revolution zu
sein. Aber es wird damit nur erreicht, daß sich die revolutionäre Ungeduld in
starken Worten entlädt und wie loses Pulver - unschädlich für die herrschende
Klasse - verpufft. Eine weitere Auswirkung hat dies nicht. Und wenn doch hier
und dort einzelne kleine Gruppen sich auf diese Weise in eine 'Aktion'
hineintreiben lassen, dann liefern sie dadurch nur den Beweis, wie lächerlich
eine solche 'Taktik' ist. Die revolutionärste Sprache kann nicht ersetzen, was
der Klasse an in Einsicht fehlt; der Versuch, auf diesem Wege das Proletariat
'reif' zur Revolution zu machen, liefert nur den Beweis, daß gerade bei diesen
'Vorkämpfern' noch die elementarste Einsicht in die Bedingungen des
Befreiungskampfes fehlt..
Die andere 'Kinderkrankheit' besteht darin, daß die Arbeit in den
Gruppen erst gelernt werden muß, daß die Zusammenarbeit in den Gruppen noch
nicht die den neuen Aufgaben entsprechende Form gefunden hat und daß auch die
Arbeiter, die in den Gruppen zusammen arbeiten, sich erst neue und den neuen
Verhältnissen angepaßte geistige Eigenschaften zu eigen machen müssen. Der
wesentlichste Charakterzug bei den alten Organisationen ist, daß ihre
Mitglieder, die sich auf Grund bestimmter Prinzipien ihr angeschlossen haben,
durch die Organisation selbst beherrscht werden. Der Einzelne will sich damit
den für richtig ge-
-164-
haltenen Prinzipien unterwerfen; in Wirklichkeit unterwirft er sich dem
organisatorischen Apparat, der seinerseits die Prinzipien aufstellt, sie
verändert, bestimmt, inwieweit sie in diesem oder jenem Falle gültig sind u. s.
f., ja, der schließlich auch feststellt, wie die Mitglieder nach diesen
Prinzipien handeln müssen. Das einzelne Mitglied, das durch seinen Eintritt ein
Teil der Organisation wird, unterwirft sich damit der 'Führung' Organisation.
Diese 'Führung' wird geregelt, abgegrenzt und umschrieben von Reglements und
Statuten, in denen die Rechte und Pflichten des Einzelnen gegenüber der
Organisation und umgekehrt festgelegt sind. Wer auf irgendeine Weise sündigt,
wird an Hand dieser Organisationsgesetze zur Ordnung gerufen. Die demokratische
Verfassung der Organisation sollte dafür Sorge tragen, daß diese Führung von den
Mitgliedern bestimmend beeinflußt wird, aber je mehr die alten Organisationen
sich zu einem -schließlich rein bürokratischem - Apparat auswuchsen, um so mehr
wurde diese Beeinflussung auf ein Minimum beschränkt und schließlich gänzlich
über Bord geworfen.
Die Arbeiterorganisationen sind so ein getreues Spiegelbild der politischen
Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen. Die nationalsozialistische
Partei hat den Schlußstrich unter diese Entwicklung gezogen, indem sie die
Selbstherrlichkeit der Führung als Prinzip erhob, eine Führung, die nur noch
ihrem 'Gott' und dem 'eigenen Gewissen' verantwortlich ist. Aber ob nun auf
demokratischem Wege oder durch bürokratische Verordnung oder schließlich gar
durch den 'von Gott erleuchteten' Führer, - die organisatorischen Regeln und
Gesetze sind doch die Grundlage, auf welcher die Tätigkeit der Einzelnen in der
Organisation zu einem Ganzen verbunden wird. Dadurch können sie
zusammenarbeiten, obwohl sie sich gegenseitig nicht über den Weg trauen und sie
jederzeit bereit sind, ihren Nächsten zu Fall zu bringen, wenn er ihnen in der
Organisation im Wege steht.
In den letzten Jahren haben wir verschiedene Gruppen kennengelernt, die diese
Mentalität aus der alten Bewegung behalten hatten und die ebenso schnell wieder
verschwunden sind, wie sie gekommen waren. Man versuchte zuerst auch die
gegenseitigen Unterschiede durch den Aufbau eines organisatorischen Apparats zu
überbrücken. Aber das ist in kleinen Gruppen so gut wie unmöglich: das
gegenseitige Mißtrauen löst dann sehr bald jedes organisatorische Band auf. Die
erste Lehre, die daraus gezogen werden kann, ist, daß kleine Gruppen nur
arbeitsfähig sind, wenn ihre Mitglieder eine wenigstens nahezu vollständig
gleiche Auffassung von ihrer Aufgabe haben.
Gruppen, die heute noch 'groß' werden wollen - groß in dem Sinne, daß die
Organisation groß und mächtig werde - befinden sich auf demselben Wege, den die
alte Arbeiterbewegung gegangen ist. Sie tragen noch die Kennzeichen der alten
Arbeiterbewegung, wo die Organisation als Apparat 'führt' und das einzelne
Mitglied sich dieser Führung unterwirft. Sie können nur die Großen in
Miniatur wiederholen. Darum können sich heute in kleinen Gruppen nur
Gleichgesinnte vereinen. Es ist besser, daß revolutionäre Arbeiter in tausenden
von kleinen
-165-
Gruppierungen an der Bewußtwerdung der Klasse arbeiten, als daß ihre Tätigkeit
in einer großen Organisation dem Herrschaftsstreben ihrer Führung unterworfen
wird. Das schließt die Zusammenarbeit der Gruppen untereinander nicht aus,
sondern macht sie vielmehr notwendig. Zeigt sich in der Praxis, daß sich diese
Zusammenarbeit mit Erfolg vollzogen hat, dann ist in Wirklichkeit die
Zusammenschmelzung zu einer großen Organisation von Gleichgesinnten schon
erfolgt. Aber dieses Zusammenschmelzen zur organischen Einheit kann nur das
Resultat eines Entwicklungsprozesses sein.
Die Gruppen, die Ausgangspunkt der neuen Arbeiterbewegung werden sollen, müssen
nicht nur aus Mitgliedern mit gleichen Auffassungen über ihre Aufgabe bestehen.
Diese Auffassungen selbst müssen sich wesentlich von denen der alten
Arbeiterbewegung unterscheiden. Die erste und wichtigste handelt von der
Tätigkeit des Mitgliedes in der Organisation. Sie muß sich unterscheiden von der
alten Auffassung, indem sie uns lehrt, daß das Mitglied sich nicht einer Führung
unterwirft, sondern daß es sich in kollektiver kameradschaftlicher Weise mit
Gleichgesinnten verbindet, um eine 'Führung', der man sich unterwerfen muß,
überflüssig zu machen. Die Führung und auch die Regeln, wonach das
Zusammenarbeiten in der Gruppe erfolgt, kann kein fremder, über die Mitglieder
herrschender Apparat sein, sondern muß stets aufs neue aus der Hingabe der
Mitglieder erwachsen. Sie selbst machen stets aufs neue die Führung aus und
weben das Band, das sie zum gemeinsamen Handeln in der Gruppe verbindet. Dieses
Band ist der alles überragende Wille, die persönlichen Interessen außer acht zu
lassen, wenn es die Erfüllung der gemeinsamen Aufgabe verlangt.
3.11. ZUSAMMENFASSUNG
Wenn wir einige allgemeine Gesichtspunkte über die neue Arbeiterbewegung
zusammenfassen, dann zeigt sich, daß die Zielsetzung eine vollkommen neue ist.
Die alte Bewegung will auf dem Wege der Aktion durch die Gewerkschaften und
durch soziale Gesetzgebung Verbesserungen auf dem Boden des Kapitalismus
erreichen. Die neue Arbeiterbewegung dagegen richtet ihre Tätigkeit auf einen
gesellschaftlichen Zustand, der die Aufhebung der kapitalistischen Ordnung zur
Voraussetzung hat. In der Massenbewegung will sie die Masse zur
Selbstorganisation in Arbeiterräten bringen, die alle Funktionen der
gesetzgebenden und ausführenden Macht vollziehen und alle Funktionen in
Produktion und Distribution selbst durchführen können. Die revolutionären
Arbeiter, die sich die Propaganda für die Selbstbewegung der Arbeitermassen zur
Aufgabe machen, vereinen sich in Arbeitsgruppen, die in allem was sie tun,
völlig selbständig bleiben: selbständige Organisation der Arbeitermassen in den
Arbeiterräten und selbständige Organisation der revolutionären Arbeiter in frei
arbeitenden Arbeitsgruppen.
Die Arbeitsgruppen haben nicht nur die Aufgabe der Propaganda
-166-
nach außen, wesentlich ist zugleich die eigene Schulung. Die Arbeiterklasse ist
erst dann imstande, die gesellschaftlichen Kräfte zu beherrschehen, wenn sie
dieselben durch die Wissenschaft kennengelernt hat. Die Arbeiter, die sich zu
Arbeitsgruppen verbinden, müssen durchdrungen sein von der Notwendigkeit, die
Bewegung der gesellschaftlichen Kräfte
als eine zwangsläufige, gesetzmäßige Entwicklung kennenzulernen. Dieses Wissen
aber kann nur durch mühsame und harte Arbeit an sich selbst erworben werden.
Erkenntnis fehlt der Arbeiterklasse, und Wissen ist notwendig.
Nur die Arbeiterklasse kann dies erreichen. Alle bürgerlichen Professoren, auch
wenn sie zum 'Denktrust' (braintrust) vereinigt sind, können nicht den alles
beherrschenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aus der Welt schaffen. Sie
können nicht die wesentliche Ursache der stets größer werdenden
gesellschaftlichen Katastrophen aufdecken; denn die Lohnarbeit ist zugleich die
Basis für ihre bevorrechtete Funktion in der Gesellschaft. Nur die
Arbeiterklasse ist dazu imstande, weil sie es muß, wenn sie nicht immer tiefer
hinabgedrückt werden will. Darum wachst unsere Klasse auch im Denken über alle
anderen hinaus.
Das zentrale Problem, das immer dringender nach seiner Lösung schreit besteht in
der gewaltigen Entwicklung der Produktivkräfte und in der Unmöglichkeit, sie
anzuwenden. Der Kapitalismus hält sich nur noch aufrecht, indem er stets aufs
neue Produktivkräfte vernichtet oder außer Tätigkeit setzt. Dieses Problem steht
heute im Mittelpunkt aller Gedanken, es beginnt jeden Einzelnen zu verfolgen,
-ihm kann nicht ausgewichen werden. Darum müssen wir dieses Problem zu der
zentralen Achse unserer Selbstschulung und Propaganda machen. Bis die Theorie
die Massen ergreift: dann wird die Theorie zur materiellen Macht. Und dann erst
lernen wir die volle Bedeutung der Worte kennen:
DIE BEFREIUNG DER ARBEITERKLASSE KANN NUR
DAS WERK DER ARBEITER SELBST SEIN.
4. DIE GEGENSÄTZE ZWISCHEN LUXEMBURG UND LENIN
Rosa Luxemburg und Lenin sind aus der Sozialdemokratie hervorgegangen. Beide
spielten in ihr eine bedeutende Rolle; ihre Arbeit beeinflußte nicht nur die
russische, polnische und deutsche Arbeiterbewegung, sie war von internationaler
Bedeutung. In beiden symbolisierte sich die Oppositionsbewegung zum
Revisionismus der Zweiten Internationale. Was beide verband, war der gemeinsame
Kampf gegen den Reformismus der Vorkriegszeit und gegen den Chauvinismus der
Sozialdemokratie während des Krieges. Aber dieser Kampf wurde begleitet von den
Auseinandersetzungen zwischen Luxemburg und Lenin über den Weg der Revolution;
und da sich die Taktik nicht vom Prinzip trennen läßt, war es letzten Endes auch
eine prinzipielle Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Lenin über Inhalt
und Form der neuen Arbeiterbewegung, über die Revolution und die Diktatur des
Proletariats.
Wenn es auch bekannt ist, daß Luxemburg und Lenin Todfeinde des Revisionismus
waren, so ist es heute doch äußerst schwierig, sich ein wirkliches Bild von den
Differenzen zwischen beiden zu machen. Wohl hat während des letzten Jahrzehnts
die Dritte Internationale bei ihren inneren politischen Krisen Rosa Luxemburgs
Namen oft gebraucht und mißbraucht, speziell in den Kampagnen gegen den
'konterrevolutionären Luxemburgismus' , aber
weder ist dadurch das Werk Luxemburgs bekannter geworden, noch wurden die
Differenzen, die sie mit Lenin hatte, wirklich bloßgelegt. Allgemein hält man es
für besser, die Vergangenheit zu begraben. Und wie einst die deutsche
Sozialdemokratie die Publizierung der Arbeiten Rosa Luxemburgs 'aus Geldmangel'
verweigerte, so hat auch die Dritte Internationale das durch Clara Zetkin gegebene Versprechen, ihr Werk zu
verbreiten, gebrochen. Wo immer sich der Dritten Internationalen Konkurrenz
entgegensetzt, da liebt man es, sich auf Rosa Luxemburg zu beziehen. Sogar die
Sozialdemokratie ist oft geschmacklos genug, mit Liebe und Wehmut von der
'irrenden' Revolutionärin zu sprechen, die mehr als ein Opfer ihres 'heißen
Temperaments' als das der viehischen Brutalität der Landsknechte des
Parteigenossen Noske bedauert wird. Und selbst bei der von Trotzki beeinflußten
Bewegung, wo man nach den Erfahrungen mit den beiden Internationalen sich
angeblich bemüht, nicht nur eine wirklich revolutionäre Bewegung aufzubauen,
sondern auch die Lehren der Vergangenheit zu verwerten, reicht die Beschäftigung
mit Luxemburg und Lenin auch nicht zu mehr als zur Reduzierung ihrer Gegensätze
auf den Streit um die nationale Frage und hier noch speziell fast ausschließlich
auf die taktischen Probleme, welche die polnische Unabhängigkeit berühren. Dabei
bemüht man sich noch, diesem Gegensatz seine Schärfe zu nehmen, ihn zu isolieren
und mit der allen Tatsachen widersprechenden Behauptung abzuschließen, daß Lenin
aus diesem Streit als Sieger hervorgegangen sei.
Der Streit zwischen Luxemburg und Lenin über die nationale Frage
-168-
kann nicht von den anderen Problemen, die beide trennten, gelöst werden. Diese
Frage ist mit allen anderen der Weltrevolution aufs engste verknüpft, und sie
ist nur eine der Illustrationen des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen
Luxemburg und Lenin, oder des Unterschiedes zwischen der jakobinischen und der wirklich proletarischen Vorstellung
von der Weltrevolution. Stellt man z. B. die Auffassung Luxemburgs den
nationalistischen Abenteuern der Stalinperiode der Dritten
Internationale gegenüber, so muß man sie auch gegen Lenin wenden. So sehr sich
die Politik der Dritten Internationale seit dem Tode Lenins auch geändert haben
mag, in der nationalen Frage ist sie echt leninistisch geblieben. Ein Leninist
muß mit Notwendigkeit gegen Luxemburg Stellung nehmen, er ist nicht nur ihr
theoretischer Gegner, sondern ihr
Todfeind. Die luxemburgische Einstellung schließt in sich die Vernichtung des
leninistischen Bolschewismus, und deshalb kann niemand, der sich auf Lenin
beruft, gleichzeitig Luxemburg für sich in Anspruch nehmen.
4.1. GEGEN DEN REFORMISMUS
Die Entwicklung des Weltkapitalismus - die imperialistische Entfaltung, die
fortschreitende Monopolisierung der Wirtschaft und die damit verbundenen
Überprofite - gestatteten die vorübergehende Bildung einer Oberschicht innerhalb
der Arbeiterklasse, die Durchführung sozialer Gesetzgebungen und die allgemeine
Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter, was alles zur Entfaltung des
Revisionismus und zur Herausbildung des Reformismus in der Arbeiterbewegung
führte. Der revolutionare Marxismus wurde verworfen, da er den Tatsachen der
kapitalistischen Entwicklung widerspreche, und dafür wurde die Theorie des
langsamen Hineinwachsens in den Sozialismus auf dem Wege der -Demokratie
angenommen. Mit dem unter diesen Umständen möglichen Wachstum der legalen
Arbeiterbewegung wurden größere Teile des Kleinbürgertums für sie gewonnen, die
bald die geistige Führung in ihr übernahmen und sich die materiellen Vorteile
der bezahlten Posten innerhalb der Bewegung mit den Arbeiteremporkömmlingen
teilten. Um die Jahrhundertwende hatte sich der Reformismus auf der ganzen Linie
durchgesetzt. Der Widerstand gegen diese Entwicklung der sozialistischen
Bewegung durch die sogenannten 'orthodoxen' Marxisten, mit Kautsky an der
Spitze, der stets nur einer der Phrase war, wurde auch phraseologisch bald
aufgegeben. Von den bekannteren Theoretikern jener Zeit waren Luxemburg und
Lenin die bedeutendsten, sie führten den Kampf rücksichtslos, und bald auch
gegen die 'Orthodoxen', zu
Ende im Interesse einer wirklich revolutionären Arbeiterbewegung.
Von allen Angriffen gegen den Revisionismus waren wohl diejenigen Rosa
Luxemburgs die stärksten. In ihrer gegen Bernstein gerichteten Polemik
'Sozialreform oder Revolution' wies sie gegen den Unsinn des reinen Legalismus
darauf hin, daß die Ausbeutung der Arbeiterklasse
-169-
als ein ökonomischer Prozeß nicht durch gesetzliche Bestimmungen im Rahmen der
bürgerlichen Gesellschaft abgeschafft oder gemildert werden könne. Die
Sozialreform, betonte sie, bilde nicht einen Eingriff in die kapitalistische
Ausbeutung, sondern eine Normierung, eine Ordnung dieser Ausbeutung im Interesse
der kapitalistischen Gesellschaft selbst. "Das Kapital", sagt Rosa Luxemburg,
"drängt nicht zum Sozialismus, sondern zum Zusammenbruch,
und auf diesen Zusammenbruch ist die Arbeiterschaft einzustellen; nicht auf die
Reform, sondern auf die Revolution." Deshalb brauche man jedoch nicht
auf die Gegenwartsfragen zu verzichten, auch der revolutionäre Marxismus kämpfe
für die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter innerhalb der kapitalistischen
Gesellschaft. Im Gegensatz zum Revisionismus jedoch interessiere ihn bei weitem
mehr, wie gekämpft wird, als um was gekämpft wird. Für den Marxismus gehe es in
den gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen um die Entwicklung der
subjektiven Faktoren der Arbeiterrevolution, um die Förderung des revolutionären
Klassenbewußtseins. Die schroffe Gegenüberstellung: Reform oder Revolution sei
falsch, diese Gegensätze müßten in die Gesamtheit des gesellschaftlichen
Prozesses eingeordnet werden. Das Endziel, die proletarische Revolution, dürfe
nicht durch den Kampf um Tagesforderungen erstickt werden. In ähnlicher Weise
attackierte etwas später auch Lenin den Revisionismus; auch für ihn waren die
Reformen nur Nebenprodukte des auf die Eroberung der politischen Macht
gerichteten Kampfes. Beide waren sich im allgemeinen einig in ihrem Kampf gegen
die Entartung der marxistischen Bewegung und stellten sich auf den Boden des
revolutionären Kampfes um die Macht. Sie traten sich zum erstenmal als Gegner
gegenüber, als die russischen Zustände vor, während und nach der Revolution von
1905 den revolutionären Kampf um die Macht selbst zu einer brennenden und
aktuellen Frage machten, die konkret zu beantworten war. Der Streit, der
zwischen Luxemburg und Lenin entbrannte, drehte sich so zuerst um taktische
Probleme, um Fragen der Organisation und um die nationale Frage.
4.2. DIE NATIONALE FRAGE
Lenin, stark von Kautsky beeinflußt, glaubte wie dieser, daß die nationalen
Unabhängigkeitsbewegungen als fortschrittlich anzusehen seien, weil der
nationale Staat die besten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus
garantiere. In seiner Polemik gegen Rosa
Luxemburg in bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen behauptet er, daß
die Forderung des Selbstbestimmungsrechtes deshalb revolutionär sei, weil diese
Forderung eine demokratische sei, die sich in nichts von den übrigen
demokratischen Forderungen unterscheide. Ja, "jeder bürgerliche Nationalismus
einer unterdrückten Nation", behauptet er, "hat einen
allgemein demokratischen Inhalt, der sich gegen die Unterdrükkung richtet, und
diesen Inhalt unterstützen wir unbedingt."
-170-
Die Stellung Lenins zum Selbstbestimmungsrecht war - wie auch aus anderen
Schriften ersichtlich - dieselbe wie die zur Demokratie. In seinen Thesen über
'Die Sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen'
führt er aus: "Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß
der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der
sozialistischen Revolution abzulenken... Im Gegenteil, wie der siegreiche
Sozialismus, der nicht die volle Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann
das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um
die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie
vorbereiten." So sind für Lenin die nationalen Bewegungen und Kriege
nichts anderes als Bewegungen und Kriege um die Demokratie, an denen das
Proletariat sich zu beteiligen hat; denn für ihn war ja der Kampf um die
Demokratie die notwendige Voraussetzung des Kampfes um den Sozialismus. Wenn der
Kampf um die Demokratie möglich sei, schreibt er, so sei auch der Krieg um die
Demokratie möglich. Und so sind ihm denn auch in einem wirklichen nationalen
Krieg die Worte 'Verteidigung des Vaterlands' durchaus kein Betrug, und Lenin
ist in einem solchen Falle für die Verteidigung. Sofern die Bourgeoisie der
unterdrückten Nation gegen die unterdrückende kämpfe, schreibt er, seien sie
immer in allen Fällen und entschiedener als alle dafür, weil sie die
unerschrockenen und die konsequenten Feinde jeder Unterdrückung seien.
Dieser Einstellung sind Lenin - bis zuletzt - und der Leninismus -bis heute -
treu geblieben -solange sie nicht die bolschewistische Parteiherrschaft selbst
in Frage stellte. Nur eine kleine Änderung wurde vorgenommen. Waren für Lenin
vor der russischen Revolution die nationalen Befreiungskriege und -bewegungen
ein Teil der allgemeinen demokratischen Bewegung, so wurden sie nach der
Revolution ein Teil des proletarischen weltrevolutionären Prozesses.
Diese hier zusammengefaßte Einstellung Lenins erschien Rosa Luxemburg als völlig
falsch. In ihrer während des Krieges erschienenen 'Juniusbroschüre' faßt sie
ihren eigenen Standpunkt wie folgt zusammen:
"Solange kapitalistische Staaten bestehen, namentlich
solange die imperialistische Weltpolitik das innere und äußere Leben der Staaten
bestimmt und gestaltet, hat das nationale Selbstbestimmungsrecht mit ihrer
Praxis im Frieden wie im Kriege nicht das geringste gemein. [. . . In dem
heutigen imperialistischen Milieu kann es überhaupt keine nationalen
Verteidigungskriege mehr geben, und jede sozialistische Politik, die von diesem
bestimmenden historischen Niveau absieht, die sich - mitten im Weltstrudel nur
von den isolierten Gesichtspunkten eines Landes leiten lassen will, ist von
vornherein auf Sand gebaut." An dieser Auffassung hielt Rosa
Luxemburg bis zuletzt fest, außerstande, sich Lenin gegenüber zur geringsten
Konzession zu verstehen; und nach der russischen Revolution und bei der
aktuellen Durchführung der Politik des Selbstbestimmungsrechts der Nationen
fragt sie erneut in ihrer Arbeit über die 'Russische Revolution', weshalb wohl
die Bolschewiki mit solcher Hartnäckigkeit und starren Konsequenz an der Parole
des
-171-
Selbstbestimmungsrechtes festhielten, da dies doch "in
krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik
wie auch der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen
gegenüber eingenommen haben. [...] Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so
unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen
Lebens in jedem Lande [. ..] tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche
Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose
'Selbstbestimmungsrecht der Nationen' nichts als hohle kleinbürgerliche
Phraseologie und Humbug ist."
Rosa Luxemburg erklärt sich diese falsche Nationalitätenpolitik Lenins als eine
"Art Opportunitätspolitik", um "die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des
russischen Reiches an die Sache der Revolution [...] zu fesseln", ähnlich dem
Opportunismus den Bauern gegenüber, "deren Landhunger durch die Parole der
direkten Besitzergreifung des adligen Grund und Bodens befriedigt wurde und die
dadurch an die Fahne der Revolution [. . .] gefesselt werden sollten." (ebd. S.
89) In beiden Fällen ist ihrer Ansicht nach "die Berechnung leider gänzlich
fehlgeschlagen". Umgekehrt, als die Bolschewiki es erwarteten, benutzte eine
nach der anderen der (befreiten) 'Nationen' die frisch geschenkte Freiheit dazu,
sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen
Imperialismus zu verbinden und unter seinem Schutze die Fahne der
Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. [...] Freilich, es sind nicht
die
'Nationen', die jene reaktionäre Politik betätigten, sondern nur die
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die [...] das 'nationale
Selbstbestimmungsrecht' zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären
Klassenpolitik verkehrten. Aber [...] darin liegt eben der
utopisch-kleinbürgerliche Charakter dieser nationalistischen Phrase, daß sie in
der rauhen Wirklichkeit der Klassengesellschaft [...] sich einfach in ein Mittel
der bürgerlichen Klassengesellschaft verwandelt." (ebd. S.93). Daß die
Bolschewiken die Frage der nationalen Bestrebungen und Sondertendenzen mitten in
den revolutionären Kampf warfen, hat nach Rosa Luxemburg "die größte Verwirrung
in die Reihen des Sozialismus getragen... Aber die Bolschewiki haben die
Ideologie geliefert, die den Feldzug der Konterrevolution maskiert hat, sie
haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt."
(S. 95) "Den Bolschewiken war es beschieden, mit der Phrase von der
Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die Mühlen der Konterrevolution zu
liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen
Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des
ganzen Weltkrieges zu liefern." (S. 96)
Weshalb versteifte sich Lenin - um mit Rosa Luxemburg erneut zu fragen - mit
solcher Hartnäckigkeit auf die Parole der Selbstbestimmung der Nationen und auf
die der Befreiung der unterdrückten Völker? Ohne Zweifel widerspricht diese
Parole der Forderung nach der Weltrevolution, und wie Luxemburg war auch Lenin
an der Auslösung der Weltrevolution interessiert, da er, wie alle Marxisten
jener Zeit,
-172-
nicht daran glaubte, daß Rußland, auf sich selbst beschränkt, sich revolutionär
behaupten könne. In Übereinstimmung mit Engels' Ausspruch:
nicht daran glaubte, daß Rußland, auf sich selbst
beschränkt, sich revolutionär behaupten könne. In Übereinstimmung mit Engels'
Ausspruch:
"Wenn eine russische Revolution zugleich eine europäische proletarische
Revolution hervorruft, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum
Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen" , war es für
Lenin nicht nur klar, daß die Bolschewiken in Rußland die Macht zu erobern
hätten, sondern auch, daß die russische Revolution zur europäischen und damit
zur Weltrevolution werden müsse, sollte sie zum Sozialismus führen. In der durch
den Weltkrieg gegebenen, objektiven Situation konnte sich Lenin sowenig wie Rosa
Luxemburg vorstellen, daß Rußland sich gegen die kapitalistischen Mächte halten
könne, fände die Revolution nicht ihre Fortsetzung in Westeuropa. Es war für
Luxemburg sehr unwahrscheinlich, daß "die Russen sich in diesem Hexensabbath
werden halten können", und dies nicht nur auf Grund ihrer Erfahrungen mit - und
ihres Mißtrauens gegen Leute wie Lenin und Trotzki und deren alberne
Phraseologie vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen, ihrer Konzessionspolitik
den Bauern gegenüber usw., nicht nur wegen der imperialistischen Attacken gegen
die russische Revolution und noch viel weniger im Sinne einer These, welche die
Sozialdemokratie propagierte (die statistisch nachwies, daß die rückständige
ökonomische Entwicklung Rußlands weder die Revolution rechtfertige noch den
Sozialismus zulasse), sondern an erster Stelle, wie sie aus dem Gefängnis
schrieb, "weil die Sozialdemokratie in dem
hochentwickelten Westen aus hundsjämmerlichen Feiglingen besteht und die Russen,
ruhig zusehend, sich wird verbluten lassen." Sie ist für die
bolschewistische Revolution, sosehr sie die Bolschewiken auch vom Gesichtspunkt
der weltrevolutionären Notwendigkeiten kritisiert, und sie versucht, deren
Rückzüge stets auf das Versagen des westeuropäischen Proletariats
zurückzuführen. Sie schreibt in einem Brief an Luise Kautsky:
"natürlich machen [es] mir [die Bolschewiken] jetzt auch
nicht
recht in ihrem Friedensfanatismus. [Brest Litowsk] Aber schließlich -
sie sind nicht schuld. Sie sind in einer Zwangslage, haben nur die Wahl zwischen
zwei Tracht Prügeln und wählen die kleinere. Verantwortlich sind andere, daß aus
der russischen Revolution der Teufel profitiert." Und in ihrer Arbeit 'Die Russische
Revolution' rechtfertigt sie die Bolschewiken erneut: "Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft
der Bolschewiki in Rußland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn
sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des deutschen
Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf
war."
Rosa Luxemburg starb zu früh, um zu sehen, daß die bolschewistische Politik doch
imstande war, die Herrschaft der Bolschewiki, allerdings nur im Rahmen des
Staatskapitalismus, zu sichern. "Bleibt die deutsche
Revolution aus", schrieb Liebknecht aus dem Gefängnis ('Nachlaß') im Einklang
mit Rosa Luxemburg, "so bleibt für die russische Revolution die Alternative:
revolutionärer Untergang oder schimpfliches Schein- und Trugleben."
Die Bolschewiken wählten das letztere. "Es
-173-
gibt in Rußland Kommunisten", schrieb Eugen Varga 1921, in seinem Buch über 'Die
wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur', "die, des langen Wartens auf die europäische Revolution überdrüssig
geworden, sich endgültig auf eine Isoliertheit Rußlands einrichten wollen. [...]
Mit einem Rußland, welches die soziale Revolution der anderen Länder als eine
ihm fremde Angelegenheit betrachten würde, ... .1 würden die kapitalistischen
Länder dann allerdings in friedlicher Nachbarschaft leben können [...] eine
solche Einkapselung des revolutionären Rußlands [...] würde den Gang der
Weltrevolution 'verlangsamen'."
Die Nationalitätenpolitik Lenins hat die Herrschaft der Bolschewiki nicht
gefährdet. Wohl wurden große Gebiete von Rußland abgetrennt und zu reaktionären
Staaten gemacht, aber fester denn je ist die Macht des bolschewistischen
Staates. Scheinbar hat sich die leninistische Linie als für Rußland richtig
herausgestellt, scheinbar waren Rosa Luxemburgs Warnungen unbegründet. Dies
jedoch nur insoweit, als es sich um die machtvolle Position des
bolschewistischen Staatsapparates handelt, auf keinen Fall jedoch vom Standpunkt
der Weltrevolution aus gesehen. [...] Wohl besteht das bolschewistische Rußland
noch, aber nicht als das, als was es begann: nicht als Ausgangspunkt der
Weltrevolution, sondern als ein gegen sie gerichtetes Bollwerk. Das Rußland, das
Rosa Luxemburg und jeder Revolutionär mit ihr gefeiert hatte, ist vor die Hunde
gegangen; was geblieben ist, ist ein Rußland, von dem Rosa Luxemburg in den
'Spartakusbriefen' schon 1918 befürchten konnte:
Die Nationalitätenpolitik Lenins hat die Herrschaft der Bolschewiki nicht
gefährdet. Wohl wurden große Gebiete von Rußland abgetrennt und zu reaktionären
Staaten gemacht, aber fester denn je ist die Macht des bolschewistischen
Staates. Scheinbar hat sich die leninistische Linie als für Rußland richtig
herausgestellt, scheinbar waren Rosa Luxemburgs Warnungen unbegründet. Dies
jedoch nur insoweit, als es sich um die machtvolle Position des
bolschewistischen Staatsapparates handelt, auf keinen Fall jedoch vom Standpunkt
der Weltrevolution aus gesehen. [...] Wohl besteht das bolschewistische Rußland
noch, aber nicht als das, als was es begann: nicht als Ausgangspunkt der
Weltrevolution, sondern als ein gegen sie gerichtetes Bollwerk. Das Rußland, das
Rosa Luxemburg und jeder Revolutionär mit ihr gefeiert hatte, ist vor die Hunde
gegangen; was geblieben ist, ist ein Rußland, von dem Rosa Luxemburg in den
'Spartakusbriefen' schon 1918 befürchten konnte:
"Wie ein unheimliches Gespenst nähert sich ein Bündnis
der Bolschewiki mit Deutschland. Eine Allianz der Bolschewiki mit dem deutschen
Imperialismus wäre der furchtbarste moralische Schlag für den internationalen
Sozialismus. [. . .1 Mit der grotesken 'Paarung' zwischen Lenin und Hindenburg
wäre die moralische Lichtquelle im Osten verlöscht. [...] Sozialistische
Revolution [. . .] unter der Schirmvogtei des deutschen Imperialismus -das wäre
das Ungeheuerlichste, was wir noch erleben könnten. Und obendrein war es -reine
Utopie. [...] Jeder politische Untergang der Bolschewiki im ehrlichen Kampfe
gegen die Übermacht und Ungunst der geschichtlichen Situation wäre diesem
moralischen Untergang vorzuziehen."
Ist die lange Freundschaft des leninistischen Rußland mit dem
Hindenburg-Deutschland auch vorübergehend getrübt worden, zieht es die
bolschewistische Diktatur heute vor, sich auf die französischen Bajonette im
besonderen und den Völkerbund im allgemeinen zu stützen, so praktiziert sie
heute doch offen, wofür sie im Prinzip schon immer eintrat und was Bucharin auf
dem vierten Weltkongreß der Komintern folgendermaßen klar ausdrückte: "Es gibt
keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Anleihe und einem militärischen
Bündnis. Wir sind bereits so gewachsen, daß wir ein militärisches Bündnis mit
einer anderen Bourgeoisie schließen können, um mittels dieses bürgerlichen
Staates ein anderes Bürgertum niederzuschmettern. Bei dieser Form einer
Landesverteidigung, des militärischen Bündnisses mit bürgerlichen Staaten, ist
es die Pflicht der Genossen eines Landes, die-
-174-
sem Block zum Siege zu verhelfen." In der
grotesken Paarung zwischen Lenin und Hindenburg, den kapitalistischen Interessen
und den Interessen der bolschewistischen Machthaber, illustriert sich denn auch
der Niedergang der weltrevolutionären Welle, der heute noch nicht abgeschlossen
ist. Die sich um Lenins Namen scharende Arbeiterbewegung ist ein Spielball
kapitalistischer Politik, zu jeder revolutionären Handlung absolut unfähig.
Lenins Taktik -die Ausnützung der nationalen Bewegungen zu weltrevolutionären
Zwecken - hat sich geschichtlich als verfehlt erwiesen. Die Warnungen Rosa
Luxemburgs waren berechtigter, als ihr jemals hätte lieb sein können.
Die 'befreiten' Nationen bilden einen faschistischen Gürtel um Rußland. Die
'befreite' Türkei schlachtet, mit den ihr von Rußland gelieferten Waffen, die
Kommunisten ab. Das in seinem nationalen Freiheitskampf von Rußland und der
Dritten Internationale unterstützte China würgt seine Arbeiterbewegung nach dem
Muster der Pariser Kommune ab. Abertausende von
Arbeiterleichen bestätigen Rosa Luxemburgs Auffassung, daß die Phrase vom
Selbstbestimmungsrecht der Nationen nichts als "kleinbürgerlicher Humbug" ist.
Wie sehr der Kampf um die nationale Befreiung ein Kampf um die Demokratie ist,
zeigen wohl die nationalistischen Abenteuer der Dritten Internationale in
Deutschland, die mit zu den Voraussetzungen des faschistischen Sieges gehören.
Man hat die Arbeiter selbst zu Faschisten erzogen, indem man zehn Jahre lang mit
Hitler um den 'wirklichen Nationalismus' konkurrierte. Und Litwinow feierte im
Völkerbund den Sieg des Leninschen Gedankens der Selbstbestimmung der Völker
anläßlich der Saar-Abstimmung.
Die Haltung Lenins zur nationalen Frage und dem mit ihr verbundenen Problem des
Krieges ist - neben ihrer durch den Opportunismus bestimmten Inkonsequenz -
zugleich durchaus widerspruchsvoll. Während eines imperialistischen Krieges muß,
nach Lenin, das Proletariat für die Niederlage des eigenen Landes sein. Ist sie
erfolgt, dann muß die Arbeiterschaft wiederum ihre Bourgeoisie in ihrem Kampfe
um die nationale Befreiung unterstützen. Und wenn dann die 'unterjochte Nation'
mit Hilfe des Proletariats wieder zu einer gleichberechtigten Nation geworden
ist, dann hat die Arbeiterschaft erneut die Landesverteidigung abzulehnen. So
waren denn Lenin und die Bolschewiken 1914 - 1918 in ihrer Haltung gegenüber
Deutschland gegen die Vaterlandsverteidigung. 1919 -1923 waren sie für die
Vaterlandsverteidigung und die nationale Befreiung Deutschlands. Hätte, wo
Deutschland dank der Hilfe des Proletariats wieder zur imperialistischen Macht
geworden ist, sind sie erneut gegen die Vaterlandsverteidigung in Deutschland -
und für diese in Frankreich und in den anderen - im Moment mit Rußland
sympathisierenden - Ländern. Und morgen - wogegen oder wofür sie morgen sein
werden, hängt von der Mächtekonstellation für den nächsten Weltkrieg ab, der
Rußland als Verbündeten dieser oder jener Mächtegruppe sehen wird. Daß dies
nichts mit marxistischem Klassenkampf zu tun hat, bemühte sich Rosa Luxemburg
aufzuzeigen.
Lenin war ein praktischer Politiker. Wesentlich unterschied er sich
-175-
von den Theoretikern der Zweiten Internationale nur als Taktiker. Was die einen
auf demokratischem Wege erreichen wollten, versuchte er auf revolutionärem Wege
zu erringen; nicht mit dem Maul im Parlament, sondern mit der Gewalt auf dem
realen Felde des Klassenkampfes wollte er für die Arbeiter den Sozialismus
erkämpfen. Mittels seiner Partei wollte er die Revolution für die Massen
machen, indem die Partei die Massen für sich gewann. Die Macht mußte in die
Hände der Bolschewiki kommen, damit die russischen Ausgebeuteten befreit werden
konnten. Die Macht mußte in den Händen der Bolschewiki sein, um den
Weltkapitalismus revolutionär zu überwinden. Die Aneignung der politischen Macht
durch die Partei war Anfang und Ende der Leninschen Politik. Seine fälschlich
als geschickt und flexibel gefeierte, in Wirklichkeit jedoch rein
opportunistische Politik galt zu allererst der Eroberung der Macht für die
bolschewistische Partei.
Das russische Bürgertum war beim Ausbruch der russischen Revolution außerstande,
die übernommene Macht zu halten, da es außerstande war, die Agrarfrage
revolutionär zu lösen. Dies blieb den Bolschewi ken überlassen. "Wir haben wie
niemand sonst die bürgerlich-demokra tische Revolution bis zu Ende
durchgeführt", erklärte Lenin zum Vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, und
diese Revolution wurde mit Hilfe der Bauern durchgeführt. Die Bolschewiki hatten
die Macht und balancierten die Gegensätze zwischen den Arbeitern und Bauern
stets so aus, daß sie die Macht behalten konnten. Im Interesse der
Machterhaltung wurde eine Zick-Zack-Politik im russischen wie im internationalen
Maßstabe durchgeführt, die aus der Geschichte der Dritten International eine
Geschichte der Krisen und ihres Unterganges machte. Die erste Konzessionen an
die Bauern genügten Luxemburg bereits, die notwendige Entwicklung Rußlands in
groben Umrissen vorauszusehen; wenn nicht die Weltrevolution diesem 'Sündenfall'
die rückwirkende Kraft nähme. "Die Parole nun [...]: sofortige Besitzergreifung
und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern", schrieb Rosa Luxemburg,
"mußte geradezu nach der entgegengesetzten Richtung
wirken. Sie ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet
den Weg zu einer solchen ab.» Rosa Luxemburg wußte nicht, (sie saß
damals im Gefängnis), daß die Bauern das Land verteilten, noch ehe die
Bolschewiken die Parole dazu ausgaben, und daß diese nur legalisierten, was
praktisch schon durchgeführt war. Die Spontaneität der Bauernmassen war auch
hier schneller als die Parole der 'Träger des revolutionären Bewußtseins', als
welche sich die Bolschewiken ansahen.
Die Bolschewiken wollten die bürgerliche Revolution jedoch konsequent zu Ende
führen, und dazu gehört auch die Umwandlung der Bau ern in ländliche
Lohnarbeiter, die Kapitalisierung der Landwirtschaft. Dieser Prozeß ist noch im
vollen Gange und wird als Kollektivierung in der Welt gefeiert; er ist noch
nicht abgeschlossen und kann wohl nie ohne neue gesellschaftliche
Erschütterungen abgeschlossen werden. Scheinbar jedoch können die Leninisten
gegen Luxemburg beweisen, daß sie im Unrecht war, als sie annahm, daß ohne
Weltrevolution der Bo-
-176-
schewismus an der Bauernfrage zugrunde gehen muß. Doch müßte dieser Beweis
zugleich aufzeigen, daß der Bolschewismus tatsächlich zum Sozialismus geführt
habe. Was jedoch in Rußland besteht, ist der Staatskapitalismus. Mag man ihn
auch Sozialismus nennen, er bleibt doch Lohnarbeit, ausbeutender
Staatskapitalismus, und damit hat sich die Luxemburgische Befürchtung, wie sehr
auch immer modifiziert, doch bestätigt.
Die Bauernbewegungen in den ersten Jahren der russischen Revolution zwangen den
Bolschewiken - wollten sie an der Macht bleiben -einen Kurs auf, der die
Weltrevolution behindern mußte und der in Rußland nichts weiter erlaubte als
einen Staatskapitalismus, der vom Proletariat revolutionär gestürzt werden muß,
will es endlich zum Sozialismus gelangen. An dieser Stelle interessiert uns
jedoch nur, daß die Bolschewiken mit Hilfe der Bauernbewegung zur Macht kommen
konnten. Und weiter, daß sie glaubten, es genüge, im Besitze der politischen und
wirtschaftlichen Kommandohöhen zu sein, um mit einer richtigen Politik zum
Sozialismus zu kommen. Was durch rückständige Zustände den Bolschewiken
aufgezwungen wurde - die weitgehende Zentralisierung aller Gewalt und die
Konzessionen an die Bauern - das erschien ihnen als ihre eigene, kluge,
erfolgreiche Politik, die sie auch auf internationalem Boden vertraten. Lenin
hatte die Bewegungsgesetze der russischen Revolution lange vor ihrem Ausbruch
mit großer Deutlichkeit vorausgesehen, und seine gesamte Theorie und Praxis war
auf den russischen Zustand zugeschnitten. Deshalb sein überspitzter
Zentralismus, seine Auffassung von der Rolle der Partei, die Akzeptierung der
Hilferdingschen Sozialisierungsideen und auch seine Stellung zur nationalen
Frage. Konnte auch Rosa Luxemburg, als Kennerin der russischen Zustände, die
Politik Lenins gut verstehen und den Grund dazu ausgezeichnet marxistisch
analysieren, und konnte sie, solange die Bolschewiken tatsächlich als
weltrevolutionäre Kraft auftraten, all dies als unvermeidlich in Kauf nehmen, so
wandte sie sich doch mit aller Macht dagegen, daß man aus dieser speziellen
russischen Situation ein Rezept zur Lösung der weltrevolutionären Aufgaben der
Arbeiterschaft machen wollte. "Das Gefährliche beginnt dort", sagt sie über die
Politik Lenins, wo [die Bolschewiken] aus der Not die
Tugend machen und ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik
nunmehr theoretisch in allen Stükken fixieren und dem internationalen
Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen
wollen." (Die Russische Revolution)
-177-
Hatte das Bündnis zwischen Bauern und Arbeitern, wie Lenin es erwartet hatte,
den Bolschewiken tatsächlich die Macht in die Hände gespielt, so stellte er sich
auch den Verlauf der Weltrevolution als einen ähnlichen Prozeß vor, wenn auch in
größerem Maßstab. Die unterdrückten Völker sind in erster Linie agrarische
Nationen, und die Kommunistische Internationale versuchte in ihrer Bauernpolitik
tatsächlich, die agrarische Interessen mit den Arbeiterinteressen -im
Weltmaßstabe -zusammenzufassen, um sie gegen das Kapital (dem russischen Muster
folgend) zu richten, um es - im Weltmaßstabe - zu besiegen. Die nationalen
Freiheitsbewegungen in den Kolonien und die der nationalen Minderheiten in den
kapitalistischen Ländern zu unterstützen, war ebenfalls wertvoll für die
Bolschewiken, weil dadurch die imperialistische Intervention der
kapitalistischen Länder in Rußland geschwächt wurde. Jedoch die Weltrevolution
ließ sich nicht wie eine vergrößerte Kopie der russischen Revolution behandeln.
Die Abenteuer der Kommunistischen Internationale in ihren Versuchen, aus sich
eine Arbeiter- und Bauerninternationale zu
machen, sind als Fehlschläge bekannt; sie förderten nichts, aber sie zersetzten
die
revolutionäre Bewegung gegen den Kapitalismus. Alles, was dabei erreicht werden
konnte, war die Sicherung der bolschewistischen Staatsmacht in Rußland durch die
Gewinnung einer langen geschichtlichen Atempause, die zur Entwicklung der
russischen und internationalen Situation führte, wie sie sich uns heute
prasentiert.
4.3. DER ZUSAMMENBRUCH DES KAPITALS
War Lenins Einstellung zur nationalen Frage einerseits von dem diesbezüglichen,
nicht gänzlich überwundenen sozialdemokratischen Standpunkt der Vorkriegszeit
bestimmt, und war sie ihm andererseits ein Mittel zur Errichtung und Festigung
der bolschewistischen Herrschaft in Rußland und deren eventuellen Ausdehnung im
Weltmaßstabe, so hatte sie für Rosa Luxemburg keine andere Bedeutung, als die
einer falschen Politik, die sich bitter rächen würde.
Sie stand dort im Gegensatz zu Lenin, wo für ihn -durchaus im Einklang mit
seiner Gesamteinstellung - die Organisation und die Eroberung der Macht für die
Partei die notwendige Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus war [... ] Ihr
Augenmerk war auf die Klassennotwendigkeiten des Proletariats gerichtet.
War weiterhin Lenins Theorie und Praxis hauptsächlich mit den rückständigen
russischen Verhältnissen verbunden, so ging Rosa Luxemburg stets von den
kapitalistisch entwickelteren Ländern aus und war so außerstande, in der
'geschichtlichen Mission' der Arbeiterklasse ein Partei- und Führerproblem zu
sehen. Mehr Bedeutung als dem Wachsen der Organisation und der Qualität der
Führer maß sie den spontanen Massenbewegungen und der Eigeninitiative der
Arbeiter in ihren Kämpfen zu. So unterschied sie sich von Lenin grundsätzlich in
der Bewertung der Spontaneität in der Geschichte und damit auch in der Frage
nach der Rolle der Organisation im Klassenkampf. Bevor wir jedoch auf diese
Differenzen eingehen, sei es uns erlaubt, kurz - wie es hier leider nicht anders
möglich ist - auf den Unterschied der Auffassungen Luxemburgs und Lenins zur
Marxschen Akkumulationstheorie einzugehen, da diese Frage mit allen anderen aufs
engste verknüpft ist.
In ihrem Kampf gegen die Revisionisten hatte Rosa Luxemburg schon betont, daß
die Arbeiterschaft auf Revolution, nicht auf Reformen ein-
-178-
gestellt werden muß, da der Kapitalismus unvermeidlich seinem Zusammenbruch
entgegen treibe. Dem Revisionismus, der sich bemühte, dem Kapitalismus
Ewigkeitsdauer zuzuschreiben, hielt sie entgegen, "daß mit der Annahme der
ökonomischen Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation dem
Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter
den Füßen verschwindet. Wir verflüchten uns dann in die Nebel der
vormarxistischen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer
Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen
revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klasse ableiten wollen." ('Was
die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben' - Antikritik ) Ihr Hauptwerk 'Die Akkumulation des
Kapitals', als ein Teil ihres Kampfes gegen den Reformismus gedacht, galt dem
Nachweis einer objektiven Grenze der kapitalistischen Entfaltung und war
zugleich
eine Kritik der Marxschen Akkumulationstheorie.
Marx hatte, ihrer Auffassung nach, die Frage der Akkumulation des Gesamtkapitals
nur gestellt, aber nicht mehr beantwortet. Sein 'Kapital' erschien ihr als
"unvollständig", als "Torso", es enthalte "Lükken", die es auszufüllen gelte.
Marx habe den Akkumulationsprozeß des Kapitals in einer Gesellschaft
dargestellt, die lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern bestehe, er habe in
seinem System den Außenhandel übergangen, und ebenso notwendig wie zugleich
unmöglich erscheine deshalb in seinem System die Realisierung des Mehrwerts
außerhalb der beiden existierenden Gesellschaftsklassen. Die Akkumulation des
Kapitals sei bei Marx "in einen fehlerhaften Zirkel geraten"; ja, sein Werk
enthalte "klaffende Widersprüche", die sie zu überwinden sich anschickte.
Sie selbst begründete die Notwendigkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs mit
dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer
Bewegung nichtkapitalistischer Formen als ihrer Umgebung bedürfe und nur so
lange existieren könne, wie sie dieses Milieu vorfinde. Sie suchte die
Schwierigkeiten der Akumulation in der Zirkulationssphäre, in der Absatzfrage
und in der der Mehrwertrealisierung, während bei Marx diese Schwierigkeiten
bereits in der Produktionssphäre gegeben sind, da für ihn die Akkumulation eine
Kapitalverwertungsfrage ist. Die Produktion von Mehrwert, nicht die Realisierung
desselben, ist für ihn das wirkliche Problem. Für Rosa Luxemburg konnte ein Teil
des Mehrwerts in einem wie von Marx dargestellten Kapitalismus nicht abgesetzt
werden; dessen Verwandlung zu neuem Kapital war nur auf dem Wege des
Außenhandels mit nichtkapitalistischen Ländern möglich. Sie formulierte dies in
der 'Akkumulation des Kapitals' folgendermaßen: "Der Akkumulationsprozeß hat die
Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die einfache
Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische
Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche
Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu
bringen. [...] Ist das Endresultat einmal erreicht - was jedoch nur
theoretische Konstruktion bleibt -, wird die
-179-
Akkumulation zur Unmöglichkeit: die Realisierung und
Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe [...]
Die Unmöglichkeit der Akkumulation bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der
weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und damit die objektive geschichtliche
Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus."
Diese Gedankengänge Rosa Luxemburgs waren nicht neu, originell war nur die
Begründung, die sie ihnen gab. Sie versuchte deren Richtigkeit an dem Marxschen
Reproduktionsschema im zweiten Band des 'Kapital' zu beweisen. Nach Marx muß das
Kapital akkumulieren. Ein bestimmtes Verhältnis muß zwischen den verschiedenen
Produktionsgebieten vorhanden sein, damit die Kapitalisten die
Produktionsmittel, die Arbeiter die Lebensmittel für die Reproduktion auf dem
Markt vorfinden. Dieses Verhältnis, von den Menschen nicht kontrolliert, setzt
sich auf dem Umweg über den Markt blind durch. Marx reduzierte es auf zwei
zusammenfassende Produktionsabteilungen: die Produktion von Produktionsmitteln
und die Produktion von Konsumtionsmitteln. Mit willkürlich gewählten Zahlen
illustrierte er den Austausch zwischen beiden Abteilungen. Auf Grund dieser
Marxschen Schemata verläuft die Akkumulation scheinbar ohne Störungen. Der
Austausch zwischen beiden Abteilungen geht glatt vonstatten. "Nimmt man das
Schema wörtlich [...]", sagt Luxemburg, "dann erweckt es den Anschein, als ob
die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert
realisierte und den kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse
verwendete. Da die kapitalistische Produktion selbst ausschließliche Abnehmerin
ihres Mehrproduktes ist, so ist für die Kapitalakkumulation keine Schranke zu
finden." (S. 299 f) Unter den Marxschen "Voraussetzungen läßt aber sein Schema
keine andere Deutung zu als Produktion um der Produktion willen." (S. 303) Aber
das könne, sagt Rosa Luxemburg, doch nicht der "Zweck" der Akkumulation sein;
eine solche Produktion, wie sie das Schema suggeriere, sei vom kapitalistischen
Standpunkt aus völlig sinnlos. Das Marxsche Schema der Akkumulation gebe auf die
Frage, für wen die erweiterte Reproduktion eigentlich stattfinde, keine Antwort.
Wohl steige mit der Akkumulation die Konsumtion der Arbeiter wie die der
Kapitalisten, doch falle "die persönliche Konsumtion der Kapitalisten [. . .]
unter die Gesichtspunkte der einfachen Reproduktion." [... ] Und "für wen
produzieren die Kapitalisten, wenn [. . .] sie nicht selbst [den ganzen
Mehrwert] konsumieren, sondern 'entsagen', d. h. akkumulieren? Noch weniger kann
die Erhaltung einer immer größeren Armee von Arbeitern der Zweck der
ununterbrochenen Kapitalakkumulation sein. Die Konsumtion der Arbeiter ist
kapitalistisch eine Folge der Akkumulation, niemals ihr Zweck und ihre
Voraussetzung" [S. 304] In dem Moment, wo das Marxsche Schema der erweiterten
Reproduktion der Wirklichkeit entspreche, zeigt es das Ende der kapitalistischen
Produktion an. Aber das reibungslose Austauschverhältnis zwischen den beiden
großen Abteilungen der Produktion, deren Gleichgewicht innerhalb der Marxschen
Schemata, ist
-180-
nach Luxemburg gar nicht möglich. Die Annahme der wachsenden organischen
Zusammensetzung des Kapitals würde zeigen, daß die
Einhaltung der notwendigen
quantitativen Proportionen ausgeschlossen sei, d. h. die Unmöglichkeit der
Dauerakkumulation lasse sich rein quantitativ schematisch beweisen. Ein
Austausch zwischen beiden Abteilungen sei nicht möglich, es bleibe ein
unabsetzbarer Rest in der Abteilung der Konsumgüter, eine Überproduktion an
unrealisierbarem Mehrwert, der erst in nichtkapitalistischen Ländern realisiert
werden könne. ('Die Akkumulation des Kapitals') Mit dieser Theorie erklärte Rosa
Luxemburg auch die imperialistischen Notwendigkeiten der kapitalistischen
Länder.
Im direkten Gegensatz zu dieser Theorie Rosa Luxemburgs steht die Auffassung
Lenins, was aus allen seinen ökonomischen Schriften ersichtlich ist. In vollem
Einklang mit Marx suchte er die Widersprüche, die die historische Begrenztheit
des Kapitals andeuten, nicht wie Rosa Luxemburg in der Zirkulations-, sondern in
der Produktionssphäre. Kritiklos stellte Lenin sich voll und ganz auf den Boden
der Marxschen ökonomischen Theorien, da sie sich nicht ergänzen ließen. In
seinen eigenen theoretischen Arbeiten beschränkte er sich auf die Anwendung der
Marxschen Lehren bei der Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus im
allgemeinen und die des russischen im besonderen.
Schon in seinen Schriften gegen die Narodniki , die nicht an eine kapitalistische
Entwicklung Rußlands glauben wollten, da die Entwicklung eines Außenmarktes die
Hauptbedingung dafür wäre und dieser Außenmarkt für Rußland nicht vorhanden sei,
da es zu spät die kapitalistische Bühne betrat, hatte Lenin bereits viele seiner
Argumente gegen Rosa Luxemburgs Auffassung vorweggenommen. Die Narodniki
behaupteten, daß der innere kapitalistische Markt zur Entfaltung der
kapitalistischen Wirtschaft nicht genüge, ja, daß er sich durch die mit dem
Kapitalismus verbundene Verelendung der Massen dauernd vermindere. Ähnlich wie
später Rosa Luxemburg bestritten auch sie, daß sich der kapitalistische Mehrwert
ohne Außenmärkte realisieren ließe. Die Frage der Realisierung des Mehrwerts hat
nach Lenin mit dieser Problemstellung jedoch nichts zu tun; die Einbeziehung des
Außenhandels verschiebe das Problem nur, aber es löse es nicht. Die
Notwendigkeit des Außenmarktes für ein kapitalistisches Land erkläre sich für
ihn, wie er ausführt, überhaupt nicht aus den Gesetzen der Realisierung des
gesellschaftlichen Produkts (und des Mehrwerts im besonderen), sondern dadurch,
daß der Kapitalismus nur als Resultat einer weit entwikkelten Warenzirkulation
auftrete, die die Grenzen des Staates über-
Organische Zusammensetzung des Kapitals das Verhältnis zwischen dem in
Produktionsmittel (konstantes Kapital) und dem in Löhnen (variables Kapital)
investierten Kapital. Ausdruck der wachsenden Produktivität der Arbeit im
Kapitalismus ist das Wachsen der organischen Zusammensetzung des Kapitals, die
schnellere Zunahme des konstanten gegenüber dem variablen Kapital. IVerf.]
-181-
schreite. Der Absatz des Produkts auf dem äußeren Markt erkläre nichts, sondern
bedürfe selbst der Erklärung, d. h. das Auffinden seines Äquivalents. Wenn man
von den 'Schwierigkeiten' der Realisierung spreche, sagt Lenrn, dann müsse man
auch erkennen, daß diese 'Schwierigkeiten' nicht nur möglich, sondern auch
unvermeidlich seien, und zwar hinsichtlich aller Teile des kapitalistischen
Produkts und nicht des Mehrwerts allein. Die Schwierigkeiten dieser Art, die von
der unproportionellen Verteilung der verschiedenen Zweige der Produktion
herrührten, entständen dauernd nicht nur bei der Realisierung des Mehrwerts,
sondern auch bei der Realisierung des variablen und konstanten Kapitals; nicht
nur bei der Realisierung des Produkts in Gestalt von Konsumtionsgütern, sondern
auch in Gestalt von Produktionsmitteln. (Die Entwicklung
des Kapitalismus in Rußland, a. a. 0. S.35)
"Wie bekannt", schreibt Lenin ('Zur Charakteristik der
ökonomischen Romantik') , "besteht das Gesetz
der kapitalistischen Produktion darin, daß das konstante Kapital rascher wächst
als das variable, d. h. ein immer größerer Teil sich neubildenden Kapitals
wendet sich der Abteilung der gesellschaftlichen Produktion zu, die
Produktionsmittel herstellt. Folglich muß diese Abteilung unbedingt rascher
wachsen als diejenige, die Konsumtionsmittel herstellt. Folglich nehmen die
Konsumtionsmittel in der Gesamtmasse der kapitalistischen Produktion immer
weniger und weniger Raum ein. Und das entspricht vollkommen der geschichtlichen
Mission des Kapitalismus und seiner spezifischen sozialen Struktur: die erste
besteht nämlich in der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft; die
letztere schließt die Utilisierung derselben durch die Masse der Bevölkerung
aus." Nichts ist für Lenin sinnloser, als aus diesem Widerspruch
zwischen Produktion und Konsumtion abzuleiten, daß Marx die Möglichkeiten, den
Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft zu realisieren, bestritten, die
Krisen durch ungenügenden Konsum erklärt hätte. Er sagt in seinem Buch über die
Entwicklung des russischen Kapitalismus an anderer Stelle: "Die verschiedenen Zweige der Industrie, die einander als 'Markt'
dienen, entwickeln sich ungleichmäßig, überholen einander, und die entwickeltere
Industrie sucht einen äußeren Markt. Dies bedeutet keineswegs die Unmöglichkeit,
für die kapitalistische Nation, den Mehrwert zu realisieren. [...] Dies weist
nur auf die Unproportionalität in der Entwicklung der einzelnen Industrien hin.
Bei einer anderen Verteilung des nationalen Kapitals könnte die gleiche
Produktenmenge im Inneren des Landes realisiert werden."
Für Lenin hat Marx mit seinem Reproduktionsschema den Prozeß der Realisierung
des Produkts im allgemeinen und des Mehrwerts im besonderen vollständig
aufgeklärt und die völlige Unrichtigkeit der Hereinziehung des äußeren Marktes
in die Realisierungsfrage aufgedeckt. (a. a. 0. S. 57) Die Krisenhaftigkeit des
Kapitalismus und dessen Expansionstendenzen erklären sich für Lenin durch die
Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der einzelnen Industriezweige. Aus dem
Monopolcharakter des Kapitalismus leitet er in seinem Buch über den
Imperialismus
-182-
die beständige koloniale Ausdehnung und die imperialistische Aufteilung der Welt
ab. Durch den Kapitalexport und die
Beherrschung der Rohstoffgebiete verschafft sich die Bourgeoisie der
beherrschenden kapitalistischen Länder riesige Extraprofite. Die
imperialistische Expansion diene nicht so sehr der Realisierung des Mehrwerts,
sondern der Steigerung der Profite.
Ohne Zweifel steht Lenins Auffassung der Marxschen näher als die Rosa
Luxemburgs. Wohl hat letztere völlig richtig in der Marxschen
Akkumulationstheorie das Zusammenbruchsgesetz des Kapitals erkannt; sie übersah
jedoch die Marxsche Begründung dafür und produzierte ihre eigene
Realisierungstheorie, die von Lenin mit Recht als unmarxistisch und falsch
zurückgewiesen wurde. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch interessant, zu
bemerken, daß Lenin in der seiner Marx-Biographie beigefügten Bibliographie auf
die Analyse der (Luxemburgischen) falschen Auslegung der Marxschen Theorie durch
Otto Bauer in der 'Neuen Zeit' verwies. Bauers
Kritik an Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie war von ihr in der
Antikritik jedoch mit Recht als eine "Blamage für den derzeitigen
offiziellen Marxismus" bezeichnet worden; denn Bauer wiederhole in seinen
Angriffen nur die revisionistische Auffassung, daß dem Kapital keine objektiven
Schranken gezogen seien. In seiner Auffassung sei der Kapitalismus auch ohne
Expansion denkbar. Nicht an der mechanischen Unmöglichkeit, den Mehrwert zu
realisieren, scheitere bei ihm der Kapitalismus, sondern an der Empörung, zu der
er die Volksmassen treibe... "Er wird gefällt werden von der stets
anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen
Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten
Arbeiterklasse." (Antikritik, a. a. 0. S. 105)
Bauer bemühte sich mit einem von ihm modifizierten Reproduktionsschema, das
viele der von Rosa Luxemburg beklagten Mängel der Marxschen Schemata nicht
kannte, den Nachweis anzutreten, daß auch bei Annahme der wachsenden organischen
Zusammensetzung des Kapitals ein reibungsloser Austausch zwischen den beiden
Abteilungen im Schema der kapitalistischen Reproduktion möglich sei. Jedoch wies
ihm Rosa Luxemburg nach, daß auch in seinem modifizierten Schema ein
unabsetzbarer Rest in der Konsumtionsabteilung übrigbleibe, der, um realisiert
zu werden, zur Eroberung neuer Märkte dränge. Darauf hatte Bauer nichts mehr zu
sagen. Und trotzdem verwies Lenin auf ihn als den Ausleger der falschen Theorie
Rosa Luxemburgs.
Nicht nur, daß Bauers Argumentation Rosa Luxemburg überhaupt nicht traf, auch
die von ihm aus seinem Schema gezogenen Schlußfolgerungen der schrankenlosen
Akkumulation (unabhängig von der Frage des Austauschverhältnisses beider
Abteilungen) konnten an diesem selben Schema als völlig falsch bewiesen werden.
Henryk Großmann wies nach, daß die Weiterführung des Bauerschen Schemas
auf eine längere Periode hinaus nicht die von Bauer abgeleitete reibungslose
Entfaltung des Kapitalismus, sondern den Zusammenbruch der Kapitalverwertung
ergab. Der Kampf gegen Rosa Luxemburgs Zusammenbruchstheorie hatte nur
-183-
zu einer neuen Zusammenbruchstheorie geführt. (Henryk Großmann, Das
Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, s. oben)
Der Streit zwischen Luxemburg und Bauer [...]war ein Streit um nichts, und es
ist wiederum nicht uninteressant festzustellen, daß Lenin die Unsinnigkeit der
ganzen Auseinandersetzung nicht bemerkt hat. Die Diskussion drehte sich um die
Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines reibungslosen Austauschverhältnisses
zwischen den beiden Abteilungen des Marxschen Reproduktionsschemas, von der die
volle Realisierung des Mehrwerts abhängt. Das Schema war im Marxschen System nur
als Hilfsmittel der gedanklichen Analyse gedacht, dem keine objektive Existenz
zuzuschreiben ist. In seiner überzeugenden Rekonstruktion des Aufbauplanes des
Marxschen 'Kapital', sowie in anderen Arbeiten, hat Henryk Großmann die
wirkliche Bedeutung des Reproduktionsschemas aufgezeigt und damit die Diskussion
um die Marxsche Akkumulationstheorie auf einen neuen, fruchtbaren Boden
gestellt. Der ganzen -auf dem Schema
basierenden - Marx-Kritik Rosa Luxemburgs lag die Zumessung einer realen
Existenz des Reproduktionsschemas zugrunde, "aber", betont Großmann, "das
Schema für sich allein beansprucht nicht, ein Abbild der konkreten
kapitalistischen Wirklichkeit zu sein. Es ist nur ein Glied im Marxschen
Annäherungsverfahren, das, zusammen mit anderen vereinfachenden Annahmen, die
dem Schema zugrunde liegen, und den nachträglichen Modifikationen im Sinne einer
progressiven Konkretisierung, ein unzertrennliches Ganzes bilden. Dabei verliert
jeder dieser drei Teile für sich allein, ohne die beiden anderen, für die
Erkenntnis der Wahrheit jeden Sinn und kann nur ein vorläufiges
Erkenntnisstadium, die erste Etappe im Annäherungsverfahren an die konkrete
Wirklichkeit bedeuten.» (Großmann a. a. 0. [s. Anm. 104] S. 133)
Das Marxsche Schema beschäftigt sich mit dem Austausch von Werten, aber in
Wirklichkeit werden die Waren nicht zu ihren Werten, sondern zu
Produktionspreisen ausgetauscht. "In einem auf Werten aufgebauten Schema", führt
Großmann in seiner Arbeit über 'Die Wert- und
Preis-Transformation' aus, "müssen in jeder Abteilung des Schemas
verschiedene Profitraten entstehen. Es besteht aber in der Wirklichkeit die
Tendenz der Ausgleichung der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate, was schon
im Begriff des Produktionspreises eingeschlossen ist. Will man so Kritik oder
Bejahung der Möglichkeit der Realisierung des Mehrwerts auf das Schema basieren,
so müßte es zu allererst in ein Preisschema verwandelt werden." (S. 6o) Selbst
wenn Rosa Luxemburg der Nachweis gelungen wäre, daß im Marxschen Schema der
restlose Absatz der Waren nicht möglich ist, daß mit jedem Jahre ein wachsender
Überschuß an Konsumtionsmitteln entstehen muß, was hätte sie dann bewiesen:
"Lediglich den Umstand, daß der 'unabsetzbare Rest' in der Konsumtionsabteilung
innerhalb des Wertschemas entsteht, d. h. unter der Voraussetzung, daß
die Waren zu ihren Werten ausgetauscht werden." (ebd.) Aber diese Voraussetzung
besteht nicht in der Wirklichkeit.
-184-
Das der Luxemburgischen Analyse zugrunde liegende Wertschema hat in den
einzelnen Produktionszweigen verschiedene Profitraten, die nicht zur
Durchschnittsprofitrate ausgeglichen werden, da ja im Schema von der Konkurrenz
abgesehen wird. Was besagen dann die Schlußfolgerungen Luxemburgs für die
Wirklichkeit, wenn sie von einem Schema abgeleitet werden, dem keine
Wirklichkeitsgeltung zukommt? "Da infolge der Konkurrenz die Umwandlung der
Werte in Produktionspreise und dadurch die Neuverteilung des Mehrwerts unter die
einzelnen Industriezweige im Schema stattfindet, wodurch notwendigerweise auch
eine Änderung der bisherigen Proportionalitätsverhältnisse der einzelnen Sphären
des Schemas erfolgt, so ist es durchaus möglich und wahrscheinlich, daß ein
'Konsumtionsrest' im Wertschema nachher im Produktionsschema verschwindet und
umgekehrt ein ursprüngliches Gleichgewicht des Wertschemas sich nachher im
Produktionsschema in eine Disproportionalität verwandelt." (ebd.) Die
theoretische Verwirrung Rosa Luxemburgs illustriert sich am besten in der
Tatsache, daß sie einerseits in der Durchschnittsprofitrate die leitende Macht
sieht, die tatsächlich jedes Privatkapital nur als Teil des gesellschaftlichen
Gesamtkapitals behandle, ihm den Profit als einen ihm nach Größe zukommenden
Teil des in der Gesellschaft herausgepreßten Gesamtmehrwerts ohne Rücksicht auf
das von ihm tatsächlich erzielte Quantum zuweise, und daß sie trotzdem die Frage
prüft, ob ein restloser Austausch möglich sei - und das an einem Schema, das
keine Durchschnittsprofitrate kennt. Berücksichtigt man den Durchschnittsprofit,
so verliert das Disproportionalitätsargument Rosa Luxemburgs jeden Wert, da eine
Abteilung über, die andere unter den Wert verkauft und auf der Basis der
Produktionspreise der unabsetzbare Mehrwertteil verschwinden kann.
Marx' Akkumulationsgesetz entspricht dem Fall der Profitrate: Der Kompensation
des Falles der Profitrate durch Wachstum der Profitmasse ist durch den dauernden
Akkumulationszwang eine Grenze gesetzt. Nicht aus einem Zuviel des Mehrwerts,
der sich nicht realisieren läßt, aus dem Mangel an Mehrwert geht bei Marx das
Kapital zugrunde. Rosa Luxemburg übersah die Folgen des Falles der Profitrate
vollständig; weshalb sie auch die vom Marxschen Standpunkt sinnlose Frage nach
dem 'Zweck' der Akkumulation stellte. "Man sagt, schreibt sie in ihrer
'Antikritik', "der Kapitalismus werde am Falle der Profitrate zugrunde gehen.
[...] Dieser Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst
aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß für große Kapitale der Fall der
Profitrate durch Masse aufgewogen wird. Es hat also mit dem Untergang des
Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen
der Sonne." (a. a. 0., S. 6o) Sie übersah, daß diese von Marx dargestellte
Tatsache nach Marx ebenfalls ihre Grenzen hat und daß aus dem Fall der
Profitrate der Fall der Profitmasse wird, ja, daß der Fall der Profitrate den
zuerst relativen und dann absoluten Fall der aktuellen Profitmasse - gemessen an
den Akkumulationsnotwendigkeiten des Kapitals - ausdrückt.
Wohl hat Lenin "es begreiflich gefunden", wie er es in seiner Marx-
-185-
Biographie ausdrückt, "daß die Profitrate eine Tendenz zum Sinken hat", und er
wies darauf hin, daß Marx diese Tendenz und eine Reihe der sie verhüllenden bzw.
ihr entgegenwirkenden Umstände analysiert habe, aber die ganze Bedeutung dieses
Gesetzes im Marxschen System war ihm ebenfalls nicht klar, was einerseits seine
Akzeptierung der Bauerschen Erwiderung auf Rosa Luxemburg, andererseits die
Beschränkung seiner eigenen Krisenerklärung auf die disproportionelle
Entwicklung der verschiedenen Industriezweige erklärt. Hieraus resultieren wohl auch seine
widerspruchsvollen Auffassungen, die einmal ein unabwendbares Ende des
Kapitalismus annehmen, ein andermal betonten, daß es keine absolut ausweglosen
Lagen für den Kapitalismus gebe. In seinen Werken findet sich keine überzeugende
ökonomische Begründung für das Ende des Kapitalismus und doch zugleich die feste
Überzeugung, daß das System unabwendbar seinem Untergang entgegengeht. Dies
erklärt sich daraus, daß er wohl nicht mit Bauer und der Sozialdemokratie an die
Möglichkeit der reformistischen Verwandlung des Kapitalismus zum Sozialismus
glaubte, aber dennoch mit Bauer und der Sozialdemokratie annahm, daß die
Umwälzung des Kapitalismus ausschließlich eine Frage der Entwicklung der
revolutionären Bewegung sei, worunter beide nichts weiter verstanden, als daß
die Revolution eine Frage der Organisation und ihrer Führung sei.
4.4. ZUR FRAGE DER SPONTANEITÄT UND DER ROLLE DER ORGANISATION
Wir sahen bisher, daß Rosa Luxemburg mit Recht betonte, daß für Marx das
Akkumulationsgesetz zugleich das Zusammenbruchsgesetz des Kapitals war. Ihre
Beweisführung war falsch, die Schlußfolgerung dennoch richtig. Wich sie von Marx
in der Erklärung des Zusammenbruchsgesetzes vollständig ab, so erkannte sie doch
die Existenz desselben. Lenins Argumente gegen Luxemburgs in dieser Frage waren
stichhaltig und, soweit wie sie gingen, mit Marx im Einklang, jedoch wich
er der Frage aus, ob dem Kapital eine objektive Grenze gesetzt sei. Seine eigene
Krisenlehre ist unzureichend und inkonsequent. Seine richtigere Theorie führte
nicht zu wirklich revolutionären Schlußfolgerungen. Selbst Rosa Luxemburgs
falsche Begründung blieb noch revolutionär. Denn darauf kommt es an: auf die
Betonung und den Nachweis der Zusammenbruchsgesetzlichkeit des Kapitalismus.
Lenin, der Sozialdemokratie noch viel näher stehend als Rosa Luxemburg, sah den
kapitalistischen Zusammenbruch mehr als einen bewußten politischen Akt, denn als
ökonomische Notwendigkeit. [...]
Es war nach Lenin falsch anzunehmen (und dies galt auch für die
internationale Szene), daß wir uns im Zeitalter der reinen proletarischen
Revolution befinden, ja, eine solche kann es nach Lenin niemals geben. Die
wirkliche Revolution ist für ihn das dialektische Umschlagen der
bürgerlichen in die proletarische Revolution. Die noch aktuell geblie-
-186-
benen Forderungen der bürgerlichen Revolution können nur noch im Rahmen
der proletarischen Revolution verwirklicht werden. Diese proletarische
Revolution ist nur proletarisch in der Führung, sie umfaßt alle
Unterdrückten,
die zu Verbündeten des Proletariats werden müssen: die Bauern, den Mittelstand,
die kolonialen Völker, die unterdrückten Nationen usw. Diese wirkliche
Revolution findet im Zeitalter des Imperialismus statt, der - durch die
Monopolisierung der Wirtschaft entwickelt - für Lenin ein "parasitärer", ein
"stagnierender" Kapitalismus ist, "die letzte Stufe der kapitalistischen
Entwicklung", unmittelbar vor dem Ausbruch der sozialen Revolution. Der
Imperialismus führt nach Lenin "knapp bis zur allseitigen
Vergesellschaftung der Produktion, er schleppt sozusagen den Kapitalisten gegen
dessen Wollen und Bewußtsein in eine gesellschaftliche Ordnung, die einen
Übergang bietet von der vollkommenen Freiheit der Konkurrenz zur völligen
Vergesellschaftung."
Der Monopolkapitalismus hat nach Lenin die Produktion bereits
sozialisierungsreif gemacht; es kommt nur noch darauf an, die Kontrolle über die
Wirtschaft aus den Händen der Kapitalisten in die des Staates zu legen und dann
auch die Distribution nach sozialistischen Grundsätzen zu regeln. Die ganze
Frage des Sozialismus ist eine Frage der Eroberung der politischen Macht für die
Partei, die dann den Sozialismus für die Arbeiter verwirklichen würde. Es
bestanden zwischen der Sozialdemokratie und Lenin keine Differenzen, soweit es
um den sozialistischen Aufbau und dessen Organisationsprobleme ging. Es bestand
nur ein Unterschied in der Frage, wie man zur Herrschaft über die Produktion
kommen kann: auf parlamentarischem oder auf revolutionärem Wege. Jedoch der
Besitz der politischen Macht und die Kontrolle über das komplette Monopol war in
beider Auffassungen auch schon die Lösung des Problems der sozialistischen
Wirtschaft. Deshalb scheut Lenin auch nicht vor dem Staatskapitalismus zurück,
gegen dessen Gegner er auf dem XI. Parteitag der Bolschewiki sagt:
"Staatskapitalismus - das ist jener
Kapitalismus, den einzuschränken, dessen Grenzen wir festzulegen wissen werden;
dieser Staatskapitalismus ist mit dem Staate verbunden, der Staat aber, das sind
die Arbeiter, das ist der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, das ist die
Avant-Garde, das sind wir. Und es hängt nur von uns ab, wie dieser
Staatskapitalismus aussehen wird." Hing bei Otto Bauer die
proletarische Revolution allein von der Haltung der klassenbewußten,
organisierten Arbeiterschaft ab, von ihrem politischen Willen (was bei einem
einzigen Blick auf die sozialdemokratischen Organisationen, die ihre Mitglieder
völlig beherrschen, praktisch bedeutete, daß sie von Otto Bauer und Kumpanei
abhing), so hängt hier
Es ist lustig, sich diese Stufenreihe anzusehen: "...der Staat, das sind die
Arbeiter (erste Einschränkung), der vorgeschrittenste Teil (zweite
Einschränkung), die Avantgarde (letzte Einschränkung), das sind wir; d.
h. die Bolschewiken, die wiederum so abgestuft sind, daß Lenin zuletzt wie jener
französische König zu sagen imstande wäre: "Der Staat - das bin ich!" [Verf.]
-187-
bei Lenin das Schicksal des Staatskapitalismus von der Haltung der Partei ab,
die wiederum von der Bürokratie bestimmt wird. Und die ganze Geschichte ist
erneut die Geschichte des Edelmuts, der Selbstlosigkeit und der Tapferkeit einer
Gruppe von Menschen, die von den Alleredelsten in diesen Tugenden ausgebildet
werden.
Aber mit dieser Einstellung Lenins zum Staatskapitalismus, der für ihn
willensmäßig und nicht von ökonomischen Gesetzen bestimmt ist,; obwohl die
ökonomischen Gesetze des Staatskapitalismus prinzipiell nicht andere als die des
Monopolkapitalismus sind, war Lenin nur sich selbst treu geblieben, denn letzten
Endes hing auch die Revolution für ihn von der Qualität der Partei und ihrer
Führung ab. In Übereinstimmung mit Kautsky, für den das für die Revolution
unerläßlich notwendige revolutionäre Bewußtsein (das für Kautsky Ideologie und
sonst nichts war) nur von außen an die Arbeiterschaft herangetragen werden
konnte, weil die Arbeiter außerstande sind, es aus sich selbst heraus zu
entwickeln, behauptete auch Lenin, daß die Arbeiterschaft außerstande sei, mehr
als ein gewerkschaftliches, sozialreformerisches Bewußtsein zu entwickeln, daß
jedoch das revolutionäre Bewußtsein von den Intellektuellen an die Arbeiter
herantragen würde. Seine Schrift 'Was tun?'
dient allein dem Nachweis, daß die Arbeiter niemals ein politisches Bewußtsein
in hinreichendem Maße entwickeln können, was die Notwendigkeit der Partei und
deren Führung durch die Intellektuellen erklärt. Damit hatte der Sozialismus
erneut aufgehört, das "Werk der Arbeiterklasse" zu sein, wie Marx es sah. Der
Sozialismus hing nun von der revolutionären Ideologie der Bourgeoisie ab, und
ohne Zweifel folgt der religiöse 'Marxist' J. Middleton Murry heute nur Kautskys
und Lenins Spuren, wenn für ihn, wie er kürzlich in einem Buche sagte, "konsequenterweise der ganze Sozialismus wesentlich eine Bewegung
bekehrter Bourgeois " ist.
Sicher steht Lenin auf marxistischem Boden, wenn er behauptet, daß die
Arbeiterschaft außerstande sei, ein "politisches Bewußtsein" zuentwickeln. In
seiner Polemik gegen Arnold Ruge, der den Mangel an politischem Bewußtsein so
sehr beklagte und diesen Mangel nicht begriff, da das vorhandene Elend doch ein
solches hätte entwickeln müssen, sagte Marx in seinen 'Randglossen' zu Ruges
Artikel 'Der König von Preußen und die
Sozialreform' , daß es falsch sei, anzunehmen, soziales Elend bringe
politisches Verständnis mit sich, vielmehr sei das Umgekehrte der Fall; der
gesellschaftliche Wohlstand erzeuge politisches Bewußtsein, da letzteres eine
geistige Qualität sei, die dem gegeben würde, dem es gut geht. (S. 406 f) Aber
Lenin hat mit Marx nichts mehr zu tun, sondern sinkt zum bürgerlichen
Revolutionär ä la Ruge herab, wenn er sich eine proletarische Revolution ohne
dieses intellektuelle Bewußtsein nicht vorstellen kann, wenn er die ganze
Revolution zu einer Frage des bewußten Eingreifens der 'Wissenden' oder der
Leninschen 'Berufsrevolutionäre' macht. Gegen diese 'Ruge-Lenin' sagte Marx: "Wo
es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, daß
statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen
-188-
und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des
Staates, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere
Staatsform setzen wollen." (S. 409) Ja, sagt er in glänzenden Ausführungen
weiter, je mehr politisches Verständnis vorhanden ist, desto mehr verschwendet
das Proletariat sich in nutzlosen, irrationellen Kämpfen, da das 'politische
Verständnis' ihre viel richtigeren Klasseninstinkte verschleiert und sie blind
gegen ihre wirklichen gesellschaftlichen Aufgaben macht. Wer, nach Marx, zu sehr
auf die 'politische Seele' der Revolution hofft, der strebt nur einen Zustand
an, der dieser 'politischen Seele' entspricht, auf Kosten der Gesellschaft. (S.
407) Aber mehr als einen Wechsel der Herrschaft über die Produktionsmittel hatte
Lenin auch nicht angestrebt, da ihm dies für den Sozialismus zu genügen schien.
Deshalb auch seine Überbetonung des subjektiven, politischen Momentes, durch das
ihm die Organisierung des Sozialismus zum bestimmenden politischen Akt wurde,
während es wohl nach Marx ohne Revolution keinen Sozialismus gibt und diese
Revolution der politische Akt des Proletariats ist, den das Proletariat jedoch
nur insoweit benötigt, als es zu zerstören hat. Wo es jedoch beginnt, den
Sozialismus zu formen, wo seine 'wahre Seele' zum Vorschein kommt, da wirft es
die politische Hülle ab.
Die bürgerliche Einstellung Lenins, die zuerst das kapitalistische Ende von
bestimmten, nicht notwendig vorhandenen politischen Voraussetzungen abhängig
macht, die sich weiterhin einbildet, daß die wachsende Monopolisierung mit der
Vergesellschaftung der Produktion identisch sei, die den ganzen Sozialismus von
der Übernahme der Monopole durch den Staat und der Ersetzung einer alten durch
eine neue Bürokratie abhängig macht und für die die Revolution zu einem
Wettstreit der Revolutionäre mit der Bourgeoisie um die Gefolgschaft der Massen
herabsinkt: eine solche Einstellung mußte das revolutionäre Element der
spontanen Massenbewegungen und deren Gewalt und Zielsicherheit verkleinern, um
die eigene Rolle (das zur Ideologie erstarrte sozialistische Bewußtsein)
entsprechend übertreiben zu können.
Wohl kann Lenin das Element der Spontaneität nicht leugnen, aber es ist für ihn
im Grunde nichts anderes, als die Keimform des Bewußtseins, die dann in der
Organisation zur Blüte heranreift und erst dann wirklich revolutionär, weil
vollständig bewußt ist. Für den sozialistischen Sieg genüge nicht das spontane
Erwachen der Massen, ja, dieses spontane Erwachen der Massen mache die
Organisation nicht weniger, sondern mehr notwendig. Der Fehler der
Spontaneitätsauffassung besteht nach Lenin darin, daß sie die Rolle des
Bewußtseins verkleinere und sich gegen eine starke Führung ausspreche, aber
diese Führung sei für den sozialistischen Sieg unerläßlich. Die Schwächen der
Organisation und ihrer Führung sind ihm die Schwächen der Arbeiterbewegung
schlechthin. Der Kampf müsse organisiert, die Organisation geplant werden; alles
hänge von ihr und der richtigen Führung ab. [...] Es ist ihm gleichgültig, wo
und wie die Massen selbst organisiert sind, nach Räten oder Gewerkschaften.
Hauptsache ist, daß sie von den Bolschewi-
-190-
ken geleitet werden.
Ganz anders als Lenin sieht Rosa Luxemburg diese Dinge. Sie verwechselt das
revolutionäre Bewußtsein nicht mit dem Intellektuellen-Bewußtsein der Leninschen
Berufsrevolutionäre, sondern für sie ist es das aus dem Zwange der Notwendigkeit
erwachsende Tat-Bewußtsein, der Massen selbst. Die Massen handeln für sie
revolutionär, weil sie nicht anders handeln können und weil sie handeln müssen.
Der Marxismus ist für sie nicht nur eine Ideologie, die sich allein in der
Organisation kristallisiert, sondern das lebende, kämpfende Proletariat, das den
Marxismus aktualisiert, nicht weil es will, sondern weil es muß. Sind die Massen
für Lenin nur das Material, mit dem die bewußten Revolutionäre arbeiten (so wie
dem Straßenbahnführer die Straßenbahn nur zum Fahren dient), so entstehen bei
Rosa Luxemburg die bewußten Revolutionäre nicht nur durch wachsende Erkenntnis,
sondern mehr noch in der aktuell revolutionär handelnden Masse. Nicht nur, daß
sie die Überbetonung der Rolle der Organisation und der Führung prinzipiell
verwirft, sie beweist an der Erfahrung (vgl. ihre Broschüre über den
'Massenstreik'), daß es während einer revolutionären Erhebung enorm schwer ist,
auszurechnen und zu kalkulieren, welche Maßnahmen zu, Explosionen führen und
welche nicht. Kein Führungs-Organ ist wirklich dazu imstande. Ein enges,
mechanisch denkendes bürokratisches Gehirn mag außerstande sein, sich eine
Aktion der Arbeiterschaft vorzustellen, die nicht ein Produkt der Organisation
wäre, aber der Dialektiker, sagt Rosa Luxemburg, sieht, daß die Organisationen
ein Produkt des Kampfes sind. An Hand der Beispiele der russischen
Massenbewegungen von 1905 zeigt sie auf, daß die Erhebungen der Ausgebeuteten
nicht von irgendwelchen vorherbestimmten Plänen abhingen, daß die Aktionen nicht
im voraus organisiert waren und daß sie auch nicht von einer außenstehenden
Gruppe kontrolliert werden konnten, da die Aufrufe der Parteien kaum mit der
spontanen Bewegung der Masse Schritt halten konnten. Die Führer hatten nicht
einmal Zeit, die Parolen herauszugeben oder sie überhaupt zu formulieren, die
Massenware schneller als jeder politische Wille. Und generalisierend sagt sie,
daß auch in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die
bestorganisierten Arbeiter die größte revolutionäre Kapazität entwickeln werden,
sondern die schlechtorganisierten oder die völlig unorganisierten. "Revolutionen
lassen sich nicht auf Kommando machen", betont sie ausdrücklich. Dies sei gar
nicht die Aufgabe der Partei. Pflicht sei es nur, jederzeit unerschrocken
auszusprechen, was ist, d. h. den Massen klar un deutlich ihre Aufgaben im
gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, und das politische Aktionsprogramm
und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben. Die Sorge dafür, ob un, wann die revolutionäre Massenbewegung sich
daran halte, müsse der Sozialismus getrost der Geschichte selbst
überlassen.
Oft denunzierte man Rosa Luxemburgs Spontaneitätsauffassung, die man als
'Katastrophenpolitik' zu bezeichnen pflegte, als gegen die Organisation der
Arbeiterbewegung selbst gerichtet. Sie fand es oft notwen-
-191-
dig zu betonen, daß ihre Auffassung nicht "pour la desorganisation" ist. "Die
Sozialdemokratie", schrieb sie, «ist die aufgeklärteste, klassenbewußteste
Vorhut des Proletariats. Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen
fatalistisch auf den Eintritt der 'revolutionären Situation' warten, darauf, daß
jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muß wie immer
der Entwicklung der Dinge vorauseilen, sie zu beschleunigen versuchen."
(Massenstreik, a. a. 0. S. 457) Diese Rolle der Organisation hält sie für
möglich und deshalb für willkommen und selbstverständlich, während Lenin die
Organisation als solche für absolut notwendig hält und von ihr die ganze
Revolution abhängig macht. Dieser Unterschied hinsichtlich der Bedeutung der
Organisation für die Revolution enthält auch zwei verschiedene Auffassungen über
die Form und den Inhalt der Organisation selbst. "Das einzige ernste
Organisationsprinzip [...] für unsere Bewegung", schreibt Lenin in seinem 'Was
tun?', "ist die strengste Konspiration,
strengste Auslese
der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären. Sind diese Eigenschaften
gegeben, so ist noch etwas Größeres gesichert als der 'Demokratismus', nämlich:
das volle kameradschaftliche Vertrauen der Revolutionäre zueinander. Und
dieses Größere ist für uns unbedingt notwendig, denn bei uns in Rußland kann gar
keine Rede davon sein, es durch eine allgemeine demokratische Kontrolle zu
ersetzen. Und es wäre ein großer Fehler, wollte man glauben, daß die
Unmöglichkeit einer wirklichen 'demokratischen' Kontrolle die Mitglieder der
revolutionären Organisation unkontrollierbar macht: sie haben keine Zeit, an
spielerische Formen des Demokratismus zu denken [...] aber ihre
Verantwortlichkeit empfinden sie sehr lebhaft."
Mit organisatorischen Mitteln, die, solange sie demokratisch waren, Lenin nichts
bedeuteten, will er, sobald sie zentralistisch sind, dem Opportunismus zu Leibe
gehen. Je mehr der Opportunismus sich ausbreitet, desto zentralistischer muß man
nach Lenin werden. Mit der straffsten Disziplin und der völligen Unterordnung
aller Aktivität unter die Anordnungen des Zentralkomitees will er die
Organisation in eine wirkliche Waffe verwandeln. Wohl verstand Rosa Luxemburg es
ausgezeichnet, diesen 'Nachtwächtergeist' Lenins aus der besonderen Situation
der russischen Intellektuellen abzuleiten, aber es sei falsch, schreibt sie
gegen Lenin, "daß sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der
aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation 'vorläufig' durch
eine 'übertragene' Alleinherrschaft der Zentralgewalt der Partei ersetzen lasse
und daß die fehlende öffentliche Kontrolle der Arbeitermassen über das Tun und
Lassen der Parteiorgane ebensogut durch die umgekehrte Kontrolle der Tätigkeit
der revolutionären Arbeiterschaft
Der Idealismus Lenins wird auch in dieser Formulierung sichtbar. Anstatt die
Kontrolle durch Organisierung innerhalb der Organisation wirklich und materiell
zu sichern, ersetzt er sie durch 'etwas Besseres', durch die Phrasen
'kameradschaftliches Vertrauen' und 'Verantwortlichkeitsempfinden'. Praktisch
hieß dies jedoch: Kadavergehorsam, Befehle von Oben - Gehorchen unten. [Verf.]
durch ein Zentralkomitee ersetzt wäre." Und
sogar wenn die Selbstführung der Arbeiter Fehler und falsche Schritte zur Folge
hätte, ist Rosa Luxemburg doch bereit, dies in Kauf zu nehmen, da sie überzeugt
ist, daß selbst «Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung
begeht, historisch unermeßlich wertvoller und fruchtbarer sind als die
Unfehlbarkeit des allerbesten 'Zentralkomitees'." (S. 88)
Die hier aufgezeigten Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin sind zum Teil
schon mehr oder weniger von der Geschichte überholt worden. Viele Dinge in
diesem Streit bewegen uns heute nicht mehr. Aber das wesentlichste Moment in
ihren Debatten - ob die Revolution abhängt von der organisierten
Arbeiterbewegung oder von der spontanen Bewegung der Arbeiter - ist von
aktueller Bedeutung. Aber auch hier hat die Geschichte bereits zugunsten Rosa
Luxemburgs entschieden. Der Leninismus liegt unter dem Trümmerhaufen der Dritten
Internationale begraben. Eine neue Arbeiterbewegung, die frei ist von
sozialdemokratischen Resten, die noch bei Lenin und Luxemburg zu erkennen waren,
die nicht auf die Lehren der Vergangenheit verzichten will, ist im Entstehen.
Sich von den tödlichen traditionellen Einflüssen der alten Arbeiterbewegung zu
lösen ist eine ihrer ersten Voraussetzungen geworden. Und hier hilft Rosa
Luxemburg genau so weit, wie der Leninismus behindert hat. Diese neue Bewegung
der Arbeiter und der von ihr nicht zu trennende Kern bewußter Revolutionäre kann
mit der Luxemburgischen revolutionären Theorie - trotz ihrer vielen Schwächen -
mehr anfangen und aus ihr mehr Hoffnung schöpfen als aus den gesamten Leistungen
der Leninschen Internationale. [...]
5. ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS ZU DEN TEXTEN
5.1. DIE ZUSAMMENBRUCHSTHEORIE DES KAPITALISMUS
LENIN in seinem Grundsatzrcferat (Juni 1920 auf dem 2. Kongreß der III.
Internationale in Petrograd) geht zwar noch von der Beschreibung der allgemeinen
und aktuellen Krisensituation des Kapitalismus aus. Doch gebe es für den
Kapitalismus eine absolut aussichtslose Lage nicht. Die revolutionäre Krise des
Kapitalismus muß für die Revolution revolutionär ausgenutzt werden. (Bibliothek
der Kommunistischen Internationale Nr. 22, Hamburg 1921, S. 231 f). Die
Linksradikalen wurden auf diesem Kongreß noch als zwar irrende aber doch ehrlich
bemühte Mitstreiter behandelt.
In seinem Grundsatzreferat (22. Juni 1921) auf dem 3. Kongreß der III.
-197-
Internationale in Moskau spricht Lenin von einem Gleichgewicht zwischen
Sowjet-Rußland und den kapitalistischen Ländern. Um dieses zu er halten, müsse
man Tribut zahlen. Das heiße, man müsse sich der wirtschaftlichen Methoden des
Staatskapitalismus bedienen, um Zeit zu gewinnen. Die "ausländischen (!)
Genossen" müßten in dieser Periode de Gleichgewichts "ihre" (!) Revolutionen
gründlich vorbereiten. (Protokoll des 3. Kongresses der III. Internationale,
Hamburg 1922, S.761) Auf diesem Kongreß wurde auch die eindeutige
Trennungslinie zu den Iinken Abweichlern gezogen. - Das pragmatische Arrangement
mit den feindlichen kapitalistischen Ländern wurde verschleiert durch die
phraseologische Beschwörung der Weltrevolution für einen unbestimmbaren
Zeitpunkt. Vgl. HEINZ-DIETER HEILMANN, BERND RABEHL, 'Die Legende von der
Bolschewisierung der KPD', 1, in: Sozialistische Politik, Hg. am
Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, Nr. 9, Dez. 1970, vor allem S. 90-98. -Die
endgültige und explizite Ablehnung der Todeskrisentheorie für den Kapitalismus
war verbunden mit der Absage einer Zusammenarbeit mit linkskommunistischen
Organisationen, die in Erwartung der Todeskrise jegliche Reformarbeit in den
traditionellen Arbeiterorganisationen ablehnten. Vgl. Protokoll der V.
erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau 21. 3. - 6. 4.
1925, Hamburg 1925, 5. 23; SINOWJEW: "Weder die Propheten eines unmittelbar
bevorstehenden Zusammenbruches noch die Stabilisierungsfatalisten haben recht.
Recht dagegen, hat die K. 1. Die allgemeine Prognose und Linie des 5.
Weltkongresses, bleibt bestehen."
"Mit dem Ende der proletarischen Insurrektionen in der revolutionären Phase der
Weimarer Republik und der Festigung der bürgerlichen Staatsgewalt im Jahre 1921
verlor die spontaneistische Revolutionstheorie der Holländer (Pannekoek/Gorter)
zwangsläufig ihre Aktualität. In deutschen KAP-Kreisen versuchte man sie
gleichsam zu retten, indem man seit 1921 - mit durchaus inkohärenter
politisch-ökonomischer Beweisführung eine Theorie der 'Todeskrise des
Kapitalismus' entwickelte, an der man auch nach dem Ende der Inflationsperiode
nach 1923 noch festhielt. [...] Wie sich in der 'Todeskrisendiskussion',
andeutet, wurden mit dem organisatorischen Verfall des Linkskommunismus
- insbesondere mit der Desintegration der Union - dessen theoretische Bemühungen
mehr und mehr abstrakt [...] (A. PANNEKOEK, H. GORTER, 'Organisation und Taktik
der proletarischen Revolution', hg. und eingel. von HANS MANFRED BOCK, Frankfurt
2969, S.44, Einltg.) - BOCK übersieht die linkskommunistischen selbst-kritischen
Arbeiten Ende der zwanziger Jahre, die sehr wohl wieder auf den praxisbezogenen
Ansatz zurückkamen, z. B. 'Kritik an den Waffen - Eine Betrachtung über
wirtschaftliche und politische Arbeiterorganisationen, ihr Wesen, ihre Rolle im
proletarischen Klassenkampf' (Hg. Allgemeine Arbeiter-Union, Bezirk
Mitteldeutschland, Leipzig-Chemnitz, Mai 1931). Doch 1923 führte die abstrakt
und dogmatisch überzogene Diskussion über die Todeskrise und damit über die
Notwendigkeit der Arbeit an den Tagesproblemen zu der Spaltung in eine Berliner
und in eine Essener Richtung der KAP.
ROSA LUXEMBURG, 'Die Akkumulation des Kapitals - Ein Beitrag zur ökonomischen
Erklärung des Imperialismus", geschr. 2912, Berlin 1923.
HENRYK GROSSMANN, 'Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des
kapitalistischen Systems', in: Archiv sozialistischer Literatur, Frankfurt,
1967.
Oktober 1929 aktualisierte sich die Weltwirtschaftskrise die 1932 ab-
-198-
flaute.
U.W.A. war die amerikanische Organisation der IWW (International Workers of
World); die große von Chicago ausgehende syndikalistische
Arbeiter-Unions-Bewegung: Vgl. 'IWW, A plain statement of its structute and
principles', Chicago 1934.
FRIEDRICH ENGELS, Einleitung zum II. Band des 'Kapital', London 5. Mai
1885, MEW Bd. 24, Berlin 1963, S. 7ff.
'Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie
gemacht haben - Eine Antikritik von Rosa Luxemburg', Leipzig 1921.
Das "Partei-Zentrum" der SPD bemühte sich, seit den Revisionismus-Debatten
(1898) bis zum Ersten Weltkrieg, das Gleichgewicht zwischen den Flügeln - den
Revisionisten (VOLLMAR, DAVID und AUER) und den Radikalen (ROSA LUXEMBURG,
MEHRING) - zu erhalten, um jede Erschütterung der Organisation zu vermeiden. Das
Zentrum (HAASE, BEBEL, KAUTSKY) repräsentierte den "guten Glauben" an die Partei
und ihren Apparat: an die einigende Macht der nie genau bestimmbaren "guten
Sache des Sozialismus". Während der Auseinandersetzungen um. die Kriegskredite
(1914-1917) drängte mit putschistischen Methoden der rechte Flügel (nun unter
EBERT, NOSKE und DAVID) die Zentrumsführer, die die Parteimehrheit
repräsentierten, aus der Partei. Das führte zur Gründung der USPD.
Shylock: eine Figur aus Shakespeares 'Kaufmann von Venedig', der aus Rache und
gekränktem Ehrgefühl von seinem Schuldner verlangte, die Schuld pfundweise mit
dem eigenen Fleisch abzubezahlen.
Das Zitat geht weiter: "... die nichts mit der Produktion des Reichtums als
solchem zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit
und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen
Produktionsweise; bezeugt, daß sie keine für die Produktion des Reichtums
absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit der Fortentwicklung auf gewisser
Stufe in Konflikt tritt."
SAMUEL MOORE (1830-1912), englischer Jurist, übersetzte das 'Manifest' und den
ersten Band des 'Kapital' ins Englische; Freund von Marx und Engels. ENGELS
schreibt über die Mitarbeit von Moore am dritten Band:
"Mein Freund Samuel Moore, der auch den größten Teil der englischen Übersetzung
des ersten Buches geliefert, übernahm es, dies Heft für mich zu bearbeiten, wozu
er als alter Cambridger Mathematiker weit besser befähigt war. Aus seinem Resume
habe ich dann, unter gelegentlicher Benutzung des Hauptmanuskriptes, das Kapitel
drei fertiggestellt." (ENGELS, 'Vorwort zur ersten Ausgabe', MEW Bd. 25, S. 12)
Der erwähnte Satz aus dem 'Kapital' heißt exakt: "Aber dieselben Gesetze der
Produktion und Akkumulation steigern, mit der Masse, den Wert des konstanten
Kapitals in zunehmender Progression rascher als den des variablen, gegen
lebendige Arbeit umgesetzten Kapitalteils. Dieselben Gesetze produzieren also
für das Gesellschaftskapital eine wachsende absolute Profitmasse und eine
fallende Profitrate." ('Das Kapital', 3. Bd., MEW Bd. 25, S. 229)
MICHAIL IWANOWITSCH TUGAN-BARANOWSKY (1865-1919) versuchte 1890, die
Grenznutzenlehre (s. Anm. 38) mit der marxistischen ökonomischen Theorie zu
verbinden. Er beschäftigte sich mit der Krisentheorie; gehörte zu den
sogenannten "legalen Marxisten" in Rußland, die wegen ihres Akademismusses der
zaristischen Regierung nicht als Gefahr erschienen.
-199-
Aus dem Artikel "Arbeiterräte und kommunistische Wirtschaftsgestaltung",
Rätekorrespondenz Nr. 5, Okt. 1934, 'Intellektuelle und Staatswirtschaft': "Die
Theorie des Sozialismus als Staatswirtschaft trägt den Stempel ihrer Erfinder an
der Stirn; sie ist aus dem Geist der "Intellektuellen" in der heutigen
privatkapitalistischen Gesellschaft geboren. Die Intellektuellen gehören als
eine Schicht der Bevölkerung dem administrativen Apparat des Privateigentums an.
Sie sind praktisch die Verwalter des gesellschaftlichen Reichtums, ohne darüber
das Besitzrecht zu haben. Ihre Funktion in der privatkapitalistischen Wirtschaft
ist eine Herrschafts- und Führerfunktion. Sie sind die ausführenden Organe der
Kapitalherrschaft, Leitet und Führer der Produktion, Kommandeure der
Lohnarbeiter, Verwalter und Beschützer der Eigentumsrechte des Kapitals. Das
Denken dieser Intellektuellen kann nichts anderes sein als ihre Funktion, die
sie in der Gesellschaft erfüllen. Darum können sie sich auch keine
gesellschaftliche Produktion vorstellen, in der es keine Lohnarbeiter gibt und
in der sie nicht das Kommando führen. Aus der Einsicht, daß der kapitalistischen
Produktionsweise und damit der Kapitalherrschaft historische Grenzen gezogen
sind, folgt bei ihnen nicht, daß dann auch die kapitalistische Produktionsweise
selbst überwunden werden muß, sondern nur, daß sie selbst die Kapitalherrschaft
abschütteln. Die Produktion in der Staatswirtschaft zu einem Mechanismus mit
gewaltiger Produktionskraft zusarnrnengeschmiedet, befreit von der Herrschaft
des Kapitals, aber unter dem Kornrnando der Wissenschaftler und Techniker, der
Führer und Spezialisten, mit einem Wort - der Intellektuellen - das ist eine
Auflösung der gesellschaftlichen Konflikte, die sich für sie wie von selbst
ergibt. Die eigentlichen Führer der Wirtschaft (und der Politik) befreien sich
von der mehr und mehr als parasitär empfundenen Kapitalherrschaft; ihr
Tatendrang, von der Profitwirtschaft gelähmt, erblickt ungeahnte Perspektiven.
Und sie sind davon überzeugt, daß sie mit der unermeßlichen Produktivkraft der
staatlich
vereinigten, modernen Industrie alle Menschen mit einem Übermaß von Gütern
beglücken können. Kann man etwas anderes erwarten, als daß ihnen 'Sozialismus'
als Staatswirtschaft erscheint?" (S. 6.)
5.2. DAS WERDEN EINER NEUEN ARBEITERBEWEGUNG
HERMANN G0RTER (1864-1927), Theoretiker und Autorität der KAPN (s. i auch 'Zum
Verständnis der Texte').
1886 begann in Belgien eine Massenstreikbewegung für das allgemeine Stimmrecht.
Mit Hilfe der Liberalen führte diese Streikbewegung 1893 zu einem Teilerfolg,
nachdem im Mai 1891 vor allem in den Bergbaugebieten sich die Streikbewegung zu
ener Art Generalstreik ausgedehnt hatte. Die Streikbewegungen standen unter der
Führung der BWP (belgische Arbeiterpartei, vergleichbar mit der deutschen
Sozialdemokratie) bzw. PSB (franz. Bezeichnung). Jeder Erwachsene war nun
stimmberechtigt, aber er konnte, je nach Besitz und Bildung, bis zu drei Stimmen
erhalten. 1902 begann erneut der Kampf um das allgemeine Wahlrecht, der aber
schon wenig später durch die belgische sozialdemokratische Partei abgewürgt
wurde. Sie wollte ihren Willen zur "friedlichen Parlamentsarbeit" unter Beweis
stellen. Ab 1912 wurden durch die PSB friedliche Aktionen für ein gleiches
Wahlrecht vorbereitet, die am 14. April 1923 in eine allgemei-
ne Streikbewegung mündeten. Erst nach dem Kriege, 1929, Wurde auch in Belgien
das allgemeine Wahlrecht eingeführt. -Zur Preußischen Wahlrechtsreform vgl. ROSA
LUXEMBURG, 'Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren", Vortrag, gehalten
am 17. April 1910 in Frankfurt.
Anfang Juli 1934 entstand eine spontane unorganisierte 'Hungerbewegung' in
Amsterdam. Sie wurde ausgelöst durch eine Verminderung der
Erwerbslosenunterstützung. Das Zentrum dieser Bewegung war das Arbeiterviertel
'Jordaan'. In dem in der Nähe des Hafens gelegenen Wohnviertel lebten auf
engstem Raum und unter schlechtesten Wohnbedingungen etwa 8o ooo bis 1oo ooo
Menschen. Die Regierung nahm den Vorwand wahr, um gegen die kommunistischen
Parteiungen, die sie dafür verantwortlich machte, und gegen die Arbeiter mit
stärksten Gewaltmitteln vorzugehen. Die etablierten Parteien von der KPH bis zur
SDAP verweigerten jedoch dem Aufstand ihre organisatorische Hilfe, versuchten
aber diese Bewegung propagandistisch auszunutzen. Allein kommunistische
Splittergruppen wie OSP, KAP identifizierten sich mit der Bewegung, ohne sie
allerdings organisatorisch in den Griff zu bekommen. Blutig und rücksichtslos
wurde der Aufstand nach drei Tagen von der Regierung niedergeschlagen.
'De zeven Provincien' war ein Panzerschiff, das die Aufgabe hatte, die
indonesischen Kolonien zu überwachen. Am 4. Febr. 1933 berichtete "De Fakkel"
(s. Anm. 65), daß am 3. 2. 1933 bei Soerabaja 425 indonesische Matrosen dieses
Schiffes den Dienst verweigert hätten. ' Die Zeitschrift
interpretierte diesen Aufstand als anti-imperialistische Tat. Am 11. 2. 1933
meldete das Blatt, daß
die meuternden Matrosen das Schiff übergeben hätten. Die Matrosen hätten
vergeblich Solidaritätsaufrufe an die indonesischen Kolonien gesendet. Nachdem
Flugzeuge das Schiff bombardiert hätten (24 Tote, 38 Verwundete), wäre ihnen
keine andere Wahl geblieben. Die OSP (s. Anm. 65) wollte durch
Solidaritätsaufrufe in Holland eine konzertierte anti-imperialistische und
anti-kapitalistische Aktion einleiten. Doch kam es weder in Holland noch in
Indonesien zu Solidaritätsaktionen. Auch als die Gefangenen 1934 nach Holland
gebracht wurden, kam keine Solidarität zustande ('De Fakkel' v. 8. 1. 1934 und
v. 17. 8. 1934). In der offiziellen Untersuchung dieses Ereignisses mußte die
Regierung zugeben, daß die Bomben auf ihren Befehl hin geworfen wurden. Die OSP
versuchte weiterhin vergeblich, die Meuterei auf 'De zeven Provincien' mit dem
'Jordaan'-Aufstand agitatorisch zu verbinden.
Zur Ideologiengeschichte der Vorstellung von der "Volksgemeinschaft" innerhalb
der europäischen Sozialdemokratien vgl.: WILLY HUHN, 'Etatismus
- 'Kriegssozialismus' -'Nationalsozialismus' in der Literatur der deutschen
Sozialdemokratie', in: Neue Kritik, Nr. 55/5 6, 2970, Frankfurt, S. 67ff.
Im Juli 1934 wurde bei einem großen öffentlichen Meeting der von der belgischen
Sozialdemokratie auf ihrem Parteitag im Dez. 1933 verabschiedete "Plan van de
Arbeid' ('Plan De Man") verkündet. Der Plan hatte im weiteren keine große
Resonanz in Belgien. Nach der Intention der
Der von der "Fakkel' dargestellte Sachverhalt muß' nach einem Vergleich mit der
zeitgenössischen Presse in folgendem Punkt korrigiert werden: Soerabaja war der
Hauptmarinestützpunkt für die damaligen Kolonien Hollands. Dort wurde aus
Protest gegen Gehaltskürzungen der Dienst verweigert. Das Panzerschiff 'De Zeven
Provincien" befand sich zu diesem Zeitpunkt bei Oleh-leh am Nordpunkt von
Sumatra, ca. 1500 Seemeilen von Soerabaja entfernt. Die Matrosen des
Panzerschiffs meuterten aus Solidarität mit ihren Kollegen vom
Hauptmannsstützpunkt trotz der Entfernung.
-201-
Urheber sollte er eine Antwort auf die Verbreitung der faschistischen Ideologie
unter der Bevölkerung und auf den aktuellen ökonomischen Notstand sein. DE MAN
(sein Hauptwerk ist 'Psychologie van het Socialisme", 1925) war zu dieser Zeit
im Parteivorstand der belgischen Sozialdemokratie. Die Partei stellte ihre ganze
Organisationskraft und ihr Renommde hinter diesen Plan. Sein Hauptgedanke war,
unter einer breiten demokratischen Regierung alle Leitungsposten innerhalb der
Produktion durch Staatsfunktionäre zu besetzen, um so die kapitalistische
"Anarchie" zu beenden. DE MAN selbst war stark von KEYNES beeinflußt. Als DE MAN
am 25. 3. 1936 auch wirklich Minister innerhalb einer breiten demokratischen
Regierung wurde, stellte sich das Illusjonäre des Planes heraus. Die ökonomisch
Mächtigen in Belgien ließen sich nicht freiwillig durch einen gutwilligen
technokratischen Minister entmachten. Der Boykott der Wirtschaft, weiter
steigende Arbeitslosigkeit, Hungeraufstände und faschistische Massenaktionen
ließen die Regierung scheitern. Im Juni 1937 wurde DE MAN Minister in einem
Super-Ministerium (Finanzen, Produktionsplanung, Arbeitslosenfrage), 1938 trat
er "wegen Krankheit" von der politischen Bühne ab. Vgl. "Geschiedenis van de
socialistische Arbeidersbeweging in Belgie", Hoofdredakteur Prof. Jan Dhondt,
Antwerpen 1960, S. 5o6ff.
'De Fakkel" (1932 bis 1935), Orgaan van de onafhankelijkc socialistische Partij,
erschien in Amsterdam dreimal wöchentlich. Die OSP (Unabhängige Sozialistische
Partei) ist wie ihre Schwesterpartei in Deutschland, die SAP, eine linke
Abspaltung von der Sozialdemokratischen Partei mit trotzkistischer Tendenz. Nach
ihren eigenen Angaben hatte "De Fakkel" 1933 18 000 Leser. Der Trotzkismus
setzte sich in der OSP eindeutig erst
1935 durch, als sie sich nach einer Spaltung mit der RSP (Rev.-Socialist.
Partij, eine trotzkistische Abspaltung von der CPN) zur RSAP (Rev.-Socialist.
Arbeiders-Partij) vereinigte. Das gemeinsame Organ wurde "De Nieuwe Fakkel".
NAS: Nationaal Arbeids-Secretariaat (Gewerkschaft der KPH hatte in
Zusammenarbeit mit RSP und RSAP 2930 27400 Mitglieder).
NSV: Nederlandse Syndicalistise Vakverbond (sie hatte 1930 2750 Mitglieder).
KPH, auch CPN: Kommunistische Partei Hollands, von 1907 bis 1937 war ihre
Zeitschrift 'De Tribune", von 1937 bis 1940 'Das Volkstagblatt".
Vgl. hierzu 'Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution', Berlin 1929, S.
311 ff, und 'Der Arbeiterrat von 19118 bis 1920", neu hg. in: Spartacus,
Sonderheft t, Okt. 1969, Berlin.
JOSEF DIETZGEN (1828-1888), Handwerker und Autodidakt in der marxistischen und
hegelianischen Philosophie, Reisen nach Amerika und Rußland. Beachtet von MARX
und ENGELS, geachtet von Lenin als "Arbeiterphilosoph". Er verfaßte viele
philosophische Schriften und Artikel' darunter sein Hauptwerk "Das Wesen der
menschlichen Kopfarbeit, eine abermalige Kritik der reinen Vernunft" (1869) mit
dem Ziel einer marxistischen Erkenntnistheorie. 1903 erschien eine Ausgabe
dieses Werkes mit einer Einleitung von PANNEKOEK, der sich in seinem Alterswerk
"Lenin als Philosoph" auf die Tradition Dietzgens beruft (unter dem Pseudonym J.
HARPER, "Lenin als Philosoph. Kritische Betrachtung der philosophischen
Grundlagen des Leninismus,, Ausg. Gruppe Internationale Kommunisten Hollands
(GIC) 1938, Amsterdam, S. 30ff). DIETZGEN engagierte sich früh bei der
Verbreitung und Einführung des 'Kapital' (vgl. KARL MARX, "Nachwort zur Zweiten
Auflage", 1873, MEW Bd. 23, S. 22). DIETZGEN
-202-
wurde mit seinen Reflexionen über die marxistische Erkenntnismethode der Vater
der marxistischen Ideologienkritik und der marxistischen Pädagogik.
5.3. DIE GEGENSÄTZE ZWISCHEN LUXEMBURG UND LENIN
Vgl. hierzu: SIEGFRIED BAHNE "Zwischen 'Luxemburgismus' und 'Stalinismus'" in
Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 9. Jg. 1961, S.359 ff, und HERMANN WEBER,
'Wandlungen des deutschen Kommunismus - Die Stalinisierung der KPD in der
Weimarer Republik"' Bd. i, Frankfurt 1969, S. 89 ff. - Die Bekämpfung des
"konterrevolutionären Luxemburgismus war eine adeptenhafte Beschwörung des in
Rußland doch so erfolgreichen Leninismus durch die sogenannte Parteilinke der
KPD seit 1923. Ursache war die Niederlage der KPD im Oktober 1923. Auf der Ebene
eines Generalstreiks sollte die Machtfrage in Deutschland gestellt werden. Die
Arbeiter verweigerten jedoch der KPD die Gefolgschaft. "Die Diskussion über den
Luxemburgismus war im wesentlichen eine Diskussion um die Rolle der
kommunistischen Partei. Während Rosa Luxemburg der Meinung war, es sei nicht
Aufgabe der Partei, Kämpfe auszulösen und zu organisieren, sondern Massenkämpfe
zu koordinieren und auf ein höheres Niveau zu heben, interpretierte der
leninistische Flügel des deutschen Kommunismus die Partei als Vorhut der
Arbeiterklasse, welche die Revolution vorzubereiten, zu organisieren und
vorwärts zu treiben habe." (H. Weber' a. a. 0. S. 89) Deshalb: "Im Februar 1924
griff Heinz Neumann die Luxemburgsche Organisationsauffassung als
sozialdemokratisch an." (S. 90) 1924 prägte RUTH FISCHER den demagogischen
Vergleich des Luxemburgismus mit einem Syphilis-Bazillus. ebd. Dazu ließ "Rosa
Luxemburgs Konzeption in der nationalen Frage [...] keinen Raum für eine
'nationale" oder gar nationalistische Argumentation. Das schien der
kommunistischen Führung in Deutschland, einem Land, das durch den Versailler
Frieden ständig mit nationalen Problemen konfrontiert war, ebenfalls
fehlerhaft." (S. 91) "Mit der forcierten Bolschewisierung von 1925 verschärfte
sich der 'Kampf gegen den Luxemburgismus" noch weiter." (S. 93) Man ehrte ROSA
LUXEMBURG zwar als Person, verwarf aber den Luxemburgismus als ein theoretisches
System. Da auch die Komintern durch SINOWJEW erklärte, eine wirkliche
Bolschewisierung sei unmöglich, "ohne die Fehler des Luxemburgismus zu
überwinden", wurde Bolschewisierung gleichbedeutend mit ideologischem Kampf
gegen den Luxemburgismus. (S. 93)
CLARA ZETKIN (1857-1933), Freundin und Mitstreiterin ROSA LUXEMBURGS. Im
Gegensatz zur 'politischen' R. L. konzentrierte sich Clara Zetkm mehr auf die
'Frauenfrage' (Frauenemanzipation, die Frau im Parteileben, Friedensbewegung,
Erziehungsfragen). Im Auftrag der III. Internationale sollte unter der Leitung
von CLARA ZETKIN und ADOLF WARSKI unter der Redaktion PAUL FRÖHLICHS eine
9-bändige Gesamtausgabe der Werke R. L. s herausgebracht werden. Beschlossen
wurde dies auf dem IV. Weltkongreß der III. Internationale 1922. In die
Gesamtausgabe sollten alle Schriften R. L. s mit einer Ausnahme aufgenommen
werden. Diese Ausnahme war R. L. s Kritik an der russischen Revolution (s. Anm.
79).- Es erschienen 1923 Bd. 6, 'Die Akkumulation des Kapitals'; 1925 Bd. 3,
"Gegen den Reformismus"; 1928 Bd. 4, "Gewerkschaftskampf und Massenstreik".
Weitere Bände erschienen nicht mehr.
-203-
Eine frühe Stellungnahme TROTZKIS Zur Nationalitätenfrage die bezeichnend für
die Haltung auch der Trotzkisten ist, findet sich in einem Brief an
ROLAND-HOLST, die zu diesem Zeitpunkt den Standpunkt R. L vertrat: "Ebenso
falsch [. . .] erscheint mir Ihre Ansicht über das Red, der Nationen auf
Selbstbestimmung. Sie sagen, daß dieses Recht im Kapitalismus nicht
verwirklichbar im Sozialismus jedoch überflüssig sei Warum es im Sozialismus
überflüssig sein soll, ist mir unverständlich. Man sollte aber meinen, daß
unsere Politik jetzt von der Überzeugung ausgeht, daß wir in eine Epoche der
sozialen Revolution eintreten. Folglich müssen wir ein Programm für die soziale
Revolution haben, das Programm eines proletarischen staatlichen Regimes in
Europa. Ist es etwa überflüssig, den Polen, Serben, Elsässern zu sagen, welches
Regime ihnen ein zur Macht gelangtes europäisches Proletariat sichern wird?
Glauben Sie wirklich, daß die nationalen Reibereien und Probleme vom Erdboden
verschwinden werden, sobald das Proletariat an die Macht gekommen ist? Ich
denke, das Gegenteil ist der Fall: Sie werden erst dann in ihres ganzen Tiefe
und Schärfe akut werden und vollständige Beantwortung erfordern. Auch wir müssen
die Frage beantworten, welchen Inhalt das Recht auf Selbstbestimmung unter den
Bedingungen eines proletarischen Regimes bekommen wird und dürfen dieses Recht
nicht einfach als Mein-bürgerliche Illusion abtun." (Brief geschr. Ende 19116,
hg. und bearbeitet von LEO VAN ROSSUM im Auftrage des Internationalen Instituts
für Sozialgeschichte, Amsterdam 1970) Diese pragmatische Behandlung des
Problems der Selbstbestimmung trifft den Kern der Fragestellung R. L. s nicht.
Sie kennzeichnet aber treffend die "theoretische Tiefe" der Behandlung dieses
Problems durch TROTZKI und die Trotzkisten.
Zum Begriff des Jakobinertums vgl. W. I. LENIN, 'Ein Schritt vorwärts, zwei
Schritte zurück - Antwort an Rosa Luxemburg" (W. I. Lenin, Werke, Bd. 7 Berlin
1956, S. 483), geschr. Ende Sept. 1904 als eine Antwort auf R. L. in 'Die Neue
Zeit' Nr. 42/43, 1904: "Genossin Luxemburg sagt, daß ich meinen Standpunkt
vielleicht scharfsinniger gezeichnet habe, als es irgendeiner meiner Opponenten
tun könnte, indem ich meinen 'revolutionären Sozialdemokraten' als einen mit der
Organisation der klassenbewußten Arbeiter verbundenen Jakobiner definierte.
Wieder eine faktische Unwahrheit. Nicht ich, sondern P. Axelrod sprach zuerst
vom Jakobinismus. Axelrod war der erste, der unsere Parteinuancen mit denen aus
der Zeit der großen französischen Revolution verglich. Ich bemerkte lediglich,
daß dieser Vergleich nur in dem Sinne zulässig sei, als die Teilung der modernen
Sozialdemokratie in eine revolutionäre und in eine opportunistische bis zu einem
gewissen Grade der Teilung in Montagnards und Girondisten [Radikale und
Gemäßigte] entspricht. Einen ähnlichen Vergleich hat die vom Parteitag
anerkannte alte "Iskra" recht oft gezogen."
ROSA LUXEMBURG, 'Sozialreform oder Revolution - Besprechung einer Aufsatzreihe
von Bernstein, 'Probleme des Sozialismus', in: Neue Zeit 1897/98, 1. Ausg. 1900,
erweiterte Ausg. 2908 (abgedr. i. R. L. Schriften..., Rowohlts Klassiker, Bd.
249-251), hier verwendete Ausg.: Leipzig
1929, S. 17.
Der Beginn der Auseinandersetzung: 1904. Eine durchgehende Unlogik zieht sich
durch die Schriften der GIC und anderer linkskommunistischer Gruppen: Statt den
über die III. Internationale durchgesetzten und von den nationalen KPs
dogmatisch übernommenen "Leninismus" zu bekämpfen, der das nationale Interesse
Rußlands den internationalen Interessen
-204-
der Arbeiterbewegung gleichsetzte, reduzierte sie die Problematik auf die
angeblichen 'Fehler' Lenins, obwohl doch auch nach ihrer Ansicht LENIN in
Rußland die Revolution 'machen mußte', die dort historisch möglich war:
die bürgerliche unter Führung der sozialistischen Partei. Das Versagen der
holländischen, französischen, deutschen etc. KPs bei der Aufgabe, in ihrer
spezifischen historischen Situation die Revolution zu fördern, ist eben nicht
einfach nur der Person LENINS anzulasten, wenn auch dieses Versagen unter dem
Vorzeichen seines Namens geschah und geschieht. Dies führt auch bei ihnen zu
einer Dogmatisierung der Nationalitätenfrage. Der Kampf um die nationale
Unabhängigkeit, als Kampf der unterdrückten Volksmassen gegen ausländische
Okkupanten (vgl. den Kampf des vietnamesischen Volkes gegen den amerikanischen
Imperialismus), ist so lange ein Schritt zur sozialistischen Revolution, als er
mit dem Kampf gegen die nationale Bourgeoisie und mit dem internationalen
Klassenkampf verbunden bleibt. Für Rußland 1917 und später reduzierte sich das
Problem, wie es R. Luxemburg richtig gesehen hat, auf die Frage einer Isolation,
d. h. auf die Frage, ob sich die revolutionäre Bewegung in Europa und Amerika
fortsetzt.
W. 1. LENIN, "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen", Ausgewählte
Werke, Bd. 1, Berlin 1966, 5. 681-741, hier S. 685.
W. I. LENIN, "Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der
Nationen", Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 145; zuerst veröffentlicht in:
Vorbote, Internationale marxistische Rundschau' Hg.
ANTON PANNEKOEK und HENRIETTE ROLAND-HOLST' Nr. 2, April 1916.
JUNIUS (Pseud. von ROSA LUXEMBURG), "Die Krise der Sozialdemokratie"
(Junius-Broschüre), verfaßt im April 1915, Berlin 1919, S. 71.
ROSA LUXEMBURG "Die russische Revolution - Eine kritische Würdigung aus dem
Nachlaß von Rosa Luxemburg" (geschrieben 1918), hg. und eingel. von PAUL LEVI,
Berlin 1922, S. 88 f.
Das Zitat stammt aus: KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS, 'Vorrede zur zweiten
russischen Ausgabe des "Manifestes der kommunistischen Partei", geschr. in
London, 21. 1. 1882, MEW Bd. 19, S. 296. Es heißt: "Wird die russische
Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide
einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum
Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen."
ROSA LUXEMBURG, "Briefe an Karl und Luise Kautsky (1896-1918)" hg. von LUISE
KAUTSKY, Berlin 1923, Brief Nr. 91, aus dem Breslauer Staatsgefängnis, vom 24.
11. 1917, S. 210.
Im März 1918 unterschrieb die bolschewistische Regierung Rußlands einen
Diktat-Friedensvertrag mit Deutschland. Dadurch gewann die bolschewistische
Regierung Zeit, ihre staatliche Macht im Inneren zu sichern, ermöglichte aber
gleichzeitig den Deutschen die West-Offensive.
Ebd. Brief Nr. 93 v. 19. 12. 1917, S. 219.
R. L.,"Russ. Revol." (s. Anm. 79), S. 118 f.
Karl Liebknecht, "Briefe aus dem Felde, aus, der Untersuchungshaft und aus dem
Zuchthaus" Verlag Die Aktion, Berlin 1919, Brief v. 8. 9. 1918,
S. 123.
Das Zitat stammt nicht aus "Wirtschaftspolitische Probleme der proletarischen
Diktatur", sondern aus: EUGEN VARGA, "Sozialismus und Kapitalismus in
Sowjet-Rußland", in: Kleine Bibliothek der russischen Korrespondenz, Nr. 62-63,
Leipzig 1922, S. 43 f.
R. LUXEMBURG in: Spartacus, Nr. 11, Sept. 1928, 5. 453-460; Spartakus-
-205-
Briefe, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1958
(verfaßt Dez. 1914-Okt. 1918), S. 457, 459.
BUCHARIN, "Materialien zur Frage des Programms der Kommunistischen
Internationale", Hamburg' S. 74-96.
Im Frühjahr 1927 schaltete TSCHIANG-KAI-SCHEK die Kommunistische Partei Chinas
durch Massenliquidationen in Shanghai vorläufig von jeder Einflußnahme auf die
nationale Befreiungsbewegung aus.
MAXIM LITWINOW (1867-1951), seit 1930 Außenminister der UdSSR, Vertreter der
Gleichgewichtspolitik. In der Saar-Abstimmung 1935 stimmten 95 % der
stimmberechtigten Bewohner der Saar für eine Rückkehr ins "Reich". Vgl. hierzu:
"Against Aggression, Maxim Litwinow Speaches", London 1939.
R. L., "Russ. Revol." (s. Anm. 79) S. 84.
Am 27. 12. 1929 kündigte STALIN die Liquidation der Mittelbauernschicht
(Kulaken) an. Beginn der Aktion 1930. Im März 1931 waren schon 58 % der
landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kollektivwirtschaft überführt; 1934: 75 %,
1937: 93 %.
R. L. "Russ. Revol." (s. Anm. 79), S. 118.
Zum Problem der "Bauerninternationale" vgl. das Protokoll des 4. Kongresses der
Kommunistischen Internationale, Hamburg o. J., S. 1936, und 'Die Entwicklung der
russischen Außenpolitik' (1917-1935), in:
Rätekorrespondenz Nr. 13, Okt. 1935, S. 15: "Nachdem die Revolution in Europa
für die Bolschewiki erledigt war, konzentrierten sie ihre 'revolutionäre
Aktivität' auf den Osten. Zu genau demselben Zeitpunkt, an dem sie die deutsche
Revolution endgültig absagten, nämlich im Oktober 1923, traten sie mit der 1.
'Internationalen Bauernkonferenz' und der Gründung des 'Internationalen
Bauernrates', der sogen. Bauerninternationale hervor. Sie hofften, die
bäuerlichen Bewegungen des kolonialen und halbkolonialen Ostens und dessen
bäuerliche Massenorganisationen ebenso unter Moskaus Führung zu bringen, wie sie
die kommunistischen Parteien Europas unter ihr Kommando gebracht hatten."
ROSA LUXEMBURG, "Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der
Marxschen Theorie gemacht haben - Eine Anti-Kritik", Leipzig 1921. Das
angeführte Zitat war nicht aufzufinden.
ROSA LUXEMBURG "Die Akkumulation des Kapitals - Ein Beitrag zur ökonomischen
Erklärung des Imperialismus", Berlin 1913.
R. L., "Die Akkumulation ...", (s. Anm. 96), S. 393.
Narodniki (abgeleitet von russ. "Ins-Volk-Gehen"): in den siebziger Jahren des
19. Jahrhunderts die erste große revolutionäre Bewegung innerhalb der russischen
Intelligenz. Sie wollten in Rußland den Weg zum Sozialismus ohne den Umweg über
den Kapitalismus gehen. Die praktischen Konsequenzen hieraus waren
Bauernagitation und terroristische Aktionen gegen das zaristische Regime. Die
ideologischen Erben der Narodniki waren seit etwa 1901 die
"Sozialrevolutionäre".
W. I. LENIN, "Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland - Der Prozeß der
Bildung des inneren Marktes für die Großindustrie", geschr. 1896-1899, Werke,
Bd. 3, Berlin 1963.
W. I. LENIN, "Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik (Sismondi und unsere
einheimischen Sismondisten)", geschr. 1897 in der sibirischen Verbannung, Werke,
Bd. 2, Berlin 1963, S. 125-264. - SIMONDE DE SISMONDI (1773-1842), Genfer
Nationalökonom, entwickelte die 'Unterkonsumtionstheorie', nach welcher der
Kapitalismus durch mangelnde kauffähige Nachfrage in Krisen gerät. Mit den
Sismondisten sind die
-206-
Narodniki gemeint.
Das Zitat lautet nach W. I. L." Werke (s. Anm. 100): "Bekanntlich besteht das
Entwicklungsgesetz des Kapitalismus darin, daß das konstante Kapital schneller
wächst als das variable' d. h. ein immer größerer Teil der sich neu bildenden
Kapitalien wendet sich der Produktionsmittel erzeugenden Abteilung der
gesellschaftlichen Produktion zu. Folglich wächst diese Abteilung
notwendigerweise schneller als die Konsumtionsmittel erzeugende Abteilung [...]
Folglich nehmen die Produkte der individuellen Konsumtion in der Gesamtmasse der
kapitalistischen Produktion einen immer geringeren Platz ein. Und das entspricht
völlig der historischen 'Mission" des Kapitalismus und seiner spezifischen
sozialen Struktur: die erste besteht gerade in der Entwicklung der
Produktivkräfte der Gesellschaft (Produktion für die Produktion); die zweite
schließt ihre Utilisation durch die Massen der Bevölkerung aus."
(S. 149)
Das Zitat lautet nach W. I. L., Werke (s. Anm. 100): "Die verschiedenen
Industriezweige" die einander als 'Markt' dienen, entwickeln sich nicht
gleichmäßig, sondern überflügeln einander, und die entwickeltere Industrie sucht
sich einen äußeren Markt. Dies bedeutet keineswegs, daß "es einer
kapitalistischen Nation unmöglich ist, den Mehrwert zu realisieren', wie der
Volkstümler tiefgründig daraus schließen möchte. Es zeigt nur die
Disproportionalität in der Entwicklung der Produktionszweige. Bei einer anderen
Verteilung des nationalen Kapitals könnte die gleiche Produktenmenge im Lande
selbst realisiert werden." (S. 54) Diese Aussage führt später zu der
theoretischen Begründung der Ökonomie im Staatssozialismus und damit zu der der
"friedlichen Koexistenz' (die nun als ökonomischer Kampf gegen den Kapitalismus
gilt). Damit ließe sich eine ununterbrochene theoretische Linie ziehen von den
MARXschen Zirkulationsschemata über die ökonomischen Arbeiten von LENIN zu der
heutigen Polit-Ökonomie der UdSSR.
W. I. LENIN, "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus
- Gemeinverständlicher Abriß", geschr. 19116, Ausgew. Werke, Bd. 1, Berlin 1966,
S. 766-873.
W. I. LENIN, "Karl Marx (Kurzer biographischer Abriß mit einer Darlegung des
Marxismus)", geschr. 1914, Ausgew. Werke, Bd. 1, S. 66: "Ihre [R. L.s] falsche
Auslegung der Marxschen Theorie wird analysiert von Otto Bauer. "Die
Akkumulation des Kapitals" in: Die Neue Zeit, XXXI/1, 1913, S. 831ff und S.
862ff; von Eckstein in: Vorwärts, 1913; von Pannekoek in:
Bremer-Bürger-Zeitung, 1913."
HENRYK GROSSMANN, "Die Änderung des ursprünglichen Aufbauplans des
Marxschen 'Kapital' und ihre Ursachen", in: Archiv für die Geschichte des
Sozialismus und der Arbeiterbewegung (Grünberg-Archiv), Hg. Dr. C.
GRÜNBERG, Bd. XIV, Heft 2" Leipzig 1929, S. 305-338.
HENRYK GROSSMANN "Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem"
in: Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig, 1. Jg. 1932, S. 55-84.
W. I. LENIN, 'Marxbiographie' (s. Anm. 104). Das Zitat lautet hier: "Da aber der
Mehrwert Funktion des variablen Kapitals allein ist, so ist es begreiflich, daß
die Profitrate (das Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten Kapital, nicht aber zu
seinem variablen Teil allein) eine Tendenz zum Sinken hat. Marx analysiert
eingehend diese Tendenz und eine Reihe sie verhüllender oder ihr
entgegenwirkender Umstände." (S. 45)
W. I. LENIN, "Der Imperialismus" (s. Anm. 103). Das Zitat lautet hier:
-207-
"In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die
allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten
gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue
Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz
zur vollständigen Vergesellschaftung bildet." (S. 784)
W. I. LENIN, "Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) am 27. 3.
1922 auf dem XI. Parteitag", Werke, Bd. 33, Berlin 1963, S. 265.
W. I. LENIN, "Was tun? - Brennende Fragen unserer Bewegung", geschr.
1901/02, Ausgew. Werke, Bd. 1, Berlin 1966, S. 139-314.
Das Buch, auf das hier Bezug genommen wird, ist: JOHN MIDDLETON MURRY, "The
Necessity of Communism", London 1932, S. 49.
Karl Marx, "Kritische Randglossen zu dem Artikel - Der König von Preußen und die
Sozialreform von einem Preußen". Hinter der Bezeichnung "von einem Preußen"
verbirgt sich ARNOLD RUGE (1802 bis 1880). R. war radikaler Publizist,
Jung-Hegelianer, 1844 war er mit MARX zusammen Herausgeber der
"Deutsch-französischen Jahrbücher", 1848 linksliberaler Abgeordneter in der
Frankfurter Nationalversammlung. "Randglossen" geschr. in Paris 31. 7. 1844, MEW
Bd. 1, S. 392-409.
W. I. LENIN, "Was tun?" (s. Anm. 110), S. 164 ff.
ROSA LUXEMBURG, "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften", Hamburg
1906, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1928, S. 431; abgedr. in: R. L.,
"Schriften zur Theorie der Spontaneität", Hg. SUSANNE HILLMANN, Rowohlts
Klassiker, Bd. 249-251, Reinbek 1970.
W. I. LENIN, "Was tun?" (s. Anm. 110), S. 267 f.
ROSA LUXEMBURG, "Organisationsfragen der Russischen Sozialdemokratie", zuerst
(russ.) in: Iskra Nr. 69, 10. 6. 1904; in: R. L. 'Schriften zur Theorie der
Spontaneität' (s. Anm. 114), S. 76 -"Nachtwächtergeist" ebd. S. 78.
Zu beachten ist die unterschiedliche Behandlung des Großmannschen 'relativen und
absoluten Fallens der Profitmasse' in dem 2. Aufsatz der vorl. Ausgabe und hier.
Dieser Unterschied entspricht einer Auseinandersetzung in der Gruppendiskussion.
PANNEKOEK z. B. vertrat die Kritik an GROSSMANN, während bis heute PAUL MATTICK
den Standpunkt Großmanns in dieser Frage einnimmt. Beide haben sich, ohne
nominell Mitglieder der Gruppe gewesen zu sein, an deren Theoriebildung
beteiligt. Vgl. CAJO BRENDEL, Pannekoek - Theoreticus van het Socialisme,
Amsterdam 1970 (ersch. im Herbst 1972 in deutscher Sprache unter dem Titel
"Pannekoek als sozialistischer Theoretiker") und PAUL MATTICK, Werttheorie und
Kapitalakkumulation, in: Kapitalismus und Krise, Kontroversen um das Gesetz des
tertdenziellen Falls der Profitrate, EVA 1970" S. 7-34.
^
top
last update : Thu Jun 17 13:02:44 CEST 2004 Kollektivarbeit der Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland)
automatically created by Linux/X86; vendor=Apache Software Foundation; version=1; http://xml.apache.org/xalan-j