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Helmut Reinecke |
Thema |
FÜR KRAHL
( Acht Arbeitshypothesen )
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Status |
Zitate aus: Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/Main 1971, werden im Text in ( ) angeführt, |
Letzte Bearbeitung |
1973 |
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1. Arbeitshypothese I.
2. Arbeitshypothese II.
3. Arbeitshypothese III.
4. Arbeitshypothese IV.
5. Arbeitshypothese V.
6. Arbeitshypothese VI.
7. Arbeitshypothese VII.
8. Arbeitshypothese VIII.
1. Arbeitshypothese I.
Eine Darstellung der intellektuellen Biographie der Revolte am Denken von
Hans-Jürgen Krahl (1944 - 1970) bedarf nicht des jeweils akribischen Nachweises
der gelungenen marxistischen Ableitung jeder Kategorie. Nicht auf das
hausmannskostartige Räsonnement kann es ankommen, den Versuchen einer
Rekonstruktion der revolutionären Theorie auf jeder Stufe vorzuhalten, sie habe
Theoreme der Marxschen Lehre ungenügend abgeleitet oder die Totalität nicht im
Griff. Oft sind Krahls Gedanken noch mit den Muttermolen der Kritischen Theorie
behaftet, selbst seine letzten Arbeiten, die den mittlerweile ausgesessenen
Metaphysikverdacht, ein Apriorismus läge der Revolution in der Theorie des
historischen Materialismus zugrunde, an Marx herantragen. Dies sind Relikte,
welche die weiteren Debatten über materialistische Erkenntnistheorie nicht mehr
zum Gegenstand ihrer Überlegungen zu machen brauchen; Krahls Arbeiten haben
selber dazu beigetragen, dass die Rekonstruktion der Marxschen Lehre den seit
der II. Internationale und dem Stalinismus angestammten Vorurteilen nicht mehr
aufsitze. Verkürzungen Marxscher Begriffe oder die oft spekulativen Ableitungen
kennzeichnen die Eile, in der zur Zeit des aktiven Widerstandes der
Hochschulrevolte gedacht werden musste; sie sind zugleich Index für die
Notwendigkeit revolutionären Denkens, sich auch als vorübergehendes Theorem
festhalten zu müssen, als transitorisches Denken.
2. Arbeitshypothese II.
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts konnte Friedrich Engels, angesichts einer
während der Sozialisten-Gesetze Bismarcks
" pausbäckig " gewordenen
Sozialdemokratie, die Revolte der jungen Parteimitglieder gegen die
Vertrauensseligkeit des organisierten Proletariats auf den objektiven Gang der
Geschichte zum Sozialismus mit leichter Hand auf die Bedingungen des
Parteikampfes verweisen; ihr
" todesverachtendes Nehmen von Hindernissen
in der Phantasie " quittierte er mit der Bemerkung, sie hätten mehr von
den Arbeitern zu lernen als diese von ihnen. (Laufende Seitennummer der Merve
Ausgabe angeführt:)
-3-
Nachdem der Kapitalismus wieder pausbäckig geworden war und Sozialdemokratie und
kommunistische Parteien vollends die " liberale Sicherheit " (Rosa
Luxemburg) eines evolutionären Geschichtsprozesses sich anbequemt hatten, gingen
in die Bildungsgeschichte linker Subjektivität andere Erfahrungsdimensionen
ein, als dies zu Zeiten eines organisiert auftretenden kämpfenden Proletariats
der Fall war. Wie kommt es, dass Individuen mit bürgerlicher oder
kleinbürgerlicher Herkunft, deren Privilegien im noch funktionierenden
Kapitalismus garantiert sind, " zur Rebellion und zur Revolution
Überlaufen, (...) sich fortschrittlichen sozialrevolutionären Bewegungen
anschließen " und " zur roten Fahne überlaufen " (30)
Hans-Jürgen Krahls Tod durch einen Autounfall im Februar 1970 war ein nicht zu
ermessender Verlust für die Emanzipationsbewegung in den Metropolen. Die kurze
politische Biographie von Hans-Jürgen Krahl, dessen Agitationstätigkeit und
theoretische Arbeit die Politik der Protestbewegung wesentlich mitbestimmt
haben, reflektiert die Bildungsprozesse vieler junger Linker, die nicht mehr den
Sitz der Vernunft in einer kommunistisch-revolutionären Partei vorfinden; die
lange Umwege durchgehen, um ihre bürgerliche Klasse zu verraten und sich den
angestammten Zusicherungen der Herrschaft zu entziehen. Für Hans-Jürgen Krahl
begann der Prozess politischer Selbstverständigung mit einer " Odyssee
durch die Organisationsformen der herrschenden Klasse " (20). Krahls
intellektueller Bildungsgang von der " imperialistisch abenteuernden
Philosophie " Heideggers zum fortgeschrittenen logischen Positivismus und
schließlich zur marxistischen Dialektik korrespondiert dem Aufklärungsprozess
" vieler derjeniger (
) , die es von ihrer Klassenlage her eigentlich nicht
nötig haben, sich der Praxis des Proletariats zuzurechnen, denen aber Übelkeit
ankommt, wenn sie ihre eigene Klasse und ihre eigenen Klassengesellen
kennenlernen (...) " (21)
" Nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen hatte, entschloss ich
mich dann auch, sie gründlich zu verraten, und wurde Mitglied im SDS. Im SDS
erfuhr ich zum ersten Mal, was es heißt: Solidarität nämlich Verkehrsformen
herauszubilden, [4]
die sich aus den Unterdrückungen und Knechtungen der Herrschenden Klasse lösen.
(22)"
Diese Verkehrsformen kennzeichneten indessen erst jene Stufe der vorab noch
negatorisch von den bürgerlichen Lebensverhältnissen abgezogenen Perspektiven
neuer Sittlichkeit dass Sittlichkeit mit Freiheit und Konstitution
emanzipativer Kollektivität und Solidarität einhergehen muss, war schon Thema
der revolutionären Bourgeoisie, des jungen Hegel und neuer Sinnlichkeit, die
sich aus der Kampfweise der Revolte in den Metropolen entwickelten und nicht in
der Konnotation von " anti-autoritär " blind aufgehen. Anders als in
der bürgerlich immanent bleibenden Negationsform der Boheme, die heutigentags
sich drogenkultlerisch oder religiös-archaisierend mumifiziert hat, bemaß sich
der Versuch, innerhalb der Existenzweise spätkapitalistischer Herrschaftsformen
in den Metropolen partisanenhaft die Bedürfnisse nach Freiheit zu gestalten,
stets an der Praxis politischer Aufklärung als vorläufiger Kampfform: damals der
durch Protestation. Als deren Agitator sah die studentische Revoltbewegung von
San Francisco, Paris und Berlin angesichts der spätkapitalistischen Manipulation
der Köpfe der Unterdrückten ihre historische Aufgabe; es war Aufklärung, welche
der Sozialistische Deutsche Studentenhund (SDS) vermittels des Protests als
Gegenseite von Verschleierung und Manipulation massenhaft materialisieren
wollte, sich abarbeitend an den " Institutionen der Unterdrückung ",
der " Zwangsgewalt von Recht und Staat ". " Das bedeutet und
das ist auch die Rolle, die wir im SDS als Intellektuelle in der Aktualisierung
des Klassenkampfes zu übernehmen haben dass wir im praktischen Kampf die
Theorie entfalten müssen, die für das Proletariat, seine Sprach- und
Bewusstseinswelt die Herrschaft hier im Spätkapitalismus verständlich macht, die
so unendlich manipulativ und integrativ überdeckt ist, sie entschleiert und
aufdeckt; dass es unsere Funktion ist, als politische Intellektuelle unser
Wissen in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen. " (23)
In unablässiger organisatorischer und theoretischer Arbeit ging Krahl daran, die
überkommenen Formen politischer Praxis und Theorie mit den anstehenden
politischen Kämpfen zu vermitteln. Sein Nachlass,
" Konstitution und
Klassenkampf Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und
proletarischer Revolution ", enthält
" Schriften Reden und Entwürfe
aus
-5-
den Jahren 1966-1970 ". Aus dem uneinheitlichen Stand von Geschlossenheit
der jeweiligen Schriften lässt sich ablesen, dass sie ohne den Hintergrund der
täglichen agitatorischen Arbeit nicht rezipiert werden können. Hier werden nicht
Finessen linker Theorie ans Licht gerückt, sondern von verschiedenen Ansätzen
her die Konstitutionsbedingungen von Klassenbewusstsein, von revolutionärer
Subjektivität reflektiert, wie sie die veränderten Formen von revolutionärem
Kampf und proletarischem Bewusstsein seit Marxens
" Kapital " und
schließlich das Ausbleiben einer nach dem großen Oktober übergreifenden
Revolution mit dem verfänglichen Erfolg des Aufbaus des Sozialismus in einem
Lande für die Rekonstruktion von revolutionärer Theorie erheischen.
Es bezeichnet nun den Status der antikapitalistischen Protestbewegung, dass
exemplarische Aktionen, welche die Massen mobilisieren sollten, von den
Erkenntnisträgern der bürgerlichen Gesellschaft in Parade gesetzt wurden; die
Kampform war mithin keine revolutionär-proletarische, die roten Helden waren
nicht der Tradition der westeuropäischen Emanzipationsgeschichte entnommen, es
waren "Che Guevara, Fidel Castro, Ho Tschi Minh und Mao Tse-tung "
(23). Sie repräsentierten den proletarischen Internationalismus und versicherten
zugleich die revolutionäre Zielsetzung der Bewegung. " Gibt es über die von
Marcuse allein für möglich gehaltene Solidarität der Vernunft und des Sentiments
hinaus eine konkretere Basis für die Solidarisierung der Protestbewegung in den
Metropolen mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt? Wie vermittelt sich
die reale weltgeschichtliche Aktualität der Revolution zu unseren Tagesaktionen
der Protestbewegungen in den Metropolen? " (145)
Die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt hatten nicht nur praktische
Kämpfe der Revolt vorgehalten; es kennzeichnet auch den
" Zerfall des
Theoriebewusstseins " (307), dass Revolutionäre wie Che Guevara nicht mehr
in ihrer theoretisch-praktischen Stringenz studiert werden, Ches Arbeiten über
den im Kampf herzustellenden und für den Aufbau unabdingbaren
" neuen
Menschen ", sowie seine Beiträge zur Kategorie der Ware und des Werts,
sind nicht nur Momente jener Restitution der Marxschen revolutionären Theorie;
sie wurden vermöge eines Befreiungskampfes gewonnen nicht semimarxistisch aus
der
-6-
theoretischen Tradition abgeleitet und galten deshalb als Beispiel der
herzustellenden Einheit von Theorie und Praxis.
" Zwar kann sich in den
Metropolen der Kampf nicht als eine unkritische Übertragung der
Guerillastrategie darstellen. Diese liefert aber ein Modell kompromisslosen
Kampfes, von dem die traditionelle Politik der verfestigten Institutionen
verurteilt werden kann, von dem auf jeden Fall die faulen Kompromisse der
sowjetischen Politik die überall die revolutionären Befreiungsbewegungen im
Stich lässt, verurteilt werden können. " (147)
Einmal drückt sich in der Bornierung der Revolt auf die zukünftigen Kopfarbeiter
nicht bloß mangelhafte Strategie aus, die von diesen Köpfen ausgeheckt worden
wäre. Andererseits ergab sich aus der spezifischen Agitations- und
Organisationsweise, aus jenen substitutionalistischen Vorgriffen sozialistischer
Studenten, die das Bewusstsein massenhaft verändern wollten, dass mit dem
Übergehen der Bewegung zur außeruniversitären Arbeit im Betrieb oder in
Stadtteilen sich ebenso politische Gruppen bildeten, die das Gegenteil jener
rätedemokratischen Intentionen, welche die Revolt zu entwickeln suchte,
vorstellten: zentristisch organisierte Parteienbildungen und eine Hierarchie der
Kader. Der emanzipative Begriff des Antiautoritären wurde im Verlauf der Revolt
zugleich revoziert und organisatorisch beseitigt. Die Revolution erhielt das
spätjakobinische Gewand der Aktualität der Revolution in der Subjektivität der
je vorhandenen Partei. Damit war die Konstruktion neuer Bedürfniswelten, die
Entfaltungsformen neuer Sinnlichkeit im Verlauf des Kampfes zu seinem Vollzug,
dem moralischen Pathos des gesetzten revolutionären Kollektivs gewichen. Die
Intention, sich massenhaft zu mobilisieren, verkehrte sich zum dichotomischen
Bewusstsein von der Masse und den Kadern. Mit einer Dialektik, als hätte Hegel
sie eingegeben, lösen sich die Formen des spätkapitalistischen sozialistischen
Kampfes in zwei Seiten der Medaille auf wie der
" antagonistische
Charakter der kapitalistischen Akkumulation " (Marx: Kapital Band 1,
Berlin 1961, Seite 681) seine Repulsion und Attraktion, seine eigenen
Negationsformen sich aufzwingt. (Marx: Kapital Band 1, Berlin 1961, Seite 659)
-7-
Hans-Jürgen Krahl, einer der agitativsten Theoretiker, den die Revolt
hervorbrachte, war sich der noch bürgerlichen Bornierung der Bewegung bewusst
und versuchte sie doch als Etappe auf dem Wege zum herzustellenden
revolutionären Kampf zu begreifen; die
" Söhne aus der bürgerlichen Klasse
" waren
" gleichsam übergelaufen (...) zu der Klasse, in der sich die
befreiende Menschheit repräsentiert, nämlich im Proletariat " (24)
freilich war dieses Überlaufen vorerst in den Köpfen der Individuen passiert,
noch nicht Ausdruck praktischer Erfahrungen. Der Erkenntniszusammenhang, der für
Intellektuelle die Motivation des antiautoritären Protests begründete, ging
durch die Einsicht, dass die Versprechen der bürgerlichen Revolution von
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit kapitalistisch nicht organisierbar sind;
" Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham " (Marx) sind selber
konstitutiv für die Ideologie des bürgerlichen Tausches; es sind Kategorien der
Zirkulationssphäre, welche die Ungleichheit verdecken, dass nach Maßgabe der
Ideologie des freien Tausches der Kapitalist sich Lohnarbeiter eintauscht, die,
werden sie in der Produktion vernutzt, dem Kapitalisten Mehrwert einbringen. Die
bürgerliche Gleichheit ist nur Schein; sie beruht auf Ungleichheit, auf der
Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, die jedoch hinter der einfachen
Warenzirkulation zwischen Ware Arbeitskraft und Sälar verschwindet. Mit der
Einsicht in diese Bedingung der bürgerlichen Gesellschaft war zugleich die
Vorstellung eines von der ausbeuterischen bourgeoisen Welt abgehobenen
bürgerlichen Individuums zerstört, an dem freie Subjektivität und bürgerliche
Identität sich festgemacht hatten. Bürgerliche Identität bildete sich
" auf
der Basis des Privateigentums, realisierte sich auf dem freien Markt und lebte
seiner lebensgeschichtlichen Perspektive zufolge aus dem Streben nach Profit und
der Furcht vor den, Ruin. " (316) Hinter dem Citoyen lauert immer der
Bourgeois und auch dieser hat wie die Totalität gesellschaftlicher Repression
seine privateigentümliche Identität vermittels der Aktienkapitale
anonymisiert. Das bürgerliche Individuum, das kraft der Herrschaft über
Privateigentum an Produktionsmitteln emanzipative Seiten von Identität über
Naturbeherrschung und den Kampf gegen den Feudalismus hervorgebracht hatte, die
citoyenhafte Seite des Kopfarbeiters, war zumindest seit dem Faschismus, der aus
den inneren Gesetzmäßigkeiten der anarchischen bürgerlichen Pro-
-8-
duktionsweise sich ergeben hatte, durch die Gewaltmittel der eigenen Klasse
liquidiert worden. Nur schlechte Poesie konnte nach Auschwitz noch geschrieben
werden; aber nicht weil die Animalisierung der bürgerlichen Gesellschaft nun
endgültig die schönen Seelen vertrieben hätte. Adornos Wort von der
Unmöglichkeit lyrischer Sensibilität nach Auschwitz steht selber noch in der
Immanenz bürgerlichen Denkens. Kunst war Erkenntnismedium der zu sich kommenden
Bourgeoisie, deren Produktionszusammenhang notwendiger klassenmäßiger Ausbeutung
ihr äußerlich bleiben musste; im Zuge der bürgerlichen und damit der sich
entwickelnden proletarischen Revolution eignete sich die ausgebeutete Klasse die
organisatorischen und theoretischen Mittel an, um Einsicht in die Totalität der
umzuwälzenden Gesellschaft zu gewinnen und diese angreifen zu können: die
revolutionären Parteien und die Kritik der politischen Ökonomie, wie sie Marxens
Werk entfaltet. Damit waren sich praktisch begreifende Erkenntnismöglichkeiten
erworben, die nicht mehr den Vorschein künftiger Freiheit besingen ließen,
sondern sinnlich und theoretisch eingreifend die negative Totalität des
kapitalistischen Lebenszusammenhanges bekämpften. Der ldeenhimmel bürgerlicher
Freiheit war damit materialistisch auf die Erde zurückgeholt, er konnte nur über
die Negation seiner eigenen Bedingungen realisiert werden. Was Erkenntnistheorie
und Kunst ehemals für die progressive Bourgeoisie, als Theorie von Freiheit,
dies musste Revolutionstheorie werden, umwälzende Kritik. Nicht Auschwitz machte
Poesie unmöglich, sie war bereits nicht mehr angemessene Weise von Kritik,
seitdem der Kapitalismus sich weltumspannend organisiert hatte und der Schein
von Zufälligkeit, den die kapitalistische Exploitationsgeschichte je nach
Entfaltung ihrer Produktionsmittel der Unterdrückung gab von den
sklavenhaltenden Puritanern über den Imperialismus und den Faschismus
verschwunden war; dieser Schein erwies sich vielmehr nach der Marxschen
kapitalistischen Logik der gesellschaftlichen Totalität als deren notwendiges
lmplikat. Weit vor dem Faschismus war emanzipative bürgerliche Identität, einst
gewonnen an den jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit der Feudalität und
dem Hervorbringen der modernen Wissenschaften, zu ihrem eigenen Lichtbild
geworden. Der Faschismus lieferte hiervon als eine Organisationsform des
Privateigentums an Produktionsmitteln die leibliche Bestätigung; er gab
gleichsam die
-9-
sinnlichen Erkenntnisbedingungen vor, um ihn als mit der bürgerlichen
Gesellschaft notwendig verwoben zu begreifen und die bürgerliche Geschichte als
die ihrer eigenen Destruktion auf einen, Hintergrund einzusehen/der sich den
Verlust jener bürgerlichen ldentität nach deren Maßgabe die universitäre
Ausbildung noch strukturiert ist vor Augen hält.
" Dieser Verfall des
bürgerlichen Individuums ist eine der wesentlichen Begründungen, aus der die
Studentenbewegung den antiautoritären Protest entwickelte. In Wirklichkeit
bedeutete ihr antiautoritärer Anfang ein Trauern um den Tod des bürgerlichen
Individuums, um den endgütigen Verlust der Ideologie liberaler Öffentlichkeit
und herrschaftsfreier Kommunikation, die entstanden sind aus einem
Solidaritätsbedürfnis, das die bürgerliche Klasse in ihrer heroischen Perioden,
etwa in der französischen Revolution, der Menschheit versprochen hatte, das sie
aber nicht einzulösen vermochte, und das jetzt endgültig zerfallen ist. "
(25)
Die wilden Streiks vom September 69 hatten jedoch jenes Subjekt wieder ins
Blickfeld gerückt, von dessen tätiger Kritik die revolutionäre Theorie
ausgegangen war. Angesichts der Ideologie des abstrakten Protests hatte der SDS
stets versucht, korrigierend auf die bürgerlich-immanenten Vorstellungen
einzugehen, die hinter den Forderungen einer Bürgerrechtsbewegung die zu
konstituierenden Bedingungen proletarischer Subjektivität und diese kann nur
das Werk der Arbeiterklasse selbst sein aus den Augen verloren. " (..)
die Studenten erblickten in der Arbeiterklasse den noch unklaren Inbegriff der
qualitativen Massen, die sie aus ihrer politischen Einsamkeit erlösen sollten.
Was Marx von der Willich-Schapper-Fraktion sagte, gilt gegenwärtig mutatis
mutandis: ´Wie von den Demokraten das Wort V o l k zu einem heiligen Wesen
gemacht wird, so von Euch das Wort Proletariat " (205).
Damit ähnelte der Protest dem humanitären Pathos eines neuen Vormärz. Ihm
gehörte jener Bewußtseinsstand zu, wie Krahl selbstkritisch vermerkt, " daß
allein Randgruppen, intellektuelle, privilegierte Randgruppen in Stellvertretung
für die Arbeiterklasse handeln und gewissermaßen eine Art Menschheitsrevolution,
ohne Unterschied der Klasse, initiieren könnten. Das alles hat sich sicherlich
als Ideologie herausgestellt. " (25)
Während der Protestbewegung blieben die Formen der Kooperation mit Arbeitern
zufällig bis auf wenige Gruppen, die Ar-
-10-
beiter in ihren Reihen hatten; der SDS war als Hochschulgruppe definiert,
spontane Verbindungen mit Arbeitern in Betrieben, auf Teach-ins oder während
Demonstrationen waren kurzlebig. Die Protestbewegung verebbte, als Autoritäts-
und Ausbildungsdebatten geführt und Reformen versprochen waren; die zukünftigen
Kopf- und die streikenden Handarbeiter konnten sich noch nicht vereinen. Dadurch
war allerdings für den SDS eine entscheidende Etappe gesetzt:
" Die
antiautoritäre Revolte war ein marxistischer Lernprozeß, in dem wir uns
allmählich von den Ideologien des Bürgertums gelöst (...) hatten, und in dem wir
uns endgültig klargeworden sind, daß (...) es jetzt darauf ankommt, im Kampf
(...) gegen die organisierte Macht des Kapitals (..) Bedingungen zu erarbeiten,
damit wir in organisatorischen Kontakt mit der Arbeiterklasse treten können
(..). " (25f)
Im Vollzug der Protestbewegung mußte sich der SDS als Hochschulgruppe auflösen;
hiermit war das Ende der Hochschulrevolt organisatorisch markiert. Der
materialistischen Logik der Revolt gemäß versammelten sIch die Genossen in
arbeitenden außeruniversitären Gruppen.
Der politische Lernprozeß der Revolt implizierte zugleich Konstruktion von
Kollektivität und unabdingbar hiermit Rekonstruktion von genossenschaftlicher
Individualität. Die kollektive Organisation ist der Ort, an dem Solidarität,
herrschaftsfreie Kommunikation sich entfalten können muß. Gewiß waren die
Kommunikationsformen der Revolt noch von allen Malästen des Systems gezeichnet,
an dem sie sich negativ orientierten
" denn sicherlich sind wir selbst
noch mit den Malen kapitalistischer Herrschaft geschlagen, gegen die wir kämpfen
" (27) aber unausläßlich war die Einsicht,
" dass, wenn man gegen
diese Gesellschaft kämpft, notwendig ist, die ersten Keimformen der künftigen
Gesellschaft schon in der Organisation des politischen Kampfes selbst zu
entfalten, die ersten Keimformen anderer menschlicher Beziehungen,
herrschaftsfreien menschlichen Verkehrs, selbst um den Preis einer hohen
Disziplinierung und Unterdrückung, die wir uns selbst auferlegen müssen. "
(26 f) Um Freiheit zu erkämpfen, bedarf es Mittel, die dem Ziel nicht äußerlich
sind; das Ziel muß in den Aktionsformen und Organisationsformen präsent sein,
und im
" Kampf " wiederum
" findet sich diese Masse zusammen,
konstituiert sich als Klasse für sich selbst. " (Marx, MEW 4, S. 181)
-11-
Mit dem Aufkommen der Bourgeoisie entfalten sich die Kategorien von Freiheit und
Gleichheit. Sie sind Produkte der Zirkulation von Tauschwerten. Die ökonomischen
Formbestimmungen stecken die jeweils historische Bestimmtheit ab, worin die
Individuen verkehren. Die bürgerliche Individualität war an den Solipsismus der
Ware gekettet, an die je spezifische Eigenschaft innerhalb der Austauschbarkeit
der Waren. Die Ware ist die ZeIlenform des bürgerlichen Privateigentums.
Bürgerliche Subjektivität vermittelt sich über das Privateigentum, das als
Tauschwert die sozialen Beziehungen der Bürger untereinander regelt. Das
warenhafte Privateigentum ist untrennbar verknüpft mit bürgerlicher
Individualität: die Bürger sind nur Subjekte der Zirkulation der Ebene des
bürgerlichen Verkehrs als Privateigentümer von Tauschwerten. Der Bürger tritt
somit als Ware auf. Da die sozialen Beziehungen bestimmt sind über den
Tauschwert, über die Zirkulation, so sind die proletarischen Spuren erloschen,
welche die über Ausbeutung gehende Reproduktion des Bürgers ausmachen: Arbeit in
der Form von Lohnarbeit. Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln, sowie das
individuelle Recht, sich als Ware Arbeitskraft mehrwertproduzierend ausbeuten zu
lassen. Dies waren die proletarischen Konstituentien des bürgerlichen Begriffs
der Individualität, eben der an Waren, Privateigentum und Tauschgleichheit
gebundenen, der Feudalität abgewonnenen Seite. Die inhärenten Formen der
Ausbeutung und Unterdrückung, über welche die bürgerliche Identität sich nur
denken läßt, sowie der Solipsismus der Ware, die dem Homo homini lupus der
bürgerlichen Gesellschaft unterliegt denn die Warenbesitzer müssen sich
konkurrierend gegenüberstehen diese Formen bestimmen die Negativität der
bürgerlichen warenhaften lndividualität. Die Bürger treten sich als
" freie
" Individuen gegenüber, aber nur als
" subjektivierte Tauschwerte
" (Marx); sie haben ferner kein unmittelbares Verhältnis zu den
gesellschaftlichen Produkten. Von dieser Seite ist die bürgerliche Form der
Individualität nur negativer Vorschein dessen, was die solidarisch revolutionäre
Vereinigung der Individuen herausbilden muß, um
" sich und die Dinge zu
verändern " (Marx, 18. Brumaire). Erst im immer neu einzuleitenden Versuch
herrschaftsfreier Organisation zur politischen Umwälzung vollzieht sich die
beginnende Position: Das Abstreifen der Warenhaut. Die Ware ist
" Bürger
dieser Welt " (Marx, Kapital I, S.68) wie der Bürger zur Ware wird.
Diese negative Identität über den Warensolipsismus kennzeichnet einen
emanzipativen Begriff von Individualität nur in dem Sinne, daß bürgerlich sich
Individualität
-12-
denken, wenngleich auf dem Boden bürgerlicher Verhältnisse nicht herstellen
läßt.
" Wir machen solange individuelle und vereinzelte Bildungsprozesse
mit allen Entstellungen und Narben durch, solange wir entweder Mitglieder der
herrschenden Klasse oder der unorganisierten, in sich zerrissenen Arbeiterklasse
sind, in der jeder einzelne gezwungen ist, seine Haut zu Markt zu tragen; wir
machen solange entstellte und verzerrte Bildungsprozesse durch, solange wir
vereinzelt sind und nicht organisiert (
). In dem Augenblick aber wird unser
Bildungsprozeß ein kollektiver, nicht im Sinne der Vernichtung von
Individualität, sondern überhaupt erst in der Herstellung von Individualität,
sowie er metaphysisch in Hegels ´Phänomenologie des Geistes, materialistisch in
Marxens Kapital und psychoanalytisch in den Theorien Freuds formuliert ist,
indem wir diese Gesellschaft als ein totales Ausbeutungssystem durchschauen, in
dem die produktive Lebenstätigkeit der Menschennatur verkümmert. Wir machen
Bildungsprozesse durch die überhaupt erst Individualität wieder herstellen und
das, was Individualität ist, in einem emanzipativen Sinne rekonstruieren, indem
wir uns im praktischen Kampf gegen dieses System zusammenschließen. " (28
f)
Freilich waren die Erkenntnisbedingungen derer,
" die es ihrer Herkunft
nach nicht nötig haben, zur Rebellion und zur Revolution überzugehen, gleichwohl
sich fortschrittlichen sozialrevolutionären Bewegungen anschließen " (30),
nicht der proletarischen Erfahrung des kapitalistischen Arbeitsprozesses, dem
Verwertungsprozeß der Ware Arbeitskraft, entnommen. Der Weg der Studentenrevolt
ging über die Einsicht nicht mehr vom Stand der unmittelbaren
Bedürfnisbefriedigung zu legitimierender Formen von Knechtschaft, der
repressiven Einschränkung schöpferischer Erweiterungen der menschlichen
Bedürfnisse nach Freiheit.
" Das ist das Moment sozialer Unterdrückung, das
wir als diejenigen, die privilegiert sind, zu studieren, auch einsehen konnten
(. .) " (30) Die sozialistischen Studenten waren keine kritischen
Theoretiker, die angesichts der selbstdestruktiven Bewegungen des Kapitalismus
sich zum reinen bürgerlichen Ideenhimmel zurückwenden, den Schmerz
ontologisieren und die Sehnsucht nach vorwärts romantisch zurückhalten, weil das
nicht werden kann, was bürgerlich nicht sein darf; weil das nicht zu erreichen
sei, wogegen das Ganze sich sperre.
" Es ist nicht das bloße Trauern um den
Tod des bürgerlichen Individuums, sondern es ist die intellektuell vermittelte
Erfahrung
-13-
dessen, was Ausbeutung in dieser Gesellschaft heißt, nämlich die restlose und
radikale Vernichtung der Bedürfnisentwicklung in der Dimension des menschlichen
Bewußtseins. " (30) Studentische Politik und Erkenntnisprozeß mußten an
ihre Schranke stoßen: Individualität und Freiheit sind weder bürgerlich
herzustellen noch utopisch auszusinnen.
Die Konsequenz des derart fortschreitenden Erkenntnisprozesses kann nur sein die
Praxis der konkreten Utopie: in der Herstellung des revolutionären Kampfes.
3. Arbeitshypothese III.
Dem revolutionsgeschichtlich aufgezwungenen Substitutionalismus entsprachen
dezisionistische Denkformen, die wie ehemals die Heideggerschen, die noch in
die junge kritische Theorie eingegangen waren (bei Marcuse) sich in der
umstandslosen Wiedergabe von Aussprüchen Horkheimers, aus der
" Dämmerung
" des Heinrich Regius, spiegeln. Im Dezisionismus Horkheimers
"
Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren
Entschlossenheit, ihn wahr zu machen " sitzt ebenso noch die
moraltheologische Bourgeoisie, wie ein austromarxistisches Moment in der
ausweglosen studentischen Revolt, die jenen Satz sich zum Motto macht (cf 207).
Daß die Theorie sich nicht hat materialisieren können, obwohl für die Bewegung
die
" ökonomiekritischen Prognosen des Historischen Materialismus über den
naturgesetzlichen Geschichtsverlauf der kapitalistischen Weltordnung "
sich bestätigt haben (207), verleiht der alten Frankfurter
" Kritik "
Raum; man glaubt sie immer noch beim Wort nehmen zu können: Daß bürgerliche
Kritik am proletarischen Kampf eine logische Unmöglichkeit sei, das Wort des
jungen Horkheimer, sollte an den Wänden des Instituts für Sozialforschung in
Frankfurt beschwören, daß die kritische Theorie sich noch zu sich bekenne. Sie
war freilich selber nur eine erkenntnismäßig-logische Ableitung gewesen und
hatte sich aus der spätbürgerlichen Kritik nicht befreien wollen. Der Rekurs auf
die bürgerlich-radikalen Jugendsünden der kritischen Theorie mag die
unabdingbare Konsequenz einer ehemals dem Proletariat zugeneigten Theorie dieser
vorhalten, die, verbleibt sie in bürgerlicher Immanenz, sich schließlich in der
Welt als Vorstellung und dem Glauben an das
" ganz Andere "
zurechtfindet; er markiert zugleich die
" strategische Ungewißheit in Be-
-14-
zug auf die geschichtliche Aktualisierung des revolutionären Klassenkampfes im
Spätkapitalismus " (204), trotz der theoretischen Prämisse der Revolt:
" Die historischen Bedingungen für die wirtschaftliche Zusammenbruchskrise
des Kapitels sind erfüllt. " (207)
Die Kritik der politischen Ökonomie hatte das Kapitalverhältnis bis zu seiner
höchsten Spitze hin analysiert, der kapitalistischen Vergesellschaftung des
Privateigentums an Produktionsmitteln durch Aktiengesellschaften und der
Übernahme der Leitung der Produktion der " produktiven Maschine "
(Marx) durch den Staat. Indessen hat die Kritik der politischen Ökonomie jenen
Zustand nicht revolutionstheoretisch bis auf Ansätze bei Engels erfaßt, der
von Neumann, Horkheimer und Marcuse mit der ökonomischen Potenzierung der
Politik, dem Phänomen des autoritären Staates bezeichnet worden war. In dieser
theoretischen Tradition bedenkt auch Krahl, " durchaus fraglich ist, ob
revolutionäre Theorie noch als Kritik der politischen Ökonomie möglich ist
". Dies hieße, daß der " Typus revolutionärer Theorie (..) für die
durch die geschichtliche Erscheinungsform des autoritären Staats, den
zunehmenden ökonomischen Primat des Politischen nur ungenügend bestimmte
Endphase des Kapitalismus noch aus (-steht) " (213) Eine derart
verstandene Fortentwicklung des historischen Materialismus will mithin der
Forderung von Korsch und Lukács nachkommen, daß die Theorie auf sich stets
selber angewandt werden muß, soll sie Revolutionstheorie bleiben. Zugleich
erfordert die Restitution revolutionärer Theorie die Insistenz auf die von
Lukács und Korsch " zu Tage geförderte subjektive emanzipatorische
Dimension der revolutionären Theorie des Proletariats " (214), welche
durch den sozialistischen Aufbau in einem Lande episodisch geblieben war. Der
Begriff des autoritären Staates hatte nicht nur die faschistische
Erscheinungsform desselben im Auge, sondern die Möglichkeit der kapitalistischen
Veränderung des Staates zum Staatskapitalismus.
Die Aufarbeitung von Horkheimers Schriften hatte zwiespältige Gründe. Horkheimer
hatte zwar am Endpunkt wie er meinte der Kritik der politischen Ökonomie
angesetzt; er strapaziert aber zugleich die bürgerlich-intellektuelle Seite der
Revolution. Was für Intellektuelle stets mag gelten können wenn auch
revolutionspraktisch ohne Wirksamkeit gilt noch nicht für die proletarische
Klasse; Horkheimers Satz,
" Für Revolutio-
-15-
näre ist die Welt schon immer reif gewesen " (dt. bei Krahl 220), nimmt
die solidarische Vereinigung der Kämpfenden zurück aufs bürgerliche Subjekt. Für
die Revolt, die ebenso von diesem Endpunkt der Theorie meinte ausgehen zu
können, hatte dieser Satz gleichsam anthropologisches Gewicht angesichts der an
sich bleibenden Klasse. Theoriegeschichtlich heißt dies, daß das Horkheimers
Denken zugrunde liegende individuelle bürgerliche Subjekt auf neuer Ebene
nachgeholt wird: in der Diskussion des Verhältnisses von Anarchismus und
Marxismus, die Rudi Dutschke initiiert hatte. Dieses Verhältnis schien sich
verändert zu haben.
" Die seinerzeit praktisch richtige und theoretisch
wahre Polemik Marxens gegen den idealistisch abstrahierenden Voluntarismus der
Bakunisten scheint vom kapitalistischen Geschichtsverlauf selbst außer Kraft
gesetzt, (...) das an seinen naturgeschichtlichen Endpunkt regulativ fixierte
Kapital scheint das Verhältnis von Marxismus und Anarchismus auf dem Boden des
Historischen Materialismus selber zu ändern. " (220)
Gewiß war es an der Zeit, daß die Diskussion der Geschichte der Theorie der
Revolution belastende Verhältnis von Anarchismus und Marxismus hinsichtlich
versäumter Fragestellungen zu besehen; Marcuse versuchte hier eine Bresche zu
schlagen. Zugleich indizierte der Rekurs auf den theoretischen Anarchismus der
Zeit der Entstehung des historischen Materialismus, daß eine
praktisch-theoretische Dimension Substitut der fehlenden Praxis wurde, der des
mit den Studenten aktionsmäßig vereinten Proletariats. Die Theorie des
Anarchismus substitutionalisierte die von der Kritik der politischen Ökonomie
nicht eingelöste Praxis. Die versuchte Resurrektion des Anarchismus war das
Eingeständnis studentisch-kleinbürgerlicher Isolation; zugleich allerdings die
historisch einzulösende Verpflichtung, der Theorie der Revolution gerade der
Marxschen verlorengegangene Dimensionen von Subjektivität gegen die erstarrte
Orthodoxie dem historischen Materialismus als Revolutionstheorie zu vindizieren.
Die Revolt trieb aber durch diese theoriegeschichtlichen Fragen ihre eigene
theoretische bürgerliche Vergangenheit an ihren Endpunkt: die spätbürgerlichen
radikalen Fragen der kritischen Theorie der Frankfurtdr Schule erwiesen in
konsequentem Erbe sich als erräsonnierte Kulturkritik. Sie beim Wort zu nehmen,
konnte nur heißen, die Resurrektion der Marxschen Theorie als Revolutionstheorie
zu besorgen. Horkheimer hatte zu
-16-
bedenken gegeben:
" Jede Resignation ist schon der Rückfall in die
Vorgeschichte " (cit 221). Die Revolt bemühte sich aus der resignativen
Theorie der Frankfurter Schule herauszukommen. Um die Vorgeschichte theoretisch
zu bearbeiten und praktisch umzuwälzen, ist ein befreiter Wille nicht schon
vorhanden; er wird sich erst durch begrifflich-praktische Arbeit kollektiv
konstituieren. Die kritische Theorie hatte mithin ihren Nekrolog eingeholt, als
es sie nicht mehr gab.
Eine Ausnahme bildete Marcuse, der " eindeutig für die Revolution votiert,
wobei zweideutig bei ihm ist, ob er überhaupt ein revolutionäres Subjekt für
möglich hält " (231). Bei Habermas, dessen " Chronik eines
Denkverfalls " Krahl glänzend belegt (231, passim), und Adorno setzt sich
schließlich das Ende der Frankfurter Schule praktisch und polizeilich um: "
unter dem Druck der Frankfurter Verhältnisse, die die Revolution in das eigene
Haus getragen haben " (231) Der Gang der Selbsterkenntnis von der
kritischen Theorie zur revolutionären Theorie läßt indessen ohne allen Zweifel,
daß die Bewegung wesentliche Kategorien dem Denken Adornos und Horkheimers
verdankt: die kritische Theorie hat " Emanzipationsbegriffe an die Hand
geliefert "; " die Trauer um den Tod des bürgerlichen Individuums und
um den Verlust der herrschaftsfreien Kommunikationsideologie des gerechten
Warentauschs durch die monopolistische Entpersonalisierung des Marktes, das sind
(...) Motivationen, die nach Abschluß der Restaurationsperiode in der
Bundesrepublik den antiautoritären Protest motiviert haben. " (235)
Anfängliche Kategorien der Kritik hatte die studentische Protestbewegung aus der
Tradition der kritischen Theorie der Frankfurter Schule gewonnen; diese hatte
die
" trauernde Erinnerung an die emanzipativen Gehalte des revolutionären
Bürgertums und gerechten Tauschverkehrs " (343) formuliert, wie Krahl
sie als Bildungsgut der Bewegung bezeichnet; so Horkheimer, zwar als
"
revolutionärer Moralist der proletarischen Revolution ", wenngleich immer
als
" kritischer Theoretiker einer vergangenen bürgerlichen Sittlichkeit
" (241). Adorno vermittelte herrschaftsentschleiernde Kategorien gleichsam
aus der resignativ-bürgerlichen Sicht der sistierten und mithin unmöglichen
Revolution. Die kritische Theorie ontologisierte den russisch
nachrevolutionären Zustand vor der ausstehenden Revolution. Indessen
reflektierte gerade Adorno Phänomene einer Kulturindustrie als
Herrschaftsinstanz, die der monopolkapitalistischen Manipulationsebene
-17-
" wo noch handfest gehungert wird, kann das Instrumentarium der
Manipulation noch ungeschliffen und brutal sein. Zur Betäubung der Massen
reichen die traditionellen, ohnehin schon vom Leistungszwang der Mehrarbeit
bestimmten Formen der Religion aus, der Schnaps tut sein übriges " (345)
entsprochen. Freilich ist die
" Verkümmerung der materialistischen
Geschichtsauffassung " (287) in der kritischen Theorie unübersehbar;
Krahls Würdigung Adornos noch dessen Tode, er
" überlieferte das
Emanzipationsbewußtsein des westlichen Marxismus der zwanziger und dreißiger
Jahre " (287), akzentuiert eher den Beginn der Bewegung vermöge der
kritischen Kategorien Adornos als dessen Tradierung der marxistischen
Diskussion. Konstitutiv für die intellektuelle Biographie Krahls bleibt
allerdings die
" Ebene eines philosophiekritisch reflektierten Marxismus
" (207), welcher der Frankfurter Schule ebenso sich verpflichtet weiß, wie
die
" politische Sensibilität " (303), welche die Revolt als
emanzipative Bewegung auszeichnete. Jenem resignativ-spätbürgerlichen Zug, sowie
der Unmöglichkeit, kulturkritische Einsichten klassenkämpferisch umzusetzen,
galt die Kritik der Kritik.
4. Arbeitshypothese IV.
Nicht zufällig ist, daß die Revolt marxistische Probleme diskutierte, die eine
ähnliche Anstrengung darstellten, gegen die Verkümmerungen des Marxismus zu
Felde zu ziehen, wie seinerzeit die Versuche von Lukács und Korsch.
Resurrektionsversuche des westlichen Marxismus implizieren eine Kritik von zwei
Seiten, einmal am Revisionismus, zum andern an der Orthodoxie.
" Die
historischen Bedingungen für Orthodoxie und Revisionismus, dogmatische
Erstarrung und systemintegrativen Widerruf der vormals kritischen Theorie
Marxens zur positiven Weltanschauung finden sich auch in den scheinbar
praxisentferntesten und abstrakten Verästelungen philosophischer Kontroversen
wieder. " (143) Namentlich Karl Korsch hatte darauf insistiert, daß die
Philosophie ein Bestandteil der revolutionären Theorie sei, solange ihre
kritischen und emanzipatorischen lmplikate noch nicht revolutionär abgegolten
sind. Für Marx war es klar, daß bürgerliches Denken sich Einsicht in seine
Konstitutionsbedingungen nicht verschaffen kann; es scheitert an der
Transzendentalität der bürgerlichen Gesellschaft, deren blinder Objektivismus
dem
-18-
bürgerlichen Denken aufgelastet ist und mithin Kritik über negatorische
Kategorien nicht gewährt. Orthodoxie und Revisionismus bleiben dem bürgerlichen
Denken noch insoweit verhaftet, als die Philosophie nur als bürgerliches
Spintisieren begriffen wird; zurecht verschärft Krahls Fragestellung Korschs
lnsistenz auf der Notwendigkeit philosophischer Reflexion, solange deren
Geltungsbedingungen noch bestehen also die Bourgeoisie noch die Macht in den
Händen hat denn Philosophie hat bei Korsch immer noch den Status korrektiven
Denkens; es bemißt materialistisch-erkenntnistheoretische Fragen gleichsam
moralisch und nimmt sie somit in den Marxismus auf, statt diesen
revolutionstheoretisch als selbstbewußten Erben von Erkenntnistheorie und
Erkenntniskritik in praxi zu sehen. Korschs Diskussion ist selbst noch immanent,
was Krahl im Anschluß an ihn der bürgerlichen Philosophie ankreidet: Ihr
notwendiger Klassenstandpunkt verhindert die Einsicht in ihre eigene
Objektivität; der
" historische Zusammenhang von Erkenntnis und
Gesellschaft, ideengeschichtlichen Philosophieprozeß und Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft " ist nicht einsichtig:
" Dies ist vor
allem der Grund für die Fehlinterpretation des deutschen Idealismus (Kant bis
Hegel) als rein ideengeschichtlichen Prozeß, den doch Hegel selbst und seine
philosophischen Zeitgenossen als vernünftigen Ausdruck ihrer geschichtlichen
Epoche der revolutionären Bewegung begriffen haben. " (l44)
Krahls
" philosophiekritisch reflektierter Marxismus " konnte sich
vorab an der Erkenntniskritik Horkheimers und Adornos orientieren, deren
"
Ideologienkritik am transzendentalen Subjekt (
) dies als den abstrakten
Gesamtarbeiter (entschleierte), die metaphysische Travestie des kapitalistischen
Produktionssubjekts " (399). Ökonomiekritische Ableitungen philosophischer
Theoreme spielen sonst den Interpretationen vorwiegend Adornos beiher; in
der
" Dialektik der Aufklärung " begreifen die Autoren selbst die
monopolistische Gesellschaft unter dem Aspekt des Tausches. Krahl hat nun im
Anschluß an Lenin, Lukács und Korsch Sentenzen einer geschichtsmaterialistischen
Lektüre des Idealismus formuliert, diese nicht als bildungsbürgerliches Erbteil,
sondern als unabdingbaren Bestand jener höchsten Begriffe der Bourgeoisie,
anhand deren Marx die Kritik der politischen Ökonomie die ihre Methode der
Hegelschen Dialektik verdankt entwickeln konnte.
" Das Studium der
Hegelschen Logik ist genau genommen
-19-
logische, nicht chronologische Voraussetzung der Marxschen Kritik der
politischen Ökonomie. " (373)
Marx band seine " Kritik " an die bürgerlich vorgegebenen Kategorien
der politischen Ökonomie. Er verstand deren begriffliches Handwerkszeug nicht
als positivistisch auswechselbare Nomenklaturen, sondern " als
daseiende Kategorien ", " Existenzbestimmungen ". Er schreibt
ihnen einen Realitätsgehalt zu, der die ökonomisch verfaßte Welt des
Warenmarktes begrifflich darstellte. Marx knüpfte an den Kategorien der
politischen Ökonomie an, da die bürgerliche Gesellschaft als daseiender
Materialismus verdinglichter Produktionsverhältnisse Menschen und Dinge waren
zu Waren geworden vorab von der sie konstituierenden Produktionsweise und
deren Theorie in den Köpfen ihrer Apologeten anzupacken war. Dies hieß nicht,
daß den sonstigen Begriffen und dem sonstigen Selbstverständnis der Bourgeoisie
auf der Ebene ihres höchsten Begriffs ein bornierterer Status zukäme; gerade das
Hegelsche System faßt wie kein anderes die Totalität der Bourgeoisie als
dynamische Entität in sich. Diesen Totalitätsanspruch verknüpft Marx mit den die
Produktionsweise spezifisch reflektierenden Kategorien, da das gesellschaftliche
Sein als vorrangig von seiner ökonomischen Reproduktion bestimmtes das
Bewußtsein bestimmt, jenem mithin der Primat zukommt; dieser macht den
historischen Materialismus wesentlich zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft:
die gesellschaftliche Produktion, gebunden an Lohnarbeit und Mehrwert, bestimmt
das Bewußtsein und noch nicht umgekehrt. Die Kritik der politischen Ökonomie
korrespondiert mithin dem daseienden Ökonomismus der kapitalistischen
Gesellschaftsformation. Dem philosophischen Denken kam noch zu, gleichsam
metaökonomisch die Welt zu begreifen und sich ihre Totalität anzueignen. Die
bürgerliche Welt bespiegelt sich philosophisch ebenso in daseienden Begriffen,
wie die theoretischen Explikationen der politischen Ökonomen. Freilich konnten
bürgerliche Begriffe die Welt nur in ihrer bourgeoisen Verfassung wiedergeben;
sie widerspiegelten also die Naturwüchsigkeit der anarchischen Produktionsweise
dieser Epoche, die ihre Reproduktion noch nicht selbstbewußt zu regeln verstehen
kann, vielmehr selber durch die von ihr produzierten Waren und Kapitalformen
beherrscht wird.
Die Kategorien der klassischen Philosophie belegen dies.
" Im Verhältnis
von Transzendentalität und Totalität liegt das Ge-
-20-
heimnis der kapitalistischen Naturwüchsigkeit " (74), denn die
"
Wahrheit des absoluten Begriffs ist das Kapital "(79).
" Das
transzendentale Subjekt erweist sich in materialistischer Kritik als der in toto
anarchische Produktionsprozeß der Gesamtgesellschaft " (57). Während Kant
"auf dem Standpunkt des bürgerlichen Tauschverkehrs und Rechtsverkehrs
steht " (401), so Hegel
" auf dem Standpunkt der Logik des Kapitals
" (376). Die Hegelsche Logik repräsentiert als dialektische den Gang
der Selbstbewegung des Kapitals, sie spiegelt die Abstraktheit des realen
Prozesses wider, die, wie die sich dialektisch weitertreibenden Kategorien
Hegels, als wertsetzender Wert die konkreten Dimensionen der Alltagspraxis sich
subsumiert, zumal jene Klasse als negatorisches Moment, die durch ihre daseiende
Negation in der Lohnarbeit die mehrwertstrukturierte Geschichte als die von
Abstraktionen, Waren, Tauschwerten, Lohn und arbeitszeitzerspleißter
Lebenserfahrung produziert. Das Kapital ist
" die daseiende Phänomenologie
des Geistes, es ist die reale Metaphysik " (375), welche die Philosophie
als reine Wesenheiten beschrieb.
Bei Kant ging die Ebene des bürgerlichen Tauschs zwingend in die formale Logik
ein, die nach Hegels Kritik inhaltslos bliebe. Krahl bemerkt zu Kantens Satz,
" denn die Logik abstrahiert von allem Inhalte ":
" Eben solch
eine logische Prädikation vollzieht sich als gesellschaftliche Abstraktion im
deshalb bloß scheinbaren Verselbstständigungsprozeß des Kapitals. Auskunft
darüber gibt das Verhältnis von formaler Logik und Tauschverkehr. (
) Als
tertium comparationis des Tauschverkehrs fungiert der gesellschaftliche Wert,
der als umfangslogischer Begriff, (...) die Klasse aller möglichen
Naturalformen, insofern sie nichts als Produkte gleichartiger menschlicher
Arbeit sind, unter sich befaßt. Der Tauschverkehr vollzieht eine quantitative
Identifikation der qualitativ nicht identischen Gebrauchswerte. " (70) Das
Hegelsche Denken gibt eine fortgeschrittenere Stufe der bürgerlichen
Gesellschaft wieder; Krahl interpretiert ihn als
"metaphysischen Denker des
Kapitals. " Seine
" Philosophie ist die idealistische und
metaphysisch verkleidete Form der Produktion " (376).
In den Pariser Manuskripten hatte Marx die ersten Hinweise einer
ökonomiekritischen Interpretation der Hegelschen Philosophie gegeben; die
Zentralkategorie der
" Phänomenologie des Geistes ", die Arbeit als
dialektisches Prinzip, reflektiert Marx im Kon-
-21-
text von Smith und Ricardo. Von den Begründern des wissenschaftlichen
Sozialismus konnte jedoch eine geschichtsmaterialistische Analyse der
philosophischen Begriffe nur am Rande verfolgt werden im Sinne der notwendigen
Kritik an der Bourgeoisie mußte die Kritik des falschen Bewußtseins voranstehen;
deren materialistisches Recht kam dabei zu kurz. Wie Krahl andeutet, läßt sich
Hegel als Philosoph jener Etappe der Entfaltung des Kapitalismus
geschichtsmaterialistisch rezipieren, in welcher der Konkurrenzkapitalismus
abgelöst wird vom gesellschaftlich vorherrschend werdenden relativen Mehrwert,
der Epoche der großen Industrie. Geht man systematisch vor, so repräsentiert
Schellings
" Prinzip der Produktion " wenngleich naturalistischer
dieses entwickelte Prinzip der kapitalistischen Geschichte. Hegel vereinigt
bereits Tausch und Produktion als Onto-Logik der bourgeoisen Verhältnisse,
Kategorie und Negativität, Wert und Arbeit. Eine materialistische Aufarbeitung
der theoretischen Prämissen Marxens steht freilich noch aus, sieht man von den
seitherigen Versuchen, im Stile Mehrings, Plechanows etc, ob, die eher im Sinne
der Aufklärung ans Werk gingen, jedoch nicht sich zu den gesellschaftlich
konstituierten Kategorien der Philosophie verhalten konnten wie Marx zu Hegel.
Krahl hat trotz der agitatorischen Praxis diese Seite der Aufarbeitung der
materialistischen Theorie nicht vernachlässigt, die nach der politischen
Rezeption der Hegelschen Schriften durch Lenin, nach Lukács und Korsch nur
noch Marcuse und Bloch repräsentieren. Diese stehen indessen einer
ideologiekritischen Beschäftigung mit dem Stoff näher als einer
ökonomiekritischen. Die Kritik der politischen Ökonomie beim Wort genommen heißt
auch, die Geschichte der Bourgeoisie insgesamt der Kritik auszusetzen, wie Marx
die politische Ökonomie darstellte und hierdurch kritisierte. Der historische
Materialismus ist die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und nicht nur
wenngleich diese Primat einnehmen muß ihrer ökonomischen Theorien, zumal diese
mittlerweile zu technizistischen Sozialdaten herabsanken, ohne den ehemaligen
Anspruch in sich aufzunehmen, begreifen zu wollen, was die Welt als sich
anarchisch reproduzierende in sich zusammenhält.
Krahl argumentiert zumeist in einer Wende der Marxschen Hegel-Kritik; er trägt
Hegelsche Kategorien an Marx heran:
" Die materialistische Darstellung der
Warenform des Produkts erweist das Verhältnis des Wertes zu seinem Tauschwert
als das von Wesen
-22-
und Erscheinung. " (44) Der geschichtsmaterialistische Ausgangspunkt setzt
umgekehrt an; die materialistische Darstellung über Wert und Wertform, erklärt
das Hegelsche Verhältnis von Wesen und Erscheinung. Krahl läßt die große
Philosophie eingehen in die revolutionäre Theorie und verfolgt damit indirekt
die lntention, die Marx bis zur selbstbewußten Theorie als
" Kritik "
vollzog, von der Erkenntnistheorie (Kant) über die Erkenntniskritik (Hegel) zur
Revolutionstheorie, zur Theorie umwälzender Praxis; er geht gleichwohl noch
ideologiekritisch-komparativ vor, begreift Marx in der Nachfolge von Kant und
Hegel statt diese als Vorfahren von Marx
" Damit steht das Fetischismus-
und Verdinglichungsproblem in der Nachfolge der kantischen Vernunftkritik (...)
" (49) d.h. die daseienden Begriffe der höchsten bürgerlichen
Philosophie werden nicht immer aus der Anatomie der weitest entwickelten
Reflexion der bürgerlichen Gesellschaftsformation, also der politischen Ökonomie
als Theorie mit dem Anspruch erkenntnismäßiger Totalität der sozialen
Reproduktionsprozesse, abgeleitet. Der Satz:
" In der Lehre von den
Naturgesetzen der kapitalistischen Entwicklung erhellt sich (
) die konstitutive
Rolle der großen Philosophie für die revolutionäre Theorie " (87),
verschiebt den Akzent; vermöge der konstitutiven Rolle von Ware und Kapital für
die Philosophie und deren Selbsterkenntnis in der revolutionären Theorie läßt
sich erst der Übergang von der Philosophie zur Ökonomie, das heißt zur Kritik
derselben als Revolutionstheorie begreifen. Daß Marxens Theorie zu erhellen ist
im Rekurs auf Hegel, war allen Marxisten klar; nur wurde die Analyse noch nicht
darauf gerichtet, warum dies so ist. Die materialistische Erkenntniskritik hat
Erkenntnistheorie- und -kritik noch nicht geschichtsmaterialistisch abgeleitet.
Im Kontext der begriffslogischen Interpretation der kritischen Theorie versteht
Krahl die Kategorie der Dialektik: er begreift sie als
" Reflexionsstruktur
ihres Gegenstandes " (141) und nicht auch als reale, als daseiende, wie
sie bei Hegel ontisch vorliegt, wenn auch bürgerlich, also übergleichzeitig.
Hinter diesem Dasein der Dialektik liegt jener reale Grund, daß das Kapital als
progredierendes Subjekt von einer realen Bewegung konstituiert wird, welche als
die daseiende Dialektik von Lohnarbeit und Kapital die Gesellschaft klassenmäßig
zweiteilt. Die Dialektik ist folglich Reflexionsstruktur des Gegenstandes also
wie auch Krahl betont
" keine bloße Methode " (141) aber diesem
selbst struktiv ein-
-23-
geschrieben. Gewiß hat Krahl somit Recht, wenn er im Anschluß an die Kategorie
des Werts bemängelt, Marx habe auf Grund seiner Idealismuskritik Begriffe wie
Wert ungenügend abgeleitet (cf. 372); denn der Idealismus selbst ist gleichsam
eine bürgerliche Existenzbestimmung auf dem Stande der bürgerlichen Ökonomie wie
Marx Hegel bescheinigt. Folgende Einsicht von Krahl müßte also ökonomiekritisch
weitergetrieben werden:
" Marx müßte nachweisen, wie diese Abstraktionen
reale Organisationsmodi der kapitalistischen Gesellschaftsformation sind.
Abstraktionen sind nun aber nach der herkömmlichen Überlieferung Begriffe. Wenn
ich die Begriffe einseitig dem Überbau zuschlage, ist dies aber nicht
nachzuweisen. " (372).
Bei weiterführender Kritik geht es nicht darum, Marx durch Hegel philosophisch
zu logifizieren, sondern die objektiv-bourgeoise Wahrheit Hegels mit Marx
darzulegen und hierdurch die Notwendigkeit des Übergangs von der
Erkenntniskritik zur Revolutionstheorie, zur Theorie also, die das
Selbstbewußtsein des Proletariats, der Ware Arbeitskraft als Klasse, unter dem
Aspekt ihrer eigenen notwendigen Negation darstellt. Die " immanente
Zerrissenheit des Selbstbewußtseins " bei Hegel muß mithin aus der "
antagonistisch konfligierenden Objektivität " (50) erklärt werden; so wie
Krahl programmatisch einfügt: " Wenn Kant anmerkt, es könne zum logischen
Prädikate (
) alles dienen, was man will, sogar das Subjekt kann von sich selbst
prädiziert werden; denn die Logik abstrahiert von allem Inhalte so vollzieht
sich diese formallogische Abstraktion gesellschaftlich real in der Differenz des
Wertes gegen die qualitative Bestimmung der Gebrauchswerte. " (53)
Kämpferische Parteilichkeit, d.h. der Standpunkt des Proletariats, weist den
historischen Materialismus als praktische Theorie der Revolution aus; als
Theorie weltverändernder Praxis, damit umwälzender Weltveränderung. In der Tat
ist der historische Materialismus
" die erste selbstbewußte Doktrin in der
Geschichte des menschlichen Denkens " (214), eine Theorie also, deren
eingreifende Praxis das zu sich gekommene Selbstbewußtsein bislang verborgener
geschichtemachender Arbeit darstellt. Die Revolution ist die theoretische Praxis
der selbstbewußt die Geschichte einsehenden und anpackenden verproletarisierten
Menschen; sie löst ein, was Engels dem historischen Materialismus zuschrieb,
Erbe des deutschen Idealismus zu sein: Die Ein-
-24-
sicht in die Notwendigkeit der proletarischen Revolution zur Abschaffung von
Klassenverhältnissen und des verkümmerten Verkehrs der Menschen untereinander
löst als eingreifendes Selbstbewußtsein gesamtgesellschaftlicher Totalität die
idealistisch-selbstbewußte Welt (Hegel) der Bourgeoisie ab. Die marxistische
" Waffe der Kritik " nicht nur kritische Reflexionsebene
erheischt somit die proletarische
" Kritik der Waffen ". Als noch
nicht revolutionär sich umsetzende
" ist Kritik das theoretische Leben der
Revolution " (286)
5. Arbeitshypothese V.
Konnte Marx noch angesichts sich entfaltender Emanzipationskämpfe des
Proletariats die Logik des Kapitalismus in dessen ökonomischen Bewegungsgesetzen
darstellen ohne die emanzipatorischen Kämpfe mit diesen immer zu vermitteln ,
so unterlag diesem zu denunzierenden Objektivismus die stillschweigende
Voraussetzung, daß die Blindheit der lohnarbeitenden Individuen, welche diese an
Warenproduktion gekettete Wirklichkeit hervorbringen, sich über
klassenkämpferische Vorgefechte um adäquaten Lohn und die Einsicht in dessen
Unmöglichkeit verflüchtige; daß sie zum Einblick in den Gesamtprozeß von
kapitalistischer Produktion gelangen und sich als Subjekt des Prozesses
begreifen. Diese sich vor den Augen abspielende Bedingung des Marxschen Werkes,
die für sich werdende Klasse, hinterließ freilich in der Darstellung der
Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft die bedenkenswerten Spuren, daß Marx es
nicht für nötig erachtete, die Konstitutionsbedingungen von revolutionärem
Bewußtsein, den Willen der Menschen, die sich entmenschlichenden Verhältnisse
revolutionär umzuwälzen, neben der Darstellung des kapitalistischen Systems noch
gesondert hervorzuheben.
Von der Zeit der Entfaltung der marxistischen Revolutionstheorie über Lenin bis
zum Angriff auf den Kapitalismus von seinen Randbezirken hatte sich dessen
Erscheinungsweise so geändert, daß der Klassenkampf sich in veränderter Form
vorzubereiten hatte. Während bei Marx und Engels die Klassenkämpfe die Welt zum
Gedanken hin fortzutreiben schienen, mußte Lenin im unterentwickelten,
gleichwohl dem monopolisierenden Kapitalismus ausgesetzten Rußland den Gedanken
erst zum Vollzug vermitteln.
" Die landläufige Annahme, Lenin habe das
histori-
-25-
sche Subjekt revolutionärer Veränderung, das Proletariat, umstandslos zum Objekt
herabgesetzt, ist unzureichend. " " Lenins Formel, es könne das
politische Bewußtsein nur von außen in die Arbeiterklasse getragen werden,
bezeichnet die Einsicht, daß es sich nur aus der Erfahrung des Bezuges von
ökonomischen und außerökonomischen Gewaltverhältnissen bildet. " (156)
Lenin hatte und dies ist ein wichtiger Gedankengang Krahls an der Kritik, die
den
" bürgerlichen " Lenin in der Organisationsdebatte gegen die
holländischen Marxisten wie Pannekoek und Gorter ausspielt einen Begriff von
Agitation entwickeln müssen, der den russischen Verhältnissen angemessen war,
der indessen stets mehr sein mußte als bloße Aufklärung über die
"
Enthüllungen ", wie sie in
" Was tun " als Taktik vorgelegt
sind.
" Zu seinem Begriff der Agitation gehört, daß die Massen aus eigener
Erfahrung autonom nachvollziehen, was die Avantgardestrategen ihnen vermitteln:
die konkrete Erfahrung abstrakter Herrschaft. " (155) Agitation heißt also
für Lenin, die Selbstbefreiung des russischen Proletariats zu forcieren;
"
die blinde Spontaneität der Bewegung aufzuklären und zur mündigen Autonomie des
sich selbst befreienden Proletariats zu vermitteln " (155). Unter modernen
Bedingungen des Kampfes ist die Leninsche Enthüllungsstrategie und damit ein
konstitutiver Begriff der Avantgarde anachronistisch. Eine
"
personalisierende Entlarvung abstrakter Herrschaft " hinkt der
Erscheinungsform des Kapitals hinterher.
" Hinter den Charaktermasken sind
die maskierten Gesichter verschwunden, hinter den Funktionären die Personen.
" (156) Die Anonymisierung von Herrschaft erheischt, daß
" (wir)
heute (...) auf die Konstitution von Bewußtseinsgruppen zur zurückverwiesen
(sind), die einmal avantgardestrategische Funktion übernehmen können "
(155). Dies freilich soll keinem lntellektualismus das Wort reden; studentische
Erkenntnisträger der Revolution waren nur als vorübergehende Agitatoren
ausersehen,
" die Theorie zur materiellen Gewalt zu vermitteln "
(155).
" Mit der fortgeschrittenen Integration der Massen, zumal der
Arbeiterklasse, durch Potenzierung abstrakter Herrschaft im System
expandierender abstrakter Arbeit hat auch der Abstraktionsgrad der
Propaganda und Agitation zugenommen. Für solche Abstraktionen sind gegenwärtig
Studenten und Schüler aufgeschlossener, da sie eher fähig zu Lern- und
Bildungsprozessen, zu Reflexion und Erfahrung, also zur Kritik sind. Der
Agitationsmodus konkretisiert sich gleichsam natur-
-26-
wüchsig in dem Maße, da Unterdrückung noch als physischer Zwang erlebt wird
(Black Power). " (156)
Allerdings mußte mit diesem Ansatz, der monopolkapitalistischen Bedingungen
parieren wollte, der Status der studentischen Aktionen einen Avantgardecharakter
erhalten, der sich nicht immer mit dem füllte, was Krahl und andere Theoretiker
des SDS mit Agitation meinten: die Vermittlung erkenntnishaft auf Grund
privilegierter Ausbildung erarbeiteter Einsichten " zur mündigen
Autonomie des sich selbst befreienden Proletariats ". Krahls
Lenin-Rezeption zeigt indessen, daß es der Theorie um Aufklärungs- und
Agitationsarbeit unter gewandelten Bedingungen ging; nicht wurde Lenin blind
übernommen, er wurde innerhalb der Revolutionsgeschichte reflektiert, die heute
anderer Kriterien und Kämpfe bedarf. Der Anonymität der Verhältnisse konterten
die Agitatoren, indem sie sich nicht blindlings zur Avantgarde als
Jugendbewegung aufspreizten. So betont Krahl gegenüber der Position Lenins
spontaneitätstheoretische Ansätze bei Marx. " Die erzieherische Funktion
der gesellschaftlichen Verhältnisse im revolutionären Kampf ist ein
entscheidendes Element bei Marx; die objektiven Verhältnisse in revolutionären
Kampfsituationen machen die Unterdrückten erst zur Selbstbefreiung frei (...) im
Gegensatz dazu Lenin. Die Ausbildung des Klassenbewußtseins durch die Erfahrung
von Unterdrückung und Kampf. " (158)
Gelegentlich Lukács präzisiert Krahl den Klassenbegriff, wie er Lenin zugrunde
liegt, als selber bürgerliche Abstraktionsform. Im Leninschen Organisationstyp
der Partei als
" intelligibler Gesamtpersönlichkeit " soll die
"
transzendentale Identität von Subjekt und Objekt " gesetzt sein; sie
vermittelt sich freilich nur über die Kommandowarte der politischen Führung. Die
" transzendentale kommunistische volonté générale " ist mithin eine
idealistische Fiktion. Die Klasse ist nicht begriffen als ein
"
realisierter Ausdruck abstrakter Arbeit (des Werts) " d.h. in ihrer
formbestimmten Negativität. Der Lukácsche Klassenbegriff reproduziert noch den
daseienden Idealismus über abstrakte Arbeit und Tauschwert; die Klasse ist
entsinnlicht, die Individuen gehen als konkrete Träger möglichen
KIassenbewußtsens nicht in ihn ein: Klassenbewußtsein ist ihnen zugerechnet. Die
Klasse ist gleichsam noch kapitalistischer Begriffsrealismus nach Maßgabe des
die Gesellschaft umfangslogisch umschließe
-27-
den Werts als dahinterstehendem Wesen und Subjekt. In den Leninschen und
Lukácsschen Klassenbegriff gehen bürgerliche Verdinglichungsimplikate ein,
welche den nominalistischen Existenzen der proletarischen Lebensgeschichte,
deren Kampf- und Solidaritätsformen, sich überstülpen. Das soll andererseits
nicht unterschieben, als seien die solidarisch Kämpfenden schon nicht mehr an
die Nabelschnur von Tradition und Herrschaft an die Negativität der Bourgeoisie,
gebunden; dieser Zusammenhang konstituiert mit die negatorische Macht der für
sich werdenden Klasse. Marx legt indessen den Akzent auf die sich durch
Kampferfahrung verändernden Proletarier nicht auf die Abstraktion von ihnen
die sich in revolutionärer Praxis zum Verein freier Menschen in freier
Assoziation heranbilden, aufbauend auf den Gebrauchswerten kapitalbeherrschter
notwendiger Reproduktion über mehrwertschaffende Arbeit, auf Gebrauchswerte
proletarischer Sinnlichkeit wie Kooperation, Solidarität, Leid: historische
Gegenerfahrung. Der Klassenbegriff müßte derartige Implikationen enthalten, wie
Krahl sie dem Klassenbewußtsein zuschreibt:
" die tendenzielle Aufhebung
der Klasse und die Bildung selbsttätiger Formationen der Bevölkerung "
(164). Bei Lukács verselbständigt sich die Klasse nochmals zu
triebmetaphysischer Potenz: die Sprengung des Systems ist ihr eingeschrieben.
Lukács Begriff der Möglichkeit, den die Kategorie der Klasse revolutionär
objektiviert, ist als reale Möglichkeit je Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit
ist aber nur mit der Logizität des Kapitalverhältnisses verknüpft durch die
proletarische umwälzende Praxis.
Aus jener, der Logik der Geschichte als Aktualität der Revolution abgewonnenen
Konzeption von Klasse und Klassenbewußtsein konnte für die Organisationsfrage
als dem
" theorienächsten Element der Praxis " in den Metropolen
ein Moment verdeutlicht werden: daß die sozialistischen Organisationen gezwungen
sind,
" immer mehr zu Mitteln zu greifen, die allererst wieder herstellen,
was Marx und Engels, Lenin und Luxemburg an negativen Gegebenheiten immer schon
voraussetzen konnten. Die Regression des Geschichtsverlaufs in den Ländern des
fortgeschrittenen Kapitalismus ist begleitet von einem Schwund an negativen
Gegebenheiten, die in den rückständigen, kolonialen und halbkolonialen Ländern
nur zunahmen. " (167f) Regressiv ist die gegenwärtige Geschichte, als die
Einsicht in die revolutionären Möglichkeiten, statt evidenter, unklarer geworden
-28-
ist. In der Organisationsfrage mußte die Revolt davon ausgehen, daß die
Bedingungen der Erkenntnis der Aktualität erst durch exemplarische Aktionen in
den Köpfen der Ausgebeuteten zur Möglichkeit geweckt werden können. Die
spezifische Ungleichzeitigkeit des exportierten Kapitalismus in der Dritten Welt
und der reellen Subsumtion in den Stammländern des Kapitalismus habe zugleich
die Bedingungen der Revolution verschoben,
" hat die Möglichkeit regional
begrenzter sozialer Revolutionen in den kolonialen Ländern erhöht, die einer den
Kapitalismus aufhebenden Praxis im imperialistischen Westen geschmälert.
"(168) Die revotutionstheoretische Frage hieß demnach für die
sozialistischen Bewegungen In den Metropolen:
" Wie verändert sich die
Klassenstruktur, wenn die verdinglichten Abstraktionen des Überbaus sich
unmittelbar in die Produktion zurückvermitteln? " (165)
Zweifellos hatte diese Frage hinter Marcuses These von der Eindimensionalität
der dem Kapital reell subsumierten Menschen gestanden; sie führte ihn zu einer
Revolutionsperspektive, welche die Dritte Welt als Randgruppe innerhalb der USA
zum revolutionären Subjekt erkor, den Begriff des Proletariats zum
Gesamtarbeiter machte und damit zu einem anthropologisierten Menschenbild
zurückkam, das den späten Bürger einfing, nicht proletarische Subjektivität.
Freilich lag in der These von der Eindimensionalität des Bewußtseins der
allseitig Ausgebeuteten auch der Stachel, diese Oberflächentotalität zu
hintergehen; allein Marcuse wurde oft als später Bürger reflektiert. Die Revolt
konnte
" One-Dimensional Man " bereits als zu ihrer Vorgeschichte
gehörig zählen. Die von Marcuse limitierte Hoffnung auf außer- kapitalistische
Erkenntnisträger war durch die Pariser und Berliner Emeuten korrigiert. Die
Hoffnung der Revolt lag nicht nur in der Dritten Welt, sie lag allererst in der
Konstitution der vereinigten Selbsttätigkeit von Arbeitern und Studenten in den
Metropolen. Die Tatsache der
" nach Form und Inhalt widersprüchlichen
Verfassung ihrer (der Dritten Welt; H.R.) Revolutionen (nationale und
sozialistische Zielsetzung ungleichmäßig synthetisiert) (...) scheint die
Möglichkeit konkreter Negation des kapitalistischen Systems durch diesem
immanente oppositionelle, subversive und revolutionäre Kräfte eher behindert zu
haben. " (168)
-29-
Wie bei Lukács, so ist bei Krahl das
" Organisationsproblem (...) das der
´Materialisierung´ der Theorie zum politischen Bewußtsein. " (171) Die
Lukácssche Organisationsdiskussion ist noch geprägt vorn Leninschen Modell vor
der Revolution. Die intelligible Gesamtpersönlichkeit der Partei, welche durch
Disziplin sich auszuweisen hat, geht freilich an einem spezifischen
materialistischen lmplikat der Marxschen Revolutionstheorie vorbei, darauf
insistiert Krahl wiederum,
" daß der Befreiung allererst die
Selbstbefreiung der revolutionären Klasse vorausgehen muß, eine materielle
Selbstveränderung, von daher disziplinärer Zwang " (179), nicht durch die
vorgeordnete Materialität der Partei. Mithin pocht Krahl auf die
"
Notwendigkeit des Absterbens der zentralistischen Organisation im revolutionären
Kampf die Umsetzung von zentralistischer Selbstdisziplin in autonome
Einzeldisziplin der Genossen. " (179) Krahl versucht Lukács Intention,
" die Kritik der politischen Ökonomie (
) auf die Organisationsfrage
anzuwenden " (178), selber am gegebenen Stand des Verhältnisses von
Politik und Ökonomie zu bestimmen.
Lukács Denken läßt sich nur verstehen auf der Ebene der Aktualität der
Revolution; ebenso die organisations- und revolutions-theoretischen Überlegungen
Krahls. Für ihn ist eine
" neue Tatsache " präsent:
" die
qualitativ neue weltgeschichtliche Aktualität der Revolution " (145).
Hiervon hing die Organisationsfrage ab. Gemäß den Überlegungen der Revolt, daß
die außerökonomische Zwangsgewalt zu unmittelbar ökonomischer Potenz werde, d.h.
der Staat sich gegenüber den Klassen verselbständige, folgert Krahl, durch die
" Politisierung der Ökonomie " müsse
" die Organisation sich an
der Alltagsbasis bilden " (181). Daher galt es revolutionstheoretisch zu
untersuchen:
" Was heißt Bewußtseinsaufklärung? " Und, nachdem der
Traum von einer Sache sich noch nicht hat verwirklichen können, nachdem sich
so die ökonomiekritische Fragestellung der Revolt Herrschaft der Produktion,
der Verwertungsprozeß sich scheinbar total dem Arbeitsprozeß aufgelastet hat;
nachdem die erkenntnistheoretischen Bedingungen der Einsicht von möglicher
Freiheit über sinnliche Macht und Ausbeutung einer Anonymität unsinnlicher
Zeichen (Aktienkapital) gewichen sind:
" Wovon besitzen die Massen noch
einen Traum? " Auf dieser Stufe der materialistischen Theorie muß
entgegen der Kaderhierarchie und deren Konstituens konkreter Herrschaft die
allgemeine Bewußtwerdung als Erkenntnis- und Veränderungsprozeß in den
Vordergrund rücken:
"´Keiner
-30-
ohne Funktion!´ als revolutionäres Organisationsprinzip. " (181)
Als der aktive Streik 1968/69 an der Frankfurter Universität den SDS vor die
Aufgabe stellte, seine übernommene Avantgarderolle ständig mit der Spontaneität
der liberalen Studenten zu vermitteln, seine leitende Funktion dadurch zur
politisch-revolutionären zu machen, daß linke Politik sich nur bestimmen könne,
wenn die Führungsrolle durch ihre Negation, durch Übergehen der organisierten
Theorie und Praxis in das Selbstbewußtsein aller Beteiligten, sich realisiert,
ging es um Fragen einer direkten revolutionären Pädagogik als Arbeitsstufe des
Protests, um organisierte autonom, organisierte Aneignung universitärer
Ausbildung, Auflösung jener Autoritätsmerkmale, kraft deren der herkömmliche
Lernbetrieb sich seine Fortexistenz verdankte. Gegenüber dieser universitären
Feudalwelt, wie der organisierten Hierarchie der alten Parteien, grenzte sich
die antiautoritäre Bewegung unmißverständlich ab.
" Zentralisation und
Disziplin bilden die Konstituentien der politischen Identität einer
revolutionären Bewegung und deren Organisation auf dem historisch spezifischen
Hintergrund einer physisch manifesten und empörenden Unterdrückung, wie sie die
zaristische Autokratie den Massen brutal auferlegte. " (192) Die
überkommenen Institutionen von Herrschaft, wie sie sich in
bürgerlich-parlamentarischer Form vorstellten, kennzeichneten bereits nicht mehr
die Zwangsinstanz, die der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus in
Rußland entsprach und der Lenins Revolutionstheorie korrespondiert; gleichwohl
verkörperten die bürgerlichen Institutionen den über die Ideologie von Freiheit
und Gleichheit hygienisch purgierten Machtapparat einer Klasse, der die mündige
Organisierung der Arbeitenden, durch deren unbewußte Ausbeutung über den
Mehrwert das System sich noch Dauer verschaffte, in jeder Form verhindern mußte.
Die Opposition bedurfte außerparlamentarischer Formen.
" Wenn es primär um
die Herausbildung einer emanzipatorischen Selbsttätigkeit antiautoritärer
Sensibilität geht, dann ist eine Taktik der Mitarbeit im Parlament und in den
Gewerkschaften um des öffentlichen Lebens der Bewegung willen nicht möglich.
" (193) Auch Lenin irre,
" wenn er den taktischen Spielraum nur auf
die Mitarbeit in den reaktionären Gewerkschaften beschränkt und nicht auch diese
Mitarbeit selbst in Frage stellt (...) Lenin übersieht, daß im hochentwickelten
Kapitalismus (...) das Koalitionsrecht
-31-
auch auf die Assoziationen der Arbeiterklasse ausgedehnt wurde um
emanzipatorische Bedürfnisse als solche zu ersticken mit Hilfe der
bürokratisierten Organisationsformen des Proletariats (...) so wie die
Sozialdemokratie (SPD) zum Träger des autoritären Staates herausgebildet werden
mußte. " (197 f)
Lenins Parteitypus lag eine organisierte Kampfform zugrunde und mithin die
Einsicht, daß soll in der kommunistischen Organisation künftige Freiheit
antizipiert werden " die technische Disziplin in den Fabriken in die
praktische Disziplin des solidarischen Verkehrs der Proletarier umgesetzt werden
(müßte) " (196). Das Leninsche Konzept ist jedoch gegen " bürgerliche
" Reduktionen nicht gefeit. " Die Gefahr der technizistischen
Reduktion revolutionärer Praxis droht dem Leninschen Konzept von zwei Seiten der
organisatorischen Umsetzung technischer Fabrikdisziplin in die praktische
Disziplin des organisierten Klassenkampfes und der Umsetzung
machtkampfstrategischer und kommunikationsstrategischer Ziele, revolutionärer
und emanzipatorischer Prinzipien in ein faktisch regulatives Realitätsprinzip
erfolgskontrollierten politischen Kampfes. " (196) Lenins Parteikonzept
korrespondiert der Stufe der gewaltsamen Kapitalisierung Rußlands; Disziplin und
Zentralisation sind Kategorien, " die deduziert sind aus dem Naturzustand
des Kapitals einerseits und aus der technischen Organisation eines Proletariats
in wenn auch schon hochindustrialisiertem Bereich auf dem Hintergrund einer
fehlenden Entfaltung des bürgerlichen Tauschverkehrs " (202 f). Wenn bei
Lukács auch das emanzipatorische Moment der Antizipation des Reichs der Freiheit
in die kommunistische Organisation eingeht, so bleibt doch seiner Diskussion
Lenins Übertragung russischer Verhältnisse auf westeuropäische inhärent, das
" Unberechtigte einer kompromißlosen antibürokratischen Praxis "
(203).
In der Diskussion von Lenins
" Staat und Revolution " präzisiert
Krahl die Bedenken der Neuen Linken gegen die tradierten Verkehrsformen der
bürgerlich-proletarischen Revolution in einem vorbürgerlichen Land. Die
unverminderte Geltungsdauer des ontologisierten Parteitypus Leninscher Art
" ist umso problematischer als sein zentralistischer Apparat nach der
Revolution unvermindert fortbestand und ohne Bedenken auf die geographisch und
geschichtlich unterschiedenen gesellschaftlichen Verhältnisse von der Komintern
den revolutionären Bewegungen in anderen
-32-
Weltteilen appliziert werden sollte. Seine erwiesene Wahrheit verkehrte sich in
dem Maße, in dem die besondere Geschichte des autokratischen Rußland (...) von
seiner organisatorischen Verfassung getrennt wurde. " (182) Lenins
Parteimodell kann, als an der Klassenkampfsituation in Rußland ermessene
organisatorische Materialisierung der Theorie, nicht dogmatisiert werden. Er
selbst trug der sich verproletarisierenden und aus den Händen der
Berufsrevolutionäre sich lösenden revolutionären Aktionsform der räteverfaßten
Streiks und Kampfformen bei seiner Rückkunft in den Aprilthesen Rechnung;
freilich perpetuierten sich die vorrevolutionären Formen des Kampfes als
parteifixierte auch auf die nachrevolutionäre gesellschaftliche Organisation und
preßten die Selbsttätigkeit der proletarischen Kampferfahrung in die
apparatliche Initiative vorrevolutionärer, clandestin organisierter Disziplin.
Daß das Proletariat sich wie Marx insistiert hatte vermöge seiner Kämpfe zum
Ziel der Assoziation der freien Individuen permanent wird verändern müssen, wie
es seine Wirklichkeit umwälzt, verblaßte zum Dekret.
Die Revolt mußte ihr Selbstverständnis von der Konstitution neuer Sinnlichkeit
als kämpferische Bedingung für Freiheit in der Alltagspraxis aufspüren.
"
Die Abstraktion von der Geschichte, als deren emanzipatorische Vernunft, und der
Gesellschaft, als deren objektiviertes Klassenbewußtsein der Ausgebeuteten er
(sc. der Leninsche Parteitypus, H.R.) historisch entstanden war, eliminierte in
seiner disziplinär zentralisierten Arbeitsteilung den solidarischen Verkehr der
Genossen, durch den sich eine kommunistische Organisation von solchen
bürgerlicher Art unterscheidet und der allein die durch den Kampf gegen das
bestehende System vervielfachten Bedingungen des Zwanges erträglich macht.
" (182)
Krahl hat die Organisationsdebatte wieder in den rätedemokratischen Kontext
des kommunistischen Verkehrs
" herrschaftsfreier Kommunikation "
(28) gestellt; Vorbild sind nicht die orthodoxen Parteien in den Metropolen,
sondern die neuen Kampfformen in den Extremitäten:
" Die Orientierung an
der Gegenwart der Revolution in der Dritten Welt bietet also für uns die
Möglichkeit, eine politische Moral der Kompromißlosigkeit herauszubilden, die
ein Ansatz zur Bildung selbständiger Organisationsformen der Bevölkerung sein
kann. Sie ist die Grundlage, um einen der gegenwärtigen Machtstruktur des
Staates geschicht-
-33-
lich angemessenen Organisqationstypus herauszubilden, der auf der Grundlage
autonomer lnitiativgruppen in den Hochschulen und Betrieben beruht. "
(147) Zugleich versuchte Krahl nach Lukács die Organisationsfrage mittels
der Kritik der politischen Ökonomie zu diskutieren, gemäß dem Stand der dem
Kapital subsumierten Arbeit.
" Die Antizipation der befreiten Gesellschaft
in den Organisationsformen des politischen Kampfes ist immer eine historisch
bestimmte Vermittlung von Freiheit und Zwang. Diese Vermittlung erfolgt (...)
aus den geschichtlichen Form- und Realisierungsbestimmungen der
wertsubstantiellen arbeitsteiligen Verkehrsbasis " (306)
6. Arbeitshypothese VI.
Als " strategisch gesicherte Konsequenzen " galten für Krahl und
darauf hätte eine Theorie aufzubauen, die ansetzend an der vorliegend höchsten
begrifflichen Entfaltung, an der Marxschen Theorie, " diese Gesellschaft
", wie Krahl immer wieder betont, " unter dem Aspekt ihrer
Veränderbarkeit beschreibt " (243) " eine neue weltgeschichtliche
Konstellation " der internationalen Einheit des Protests in deren
Identifikation mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Hierdurch
konnte sich die Protestbewegung " von der längst verbürgerlichten, von
jedem revolutionären Anspruch verlassenen Realpolitik der Sowjetunion "
distanzieren, und sich eine von Che Guevara verkörperte revolutionäre Politik
zum Maß setzen. Die Sinnlichkeitsdimensionen des revolutionären Kampfes gegen
den Primat direkter Herrschaft in der Dritten Welt gewann damit zugleich
Gewicht, führte aber zu Abstraktionsformen. Der Staat könne Ansätze politischer
Selbsttätigkeit nicht dulden, er führt mithin einen präventiven Machtkampf gegen
die Autonomisierung der Interessen der Bevölkerung. Es erhellt, wie sehr noch
in der Tradition der Frankfurter Schule der " Staat " als
autoritärer sich zum abgehobenen Phänomen der bürgerlichen Weit verfestigt. Die
Verkörperlichung des Adressaten des Kampfes im Staat korrespondiert objektiv
einer Revoltbewegung, welche die Bedingungen einer revolutionären Theorie und
des Klassenkampfes noch nicht erkämpft hat. Der " Aktionsform, des
provokativer Protests ", der die Reprise der kritischen Theorie sich
verdankt, sollte die des aktiven Widerstandes folgen.
Krahl war freilich alles andere als ein Apologet rigider Strate-
-34-
gie- und Praxisformen. Krahl ging nicht hinter die Überlegung der
" unter
gegenwärtigen Bedingungen notwendigen Kontingenz der Praxis " (250)
zurück. Dies ist aber der Theorie und den Aktionsformen nicht liquidatorisch
anzulasten;
" unsere Praxis (befindet) sich selbst noch auf einem relativ
hohen und armen Abstraktionsniveau (...) solange sie ihre klassentheoretische
Konkretisierung noch nicht erfahren hat " (250). Bezeichnend für die
Diskussionsebene von Krahl im Zusammenhang mit der Tradition des westlichen
Marxismus, andererseits mit Marcuse und Bloch, ist die Forderung der
Deduktionsmöglichkeit dessen, was konkrete Utopie zu bedeuten hat. Krahl beruft
sich dabei richtig auf die Naturgeschichte der bürgerlichen Ökonomie, wie sie
von Marx und Engels geliefert wurde. Aktienkapitalgesellschaften und das
Maschinensystem als capital fixe bilden den logischen Ausgangspunkt der
Marxschen Debatte. Damit ist die Möglichkeit in höhere Organisationsmodelle der
Geschichte überzugehen gegeben und konkrete Utopie möglich. Die zeitgenössische
revolutionäre Kritik wäre mithin an der objektiven Bedingung der Revolution über
Aktienkapital und capital fixe als Maschinensystem, reelle Subsumtion,
festzumachen; d.h. an der objektiven Vergesellschaftung der Produktion in
bürgerlichen Fesseln, oder der Übergangsgesellschaft auf noch kapitalistischen,
Boden.
Am Verhältnis von Produktion und Klassenkampf zwei Begriffe, die Geltung
gewinnen als Prinzipien von Geschichte erst rein im Kapitalismus entwickelt
Krahl drei Fragestellungen zur
" Konstruktion einer Theorie der Revolution
unter hochverschleierten kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen "
(386):
- Das Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution in der Lehre
von Marx
- Das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein, oder die
Identifikation von ökonomischen Kategorien mit praktischen gesellschaftlichen
Existenzbestimmungen
- Die Dialektik der Arbeit, Arbeit nicht nur als " kapitalverwertendes
Unglück (...) sondern auch als kapitalnegatorische Produktivkraft der
Emanzipation (...) ".
" D.h. ist es Marx gelungen, die Emanzipationskraft der Arbeit in
systemkritischer Form, in die Kritik der politischen Ökonomie metakritisch zu
integrieren und so ein Vermittlungsglied zu entfalten zur Konstitution des
Klassenkampfes, der revolutionären Subjektivität des organisierten Proletariats?
" (387f)
Die letzte Frage zielt ab auf die systematische Entfaltung des
-35-
Begriffs von konkreter Utopie. Einerseits sind Fortschritt und Geschichte
namentlich in der dem Kapital subsumierten Arbeit, im Verwertungsprozeß nur
über die Arbeit der Gattung denkbar; historisch haben die arbeitenden Menschen
bislang zugleich die Mittel ihrer Unterdrückung produziert und nur arbeiten
können innerhalb geschichtlich wechselnder Formen von Herrschaft. Andererseits
produzieren die Menschen im Stoffwechsel mit der Natur und die Menschen
untereinander die Potenzen einer höheren Entfaltung der Menschengattung, sie
entwickeln Sprache, Kooperationsformen und schließlich Kampfformen gegen
Unterdrückung. Bereits in der kapitalbestimmten Arbeit, dem Verwertungsprozeß,
dem Vernutzen der Ware Arbeitskraft in der Schöpfung von Mehrwert, steckt die
subversive Seite, daß die kapitalistisch notwendige permanente Forcierung der
Produktivität der Arbeit nur sich reproduzieren und steigern kann, wenn sich die
Intensität der Gebrauchswertseite der Arbeit der proletarischen also, nicht
die Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital die Subjektivität der
kooperierenden Individuen verändert, um jenen Prozeß zu ermöglichen. Die
Forcierung der kapitalistischen Arbeitsintensität entfaltet mithin
kapital-negatorische Qualitäten, historische Gegenerfahrung gegen die
reibungslose Akkumulation des Kapitals, als Gebrauchswert des Proletariats, als
nicht-identisches Moment der Ware Arbeitskraft. Zugleich steckt aber noch eine
geschichtsphilosophische Dimension in jener Emanzipationskraft der Arbeit, die
Krahl zu Felde führt und die in der Geschichte des Proletariats zu seiner
Befreiung eine nur unmerkliche Rolle spielt in der Tat hatte die
Arbeiterbewegung zumeist selber vergessen, daß die Arbeit existiert, damit sie
verschwinde. Im Begriff der Arbeit ist als konstitutiv-utopisches Moment die
Subjekt-Objekt-Dialektik der dritten Feuerbach-These: Soll Freiheit Platz haben,
so kann kein noch fremdes Objekt der sich entfaltenden Subjektivität
gegenüberstehen: Fremdheit auch der Arbeit muß aufgehoben sein.
Marxens lapidare Formulierung gegen den kleinbürgerlichen Utopismus, Arbeit
könne nicht, wie Fourier gefordert hat, Spiel werden, gilt es revolutionär
aufzuheben. Arbeit als Arbeitsprozeß wie er alle Geschichte als Stoffwechsel des
Menschen mit auch einer befreiten Natur konstituiert, wird zwar auch im
Zustande der Freiheit materialistisches Prinzip sein, freilich jenem zu sich
gekommenen idealistischen unterstellt, das die Küm-
-36-
merlichkeit des bürgerlich daseienden Materialismus vom Primat des
gesellschaftlichen Seins über das Bewußtsein im endlichen Vollzug von
Geschichte: in der freien Verwaltung der solidarisch vereinten Menschen über
Sachen (und mit Natur) aufgehoben hat. Eine den Zustand der Aufhebung des
Kapitalismus angesichts seiner logisch erreichten Endphase
Aktiengesellschaften, subsumierte Maschinenwelt und Wissenschaft begreifende
Revolutionstheorie muß mithin, mehr als Marx pointierte (Grundrisse, S508f,
zitiert Krahl 388), Arbeit von ihrer Gebrauchswertseite für das Proletariat
herausstellen.
Die Revolt war eine Bewegung gleichsam reiner Subjektivität nicht mehr
bürgerlich-legitimatorisch und noch nicht von der Objektivität der gesamten
daseienden Klasse des Proletariats getragen; sie war noch nicht mit dem
Proletariat zur Klasse für sich verbunden. Entgegen den Defensivstrategien der
revisionistischen Linksparteien setzte sie den Akzent auf Kampf, obwohl die
allgemeinen Bedingungen noch nicht reif zu sein schienen die nach einem Wort
von Rosa Luxemburg auch nie reif sein werden, denn die Revolution kommt immer zu
früh. Diese objektive Resurrektion der Kategorie der Subjektivität verband die
Revolt mit dem
" westlichen Marxismus ", mit dessen Insistenz auf
revolutionärer Subjektivität zu der Zeit, als die junge Sowjetunion die
Aktualität der Revolution durch den Aufbau in einem Lande zur nationalen statt
internationalen Sache machte.
" Den Primat von Kategorien des
Klassenbewußtseins und der Emanzipation, der dem Stand der produktiven Arbeit
und der kulturellen Bedürfnisstruktur in den hochindustrialisierten
Kapitalmetropolen angemessen ist, haben die philosophischen Theoretiker des
´westIichen Marxismus artikuliert. " (349) Die russischen Theoretiker
nach Lenin totalisierten die Revolution zur ontologischen Aktualität in
sowjetrussischer Münze. Lukács verfocht die Aktualität der Revolution weiter zum
Prinzip reiner Subjektivität: seine Kategorie des Klassenbewußtseins war der
metaphysische Ausdruck dieser Aktualität. Gleichwohl hielt Lukács damit das
subjektive Prinzip gegen dessen Objektivismus; dies beinhaltete eine
revolutionäre Kritik an der
" verschütteten ermanzipativen
Subjektivitätsdimension des Marxismus " der 2. Internationale (200). Der
West-Marxismus nahm als Subjektivitätskategorie gegen die auf einen nationalen
Anspruch reduzierte umwälzende Praxis Bewußtseinskategorien in die Theorie
wieder auf, d.h. eine Seite der Marxschen Theorie, die zur Zeit der Ent-
-37-
faltung der Kritik der politischen Ökonomie durch die praktischen Kämpfe des
Proletariats vorgegeben war jedenfalls rückte während der Zeit der praktischen
Arbeit von Marx und Engels die Welt in Gestalt des organisierten Proletariats
immer noch zum Gedanken, bis dieser nach dem großen Oktober begriffs-realistisch
sich über die Welt spannte. Den West-Marxismus kennzeichnen mithin Fragen der
Konstitution von Klassenbewußtsein, Subjektivitätskategorien, welche die
russischen Verhältnisse vorschnell dem objektiven Prozeß zurückgegeben hatten.
Herbert Marcuse und Ernst Bloch waren die konsequenten Theoretiker der noch
nicht gesetzten Revolution, obwohl dieser die Subjektivitätsdimension des
Prinzips Hoffnung angesichts der isolierten Sowjetunion als Kampfbegriff gegen
den Faschismus erneut ontologisieren mußte und jener sie
existentialphilosophisch aufbereitete. Die Theorie der Revolt ging zurück zur
Konstitution der Theorie der Revolution nach dem Oktober, zu Lukács und Korsch.
Dies hieß zugleich materialistische Reflexion auf eine Seite der Theorie, die
auch Lukács vermöge der an sich seienden Revolution vernachlässigte, wie Marx
kaum ein Augenmerk richtete auf die Konstitutionsbedingungen von
Klassenbewußtsein beim sozialdemokratischen Parteimitglied;
" Es fehlt die
historische Reflexion auf jene empirischen Momente der Gebrauchswerte,
Bedürfnisse und Interessen, die im Doppelcharakter von Ware und Kapital die
durch die Allgemeinheit abstrakter Arbeit unterdrückte und an ihrer Entfaltung
gehinderte Individualität darstellen (
) " (337).
Für Lukács und die kommunistische Bewegung nach der Oktoberrevolution war
Subjektivität eine Kategorie, die das Klassenbewußtsein je vorgab, und dies war
durch die Realität der Bewegung gesetzt. Daß freilich die objektiv nach links
drängende Realität nicht mit dem Bewußtseinsstand des Proletariats immer
einherging, zeigte schließlich der Faschismus; Reichs Begriff der
" Schere
" wollte dieses Auseinanderklaffen von Ökonomie und Bewußtsein
charakterisieren. Wilhelm Reich erhob die Frage, warum die Massen gegen ihre
eigenen Interessen handelten und benahm gegen die kommunistischen Parteien
gerichtet der Lukácsschen Fragestellung ihre Ontologisierung des
proletarischen Bewußtseins als Metaphysizierung der Aktualität der
Oktoberrevolution. Die Praxis des subjektiven Faktors hätte die Partei den
Idealisten überlassen, die Kommunisten seien zu mechani-
-38-
schen und ökonomistischen Materialisten geworden.
An dieses " idealistische " Erbe innerhalb des Linksmarxismus
knüpfte die Resurrektion der Theorie wieder an. Erkenntnisgegenstand wurden die
" Emanzipationsbedürfnisse der lohnabhängigen Massen ", wobei zur
Fragestellung Reichs die Schere sich verkehrt hatte; die seinerzeit "
linke " ökonomische Realität hatte sich gleichsam nach rechts quiesziert,
dennoch war die Subjektivitätsdimension nicht in Akkomodation aufgegangen.
Auszugehen war von der Erkenntnis, " daß auf der einen Seite Bedürfnisse
heute so hochzivilisiert befriedigt werden können und gleichwohl die Massen an
das Elend der materiellen Arbeit, der materiellen Existenzsicherung fixiert
bleiben, obwohl das Reich der Freiheit, das jenseits der materiellen
Bedürfnisbefriedigung Marx zufolge liegt, längst möglich geworden ist (..)
". (317)
Die " konkrete Bedürfnisstruktur der Massen zu erkennen und mögliche
emanzipative Bedürfnisse zu formulieren " (316 f), war mithin Agitations-
und Untersuchungsziel einer Theorie der Revolution im Spätkapitalismus. Dies
hieß vor allem für die Aktionsformen, die materielle Aufklärung sein sollten,
von den abstrakten Bürgerrechtsappellen aus der Zeit der Anti-Notstandskampagnen
wegzukommen. " Ein Stein zur rechten Zeit im richtigen Fenster kann
Aufklärung leisten "(320), doch müssen diese Aktionen mit der
Bedürfnisstruktur der " industrieproletarischen Massen " vermittelt
werden können.
Indes konnte nicht mehr an einer zumindest links organisierten
Interessenartikulation angesetzt werden, die durch Parteien vorbestimmt war;
dann hatten sich die manifesten ökonomischen Interessen spiritualisiert und an
andere Warenkörper geheftet denn an jene der unmittelbaren Reproduktion für die
Ware Arbeitskraft. " Die Bedürfnisse, auf die sich der Versuch
revolutionärer Aufklärung richten müßte, sind immaterieller geworden in dem
Maße, in dem das Reich der Freiheit möglich geworden ist. " (339)
Die durch den Spätkapitalismus produzierten Bedingungen von Freiheit können sich
in kapitalistischer Hand nicht freisetzen; im Gegenteil, das monopolisierte
Kapital bedarf noch der Hand des Staates, um die Möglichkeiten für Befreiung in
solche neuer Unterdrückung umzumünzen. Kennzeichnend hierfür war die Auflösung
der
" gesellschaftslegitimierenden Kraft der Zirkulationssphäre ",
die den liberalen Rechtsstaat begründete; hiergegen richteten sich die Anfänge
des Protests, der mithin keineswegs
-39-
sozialistisch war, sondern antiautoritär im Sinne des Protests gegen den Verlust
bürgerlicher Vernunft, wie sie sich an der Zirkulationsebene, am
herrschaftsfreien Markt konstituiert hatte. Die Aufgabe des SDS bestand darin,
dieser Bürgerrechtsbewegung ein antikapitalistisches und schließlich
sozialistisches Selbstverständnis zu vermitteln, wobei freilich im SDS selbst
noch Ideologien einer Intellektuellenbewegung herumspukten, die aus dem
"
Begriff des warenproduzierenden Kleinbürgers " (331) rekurrierten, und die
schließlich in jakobinischem Moralismus die an den Bedingungen des
Spätkapitalismus gewonnenen Emanzipationskategorien der
" sektiererischen
Übernahme zentralistischer und disziplinärer Oganisationsmodelle " (338)
opferten.
" Die notwendige Hinwendung der Studentenbewegung zum Proletariat
drohte mit dem Versuch, die Revolution mit den überlieferten Kategorien des
Klassenkampfes zu artikulieren, zugleich die Prinzipien der revolutionären
Emanzipation zu ersticken. " (301 f)
Emanzipationskategorien, welche die Möglichkeit der Befreiung in den
sozialistischen Kampf hineintragen und nicht kaderhaft vorausschicken sollten,
hatten sich sowohl aus der Alltagspraxis des Proletariats zu konstituieren,
sowie am Vorhandensein des etablierten Sozialismus. Der Alltagspraxis des
Proletariats galt es durch die Untersuchungsarbeit die als revolutionäre immer
Agitation und Aktion einschließt Emanzipationsbegriffe negativ am Verlust
revolutionären Erbes, am verdinglichten Bewußtsein zu kontrastieren; aus der
Gebrauchswertdimension galt es Emanzipationskategorien zu gewinnen, die das
Proletariat sich nach Marx durch den Produktionsprozeß als subjektive
Konstitutionsbedingungen tür Klassenbewußtsein in konkreter Arbeit aneignet:
Kooperation, Kommunkation, Solidarität.
" Eine Agitation des Proletariats,
die nicht das geschichtslose Lebensschicksal der Massen thematisiert, kann den
Zusammenhang von gesellschaftlicher Produktion und Spontaneität im Bewußtsein
der Massen nicht rekonstruieren und emanzipative Bedürfnisse nach einem
glücklichen Leben weder freilegen noch zu einem politischen Totalitätsbewußtsein
vermitteln. " (340) Aufklärende Praxis, der
" Standpunkt des
Proletariats " hieß somit,
" eine praktische Periode revolutionärer
Aufklärung zu entfalten, in welcher der gesellschaftliche Reichtum und die
gesellschaftlich mögliche Kultur als unter dem Aspekt der Aneignung durch die
Produzenten dargestellt wird. " (352) Es erhellt, daß Krahl nicht einem
flachen Proletarianismus ver-
-40-
fällt und die
historische Vorhandenheit des Proletariats der Revolution zuordnet, anders als
Lukács, der allerdings unter dem Gesichtspunkt der Aktualität der
Oktober-Revolution umstandsloser vorgehen konnte. Gewicht erhält die Kategorie
der Produktion als geschichtsphilosophischer Emanzipationsbegriff, wie Marx ihn
in der
" Deutschen Ideologie " entwickelte. Im Begriff der Produktion
steckt, daß die Menschen die Geschichte selber machen, daß sie im Stoffwechsel
mit der Natur und in Arbeitsteilung und Kooperation untereinander ihre
Gattungskräfte gewinnen, um schließlich Herren zu werden über ihre Produktion,
d.h. Herrschaft abschaffen und sich zu solidarischem Verkehr befähigen, Krahl
hebt diese
" metaökonomische Seite des materialistischen
Produktionsbegriffs " (337) hervor. Zwar impliziert der Begriff gemäß der
Entfaltung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse Arbeitsteilung und an
diese gebundene Herrschaft, doch ist dies Teil des über unbefreite Geschichte
vermittelten synthetischen Urteils der Produktion; konstitutiv für den Begriff
ist die Selbstreproduktion der Gattung, mithin Selbsttätigkeit; Bedürfnisse
werden befriedigt und auf erweiterter Stufenleiter produziert. Krahl nennt diese
vorkritische Instanz
" Konsumtionsbewußtsein " als
" das
Bestimmungsmoment spontaner und emanzipativer Produktivität ".
Lukács hatte in der Vorrede zu der Neuauflage von
" Geschichte und
Klassenbewußtsein " ähnlich argumentiert - was freilich folgerichtig ist,
denn die Kategorie der Totalität, eine Kardinalkategorie von
" Geschichte
und Klassenbewufltsein ", ist selbst ein Produktionsbegriff; Lukács
Thematik, der er seine Lebensarbeit widmete, blieb es, den philosophischen
Zusammenhang von Ökonomie und Dialektik zu ergründen. Lukács merkt
selbstkritisch an, ein Subjektivismus überwiege in seinem Buche, trotz der
historisch-materialistischen Darstellungsweise; so falle der Begriff der Arbeit
als Vermittler des Stoffwechsels zwischen Gesellschaft und Natur aus den
Überlegungen heraus.
" Der große Gedanke von Marx, daß sogar die
´Produktion um der Produktion halber nichts heißt, als Entwicklung der
menschlichen Natur als Selbstzweck liegt außerhalb des Bereichs, den
Geschichte und Klassenbewußtsein zu betrachten imstande ist. Die
kapitalistische Ausbeutung verliert diese ihre objektiv revolutionäre Seite
"(Lukács, Georg, Geschichte und KIassenbewußtsein, Vorwort von 1967,
Neuwied und Berlin 1968, p. 19f).
-41-
Ihr galt Krahls Augenmerk.
" Produktion als (...) auf
den Fortschritt und die Befreiung der Bedürfnisse gerichtete und autonome
Lebenstätigkeit ermöglichende, steht in einem unauflöslichen Zusammenhang zur
politischen Spontaneität. " (338) Produktion ist also
" Prinzip von
Geschichte " (386) und damit zumindest für die kapitalistisch
beherrschte schließt der Begriff Klassenkämpfe, die klassenmäßige
Subjektivitätsdimension ein, die der Emanzipation zugrunde liegt und im Aktus
ihrer Herstellung als praktische Negation der bürgerlichen Formbestimmung von
Geschichte die positiven Momente künftiger Freiheit erarbeitet und erkämpft.
" Emanzipation (...) will, daß die Individuen die industrielIen
Produktionsmittel organisieren, um miteinander glücklich verkehren zu können.
Der verkürzte Emanzipationsbegriff " und dies bezeichnet die Richtung
der zweiten Seite der Kritik
" zielt nur auf ein verändertes
Eigentumsverhältnis der Menschen zu den dinglichen Produktionsmitteln, nicht
aber auf ein verändertes Verkehrsverhältnis der geschichtlichen Individuen
untereinander. " (300) Emanzipation impliziert auch
" die bestimmte
Negation des sowjetmarxistisch entstellten Begriffs vom Sozialismus, der diesen
an das Bild technologisch reibungslos funktionierender und staatlich
kontrollbefugt geplanter sowie bürokratisch rationalisierter Produktion
festmachte. " (299)
Die Isoliertheit der Revolt von der Produktion, der die revolutionäre Kritik
abzugewinnen war, verkörperte die Bewegung in einen Subjektivismus, der die
theoretischen Einsichten nicht in eine revolutionäre Organisationsform umsetzen
ließ; die revolutionäre Kompromißlosigkeit, die Che Guevara zum Vorbild machte,
war Ausdruck des notwendigen revolutionären Idealismus, so daß auf der einen
Seite betont werden mußte,
" wir sind keine revolutionären Schwärmer
" (148), und auf der anderen das Elend des noch nicht materialisierten
Idealismus aufzudecken war, jener Zustand, daß
" die Praxis selbst (...)
die Träger eines subversiven Bewußtseins zu Utopisten (abstrahiert). "
(166) Dies hatte zur Folge, daß die
" antiautoritäre Emanzipationsvernunft
" (305) sich um den Preis ihrer Selbstaufgabe vorerst nur
kleinbürgerlich-sektiererisch organisieren konnte.
" Wenn es
also stimmt, daß das antiautoritäre Bewußtsein von den kapitalistischen
Kategorien antiquiert liberaler und modern technologisierter Verkehrsformen
heraus in den Naturzustand kleinbürgerlicher Sozialisationsfeindschaft übergehen
mußte, dann gibt es so etwas wie eine im Marxschen Sinne dieses Begriffs
naturgesetzliche Ten-
-42-
denz zur Selbstzerstörung der antiautoritären Emanzipationsvernunft. "
(305)
Krahl kritisierte an der Marxschen Theorie der Revolution, sie projiziere "
die Verlaufsform bürgerlicher Revolutionen auf die Verlaufsform proletarischer
Revolutionen " (391), er " apriorisierte " die Dialektik von
bürgerlicher und proletarischer Revolution (390), und das Klassenbewußtsein
setze sich bei Marx " als naturwüchsige Spontaneität hinter dem Rücken und
über die Köpfe der ProIetarier hinweg durch. Klassenbewußtsein bildet sich
gleichsam nach der metaphysischen Logik des Weltgeistes. " (390)
Offensichtlich gehen in diese Metaphysizierung der
" praktisch-kritischen
Tätigkeit " (Marx) zu einer hegelischen Logik der Geschichte noch
Vorstellungen der kritischen Theorie ein, wie sie sich diese in ihrer
nekrologischen Gestalt (Habermas, Wellmer) abmüßigte. Weniger eine Kritik an
Marx könnten diese Sätze belegen, als die Akzentuierung der
Konstitutionsproblematik im Anschluß an Marx und Lenin. Angesichts des
weltweiten Anwachsens der sozialistischen Bewegung war es Marxens wichtigste
Aufgabe, die bürgerliche politische Ökonomie kritisch darzustellen, um dadurch
die ökonomische Möglichkeit der Revolution zu skizzieren. Die Kritik der
politischen Ökonomie zeigt zwar den Kapitalismus als historisches Phänomen;
genauer: aus dem Aspekt seiner revolutionären Aufhebbarkeit. Diese
" Kritik
" liefert freilich noch nicht die Konstitutionsbedingungen von
Subjektivität mit, welche die praktische Negation wird durchführen müssen. Der
Ökonomismus des
" Kapital " ist der naturhafte Objektivismus der
kapitalistischen Verlaufsform der Gesellschaft, bis die Arbeiter
" gegen
die Schlange ihrer Qualen (
) ihre Köpfe zusammenrotten " und die Stunde
des kapitalistischen Privateigentums schlagen lassen, die Expropriateure
expropriieren und die
" Negation der Negation " (Marx, Kapital Bd. 1,
S. 316 bzw 803) praktisch vollziehen. Wie diese Praxis auszusehen hat, kann der
" kritische Kommunismus " (Engels) nicht in utopistische Konzepte
einsperren. Krahls Kritik müßte mithin eher den marxistischen Parteien nach der
Oktober-Revolution als Marx selbst gelten. Marx hatte sich sogar in Zeiten des
illegalen sozialdemokratischen Kampfes gegen geheime Gruppenbildungen
ausgesprochen und kritisiert diese in einer Weise, die auch Krahls Intention
bezeichnet, obwohl eine Stufe
-43-
illegalen Kampfes während der Revolt noch nicht erforderlich war. Gegen
kadristische Zirkelwirtschaft hebt Marx die kommunistische Verkehrsform der
solidarischen Kommunikation ab, die noch Instanz zu sein hat in der Ausbildung
des Proletariats zur Klasse für sich.
" Im übrigen steht dieser
Organisationstypus (der geheimen Gruppen, H.R.) im Widerspruch zu der
proletarischen Bewegung, weil diese Gesellschaften, statt die Arbeiter zu
erziehen, sie autoritären und mystischen Gesetzen unterwerfen, die ihre
Selbständigkeit behindern und ihr Bewußtsein in eine falsche Richtung lenken.
" (Marx MEW 17, S.665) Gleichwohl unterstreicht Krahls Entwurf, daß die
organisatorische Vermittlung von Theorie und Praxis
" Unsere Demokratie
ist direkt und unmittelbar " (153) nicht auf angestammte
Errungenschaften der revolutionären Arbeiterbewegung zurückgreifen kann,
vielmehr die Bedingungen von revolutionärer Subjektivität nach je neuen
historisch-ökonomischen Bedingungen wird bestimmen müssen. Dies ist nicht auf
kleinbürgerliche Verfallsformen der Bewegung gemünzt. Eine politische
Intellektuellenbewegung muß sich auflösen, will sie nicht Formen bürgerlichen
Verkehrs sich inkorporieren.
" Eine politische Intellektuellenbewegung muß
Momente kleinbürgerlicher Asozialität entfalten, wenn sie aus bürgerlicher
Verkehrsformen sich löst, nicht in eine proletarische Organisation sich
integrieren und sich gleichwohl als eigenständige Klasse nicht setzen kann.
" (304) Zudem kann eine politische lntellektuellenbewegung nicht leisten,
was die Arbeit einer revolutionären Klasse sein wird. Mithin gesteht Krahl zu:
" Dieses Problem ist völlig ungelöst. " (256) Prämisse der
spätkapitalistischen Kampfe bleibt allerdings:
" Je überflüssiger Arbeit
wird, umso herrschaftsfreiere Organisationsstrukturen muß die revolutionäre
Bewegung annehmen. " (196f)
Von der studentisch-kleinbürgerlichen Basis des antiautoritären
Emanzipationsinteresses läßt sich die Organisationsfrage weniger in Kategorien
herkömmlicher Notwendigkeiten proletarisch-kämpferischer Vereine und Parteien
darstellen die den Zwang des Arbeitstages in der Organisation wiederholen
mußten, um kampffähig zu bleiben als über die Möglichkeit der Einsicht in die
" historische Notwendigkeit der Revolution " (314), an der sich
längerfristige Agitationstätigkeit bemessen könnte.
-44-
Dieses revolutionäre Bewußtsein kam jenem Teil der Bewegung nicht zu, der es
beim antiautoritären Protest beließ und schließlich in die herkömmlichen Formen
kleinbürgerlichen Individualprotests zu
" liebesschwülstigem Gemütstau
" (Marx) retardierte, der als
" wahrer Sozialismus " zu Marxens
Tagen noch komödiantenhafte Züge aufwies, heute aber zur Farce geworden ist. Bei
Lukács reflektiert die Organisationsform Freiheit nur in der Weise äußerster
selbstauferlegter Disziplin; der Kommunismus als herrschaftsfreier Verkehr der
Genossen war gesetzt vermöge der Organisation, Disziplin nach Maßstäben der
calvinistischen Ethik bildete umfangslogisch die Einschränkung der
kommunistischen Kommunikation, solange die Revolution noch westwärts ziehen
mußte. Die Organisation gewann so die Züge einer bürgerlichen Gelehrtenrepublik,
in der Kantische Prinzipien der Sittlichkeit rätehaft organisierte Proletarier
mit der Leninschen Avantgarde vermittelten. Spezifische Formen des
revolutionären Kampfes wurden somit hypostasiert, die Organisation wurde
"
zur transzendentalen Form der Vermittlung von Theorie und Praxis " (344).
Der kommunistische Verkehr der Individuen konnte nur als abgehobene Logik die
Praxis begleiten; die Entfaltung einer emanzipatorischen Sinnlichkeit, einer
kommunistischen Bedürfniswelt mußte verschoben werden auf den Tag der erfolgten
Umwälzung.
Gewiß müssen sich Bedürfnisse und freier Verkehr in andrer Form zu Zeiten jener
revolutionären Kämpfe darstellen, welche die bürgerliche Revolution zugleich
besorgen müssen und damit auf politische Mittel der ursprünglichen Akkumulation
zurückgeworfen sind. Die ersten Versuche des Proletariats,
" in der Periode
des Umsturzes der feudalen Gesellschaft direkt sein eignes Klasseninteresse
durchzusetzen, scheiterten notwendig an der unentwickelten Gestalt des
Proletariats selbst wie an dem Mangel der materiellen Bedingungen seiner
Befreiung, die eben erst das Produkt der bürgerlichen Epoche sind. " Im
Selbstverständnis der Protestbewegung hatten sich die materiellen Bedingungen
der bürgerlichen Epoche hinlänglich entwickelt, die Aktualität der Revolution
war nicht nur eine politische wie bei Lenin sie war begründet n den
ökonomischen Produkten der Bourgeoisie.
-45-
Damit konnte der kommunistische Vorschein, die Entfaltung des freien Verkehrs
der Individuen in und vermittels des Kampfes wieder zu einer Bedingung der
Revolution werden. " Eine neue organisatorische Qualität kann nur erreicht
werden, wenn sich die Bewegung massenhaft und kollektiv auf eine neue
Reflexionsstufe hebt und Agitation und Propaganda inhaltlich verändert im
Hinblick auf eine Theoriebildung, die abstrakte Totalitätskategorien immanent
mit Begriffen der Bedürfnisbefriedigung verbindet. " (345) Eine "
Organisation des Widerstandes " (153) muß ständig das Dilemma praktisch
angehen, daß sie Objekt kapitalistischer Herrschaft ist und zugleich
emanzipatorische Verkehrsweisen ausbilden muß, um jene transzendieren zu können;
" eine Organisationsform herauszubilden, die unter den Bedingungen des
Zwanges und der Gewalt sowohl autonome Individuen herausbildet, als auch solche,
die zu einer bestimmten disziplinären Unterordnung unter die Erfordernisse des
Kampfes und unter die Bedingungen des Zwanges fähig sind. " (256)
Die Hoffnung der Bewegung bestand darin, daß sie nicht, wie eine, die auf Gewalt
sich aufbaut, da physisches Elend die Gewaltform der ursprünglichen Akkumulation
ihr vorgibt, die kapitalistischen Gewaltformen reproduzieren muß. Dennoch
bedeutet Organisation Vermittlung von Freiheit und Zwang nach Maßgabe der
politisch-ökonomischen Möglichkeiten der Revolution. " Die bestimmte
Negation des bürgerlichen Tauschverkehrs, zugleich solidaritätsbildend für
proletarische Organisationsformen, würde bedeuten, daß ein jeder um der
Emanzipation des anderen willen sich so viel Unterdrückung aufzuerlegen imstande
ist, daß er seine Emanzipationsbedürfnisse nach den Gesetzen des politischen
Kampfes einschränkt. Die politische Moral des revolutionären Kommunisten
diszipliniert sich zum Kampf und antizipiert zugleich die solidarische Basis des
herrschaftsfreien Verkehrs durch die bestimmte Negation der tauschwertbedingten
Verkehrsform. " (307)
7. Arbeitshypothese VII.
Ökonomiekritisch muss der Organisationsfrage der Stand der kapitalistischen
Produktion zugrunde gelegt werden. Nun hatten Marx und Engels - wie Krahl
pointiert - zwei Endpunkte der kapitalistischen Naturwüchsigkeit bestimmt: das
Aktienkapital
-47-
und die als Kapitalform gesetzte große
Maschinerie.
" Beide deuten ihnen zufolge auf eine
Vergesellschaftungsqualität des ökonomischen Verkehrs, welche die freie
Assoziation der unmittelbaren Produzenten, die sozialistische Produktionsform
objektiv ermöglichen, wie Marx von der Aktiengesellschaft schreibt. " (S.
352)
Krahl geht aus von der Veränderung der Formbestimmung der abstrakten Arbeit. Bei
Marx ist der Begriff der abstrakten und konkreten Arbeit konstitutiv für die
Werttheorie. Die Waren bilden als Arbeitsprodukte die Einheit von konkreter und
abstrakter Arbeit. Während die konkrete Arbeit die in die Ware hineingesteckte
sinnlich-nützliche Tätigkeit beizeichnet, so die abstrakte die allgemeine
menschliche Arbeit, unter Abstraktion von den sinnlichen Beschaffenheiten der
Tätigkeit. Die Kategorie will den Begriff des Werts der Ware erhellen, als
gesellschaftliche Substanz der Ware. Als wertbildende Substanz ist Arbeit
abstrakte Arbeit, und damit historisch formbestimmt durch eine Bedingung, welche
Ware und Wert zu kritischen und aufzuhebenden Gegenstandsformen macht: die
entfremdete gesellschaftliche Teilung der Arbeit. " Nur Produkte
selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als
Waren gegenüber. " (Marx, Kapital Bd. I, S. 46.). Der Begriff der
abstrakten Arbeit denunziert mithin die kapitalistische Formbestimmung der
Arbeit, die nicht nur ihren sinnlichen Produkten die Warenhaut überzieht,
sondern auch den Formen ihres Verkehrs; die Verhältnisse der Menschen
verdinglichen zu naturhaften Gegebenheiten.
Am Begriff der abstrakten Arbeit als undurchschauter Gesellschaftlichkeit im
Gegensatz zur naturkonstant stofflichen konkreten Arbeit, deren Formbestimmtheit
nicht eingeschrieben ist, dass sie an die Warenform gekettet bleiben muss - eine
Zwieschlächtig-keit, die gleichwohl die kapitalistische Synthesis des Produkts
als Ware ausmacht -, setzt Marx den
" Springpunkt " der Kritik an und
gelangt schließlich zur Kategorie des Mehrwerts und der Akkumulation.
" Aus
der Kritik an diesen Kategorien erschließt sich die Gesellschaft als eine
Herrschaftstotalität von Verdinglichung, Ausbeutung und Krise. " (S. 336)
Angesichts des Monopolkapitalismus stellt sich die Frage, ob sich »ein Wandel in
der kategorialen Verfassung der kapitalistischen Produktionsweise, nämlich in
der Totalität abstrakter Arbeit« (S. 343), vollzogen hat, und welche
Konsequenzen »eine qualitativ neue Dimension« des
-48-
"
Widerspruchs von Vergesellschaftung und Privateigentum, von gesellschaftlicher
Arbeit und Privatarbeit " (S. 295) ergibt. Krahl stellt die These auf,
dass die
" ökonomische Potenzierung der außerökonomischen Staatsgewalt und
die technologische Umsetzung der Wissenschaften ins kapitalfixierte
Maschinensystem " (S. 350) eine neue Qualität gesetzt hätten, obgleich die
qualitativen Formen der Veränderung an den Kategorien der Kritik der politischen
Ökonomie wie Ware und Wertsubstanz noch
" unklar " sind, wie Krahl
einräumt (S. 92). Ausgangspunkt heutiger revolutionstheoretischer Überlegungen
bleibe, dass die
" in der Marxschen Lehre kritisch dargestellte
naturgesetzliche Krisengeschichte der kapitalistischen Gesellschaftsformation
(...) sich geschichtlich erfüllt (hat) " (S. 124). Mit dieser reellen
Entfaltung der politischen Ökonomie, deren materialistische Objektivität als
Kategorialität begründet, dass Marxens Darstellung zur Logik der
kapitalistischen Geschichtsepoche, zum System einer negativen Ontologie
zusammenwächst, hat die politische Ökonomie sich ihre materialistische
Kategorialität gesamtgesellschaftlich vermittelt.
Die Naturwüchsigkeit der Entfaltung des Kapitalverhältnisses, die kategorielle
Materialität und materielle Logizität, hat sich auf der Ebene des Weltmarktes
gesetzt. Bei Marx hatte die bürgerliche Gesellschaft sich total den Dingen und
Menschen aufgezwungen - wenngleich noch formell -, als das Geld der Inbegriff
der Ware geworden war; die Universalität der Warenform als Geldform vermöge des
Weltmarktes ist die materialistische Adäquation der Daseinsweise des Geldes mit
seinem Begriff. (ibid., S. 148) Dieser ersten über die Ware totalisierten Welt
als formelle Totalität der zum Begriff, zum Schein, zum Geldzeichen
immaterialisierten Gesellschaftlichkeit der Arbeit, die zugleich ihre
Verdinglichung nach Maßgabe der Geldformen kennzeichnet, folgt der Gang der
kapitalistischen Geschichte als progredierend akkumulierter Mehrwert, bis die
Welt zu einer neuen Begrifflichkeit qualifiziert ist, das Kapital seinem Begriff
- formell - adäquat wird. Dies wäre die von Krahl gegebene Stufe des
eingetretenen Endpunktes der kapitalistischen Naturwüchsigkeit mit den beiden
Seiten Aktienkapital und
" kapitalfixiertes Maschinensystem ". Auf
dieser Stufe, die Marx als die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital
beschreibt,
-49-
realisiert sich erst die
" Produktion um
der Produktion willen ". (Marx, Resultate des unmittelbaren
Produktionsprozesses, Ffm 1969, S. 63)
Die immanenten Tendenzen des Kapitals haben sich materialisiert, damit auch ihre
Schranken, wie Krisen und Überproduktion. Die Materialisierung der immanenten
Tendenz des Kapitals erweitert die politische Ökonomie als vorrangig daseiende
Kategorialität des kapitalistischen Systems; Krisenmanagement,
Staatsintervention und Technologisierung des Kapitals (Marx, Resultate des
unmittelbaren Produktionsprozesses, Ffm 1969, S. 63) erweitern die Kategorien,
welche die »Kritik« angesichts des entfalteten Kapitalverhältnisses in sich
aufnehmen muss. Für eine revolutionstheoretisch sich begreifende Kritik heißt
dies, dass die offiziellen Wirtschaftswissenschaften mit der sich realisierenden
Immanenz des Kapitals deformiert wurden zur Hilfswissenschaft für die Steuerung
destruktiver ökonomischer Prozesse, denen die ehemals angestrebte Einsicht in
die Totalität der bürgerlichen Reproduktion gleichgültig geworden ist. Eine
revolutionäre Theorie kann an einem heutigen Ricardo ebensowenig mehr ansetzen
wie die Methode an einem heutigen Hegel. Offensichtlich reichen -
revolutions-theoretisch - die heutigen ökonomischen Regelsysteme nicht mehr aus,
die Marxsche Kritik gemäß der entfalteten Immanenz dieser Systeme darzustellen.
Krahl hat die Erweiterung der »Kritik« benannt - er konnte sie freilich nicht
ausführen.
" Eine Theorienkritik der modernen Wirtschaftstheorie muss
problematisieren, ob deren Kategorien noch im Marxschen Sinn hinreichende
Existenzbestimmungen der monopolkapitalistisch gewandelten Produktionsweise
sind, und (dass) die Kritik an ihnen nicht mehr ausreichen könnte, um
revolutionäre Theorie zu bilden, als einer Lehre, deren Aussagen die
Gesellschaft unter dem Aspekt radikaler Veränderbarkeit beschreibt. " (S.
348) Die neue Qualität des Kapitalverhältnisses hat für die revolutionäre
Agitation entscheidende Implikationen.
" Wenn sich nun das Verhältnis des
Staates zur Wirtschaft dadurch verändert hat, dass der Staat selbst ein
Produktionsfaktor und ein elementarer Regulator des ökonomischen Prozesses
geworden ist, wenn sich also dieses Verhältnis von Politik und Ökonomie, in dem
sich ja schließlich die Klassen, wie sie an sich selber beschaffen sind,
konstituieren, geändert hat, wie hat sich dann die Klassenlage sowohl der
Kapitalisten als auch der Lohnabhängigen an sich selber verändert? " (S.
260)
-50-
Aus der These des mit der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital
erreichten Endpunkts einer Logik des Kapitalverhältnisses an den Kategorien der
politischen Ökonomie folgt eine Erweiterung des Erkenntnissubjekts für
Veränderung - freilich nach Maßstab der Marxschen Theorie, dass der
Akkumulationsprozess die " neue Schöpfung von Lohnarbeitern« einschließt.
" (Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Ffm 1969, S.
65)
Die Realisierung der immanenten Tendenzen des Kapitals produziert die "
kombinierte Tätigkeit« der Arbeitsvermögen als Gesamtarbeiter, »ein sozial
kombiniertes Arbeitsvermögen " wird der " wirkliche Funktionär des
Gesamtarbeitsprozesses " und bildet " die gesamte produktive
Maschine, (...) der eine mehr mit der Hand, der andre mehr mit dem Kopf (...),
der eine als manager, engineer, Technolog, etc., der andere als overlooker, der
dritte als direkter Handarbeiter oder gar bloß Handlanger ". (Marx,
Resultate..., S.65f)
Diese gesamte produktive Maschine als Resultat des kapitalistischen
Produktionsprozesses ändert freilich nichts daran, dass nicht jeder Lohnarbeiter
produktiver Arbeiter ist, d.h. mit der Produktion von Mehrwert sinnlich
beschäftigt. Wichtig ist hierbei, dass die Kategorie des Lohns den
Verwertungsprozess mystifiziert und stets Ausbeutung über Mehrarbeit und
Herrschaftsformen dieser Exploitation impliziert. Durch die reelle Subsumtion
werden Formen der Arbeit entschleiert, die bisher
" einen Heiligenschein um
sich hatten ", und Tätigkeiten entweder direkt in Lohnarbeit verwandelt
oder deren Gesetzen unterworfen. (Marx, Resultate... S.67) Anders gesagt: die
realisierte Produktion des relativen Mehrwerts verwandelt alle Dienste in
Lohnarbeit. Dieser Vorgang birgt die Möglichkeit klassentheoretischer
Konsequenzen, wenn, wie Marx sagt, die
" materielle Produktion "
(Marx, Resultate... S.61) sich verändert. Lohnarbeiter sind Menschen, die sich
als Ware Arbeitskraft zu verkaufen gezwungen sind. Der Lohn deckt jedoch nur die
- mit moralischen Elementen historisierten - Reproduktionskosten der Ware
Arbeitskraft. Der Lohnarbeiter erhält sein Salär für seinen gesamten Werkeltag -
obwohl er einen Teil desselben Mehrwert schanzt - und muss somit dem Schein
unterworfen sein, als handle es sich um ein im Ganzen
" gerechtes
"Geschäft. Einsicht in die Kategorie des Lohns, und damit in die Dialektik
von Lohnarbeit und Kapital, Mehrwert, Akkumulation, sind mithin
-51-
Bedingung der Konstitution von Klassenbewusstsein. Wie Lukács
wiederholt hat: Klassenbewusstsein ist das Selbstbewusstsein der Ware
Arbeitskraft. Mit der Verwandlung von Diensten in Lohnform, von versprengten
kleinbürgerlichen Tätigkeiten in die gesamte produktive Maschine erweitert sich
das Quantum derer, welche die Bedingung der Möglichkeit zur Entwicklung von
Klassenbewusstsein erfüllen: allerdings nur die Bedingungen, denn die
Lohnkategorie beinhaltet vorerst lediglich die Avancen des Kapitals - nicht
Klassenbewusstsein selbst.
Indessen sind mit diesen Erwägungen Probleme einer Theorie der Revolution
wiederum nur bezeichnet; mit der Erweiterung des Lohnbegriffs ist noch nichts
über die inhaltliche Seite der neuen Formbestimmung der Arbeit ausgesagt. Die
materialistische Empirie müsste untersuchen, wie sich Warenform, Kapitalform,
Lohnform, Klassenkampfform im entfalteten Kapitalismus zu ihrem Begriff in der
Marxschen Theorie verhalten. Krahl hat es immerhin gewagt, diese theoretisch
noch keineswegs überall schlüssigen Entfaltungen der Marxschen Theorie
konsequent weiterzudenken. Wenn es stimmt, dass sich " die Totalität der
proletarischen Klasse insgesamt erweitert " hat (S. 295), dann deckt sich
das mögliche revolutionäre Totalitätsbewusstsein nicht mehr mit der
Einschränkung desselben aufs Industrieproletariat. " Mit der
fortschreitenden Vergesellschaftung des Kapitals und der produktiven Arbeit und
der technologischen Verwissenschaftlichung der Produktion wird auch das
unmittelbare Industrieproletariat immer mehr zum Moment im Arbeitsprozess. Es
repräsentiert weniger denn je Totalität produktiver Arbeit. " (S. 334)
Vorab impliziert dies, dass " der Übergang vom Konkurrenz- zum
Monopolkapitalismus " (S. 331) - genauer, der Übergang von der formellen
zur reellen Subsumtion - als " neue Vergesellschaftungsqualität (...) den
Klassenantagonismus insgesamt (verändert) " (S. 332). Nach Marx verändert
sich mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses notwendig der Begriff
der produktiven Arbeit (Marx, Kapital Bd.l, S. 533; cf. Krahl, S. 333) gemessen
an den Organfunktionen des Gesamtarbeiters. " Die Wissenschaft als das
allgemeine geistige Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, erscheint hier
(...) dem Kapital direkt einverleibt. " (Marx, Resultate..., S. 79)
Krahl nimmt die Marxsche These von der Erweiterung des Begriffs der produktiven
Arbeit -
" Um produktiv zu arbeiten, ist es nicht mehr nötig, selbst Hand
anzulegen; es genügt, Organ
-52-
des Gesamtarbeiters zu sein,
irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn " (Marx, Kapital Bd.l, S.
533) - wörtlich, ohne die inhaltliche Seite zu besehen, und geht aus von einer
" historisch neuen Qualität der Wissenschaft als Produktivkraft " (S.
330). Daraus ergäben sich folgende Konsequenzen: die
" strategische
Fehleinschätzung eines industrieproletarisch verengten Klassenbegriffs
"(339); das Industrieproletariat kann nicht mehr »die Totalität des
Klassenbewusstseins, also in der Wahrnehmung der Produktions- und
Herrschaftstotalität der Gesellschaft, produzieren«, die Totalität des
Klassenbewusstseins könne nur wiederzugewinnen sein mit Hilfe einer
"
Organisation der wissenschaftlichen Intelligenz, des Heers der Industriearbeiter
und produktiven Angestellten« (S. 296); die »wissenschaftliche Intelligenz
gehört ihrer objektiven Lage zufolge tendenziell der herrschenden Klasse nicht
mehr an, nur noch ihrer sozial zurechenbaren geschichtlichen und sozialen
Herkunft nach " (S. 354), damit ist der
" Klassenverrat (...)
organisierbar geworden " (354);
" ohne die organisierte produktive
wissenschaftliche Intelligenz (ist) die Bildung eines auf die bürgerliche
Gesellschaft insgesamt bezogenen Klassenbewusstseins auch im
Industrieproletariat unmöglich " (S. 335). Der These von der neuen
Totalität des Proletariats fügt Krahl hinzu:
" Noch so viele spontane
Streiks in der BRD, in den Turiner Fiat-Werken und so weiter werden nichts daran
ändern, dass das Industrieproletariat als Industrieproletariat ein Moment in der
gesamten Klasse ist, aber nicht diese Klasse in ihrer Totalität repräsentiert.
" (S. 318) Deshalb muss die
" Bewegung wissenschaftlicher Intelligenz
(...) zum kollektiven Theoretiker des Proletariats werden - das ist der Sinn
ihrer Praxis. " (S. 345)
Zweifellos hat Krahl Ansätze einer Revolutionstheorie des entfalteten
Kapitalismus gegeben; allerdings sind seine Folgerungen nicht immer ausgewiesen
und seine Theorie des kollektiven Theoretikers des Proletariats in Gestalt der
" wissenschaftlichen Intelligenz ", sowie der neuen Qualität von
Wissenschaft, trägt Züge der Frankfurter Schule. Nicht die organisierte
wissenschaftliche Intelligenz wird Theoretiker der proletarischen Bewegung
stellen, ebensowenig wie der Feuerbachsche
" Mensch " zum Sozialisten
wird, sondern nur Teile dieser Intelligenz werden in Allianz mit der
proletarischen Bewegung als Sozialisten sich auf dem Standpunkt der
revolutionären Arbeiterklasse
-53-
begreifen. Freilich verfällt
Krahl nicht dem - frankfurterischen - Trug, der Wissenschaft auch noch die
Homunkulusfunktion einzuverleiben, in ihrer Omnipräsenz den Mehrwert zu hecken.
Krahl betont, dass
" die Wissenschaft (nicht) zur eigenständigen
Mehrwertquelle (wird) ", sondern das
" lebendige Arbeitsvermögen
(...) erste und einzige Mehrwertquelle« bleibt (S. 327). Dennoch sind Begriffe
wie »produktive Angestellte " (S. 321) oder
" Organisation der
wissenschaftlichen Intelligenz ", als machte diese Funktion Sozialisten,
höchst beirrend. Noch gibt es nicht:
" nur eine ökonomische Klasse, eine
gesamtgesellschaftlich verallgemeinerte Lohnarbeiterschaft, die das Proletariat
in sich aufgehoben hat " (S. 176), wie Krahl fragend formuliert. Der
Kapitalismus ist seinem Begriff noch nicht derart adäquat, dass der
gesellschaftlich struktive Klassenantagonismus sich eindimensionalisiert hätte
zu dem
" Volk " und einigen sinnlichen Restbeständen
zurückgebliebener Charaktermasken von Monopolmanagern oder -eignern: das Kapital
wird sich nicht selbstliquidatorisch organisieren, das Proletariat hat sich noch
nicht kapitalnegatorisch organisiert. Die immanente Transzendenz des
Kapitalverhältnisses bleibt praktisch zu organisieren; entsprechend der
Erweiterung des Begriffs der Lohnarbeit vermöge der realen Subsumtion und damit
erweiterter Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution von Klassenbewusstsein
- hierzu bedarf es keines Kultus eines neuen wissenschaftlichen Menschen, wie er
keimförmig der Theorie der Produktivkraft Wissenschaft zugrunde liegt. Die
Theorie der wissenschaftlichen Intelligenz, die das Proletariat organisatorisch
in sich aufzunehmen vermeint, erweist sich als spezifische Überlegung der
studentischen Linken, der es in der Tat oft nicht besser geht als dem
kleinbürgerlichen Herrn Röscher, dem Marx bescheinigt, er bestehe aus einerseits
- andererseits. Einerseits will die studentische linke Praxis die obiektiven
Interessen der Arbeiterklasse artikulieren, zum andern ist sie von der
Vereinnahmung der Bourgeoisie als wissenschaftliche Intelligenz bedroht; die
Theorie des Gesamtarbeiters, wie sie in der Protestbewegung formuliert wurde,
bietet die Hoffnung, nachuniversitär der Totalität des Klassenbewusstseins
versichert zu sein. Vorerst ist der Gesamtarbeiter allerdings noch der neue
Kleinbürger, dies wäre negatives Implikat der Krahlschen Frage nach der
"
einen " ökonomischen Klasse. Der hervorgehobenen Notwendigkeit einer
Organisationsform der wissenschaftlichen Intelligenz,
-54-
wobei
der Wissenschaft - entgegen dem durchgängigen Zug bei Marx, dass Wissenschaft
vor ihrer sozialistischen Anwendung immer die für das Kapital ist - ein
eudämonistischer Zug einhergeht, verbindet sich ökonomische Überschätzung der
Produktivkraft Wissenschaft:
" Technik und Wissenschaft haben ein produktiv
umgesetztes Entfaltungsstadium von systemsprengendem Ausmaß erreicht. Die neue
Vergesellschaftungsqualität der produktiven Arbeit durch die technologische
Verwissenschaftlichung der Produktion vermag ihre zwangsweise kapitalistische
Vergegenständlichung nicht mehr zu tolerieren. " (S. 333 f.)
Das Gegenteil scheint angesichts der Produktion gigantischer Destruktionsmittel
im Dienste kapitalistischer Akkumulation der Fall zu sein . Die Technik hat
noch, wie Agricola (um 1530) zu Eingang kapitalistischer Werkzeugentwicklung
anmerkt, Gut und Böse in sich, Potenzen, die durch die Formbestimmung der Arbeit
realisiert werden, und Lohnarbeit ist kapitalistisch ausgebeutete Arbeit im
Dienste von Mehrwert und dessen Akkumulation. Die Qualität der Produkte der
menschlichen Arbeit ist noch davon bestimmt, dass der toten Arbeit selber
Herrschaft innewohnt, da ihr Gebrauchscharakter zum Moment depraviert ist. Auch
wäre dieser nicht konstitutiv für das Kapital, dem seine " stoffliche
Gestalt, worin es im Arbeitsprozess erscheint, ob als Dampfmaschine, Misthaufen
oder Seide " (Marx, Resultate..., S.39f), gleichgültig ist. Diese
stoffliche Neutralität der Dingwelt ermöglicht nur die Hoffnung, dass späterhin
die ehemals nach Profitinteresse konstruierten Dinge ihren mit eigner Seele
erscheinenden Kapitalcharakter abgestreift bekommen und solidarisch verwaltet
werden können. Die Technik rebelliert nicht selbst; sie deckt ihre
naturmystische Seite nur auf in der Allianz mit der umwälzenden Praxis.
Krahl verleiht der Wissenschaft als emanzipative Kategorie im Klassenkampf eine
produktionsmystische Dimension.
" Mit Wissenschaft als einer primären
Produktivkraft hat sich die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital
gewandelt. Sie ist entgegenwirkende Ursache. " (S. 354) Zwar ist der
Wissenschaft eine zivilisatorische Tendenz immanent, doch immer formbestimmt
nach dem jeweiligen Kapitalinteresse. Die Wissenschaft stellt - wie in der
Revolt oft erhofft wurde - keine Sonderstellung zur Maschine dar: sie ist
ökonomische Kategorie und damit Fluch
-55-
und Segen zugleich,
Fortschritt kraft der Qualitäten des capital fixe, Überwindung der allgemeinen
Bedarfsdeckung, Produktion von gesellschaftlichem Reichtum; aber dies nur als
kapitalistischer Fortschritt, als Ausdruck der Produktion kapitaleigentümlichen
Reichtums kraft des relativen Mehrwerts. Ein Wandel
" in der Totalität
abstrakter Arbeit " (S. 348) kann sich ohne die Praxis der kämpferisch
verbundenen Individuen, welche die Wissenschaft - neben der gesamten
Produktionsweise - ummünzen, nicht einstellen. Dies war eine Hoffnung der von
der Arbeiterklasse getrennt kämpfenden Studenten. Die Wissenschaft ist stets
Hebamme für die kapitalistische Ausbeutung, bis die
Vergesellschaftungsqualitäten der reellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital
mit den Interessen der Gattungsgeschichte, d.h. durch die Übernahme des
Proletariats, belebt werden.
In der Krahlschen Form erfährt die Kategorie der produktiven Arbeit eine
Erweiterung, während sie in jener klassenanalytischen Aufbereitung des Begriffs,
die den mehrwerttheoretischen Kontext umstandslos zum klassentheoretischen
macht, eine Verlagerung erfährt. Neben der Erweiterung des Begriffs der
produktiven Arbeit vermittels eines
" kombinierten Arbeitspersonals "
betont Marx, dass die Bestimmung der produktiven Arbeit nur
" wahr (bleibt)
für den Gesamtarbeiter, als Gesamtheit betrachtet. Aber sie gilt nicht mehr für
jedes seiner Mitglieder, einzeln genommen " (Marx, Kapital I, S.534),
denn hier ist nur die Arbeit produktiv, die zur Selbstverwertung des Kapitals
dient. Vorerst gibt die Kategorie des Gesamtarbeiters ebensowenig an
klassentheoretischer Bestimmung her wie die der produktiven Arbeit. Die reelle
Subsumtion der Arbeit unter das Kapital entwickelt
" die sozialen
Produktivkräfte der Arbeit " und damit
" eine veränderte Gestalt der
materiellen Produktion. Andrerseits bildet diese Veränderung der materiellen
Gestalt die Basis für die Entwicklung des Kapitalverhältnisses (...) "
(Marx, Resultate..., S.61). Unter diesem, auf die Natur der Produktion
gerichteten Aspekt ist der Begriff des Gesamtarbeiters zu fassen, er leistet
nicht bereits die Darstellung kapitalnegatorischer Potenzen. Allerdings hat
Krahl einen entscheidenden Sachverhalt der Marxschen Theorie versucht
revolutionstheoretisch zu befragen: die
" Anwendung von Wissenschaft und
Maschinerie auf die unmittelbare Produktion " (Marx, Resultate..., S.61)
-56-
im Zuge der reellen Subsumtion. Lukács hatte als einer der
Wenigen, als Mitarbeiter des Moskauer Marx-Engels-Instituts, die
"
Resultate " und die
" Grundrisse " einsehen können und auf
Probleme der reellen Subsumtion hingewiesen (Holz/Kofler/Abendroth. Gespräche
mit Georg Lukács, Hamburg 1967, p. 42 und passim) denen freilich
revolutionstheoretisch noch nicht gefolgt wurde. Allgemein lautet die Frage:
" Wie verändert sich die Klassenstruktur, wenn die verdinglichten
Abstraktionen des Überbaus sich unmittelbar in die Produktion zurückvermitteln?
" (S. 165)
Die heutige
" Entfaltungsnotwendigkeit eines wissenschaftlichen Sozialismus
" (S. 310) als Rekonstruktion revolutionärer Theorie gründet sich auf die
kapitalistische Onto-Logik, wie das Marxsche System als Kritik sie in den
Formbestimmungen des Werts denunziert. Mit der reellen Subsumtion der Arbeit
unter das Kapital wandelt sich die
" kategoriale Verfassung der
kapitalistischen Produktionsweise ", die Wirtschaftswissenschaften werden
selber gleichsam aktienkapitalisiert zum Moment gesellschaftlicher Wahrheit; den
ehemaligen Totalitätsanspruch der progressiven Bourgeoisie haben sie fallen
gelassen. Das geschichtliche Prinzip der Produktion, d.h. die Geschichte
konstituierende Produktion der Produktionsmittel selber, die den Eintritt der
bourgeoisen Epoche kennzeichnet, hat sich im capital fixe festgesetzt. Damit
haben sich die
" verdinglichten Abstraktionen des Überbaus " in die
durch die kombinierte Maschinerie qualifizierte Basis zurückvermittelt. Der
Arbeitsprozess ist noch einmal
" in sich selbst vergesellschaftet "
(S. 395). Dies verändert
" die technologische Verfassung des
Arbeitsprozesses selber "; der Wechsel wird mit dieser
Vergesellschaftungsform der Produktion
" immer produzierter " (S.
354). Hieraus müsste folgen, dass die historisch materialistische Kritik am
Verlauf der bürgerlichen Kategorialität selbst, an der kapitalistischen
Onto-Logik, durch die potenzierte Vergesellschaftung der politisch-ökonomischen
Kategorien - in Gestalt der Smith-Ricardoschen - sich auf neuer Stufe zu
begreifen hätte; d.h. die Kritik der politischen Ökonomie erweitert sich durch
die Materialisierung ihrer Kategorien. Selbst Marxens These, Hegel gebe den
Begriff auf der Ebene der klassischen ökonomischen Theorie wieder, müsste
nunmehr dergestalt eingeholt werden: die Kategorialitäten der Bourgeoisie müssen
allesamt Gegenstand der Kritik werden. Marx
-57-
konnte eine
Kritik des bürgerlichen Selbstbewusstseins an den
" Existenzweisen "
der Bourgeoisie nicht totaliter ausführen.
Die revolutionäre Theorie, welche die Gegenstandsformen der Bourgeoisie zur
Umwälzung angreift, zerschlägt die Sprödigkeit ihrer begrifflichen
Verdinglichungen und verdinglichten Begrifflichkeiten; ihre kategorielle
-entfremdete- Totalität. Die Hegelschen Begriffe repräsentierten sie, wie die
Ricardoschen. Wie Marx die Kategorien als spezifisch bürgerliche überführt und
ihre Naturhaftigkeit vermöge der Analyse der Arbeit (Hegel) und der Ware ins
Wanken bringt, so muss die Kritik, nachdem dies geleistet ist und die Logik der
Kapitalakkumulation gesetzt ist, den verdinglichten Schein, die kategoriell
verfasste Realität insgesamt zerstören. Indem die Kritik der politischen
Ökonomie historisch ihre logischen Resultate erreicht - was freilich nicht
heißt, dass der Gang des Kapitalverhältnisses sistiert sei -, hebt sich die
Kritik gesamtgesellschaftlich auf; sie erreicht damit das Stadium der
gesellschaftlichen Entfaltung der Ökonomie, deren Formbestimmungen als
vergesellschaftete Erscheinungsweisen des Kapitalismus Aktienkapital - die neue
Totalisierungsqualitat angeben.
Die Formbestimmungen der Kritik der politischen Ökonomie haben sich der
gesellschaftlichen Totalität auferlegt; zugleich ist diese ohne jene nicht
entschlüsselbar. Nicht nur das Selbstverständnis der Nationalökonomie ist
Gegenstand der Kritik, sondern das Selbstverständnis der Wissenschaften
überhaupt als mittlerweile in die Basis sich struktiv zurückvermittelnden
Produktivkräften. Die Kritik kann mithin allgemeiner ansetzen als die Marxsche.
Sie gewinnt eine metaökonomische Dimension; sie ist nicht nur Kritik der
politischen Ökonomie, sondern Kritik der Gesamtheit der heutigen Existenzweise
des Kapitals und der hierdurch bestimmten sozialen Beziehungen der Individuen.
8. Arbeitshypothese VIII.
Die reelle Subsumtion als kapitalistische Entfaltung der Gesellschaft über ihre
durch den absoluten Mehrwert gesteckten Schranken hinaus, der, entgegen dem
relativen, auf maschinenmäßig erweiterter Ausbeutung beruhenden, auf nackter
Gewalt und Ausdehnung des Arbeitstages basiert, hat einen weiteren Stimulus der
Entfaltung des relativen Mehrwerts geschaffen: die
-58-
Produktion von Bedürfnissen unter Warenhaut, die vom - ehemals kampfbestimmenden
- Movens allgemeiner gesellschaftlicher Not und materiellen Elends des
westeuropäischen Proletariats losgelöst zu sein scheinen. Diese Produktion von
Bedürfnissen scheint der Möglichkeit der Entfaltung von Subjektivität
entgegenzuwirken:
" Wie können Bedürfnisse nach einem Reich der Freiheit,
des Friedens und des Glücks ins Bewusstsein der Massen und zur politischen
Erscheinung drängen, wenn sie nicht mehr in den materiell vitalen Bedürfnissen
nach der Beseitigung von Hunger, materieller Not und physischem Elend verankert
sind ? " (S. 298) Anders hieße die Frage: Wie sind angesichts des
entfalteten Kapitalismus, der Totalität des relativen Mehrwerts, der Herrschaft
der aktienkapitalistischen Eigentumsform der Subsumtion des Gebrauchswerts unter
den Tauschwert auf der Basis des kapitalistisch gesetzten Gebrauchswerts - die
Bedingungen von Subjektivität, von systemnegatorischer Apperzeption und Praxis
möglich? Wie konstituiert sich revolutionäres Bewusstsein, wenn die
logisch-ontologischen Totalitätskategorien sich materialisiert haben ?
Die Frage kann nur gestellt werden nach Maßgabe der bisherigen proletarischen
Siege und Niederlagen, angesichts der Bedingungen des entfalteten Kapitalismus,
auf dessen Boden die Theorie sich zu eingreifendem Denken herausarbeiten muss.
Auf diesem Stadium der
" Konstitution des Klassenbewusstseins als eines
parteilichen Totalitätsbewusstseins " (S. 309) bewegen sich die
revolutionären - der Kritik der politischen Ökonomie abgewonnenen - Kategorien
nicht mehr naturwüchsig in der Immanenz von Elend und Gewalt. Verelendung ist
tendenziell kein Begriff lebensgeschichtlicher Unmittelbarkeit mehr, Elend und
Gewalt müssen vermittelt werden gegen unterdrückende Manipulation und bedürfen
materialistisch-erkenntniskritischer Analysen - freilich: dass Elend und Gewalt
sich globalisiert haben, von der Aushungerung der blühenden Städte Indiens kraft
der East-Indian-Company bis zur Ausblutung des halben Erdballs, ist selber Teil
der maximierten Exploitation des Kapitals; dieses aber produziert seine eigenen
" moralischen Elemente " in den angestammten Ländern des
Kapitalismus. Dies macht Aufklärungsarbeit in andrer Weise nötig als zu Marxens
Zeit. Die Begriffsbildung geht nicht naturwüchsig den Bedürfnissen der Massen
nach Emanzipation einher. Wenn die Kritik der
-59-
politischen
Ökonomie nicht mehr vorrangig als Kritik des nationalökonomischen
Selbstverständnisses die Konstitutionskategorien der Theorie der Revolution,
stellt, dann erheischt die Theorie eine metaökonomische Dimension; einen
erneuten Rekurs auf die Bedürfniswelt, die heute dem unnachläßlichen Satz, dass
die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muss,
zugrunde liegt: ihre Formbestimmtheit läßt sie entsinnlichter - nicht mehr vom
tagtäglichen ökonomischen Elend bestimmt, deshalb mit einer neuen Sinnlichkeit -
zum Gedanken drängen, als während der großen Siege der Arbeiterklasse - die
Zehnstundenbill als
" Sieg des Prinzips " (Marx) - im letzten
Jahrhundert. Marx und Engels hatten seinerzeit Fourier als Ahnherrn der
Revolution gefeiert, der ihr nach der utopistischen Philisterei Leben und
Sinnlichkeit eingehaucht hatte. Diese Seite gilt es der Revolution zu
vindizieren, nachdem sie sich Jahrzehnte auf die mechanistische Aufklärung hat
depravieren lassen : auf die soziologische Reduktion, dass Emanzipation sich
decke mit der Entfaltung der Maschinerie, der Produktivkräfte.
Die Theorie der Revolution, wie sie mittels der Kategorien der Kritik der
politischen Ökonomie bei Marx und Engels entwickelt wurde, konnte sich noch
uneingeschränkt der bürgerlich vorgegebenen, sich emanzipierenden Sinnenwelt
versichert glauben, wie sie von der Aufklärung bis zu Feuerbach reflektiert
wurde und ein historisches Produkt der Entfaltung der Industrie war; dass die
fünf Sinne nunmehr - wie die Produktionsmittel -
" produzierter "
wurden, universalisierte sie und hob sie aus der Unmündigkeit agrartradierter,
der ersten Natur subsumierten Unmittelbarkeit. Zugleich war mit dem
proletarischen und plebejischen Kampf der emanzipatorische Index gesetzt, dass
der Gebrauchswert der Sinnenwelt, die Bedürfniswelt nach freier Sinnlichkeit und
Befreiung, nicht formell-bürgerlich sich fixierte: als abgehobenes Reich der
Sittlichkeit. Die vorsichgehende Bewegung der Arbeiterklasse war Garant der
Emanzipation auch der Bedürfniswelt; eine befreite Sinnenwelt ist Konstituens
der Klasse für sich und mithin Kategorie des revolutionären Kampfes,
Rekreationsbasis und Grund der Identität kommunistisch verkehrender Individuen.
Deshalb beschrieb Marx den mühsamen Prozess, in dem über Lohnarbeit
zwangsinstrumentalisierte Proletarier sich emanzipative Gattungskräfte - hier
erst erhält der Feuerbachsche Begriff des Gattungsvermögens einen nicht mehr
anthropologischen Sinn - aneignen, als die Arbeit von Jahrzehnten
-59-
und nicht als kurzfristig herzustellendes Jerusalem. Die Revolt
versuchte den Vorschein des künftigen Jerusalem zu fassen; sie hat damit ein
Sensorium und eine Kompromisslosigkeit vorgegeben, hinter welche die kommenden
Kämpfe nicht werden zurückweichen können. Zugleich hat sie sich als Klasse für
sich propagiert, als sei die Klasse an sich zum Selbstbewusstsein ihres
Warencharakters gelangt. Die konkrete Utopie war nur Schein, immer noch mehr
studentischer Lebensentwurf als verallgemeinerbares revolutionäres
Lebensbedürfnis. Dieser aber muss die Theorie reflektieren, da es nicht mehr
naturwüchsig sich zum Gedanken erhebt. Die Theorie muss als revolutionäre sich
der - jeweils formbestimmten - Gebrauchswertseite der Ware Arbeitskraft zuwenden
- nicht der für das Kapital, sondern der für sich -: der Seite möglicher
kapitalnegatorischer Qualitäten, und sie als Konstituens in sich aufnehmen. Die
" Beziehungen der Freiheit (...) betreffen ", wie Marx pointiert,
" den Inhalt, die Gebrauchswerte oder Bedürfnisse als solche, d.h. in
seinen ökonomischen Formbestimmungen betrachtet "(Marx, Grundrisse, a.a.O.
S. 512). Diese Dimension gesehen und als Notwendigkeit theoretischer Arbeit
vorangestellt zu haben, ist der bedeutende Impetus der letzten Arbeiten von
Krahl; er fordert
" eine Theorienbildung, die abstrakte
Totalitätskategorien immanent mit Begriffen der Bedürfnisbefriedigung verbindet.
" (S. 345)
Für die Rekonstruktion der Theorie ergeben sich drei entscheidende Probleme der
" historischen Genesis des Klassenbewusstseins, und zwar
- als Problem einer Rekonstruktion revolutionärer Theorie als einer Lehre,
deren Aussagen die Gesellschaft unter dem Aspekt radikaler Veränderbarkeit
begreifen
- Der Wiedergewinnung einer Dimension materialistischer Empirie von
Bedürfnisbefriedigung und Interessenerzeugung
- Das Problem der Umsetzung der Theorie ins Bewusstsein des
Proletariats.
"
(S. 343) Theorie muss wieder zur
" reflektierten Artikulation von
Spontaneität " (S. 344) werden, wie die Praxis, die sich über sie
vermittelt.
In der Tat muss, nachdem die elfte Feuerbachthese immer noch nicht wirklich
geworden ist, die Welt gerade deshalb auch interpretiert werden. Dabei hat die
Frage,
" ob diese Kritik der politischen Ökonomie zu einer Theorie der
Revolution wirklich vermittelt worden ist? " (S. 385), weniger den Sinn,
die Marxsche Theorie flohknackerisch zu sezieren, als, sich den Status heutiger
Theorienbildung zu erhellen, die gerade nach
-61-
Maßgabe der
Marxschen Kritik die Interpretation zur Umwälzung leisten muss. Für Krahl ist
deshalb
" das Verhältnis von Produktion und Klassenkampf; das Verhältnis
von Kritik der politischen Ökonomie als einer kritischen Theorie der
kapitalistischen Produktion und des Historischen Materialismus als einer Theorie
der Revolutionen und Klassenkämpfe (...) problematisch geworden. " (S.
385)
Die Bedürfnisse nach Befreiung sind der Theorie nicht mehr in dem Maße
eingeschrieben wie bis zur II. Internationale. Die
" Ebenen der
entfremdeten Arbeit, des verdinglichten Bewusstseins und verarmten Lebens
" (S. 330) bedürfen erneuter theoretischer Reflexion; der
" erste
Zugang ... zu den Massen ist die wissenschaftliche Anstrengung, ihre
Bedürfnisstruktur zu erkennen " (S. 321). Nachdem die Nomenklatur und der
Entwicklungsgang des kapitalistischen Systems theoretisch entschlüsselt sind,
bedarf es, neben der Darstellung und Kritik der historischen Verlaufsform des
Kapitalverhältnisses, erneut des begrifflichen Rekurses auf die Genesis der
Revolution, auf Emanzipationskategorien, die der daseienden Bewegung als
negatorische Potenzen innewohnen. Zwar überakzentuiert Krahl, wenn er ein Fehlen
der Konstitutionsproblematik bei Marx feststellen will -
" die Frage nach
der Genesis der Revolution fällt aus der Marxschen Theorie der Klassenkämpfe
heraus " (390), oder gar im Sinne von Habermas und Wellmer, als sei
Kautsky der Adressat oder Stalin:
" Marxens Theorie des Klassenkampfes
apriorisiert die historische Dialektik von bürgerlicher und proletarischer
Revolution zu einer Metaphysik des Klassenbewusstseins als Weltgeist " (S.
390) -, doch weiterführend bleibt die Intention auf der Gebrauchswertseite der
je kapitalfixierten Formbestimmungen, jenes Moment von Nicht-Identität in der
Praxis, dem Alltagsleben des Proletariats, welches das Kapital auf je neuer
Stufe mitproduzieren muss, will es sich weiter entfalten: Kooperationsformen,
Revoltformen der Ware Arbeitskraft, deren sie bedarf, um sich als Lohnarbeiter
reproduzieren zu können gegen die Tendenz des Kapitals, die
Exploitationsschranke anzuheben; Qualitäten wie Glück und Leid, die sich der
Quantifizierung zum Warencharakter, der Levellung nach Arbeitszeitmaßen sperren.
Hier hat nach Krahl die Arbeit der wissenschaftlichen Intelligenz einzusetzen,
" Emanzipationskategorien für die Arbeiterbewegung " zu entwickeln
" nach Maßgabe ihrer Produktivität kapitalnegatorischer Momente. Erst im
Rekurs auf proletarische Emanzipationskategorien
-62-
ließe sich
wissenschaftliche Arbeit im proletarischen Sinne durchschauen, könnte die
Objektivation der Klasse zum Klassenkampf geleistet werden. " (S. 388)
Es ist freilich fraglich, ob die wissenschaftliche Intelligenz, vereinnahmt im
Gesamtarbeiter, - und sei es auch nur als liberalistisch-moralische Kategorie -
sich ihrer Warenhaut entledigen, die Kommandostationen des Kapitals wird
aufgeben wollen, um sich der revolutionären Theorie zu widmen. Für die Linke
indessen bleibt " die neue Entfaltungsnotwendigkeit eines
wissenschaftlichen Sozialismus " außer Zweifel: " Wissenschaftlicher
Sozialismus, will er sozialrevolutionäre Phantasie erzeugen und potentielles
Klassenbewusstsein aktualisieren helfen, muss gerade die Formulierung der
konkreten Utopie leisten. "
Die sozialistische Theorie hat mithin zur historischen Fortführung der Negation
als Theorie sowohl die
" Pathologie " des Proletariats (Marx), wie
dessen Emanzipationsformen in sich aufzunehmen; jene Genesis materialistischer
Hoffnung, die hinter ihrer kapitalistischen Geltung sich verbirgt: den Formen
der Subjektivität der Ware Arbeitskraft.
" Proletarische Individualität
basierte auf der besitzlosen Stellung im Produktionsprozess und realisierte sich
in der Organisation des Klassenkampfes. Die langfristige lebensgeschichtliche
Perspektive des proletarischen Individuums war die von Ausbeutung und Elend oder
revolutionärer Befreiung. " (S. 340) An der Einsicht in diese Perspektive
lebenslangen Elends - auch unter den verwandelten Formen desselben unter dem
relativen Mehrwert - hängt die Möglichkeit der Revolution. Die Theorie als
" materialistische Empirie " (S. 309) hat die kapitalnegatorischen
Seiten des Arbeitsprozesses zu untersuchen und in sich aufzunehmen. Dies heißt
für ihre Praxis, die negatorischen Qualitäten zu forcieren in eingreifendem
Denken, in der Praxis des »verstandesgemäßen Ausdrucks« der Volksmassen, so
Engels,
" ihrer von ihnen selbst noch unverstandenen, nur erst unbestimmt
gefühlten Bedürfnisse " (Marx/ Engels, AS, BdI, S.114). Nachdem die Kritik
der politischen Ökonomie gezeigt hat,
" wie dieses Verhältnis selbst
produziert wird ", so muss die konkrete Utopie
" zugleich in ihm die
materiellen Bedingungen seiner Auflösung ", die es produziert, aufdecken.
(Marx, Resultate, S.89)
-62-
" Revolutionäre Theorie als revolutionäre Theorie des Spätkapitalismus
steht noch aus " (S. 251); ihre Konstruktion wird die Ansätze von Krahl
verfolgen, der unnachgiebig auf jenen zu materialisierenden Emanzipationsbegriff
gepocht hat, der die Herstellung des Reichs der Freiheit nicht verkürzt an der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel alleine festmacht. Was in den
Niederlagen der letzten Jahre erlag, war - wie Marx von den Klassenkämpfen in
Frankreich berichtet - " nicht die Revolution. Es waren die
vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher
Verhältnisse, die sich, noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt
hatten - Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre
Partei vor der Februar-Revolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg,
sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. "
(Marx/Engels, AS, Bd.l, S. 127)
FÜR KRAHL
"
Ist das Wahre abstrakt, so ist es unwahr
"
Hegel
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last update : Thu Jun 17 13:02:46 CEST 2004 Helmut Reinecke
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