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Team W. I. Lenin
Thema STAAT UND REVOLUTION - DIE ERFAHRUNGEN DER PARISER KOMMUNE VOM JAHRE 1871 ( orginal )
Status August/September 1917 - Auszug - Rowohlt 1971 - Hrsg. incl. Anmerkungen: Dieter Marc Schneider
Letzte Bearbeitung 06/2004
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1. DIE ANALYSE VON MARX
1.1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden
1.2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie zu ersetzen?
1.3. Aufhebung des Parlamentarismus
1.4. Organisierung der Einheit der Nation
1.5. Vernichtung des Schmarotzers Staat
2. FORTSETZUNG - ERGÄNZENDE ERLÄUTERUNGEN VON ENGELS
2.1. ´Zur Wohnungsfrage´
2.2. Polemik gegen die Anarchisten
2.3. Ein Brief an Bebel
2.4. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx, ´Der Bürgerkrieg in Frankreich´

1. DIE ANALYSE VON MARX

Kapitel III und Auszüge aus IV aus: STAAT UND REVOLUTION *1

1.1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden

Es ist bekannt, daß Marx einige Monate vor der Kommune, Herbst 1870, die Pariser Arbeiter warnte und nachwies, daß der Versuch, die Regierung zu stürzen, eine verzweifelte Torheit wäre. Als aber im März 1871 den Arbeitern der Entscheidungskampf aufgezwungen wurde und sie ihn aufnahmen, als der Aufstand zur Tatsache geworden war, begrüßte Marx, trotz der schlimmen Vorzeichen, die proletarische Revolution mit der größten Begeisterung. Marx versteifte sich nicht auf eine pedantische Verurteilung der "unzeitgemäßen" Bewegung, wie das der zu trauriger Berühmtheit gelangte russische Renegat des Marxismus, Plechanow, tat, der im November 1905 im Geiste der Ermunterung der Arbeiter und Bauern zum Kampf geschrieben hatte, nach dem Dezember 1905 aber wie ein regelrechter Liberaler zeterte: "Man hätte nicht zu den Waff greifen sollen."
Marx begnügte sich jedoch nicht damit, daß er dem Heroismus der, wie er sich ausdrückte, "himmelstürmenden" Kommunarden Begeisterung zollte. Er sah in der revolutionären Massenbewegung selbst dann, wenn sie ihr Ziel nicht erreichte, einen historischen Versuch von ungeheurer Tragweite, einen gewissen Schritt vorwärts der proletarischen Weltrevolution, einen praktischen Schritt, der wichtiger ist als Hunderte von Programmen und Auseinandersetzungen. Diesen Versuch zu analysieren, aus ihm Lehren für Taktik zu ziehen, auf Grund dieses Versuches die eigene Theorie überprüfen - das war die Aufgabe, die sich Marx stellte.
Die einzige "Korrektur", die Marx am "Kommunistischen Manifest" vorzunehmen für notwendig erachtete, machte er auf Grund revolutionären Erfahrungen der Pariser Kommunarden.
Die letzte Vorrede zur neuen deutschen Auflage des "Kommunistischen Manifestes", die von seinen beiden Verfassern unterzeichnet ist, datiert vom 24. Juni 1872. In dieser Vorrede erklären die Verfasser, Karl Marx und Friedrich Engels, daß das Programm des Kommunistischen Manifestes "heute stellenweise veraltet" sei.
"Namentlich", fahren sie fort, "hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.".*2
Die in einfache Anführungszeichen gesetzten Worte dieses Zitats haben seine Verfasser der Marxschen Schrift ´Der Bürgerkrieg Frankreich´ entnommen.*3
Somit maßen Marx und Engels der einen Haupt- und Grundlehre der Pariser Kommune eine so ungeheure Bedeutung bei, daß sie sie als wesentliche Korrektur zum ´Kommunistischen Manifest´ einfügten.
Es ist überaus bezeichnend, daß gerade diese wesentliche Korrektur von den Opportunisten entstellt worden ist und daß ihr Sinn sicherlich neun von zehn, wenn nicht gar neunundneunzig von hundert Lesern des ´Kommunistischen Manifestes´ unbekannt ist. Ausführlicher kommen wir auf diese Entstellung weiter unten in dem Kapitel zu sprechen, das sich speziell mit den Entstellungen befaßt. Vorläufig mag der Hinweis genügen, daß die landläufige, vulgäre ´Auffassung´ des von uns zitierten berühmten Ausspruchs von Marx darin besteht, daß Marx hier angeblich die Idee der allmählichen Entwicklung im Gegensatz zur Ergreifung der Macht unterstreiche und dergleichen mehr.
In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Der Marxsche Gedanke besteht darin, daß die Arbeiterklasse "die fertige Staatsmaschine" zerschlagen, zerbrechen muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.
Am 12. April 1871, das heißt gerade während der Kommune, schrieb Marx an Kugelmann:
"Wenn Du das letzte Kapitel meines ´Achtzehnten Brumaire´ nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen" (von Marx hervorgehoben), "und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unsrer heroischen Pariser Parteigenossen." (S. 709 der ´Neuen Zeit´, Bd. XX, 1, Jahrgang 1901/02) (Die Briefe von Marx an Kugelmann sind in russischer Sprache in nicht weniger als zwei Ausgaben erschienen, eine davon unter meiner Redaktion und mit einem Vorwort von mir.)*4
In diesen Worten: "die bürokratisch-militärische Maschinerie zu zerbrechen", ist, kurz ausgedrückt, die Hauptlehre des Marxismus von den Aufgaben des Proletariats in der Revolution gegenüber dem Staat enthalten. Und gerade diese Lehre ist nicht nur völlig vergessen, sondern durch die herrschende, kautskyanische ´Auslegung´ des Marxismus geradezu entstellt worden! Was den Hinweis Von Marx auf den ´Achtzehnten Brumaire´ anbelangt, so haben wir die betreffende Stelle weiter oben vollständig zitiert.
Es ist von Interesse, zwei Stellen aus der angeführten Betrachtung von Marx besonders hervorzuheben. Erstens beschränkt er seine Schlußfolgerung auf den Kontinent. Das war 1871 verständlich, als England noch das Muster eines rein kapitalistischen Landes war, aber eines Landes ohne Militarismus und in hohem Grade ohne Bürokratie. Marx schloß daher England aus, wo eine Revolution und selbst eine Volksrevolution ohne die Vorbedingung der Zerstörung der "fertigen Staatsmaschine" damals möglich zu sein schien und möglich war.
Jetzt, im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialistischen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. Sowohl England als auch Amerika, die im Sinne des Nichtvorhandens von Militarismus und Bürokratismus größten und letzten Vertreter angelsächsischer ´Freiheit´ in der ganzen Welt, sind vollständig den allgemein-europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf der bürokratisch-militärischen Institutionen hinabgesunken, die sich alles unterordnen, die alles erdrücken. Jetzt bildet sowohl für England als auch für Amerika die Zerbrechung, die Zerstörung der "fertigen Staatsmaschine" (die dort in den Jahren 1914 bis 1917 die ´europäische´, allgemeinimperialistische Vollkommenheit erreicht hat) die "Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution".
Zweitens verdient besondere Beachtung die außerordentlich tiefe Bemerkung von Marx, daß die Zerstörung der bürokratisch-militärischen Staatsmaschinerie "die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution" bilde. Dieser Begriff der ´Volks´revolution mutet im Munde von Marx sonderbar an, und die russischen Plechanowisten und Menschewiki, diese Nachfolger Struves*5 , die als Marxisten gelten möchten, könnten am Ende diesen Ausdruck von Marx als ´falschen Zungenschlag´ hinstellen. Sie haben den Marxismus auf ein so armselig-liberales Zerrbild heruntergebracht, daß für sie außer der Gegenüberstellung von bürgerlicher und proletarischer Revolution nichts anderes existiert, und selbst diese Gegenüberstellung wird von ihnen unglaublich starr aufgefaßt.
Nimmt man als Beispiel die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, so wird man natürlich sowohl die portugiesische als auch die türkische Revolution*6 als bürgerliche auffassen müssen. Aber weder die eine noch die andere ist eine ´Volks´revolution, denn die Volksmasse, ungeheure Mehrheit des Volkes, ist weder in der einen noch in der anderen Revolution aktiv, selbständig, mit ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen Forderungen sichtbar hervorgetreten. Dagegen war die russische bürgerliche Revolution von 1905 bis 1907, obgleich ihr so ´glänzende´ Erfolge versagt blieben, wie sie zeitweise der portugiesischen und der türkischen Revolution beschieden waren, zweifellos eine "wirkliche Volksrevolution", denn die Masse des Volkes, seine Mehrheit, die ´untersten´ Gesellschaftsschichten, zermürbt durch Unterjochung und Ausbeutung, erhoben sich selbständig, drückten dem ganzen Verlauf der Revolution den Stempel ihrer Forderungen auf, ihrer Versuche, auf eigene Art eine neue Gesellschaft an Stelle der zu zerstörenden alten aufzubauen.
Auf dem europäischen Kontinent bildete 1871 das Proletariat in keinem Lande die Mehrheit des Volkes. Eine ´Volks´revolution, die tatsächlich die Mehrheit des Volkes in die Bewegung einbezieht, konnte nur dann eine solche sein, wenn sie sowohl das Proletariat als auch die Bauernschaft erfaßte. Diese beiden Klassen bildeten damals eben das ´Volk´. Beide Klassen sind dadurch vereint, daß die "bürokratisch-militärische Staatsmaschinerie" sie knechtet, bedrückt, ausbeutet. Diese Maschinerie zu zerschlagen, sie zu zerbrechen - verlangt das wirkliche Interesse des ´Volkes´, seiner Mehrheit, der Arbeiter und der Mehrzahl der Bauern, das ist die ´Vorbedingung´ für ein freies Bündnis der armen Bauern mit den Proletariern, und ohne dieses Bündnis ist die Demokratie nicht von Dauer und die sozialistische Umgestaltung unmöglich.
Zu einem solchen Bündnis bahnte sich bekanntlich denn auch die Pariser Kommune den Weg, die ihr Ziel infolge einer Reihe von inneren und äußeren Gründen nicht erreichte.
Folglich hat Marx, als er von einer "wirklichen Volksrevolution" sprach, ohne die Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums im geringsten zu vergessen (er sprach viel und oft von ihnen), das tatsächliche Kräfteverhältnis der Klassen in den meisten kontinentalen Staaten Europas vom Jahre 1871 ganz genau berücksichtigt. Andererseits aber konstatierte er, daß das ´Zerschlagen´ der Staatsmaschinerie im Interesse sowohl der Arbeiter als auch der Bauern notwendig ist, sie einigt, sie vor die gemeinsame Aufgabe stellt, den ´Parasiten´ zu beseitigen und ihn durch etwas Neues zu ersetzen. Und zwar wodurch?

1.2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie zu ersetzen?

Auf diese Frage gab Marx 1847, im ´Kommunistischen Manifest´, eine noch völlig abstrakte Antwort, richtiger: eine Antwort, die die Aufgaben, nicht aber die Methoden ihrer Lösung aufzeigte. Sie ist zu ersetzen durch die "Organisation des Proletariats als herrschende Klasse", durch die "Erkämpfung der Demokratie" - das war die Antwort des ´Kommunistischen Manifestes´.
Ohne sich auf Utopien einzulassen, erwartete Marx von der Erfahrung der Massenbewegung eine Antwort auf die Frage, welche konkreten Formen diese Organisation des Proletariats als herrschende Klasse annehmen, in welcher Weise diese Organisation sich mit der möglichst vollständigen und folgerichtigen "Erkämpfung der Demokratie" vereinigen lassen würde. Die Erfahrungen der Kommune, so gering sie auch waren, werden von Marx in seinem ´Bürgerkrieg in Frankreich´ der genauesten Analyse unterzogen. Wir führen hier die wichtigsten Stellen aus dieser Schrift an:
Im 19. jahrhundert entwickelte sich die aus dem Mittelalter stammende "zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand (...)" Mit der Entwicklung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit "erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft. Nach jeder Revolution, die einen Fortschritt des Klassenkampfs bezeichnet, tritt der rein unterdrückende Charakter der Staatsmacht offner und offner hervor." Die Staatsmacht wird nach der Revolution von 1848 bis 1849 "das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit". Das zweite Kaiserreich festigt dieses.
"Der gerade Gegensatz des Kaisertums war die Kommune." "Die Kommmune war die bestimmte Form" "einer Republik, die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft beseitigen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst."*7
Worin bestand nun diese ´bestimmte´ Form der proletarischen, sozialistischen Republik? Wie war der Staat beschaffen, den sie aufzubauen begonnen hatte?
"Das erste Dekret der Kommune war (...) die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.*8 "
Diese Forderung steht heute in den Programmen aller Parteien, die als sozialistische gelten wollen. Aber was ihre Programme wert sind erkennt man am besten aus dem Verhalten unserer Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die gerade nach der Revolution vom 27. Februar auf die Verwirklichung dieser Forderung in der Praxis verzichtet haben!
"Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse (...) Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst (...) Das stehen Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen (...) Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, (...) sollten (...) fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.*9 "
Die zerschlagene Staatsmaschinerie wurde also von der Kommune scheinbar ´nur´ durch eine vollständigere Demokratie ersetzt: Beseitigung des stehenden Heeres, vollkommene Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen. In Wirklichkeit jedoch bedeutet dieses ´Nur´, daß im riesigen Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prinzipiell anderer Art ersetzt wurden. Hier ist gerade einer der Fälle des ´Umschlagens von Quantität in Qualität´ wahrzunehmen: Die mit dieser denkbar größten Vollständigkeit und Folgerichtigkeit durchgeführte Demokratie verwandelt sich aus der bürgerlichen Demokratie in die proletarische, aus dem Staat (= einer besonderen Gewalt zur Unterdrückung einer bestimmten Klasse) in etwas, was eigentlich kein Staat mehr ist.
Es ist immer noch notwendig, die Bourgeoisie und ihren Widerstand niederzuhalten. Für die Kommune war das ganz besonders notwendig, und eine der Ursachen ihres Scheiterns bestand darin, daß sie das nicht entschlossen genug getan hat. Aber das unterdrückende Organ ist hier schon die Mehrheit und nicht, wie dies immer, sei es unter der Sklaverei, der Leibeigenschaft oder der Lohnsklaverei der Fall war, die Minderheit der Bevölkerung. Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst ihre Bedrücker unterdrückt, so ist eine "besondre Repressionsgewalt" schon nicht mehr nötig! In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben. An Stelle besonderer Institutionen einer bevorzugten Minderheit (privilegiertes Beamtentum, Kommandobestand des stehenden Heeres) kann das die Mehrheit selbst unmittelbar besorgen, und je größeren Anteil das gesamte Volk an der Ausübung der Funktionen der Staatsmacht hat, um so weniger bedarf es dieser Macht.
Besonders bemerkenswert ist in dieser Beziehung eine von Marx hervorgehobene Maßnahme der Kommune: die Beseitigung der Repräsentationsgelder jeder Art, aller finanziellen Privilegien der Beamten, die Reduzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staat auf das Niveau des ´Arbeiterlohnes´. Hier gerade kommt am klarsten der Umschwung zum Ausdruck - von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen, von der Unterdrückerdemokratie zur Demokratie der unterdrückten Klassen, vom Staat als ´besonderer Gewalt´ zur Niederhaltung einer bestimmten Klasse, zur Niederhaltung der Unterdrücker durch die allgemeine Gewalt der Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern. Und gerade in diesem, besonders anschaulichen - was den Staat betrifft, wohl wichtigsten - Punkt hat man die Marxschen Lehren am gründlichsten vergessen! In den populären Kommentaren, deren Zahl Legion ist, wird davon nicht gesprochen. Es ist ´üblich´, darüber zu schweigen, als handelte es sich um eine überlebte ´Naivität´, ungefähr so, wie die Christen die ´Naivitäten´ des Urchristentums mit seinem demokratisch-revolutionären Geiste ´vergaßen´, nachdem das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden war.
Die Herabsetzung der Gehälter der höheren Staatsbeamten erscheint ´einfach´ als Forderung eines naiven, primitiven Demokratismus. Einer der ´Begründer´ des neuesten Opportunismus, der frühere Sozialdemokrat Ed. Bernstein*10 , übte sich wiederholt im Nachplappern der trivialen bürgerlichen Spötteleien über den ´primitiven´ Demokratismus. Wie alle Opportunisten, wie auch die jetzigen Kautskyaner, hat er absolut nicht begriffen, erstens, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne eine gewisse ´Rückkehr´ zu ´primitivem´ Demokratismus unmöglich ist (wie soll denn sonst der Übergang zur Ausübung der staatlichen Funktionen durch die Mehrheit der Bevölkerung, ja durch die ganze Bevölkerung ohne Ausnahme erfolgen?), und zweitens, daß ´primitiver Demokratismus´ auf der Basis des Kapitalismus und der kapitalistischen Kultur etwas anderes ist als der primitive Demokratismus der Urzeit oder der vorkapitalistischen Zeit. Die kapitalistische Kultur hat Großproduktion, Fabriken, Eisenbahnen, Post, Telefon usw. geschaffen, und auf dieser Basis sind die meisten Funktionen der alten ´Staatstuacht´ so vereinfacht worden und können auf so einfache Operationen der Registrierung, Buchung, Kontrolle zurückgeführt werden, daß diese Funktionen jedem Nichtanalphabeten zugänglich sind, daß man sie für gewöhnlichen ´Arbeiterlohn´ wird leisten und daß man ihnen jeden Schimmer eines Vorrechts, eines ´Vorgesetztenrechts´ wird nehmen können (und müssen).
Die völlige und jederzeitige Wählbarkeit und Absetzbarkeit ausnahmslos aller beamteten Personen, die Reduzierung ihrer Gehäl auf den gewöhnlichen ´Arbeiterlohn´, diese einfachen und ´selbstverständlichen´, demokratischen Maßnahmen, in denen sich die Interessen der Arbeiterschaft völlig mit denen der Mehrheit der Bauern vereinigen, dienen gleichzeitig als Brücke, die vom Kapitalismus zum Sozialismus führt. Diese Maßnahmen betreffen die staatliche, rein politische Umgestaltung der Gesellschaft, aber sie bekommen vollen Sinn und Bedeutung selbstverständlich erst im Zusammenhang mit der in Verwirklichung oder Vorbereitung begriffenen ´Expropriation der Expropriateure´, das heißt mit dem Übergang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftlich Eigentum.
"Die Kommune", schrieb Marx, "machte das Stichwort aller Bourgeoisrevolutionen - wohlfeile Regierung - zur Wahrheit, indem sie die beiden größten Ausgabequellen, die Armee und das Beamtentum, aufhob."*11
Aus der Bauernschaft wie auch aus den anderen Schichten des Kleinbürgertums gelangt nur eine geringfügige Minderheit ´nach oben´, ´bringt es zu etwas´ im bürgerlichen Sinne, das heißt wird entweder zu wohlhabenden Leuten, zu Bourgeois, oder zu gut versorgten, prvilegierten Beamten. Die gewaltige Mehrheit der Bauern wird in jedem kapitalistischen Lande, in dem es überhaupt Bauern gibt (was in den meisten kapitalistischen Ländern der Fall ist), von der Regierung unterdrückt, sehnt deren Sturz, sehnt eine ´wohlfeile´ Regierung herbei. Verwirklichen kann das nur das Proletariat, und indem es das verwirklicht, macht es zugleich einen Schritt zur sozialistischen Umgestaltung des Staates.

1.3. Aufhebung des Parlamentarismus

"Die Kommune", schrieb Marx, " sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit (...)
Statt einmal in drei oder sechs jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen."
*12
Diese bemerkenswerte Kritik des Parlamentarismus, die aus dem Jahre 1871 stammt, gehört jetzt infolge des herrschenden Sozialchauvinismus und Opportunismus ebenfalls zu den ´vergessenen Worten´ des Marxismus. Die Minister und Berufsparlamentarier, die Verräter am Proletariat und ´Geschäfts´-Sozialisten unserer Tage überließen die Kritik des Parlamentarismus gänzlich den Anarchisten und verschrien aus diesem erstaunlich vernünftigen Grunde jede Kritik am Parlamentarismus als ´Anarchismus´!! Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß das Proletariat der ´fortgeschrittenen´ parlamentarischen Länder, angeekelt durch den Anblick solcher ´Sozialisten´ wie der Scheidemann, David, Legien, Sembat, Renaudel, Henderson, Vandervelde, Stauning, Branting, Bissolati und Konsorten, seine Sympathien immer öfter dem Anarchosyndikalismus zuwandte, obwohl dieser der leibliche Bruder des Opportunismus war.
Doch für Marx war die revolutionäre Dialektik nie jenes leere Modewort, jene Kinderklapper, zu der sie Plechanow, Kautsky und andere ‚gemacht haben. Marx verstand es, mit den Anarchisten rücksichtslos zu brechen, weil diese es nicht vermochten, sogar den ´Stall´ des bürgerlichen Parlamentarismus auszunutzen, besonders in Zeiten, da offensichtlich keine revolutionäre Situation vorhanden ist; gleichzeitig verstand er aber auch, eine wahrhaft revolutionär-proletarische Kritik am Parlamentarismus zu üben. Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll - das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, und dies nicht nur in den parlamentarisch-konstitutionellen Monarchien, sondern auch in den allerdemokratischsten Republiken.
Wirft man aber die Frage des Staates auf, betrachtet man den Parlamentarismus als eine der Institutionen des Staates, unter dem Gesichtspunkt der Aufgaben des Proletariats auf diesem Gebiet, wo ist dann der Ausweg aus dem Parlamentarismus? Wie soll man da ohne ihn auskommen?
Wieder und immer wieder muß man sagen: Die auf dem Studium der Kommune begründeten Marxschen Lehren sind so gründlich vergessen worden, daß dem heutigen ´Sozialdemokraten´ (lies: dem heutigen Verräter am Sozialismus) eine andere Kritik des Parlamentarismus als eine anarchistische oder reaktionäre einfach unverständlich ist.
Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in ´arbeitende´ Körperschaften. "Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. "
"Nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft" - das trifft haarscharf auf die modernen Parlamentarier und parlamentarischen ´Schoßhündchen´ der Sozialdemokratie zu! Man sehe sich ein beliebiges parlamentarisch regiertes Land an, von Amerika bis zur Schweiz, von Frankreich bis England, Norwegen usw.: Die eigentlichen ´Staats´geschäfte werden hinter den Kulissen abgewickelt und von den Departements, Kanzleien, Stäben verrichtet. In den Parlamenten wird nur geschwatzt, speziell zum Zweck, das ´gemeine Volk´ zu betölpeln. Das ist so wahr, daß selbst in der russischen Republik, in der bürgerlich-demokratischen Republik sich sofort, noch bevor sie Zeit fand, ein richtiges Parlament zu schaffen, alle diese Sünden des Parlamentarismus geltend machten. Solche Helden des modrigen Spießbürgertums wie die Skobelew und Zereteli, Tschernow und Awxentjew haben es zuwege gebracht, auch die Sowjets nach dem Vorbild des schäbigsten bürgerlichen Parlamentarismus zu versauen und sie in bloße Schwatzbuden zu verwandeln. In den Sowjets hauen die Herren ´sozialistischen´ Minister die vertrauensseligen Bäuerlein mit Phrasen und Resolutionen übers Ohr. In der Regierung wird ein ewiger Tanz aufgeführt, einerseits, um der Reihe nach möglichst viele Sozialrevolutionäre und Menschewiki ´an die Krippe´ gut bezahlter und ehrenvoller Posten heranzulassen, und anderseits, um die Aufmerksamkeit des Volkes ´zu beschäftigen´. In den Kanzleien, in den Stäben wird inzwischen ´Staats´arbeit ´geleistet´!
´Delo Naroda´, das Organ der regierenden Partei der ´Sozialrevolutionäre´, gestand kürzlich in einem redaktionellen Leitartikel - mit der unnachahmlichen Offenherzigkeit der Menschen aus der ´guten Gesellschaft´, in der ´alle´ politische Prostitution treiben - , daß selbst in den (mit Verlaub zu sagen) von ´Sozialisten´ geleiteten Ministerien, daß selbst in diesen der gesamte Beamtenapparat eigentlich der alte bleibt, auf die alte Weise funktioniert und jedes revolutionäre Beginnen durchaus ´frei´ sabotiert! Ja, selbst wenn dieses Geständnis nicht vorläge, ist denn die tatsächliche Geschichte die Beteiligung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki an der Regierung nicht ein Beweis dafür? Bezeichnend ist hier nur, daß die Herren Tschernow, Russanow, Sensinow und sonstigen Redakteure der ´Delo Naroda´, die mit den Kadetten in der Regierung sitzen, dermaßen jede Scham verloren haben, daß sie sich nicht scheuen - als handle es sich um eine Bagatelle -‚ öffentlich zu erzählen, ohne zu erröten, daß ´bei ihnen´ in den Ministerien alles beim alten ist!! Revolutionär-demokratische Phrasen zur Betörung der einfältig Bauern, bürokratischer Kanzleischlendrian zur ´Zufriedenstellung´ der Kapitalisten - da habt ihr das Wesen der ´ehrlichen´ Koalition.
Den korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft ersetzt die Kommune durch Körperschaften, in denen die Freiheit des Urteils und der Beratung nicht in Betrug ausartet, denn da müssen die Parlamentarier selbst arbeiten, selbst ihre Gesetze ausführen, selbst kontrollieren, was bei der Durchführung herauskommt, selbst unmittelbar vor ihren Wählern die Verantwortung tragen. Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber der Parlamentarismus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als Vorzugsstellung für Abgeordnete besteht hier nicht. Ohne Vertretungskörperschaften können uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein, soll das Streben nach dem Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie aufrichtig und ernst gemeint und nicht eine ´Wahl´parole sein, um Arbeiterstimmen zu fangen, wie es bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären, den Scheidemann und Legien, den Sembat und Vandervelde der Fall ist.
Es ist äußerst lehrreich, daß Marx da, wo er auf die Funktionen jener Beamtenschaft zu sprechen kommt, die auch die Kommune und die proletarische Demokratie braucht, zum Vergleich die Angestellten eines "jeden anderen Arbeitgebers" heranzieht, das heißt ein gewöhnliches kapitalistisches Unternehmen mit "Arbeitern, Aufsehern und Buchhaltern".
Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus in dem Sinne, daß er die ´neue´ Gesellschaft erdichtete, zusammenphantasierte. Nein, er studiert - wie einen naturgeschichtlichen Prozeß - die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der letzteren zur ersten. Er hält sich an die tatsächliche Erfahrung der proletarischen Massenbewegung und ist bemüht, aus ihr praktische Lehren zu ziehen. Er ´lernt´ von der Kommune, wie alle großen revolutionären Denker sich nicht gescheut haben, aus den Erfahrungen der großen Bewegungen der unterdrückten Klasse zu lernen, ohne jemals pedantische ´Moralpredigten´ an sie zu richten (in der Art des Plechanowschen "Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen" oder des Zeretelischen "Eine Klasse muß sich Selbstbeschränkung auferlegen").
Von einer Vernichtung des Beamtentums mit einem Schlag, überall, restlos, kann keine Rede sein. Das wäre eine Utopie. Aber mit einem Schlag die alte Beamtenmaschinerie zerbrechen und sofort mit dem Bau einer neuen beginnen, die allmählich jegliches Beamtentum überflüssig macht und aufhebt - das ist k e i n e Utopie, das ist eine Erfahrungslehre der Kommune, das ist die direkte, nächstliegende Aufgabe des revolutionären Proletariats.
Der Kapitalismus vereinfacht die Funktionen der ´Staats´verwaltung, er macht es möglich, das ´Vorgesetztenwesen´ auszuschalten und das ganze auf die Organisation der Proletarier (als herrschende Klasse) zu reduzieren, die im Namen der gesamten Gesellschaft "Arbeiter, Aufseher und Buchhalter" einstellen wird.
Wir sind keine Utopisten. Wir ´träumen´ nicht davon, wie man urplötzlich ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne "Aufseher und Buchhalter" nicht auskommen werden.
Aber unterzuordnen hat man sich der bewaffneten Avantgarde aller Ausgebeuteten und Werktätigen - dem Proletariat. Die spezifische ´Vorgesetztenrolle´ der Staatsbeamten kann und muß sofort, von heute auf morgen, durch die einfachen Funktionen von "Aufsehern und Buchhaltern" zu ersetzen beginnen, Funktionen, denen der heutige Stadtmensch bei seinem Entwicklungsniveau allgemeinen schon durchaus gewachsen ist und die für einen "Arbeiterlohn" durchaus ausführbar sind.
Organisieren wir Arbeiter selber die Großproduktion, von dem ausgehend, was der Kapitalismus bereits geschaffen hat, auf uns Arbeitererfahrung gestützt, mit Hilfe der strengsten, eisernen Disziplin, die von der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrecht erhalten wird; machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten "Aufsehern und Buchhaltern" (natürlich einschließlich der Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) - das ist unsere proletarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen Revolution beginnen. Ein solcher Anfang auf der Basis der Großproduktion führt von selbst zum allmählichen ´Absterben´ jedweden Beamtentums, zur allmählichen Schaffung einer solchen Ordnung - Ordnung ohne Gänsefüßchen, einer Ordnung, die mit Lohnsklaverei nichts zu tun hat -‚ einer 0rdnnung, bei der die sich immer mehr vereinfachenden Funktionen Aufsicht und Rechenschaftslegung der Reihe nach von allen ausgeübt, später zur Gewohnheit werden und schließlich als Sonderfunktionen einer besonderen Schicht von Menschen in Fortfall kommen.
Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirtschaft. Das stimmt auch. Gegenwärtig ist die Post ein Betrieb, der nach dem Typus des staatskapitalistischen Monopols organisiert ist. Der Imperialismus verwandelt nach und nach alle Truste in Organisationen ähnlicher Art. Über den ´einfachen´ Werktätigen, die schuften und darben, steht hier die gleiche bürgerliche Bürokratie. Doch der Mechanismus der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung steht hier schon fertig da. Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates - und wir haben einen von dem ´Parasiten´ befreiten, technisch hoch ausgestalteten Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher, Buchhalter anstellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit aller ´Staats´beamten überhaupt, mit dem Arbeiterlohn bezahlen. Das ist eine konkrete, praktische Aufgabe, die in bezug auf alle Truste sofort ausführbar ist, die die Werktätigen von der Ausbeutung befreit und die Erfahrung verwertet, die bereits die Kommune (insbesondere auf dem Gebiet des Staatsaufbaus) praktisch zu machen begann.
Unser nächstes Ziel ist, die ganze Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren, und zwar so, daß die unter der Kontrolle und Leitung des bewaffneten Proletariats stehenden Techniker, Aufseher, Buchhalter sowie alle beamteten Personen ein den ´Arbeiterlohn´ nicht übersteigendes Gehalt beziehen. Das ist der Staat, das ist die wirtschaftliche Grundlage des Staates, wie wir sie brauchen. Das wird uns die Aufhebung des Parlamentarismus und die Beibehaltung der Vertretungskörperschaften geben, das wird die arbeitenden Klassen von der Prostituierung dieser Institutionen durch die Bourgeoisie befreien.

1.4. Organisierung der Einheit der Nation

"In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein (. . .) sollte." Von den Kommunen sollte auch die ´Nationaldelegation´ in Paris gewählt werden.
"Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden." ()*13
In welchem Grad die Opportunisten der modernen Sozialdemokratie diese Ausführungen von Marx nicht verstanden haben - vielleicht richtiger: nicht verstehen wollten -‚ beweist das herostratisch berühmte Buch des Renegaten Bernstein ´Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie´*14 . Gerade in bezug auf die zitierten Worte von Marx schrieb Bernstein, darin sei ein Programm entwickelt, "das seinem politischen Gehalt nach in allen wesentlichen Zügen die größte Ähnlichkeit aufweist mit dem Föderalismus - Proudhons (...) Bei allen sonstigen Verschiedenheiten zwischen Marx und dem ´Kleinbürger´ Proudhon" (Bernstein setzt das Wort ´Kleinbürger´ in Gänsefüßchen, die nach seiner Meinung Ironie ausdrücken sollen) "ist in diesen Punkten der Gedankengang bei ihnen so nahe wie nur möglich." Natürlich, fährt Bernstein fort, wächst die Bedeutung der Munizipalitäten, doch meint er: "Ob freilich eine solche Auflösung der modernen Staatswesen und die völlige Umwandlung ihrer Organisation, wie Marx und Proudhon sie schildern (die Bildung der Nationalversammlung aus Delegierten der Provinz- bzw. der Bezirksversammlungen, die ihrerseit aus Delegierten der Kommunen zusammenzusetzen wären), das erste Werk der Demokratie zu sein hätte, so daß also die bisherige Form der Nationalvertretungen wegfiele, erscheint mir zweifelhaft." (Bernstein, ´Die Voraussetzungen des Sozialismus.. .´‚ S. 134 u. 136 Ausgabe von 1899)
Das ist geradezu ungeheuerlich: Marx‘ Ansichten über die "Vernichtung der Staatsmacht, des Schmarotzerauswuchses" mit dem Förderalismus Proudhons in einen Topf zu werfen! Das ist aber kein Zufall, denn dem Opportunisten kommt es nicht einmal in den Sinn, daß Marx hier gar nicht vom Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus spricht, sondern von der Zerschlagung der alten, bürgerlichen, in allen bürgerlichen Ländern bestehenden Staatsmaschinerie.
Dem Opportunisten kommt nur das in den Sinn, was er in dem Milieu kleinbürgerlichen Spießertums und ´reformistischer´ Stagnation um sich herum sieht, nämlich nur die ´Munizipalitäten´! Der Opportunist hat verlernt, an die Revolution des Proletariats auch nur zu denken.
Das ist zum Lachen. Bemerkenswert ist aber, daß über diesen Punkt mit Bernstein nicht gestritten wurde. Bernstein wurde von vielen widerlegt, in der russischen Literatur insbesondere von Plechanow, in der westeuropäischen von Kautsky, aber der eine wie andere hat über diese Entstellung von Marx durch Bernstein nicht gesprochen.
Der Opportunist hat so sehr verlernt, revolutionär zu denken und sich über die Revolution Gedanken zu machen, daß er Marx ´Förderalismus´ zuschreibt und ihn mit Proudhon, dem Begründer Anarchismus, verwechselt. Und die Kautsky und Plechanow, die orthodoxe Marxisten sein möchten, die die Lehre des revolutionären Marxismus verteidigen wollen, schweigen dazu! Hier liegt eine der Wurzeln jener äußersten Vulgarisierung der Ansichten über den Unterschied zwischen Marxismus und Anarchismus, die sowohl den Kautskyanern als auch den Opportunisten eigen ist und auf die noch zu sprechen kommen werden.
In den angeführten Betrachtungen von Marx über die Erfahrungen der Kommune findet sich auch nicht eine Spur von Föderalismus. Marx stimmt mit Proudhon gerade in dem überein, was der Opportunist Bernstein nicht sieht. Marx geht mit Proudhon gerade da auseinander, wo Bernstein ihre Analogie sieht.
Marx stimmt mit Proudhon darin überein, daß sie beide für ´Zerschlagen´ der heutigen Staatsmaschine sind. Diese Übereinstimmung des Marxismus mit dem Anarchismus (sowohl mit Proudhon als auch mit Bakunin) wollen weder die Opportunisten noch Kautskyaner sehen, denn sie haben in diesem Punkt dem Marxismus den Rücken gekehrt.
Marx geht sowohl mit Proudhon als auch mit Bakunin gerade in der Frage des Föderalismus auseinander (von der Diktatur des Proletariats schon gar nicht zu reden). Aus den kleinbürgerlichen Anschauungen des Anarchismus ergibt sich prinzipiell der Föderalismus. Marx ist Zentralist. Und in seinen hier zitierten Darlegungen ist nicht die geringste Abweichung vom Zentralismus enthalten. Nur Leute, die vom kleinbürgerlichen ´Aberglauben´ an den Staat erfüllt sind, können die Vernichtung der bürgerlichen Maschinerie für eine Vernichtung des Zentralismus halten!
Nun, wenn aber das Proletariat und die arme Bauernschaft die Staatsgewalt in ihre Hände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen organisieren und das Wirken dieser Kommunen vereinigen, um das Kapital zu schlagen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen und das Privateigentum an den Eisenbahnen, Fabriken, am Grund und Boden usw. der gesamten Nation, der gesamten Gesellschaft zu übertragen - wird das etwa nicht Zentralismus sein? Wird das nicht der konsequenteste demokratische Zentralismus sein? Und dazu noch proletarischer Zentralismus?
Bernstein kann es einfach nicht in den Sinn kommen, daß ein freiwilliger Zentralismus, eine freiwillige Vereinigung der Kommunen zur Nation, eine freiwillige Verschmelzung der proletarischen Kommunen zum Zweck der Zerstörung der bürgerlichen Herrschaft und der bürgerlichen Staatsmaschine möglich ist. Bernstein, wie jedem Philister, erscheint der Zentralismus als etwas, das nur von oben, nur von der Beamtenschaft und dem Militär aufgezwungen und aufrechterhalten werden kann.
Marx betonte ausdrücklich, als ob er die Möglichkeit einer Verzerrung seiner Ansichten vorausgesehen hätte, daß die gegen die Kommune erhobene Anschuldigung, sie hätte die Einheit der Nation vernichten, die Zentralregierung abschaffen wollen, eine bewußte Fälschung ist. Marx gebraucht absichtlich den Ausdruck "Die Einheit der Nation sollte organisiert werden", um den klassenbewußten, demokratischen, proletarischen Zentralismus dem bürgerlichen, militärischen, bürokratischen entgegenzustellen.
Aber.., schlimmer als jeder Taube ist, wer nicht hören will. Und die Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie wollen eben von einer Vernichtung der Staatsmacht, von einem Abschneiden des Schmarotzerauswuchses nichts hören.

1.5. Vernichtung des Schmarotzers Staat

Wir haben bereits die entsprechenden Stellen aus Marx angeführt, wir müssen sie ergänzen.
"Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen", schrieb Marx, "für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des Itsellschaftlichen Lebens versehn zu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehn. So ist diese neue Kommune, die die moderne Staatsmacht bricht, angesehn worden für eine Wiederbelebung der mittelalterlichen Kommunen (...) einen Bund kleiner Staaten, wie Montesquieu und die Girondins ihn träumten (...) für eine übertriebne Form des alten Kampfs gegen Überzenttalisation (...) Die Kommunalverfassung würde im Gegenteil dem gesellschaftlichem Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ´Staat´, der von der Gesellschaft sich nährt und freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. Durch diese Tat allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichs in Gang gesetzt haben (...) In Wirklichkeit aber hätte die Kommunalverfassung die ländlichen Produzenten unter die geistige Führung der Bezirkshauptstädte gebracht und ihnen dort, in den städtischen Arbeitern, die natürlichen Vertreter ihrer Interessen gesichert. - Das bloße Bestehn der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht."*15
"Vernichtung der Staatsmacht", die ein "Schmarotzerauswuchs" war, ihre "Abschneidung", ihre "Zerstörung", "die jetzt überflüssig gemachte Staatsmacht" - das sind die Ausdrücke, in denen Marx vom Staat sprach, als er die Erfahrungen der Kommune beurteilte und analysierte.
Dies alles ist nahezu vor einem halben Jahrhundert geschrieben worden; heute muß man gewissermaßen Ausgrabungen machen, um dem Bewußtsein der breiten Massen den unverfälschten Marxismus nahezubringen. Die Schlußfolgerungen aus den Beobachtungen der letzten von Marx erlebten großen Revolution hat man gerade dann vergessen, als die Zeit der folgenden großen Revolutionen des Proletariats kam.
" Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, weisen, daß sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.
Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und eine Täuschung."
()*16
Die Utopisten befaßten sich mit der ´Entdeckung´ politischer Formen, unter denen die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft vor sich gehen sollte. Die Anarchisten wollten von der Frage nach den politischen Formen überhaupt nichts wissen. Die Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie betrachteten die bürgerlichen politischen Formen des parlamentarischen demokratischen Staates als die Grenze, die nicht überschritten werden darf, sie schlugen sich bei ihrem Kotaumachen vor diesem ´Vorbild´ die Stirnen wund und erklärten jedes Bestreben, diese Formen zu brechen, als Anarchismus.
Marx hat aus der ganzen Geschichte des Sozialismus und des politischen Kampfes gefolgert, daß der Staat verschwinden muß, daß die Übergangsform seines Verschwindens (der Übergang vom Staat zum Nichtstaat) das "als herrschende Klasse organisierte Proletariat" sein wird. Marx unternahm es aber nicht, die politischen Formen dieser Zukunft zu entdecken. Er beschränkte sich auf eine genaue Beobachtung der französischen Geschichte, analysierte sie und zog die Schlußfolgerung, die sich aus dem Jahre 1871 ergab: Die Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschinerie rückt heran.
Und als die revolutionäre Massenbewegung des Proletariats ausgebrochen war, begann Marx, trotz des Mißerfolges dieser Bewegung, trotz ihrer kurzen Dauer und augenfälligen Schwäche, zu forschen, welche Formen sie entdeckt hat.
Die Kommune ist die von der proletarischen Revolution "endlich entdeckte" Form, unter der sich die ökonomische Befreiung der Arbeit vollziehen kann.
Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revolution, die bürgerliche Staatsmaschine zu zerschlagen, ist die "endlich entdeckte" politische Form, durch die man das Zerschlagene ersetzen kann und muß.
Wir werden in der weiteren Darlegung sehen, daß die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 in einer anderen Situation, unter anderen Umständen, das Werk der Kommune fortsetzen und die geniale historische Analyse von Marx bestätigen.

2. FORTSETZUNG - ERGÄNZENDE ERLÄUTERUNGEN VON ENGELS

Marx trug zur Frage der Beurteilung der Erfahrungen der Kommune das Grundlegende bei. Engels kam wiederholt auf dasselbe Thema zurück, indem er die Analyse und die Schlußfolgerungen von Marx erläuterte und mitunter mit einer solchen Kraft und Anschaulichkeit andere Seiten der Frage beleuchtete, daß man auf diese Erläuterungen besonders eingehen muß.

2.1. ´Zur Wohnungsfrage´

In seiner Abhandlung über die Wohnungsfrage (1872) verwertet Engels bereits die Erfahrungen der Kommune und kommt einige Male auf die Aufgaben der Revolution in bezug auf den Staat zu Sprechen. Es ist interessant, daß an einem konkreten Thema anschaulich aufgezeigt werden: einerseits die Züge, die den proletarischen Staat dem jetzigen Staat ähnlich machen, Züge, die Anlaß geben, in beiden Fällen von einem Staat zu sprechen, und anderseits die Unterscheidungsmerkmale oder der Übergang zur Aufhebung des Staates.
"Wie ist nun die Wohnungsfrage zu lösen? In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst wird: durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weiter gehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopistischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehn. Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ´Wohnungsnot´ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat." (Ausgabe 1887, S. 22)*17
Hier wird nicht die veränderte Form der Staatsmacht behandelt, sondern nur der Inhalt ihrer Tätigkeit. Expropriationen und Einquartierungen erfolgen auch auf Verfügung des jetzigen Staates. Formell betrachtet wird auch der proletarische Staat Einquartierungen und Expropriationen von Häusern ´verfügen´. Es ist aber klar, daß der alte Vollzugsapparat, die mit der Bourgeoisie verbundene Beamtenschaft, zur Durchführung der Verfügungen des proletarischen Staates einfach untauglich wäre.
" Übrigens muß konstatiert werden, daß die ´faktische Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen ´Ablösung´. Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das ´arbeitende Volk´ Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstnunente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus." (S. 86)*18
Die in diesen Darlegungen angeschnittene Frage, nämlich die Frage nach den ökonomischen Grundlagen des Absterbens des Staates wollen wir im nächsten Kapitel behandeln. Engels drückt sich äußerst vorsichtig aus, wenn er sagt, daß der proletarische Staat "schwerlich" die Wohnungen ohne Entgelt verteilen werde, "wenigstens während einer Übergangszeit". Die Überlassung von Wohnungen, die dem ganzen Volke gehören, an einzelne Familien gegen Entgelt setzt auch die Erhebung dieses Mietgelds, eine gewisse Kontrolle und diese oder jene Normierung bei der Verteilung der Wohnungen voraus. Alles das erfordert eine gewisse Staatsform, erfordert keineswegs einen besonderen militärischen und bürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders bevorzugter Stellung. Der Übergang zu einer Ordnung der Dinge, bei der es möglich wird, die Wohnungen kostenlos zu überlassen, ist mit dem völligen ´Absterben´ des Staates verknüpft.
Wo Engels darauf zu sprechen kommt, daß die Blanquisten nach der Kommune und beeinflußt durch deren Erfahrungen prinzipiell die Stellung des Marxismus bezogen, formuliert er beiläufig diese Stellung folgendermaßen:
".(...) Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats..." (S. 55)*19
Liebhaber von Wortklaubereien oder bürgerliche ´Marxistenfresser´ mögen wohl einen Widerspruch finden zwischen diesem Bekenntnis zur ´Abschaffung des Staats´ und der Ablehnung einer Formel wie der anarchistischen in dem früher zitierten Passus aus dem ´Anti- Dühring´. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Opportunisten auch Engels zum ´Anarchisten´ stempelten - wird es doch bei den Sozialchauvinisten jetzt immer mehr Sitte, die Internationalisten des Anarchismus zu bezichtigen.
Daß mit der Abschaffung der Klassen auch die Abschaffung des Staates erfolgen wird, das hat der Marxismus stets gelehrt. Die allgemein bekannte Stelle über das ´Absterben des Staates´ im ´AntiDühring´ macht den Anarchisten nicht einfach zum Vorwurf, daß sie für die Abschaffung des Staates eintreten, sondern daß sie predigen, man könne den Staat "von heute auf morgen" abschaffen.
Da die gegenwärtig herrschende ´sozialdemokratische´ Doktrin das Verhältnis des Marxismus zum Anarchismus in der Frage der Abschaffung des Staates vollkommen entstellt, wird es besonders nützlich sein, an eine Polemik von Marx und Engels gegen die Anarchisten zu erinnern.

2.2. Polemik gegen die Anarchisten

Diese Polemik fällt in das Jahr 1873. Marx und Engels schrieben für einen italienischen sozialistischen Almanach Artikel gegen die Proudhonisten, die ´Autonomisten´ oder ´Antiautoritarier´, aber erst im Jahre 1913 erschienen diese Artikel in deutscher Übersetzung in der ´Neuen Zeit´.
"Wenn der politische Kampf der Arbeiterklasse", schrieb Marx, über die Anarchisten und ihre Ablehnung der Politik spottend, "revolutionäre Form annimmt, wenn die Arbeiter an Stelle der Diktatur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatur setzen, dann begehen sie das schreckliche Verbrechen der Prinzipienbeleidigung, denn um ihre kläglichen profanen Tagesbedürfnisse zu befriedigen, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, geben sie dem Staat eine revolutionäre und vorübergehende Form, statt die Waffen niederzulegen und den Staat abzuschaffen." (´Neue Zeit´, 32. Jahrgang, Bd. I, 1913/14, S. 40)
Also ausschließlich gegen diese ´Abschaffung´ des Staates wandte Sich Marx bei seiner Widerlegung der Anarchisten! Gar nicht dagegen, daß der Staat mit dem Verschwinden der Klassen verschwinden oder mit der Abschaffung der Klassen abgeschafft werden, sondern dagegen, daß die Arbeiter auf die Anwendung von Waffen auf die organisierte Gewalt, das heißt auf den Staat, verzichten sollen, der dem Ziel zu dienen hat: "den Widerstand der Bourgeoisie brechen".
Marx betont absichtlich - um einer Entstellung des wahren Sinnes seines Kampfes gegen den Anarchismus vorzubeugen - die "revolutionäre und vorübergehende Form" des Staates, den das Proletariat braucht. Das Proletariat braucht den Staat nur zeitweilig. In Frage der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten gar nicht auseinander. Wir behaupten, daß zur Erreichung dieses Ziels eine zeitweilige Ausnutzung der Organe, Mittel, Methoden der Staatsgewalt gegen die Ausbeuter notwendig ist, ebenso wie zur Aufhebung der Klassen die vorübergehende Diktatur der unterdrückten Klasse notwendig ist. Marx greift gegen die Anarchisten zur schroffsten und klarsten Fragestellung: Sollen die Arbeiter "die Waffen niederlegen", wenn sie das Joch der Kapitalis abwerfen, oder sollen sie diese Waffen gegen die Kapitalisten ausnutzen, um deren Widerstand zu brechen? Aber die systematische Ausnutzung der Waffen durch eine Klasse gegen eine andere Klasse, was ist das denn anderes als eine "vorübergehende Form" des Staates?
Jeder Sozialdemokrat möge sich fragen, ob er in seiner Polemik gegen die Anarchisten die Frage des Staates so gestellt hat, ob die überwältigende Mehrheit der offiziellen sozialistischen Parteien der II. Internationale diese Frage so gestellt hat?
Engels entwickelt dieselben Gedanken noch viel ausführlicher und populärer. Zunächst verspottet er die Konfusion in den Köpfen der Proudhonisten, die sich als ´Antiautoritarier´ bezeichneten, das heißt jegliche Autorität, jegliche Unterordnung, jegliche Regierungsgewalt verneinten. Man nehme eine Fabrik, eine Eisenbahn, ein Schiff auf hoher See, sagt Engels, ist es denn nicht klar, daß ohne eine gewisse Unterordnung, also ohne eine gewisse Autorität oder Macht ein Funktionieren keines dieser komplizierten technischen Betriebe, die auf der Verwendung von Maschinen und dem planmäßigen Zusammenarbeiten vieler Personen beruhen, möglich wäre?
"(..) wenn ich dergleichen Argumente", schreibt Engels, "den rabiates Antiautoritariern unterbreitete, wußten sie mir nichts zu antworten als: ´Ah! Das ist wahr, aber hier handelt es sich nicht um eine Autorität, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag!´ Diese Herren glauben die Sache verändert zu haben, wenn sie deren Namen verändern."*20
Nachdem Engels so gezeigt hat, daß Autorität und Autonomie relative Begriffe sind, daß ihr Geltungsbereich sich mit den verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung ändert, daß es Widersinn ist, sie für etwas Absolutes zu halten, und nachdem er hinzugefügt hat, daß der Geltungsbereich der Maschinen und Großproduktion sich immer mehr erweitert, geht er von den allgemeinen Betrachtungen über Autorität zur Frage des Staates über.
"Wenn die Autonomisten", schreibt er, "sich damit begnügten, zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man sich verständigen; sie sind indessen blind für alle Tatsachen, die die Sache notwendig machen, und stürzen sich auf das Wort. Warum begnügen sich die Antiautoritarier nicht damit, gegen die politische Autorität, den Staat zu wettern? Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten. Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittelst Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen. Hätte die Pariser Kommune nur einen einzigen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volks bedient hätte? Ist sie nicht, im Gegenteil, dafür zu tadeln, daß sie sich ihrer nicht umfassend genug bedient hat?
Also von zwei Dingen eins: Entweder wissen die Antiautoritarier nicht, was sie sagen, und in diesem Falle säen sie Konfusion; oder sie wissen es, und in diesem Falle üben sie Verrat an der Bewegung des Proletariats. In dem einen wie in dem anderen Falle dienen sie der Reaktion."
(S. 39)*21
In dieser Betrachtung sind Fragen berührt, die im Zusammenhang mit dem Thema über das Verhältnis zwischen Politik und Okonomie beim Absterben des Staates betrachtet werden müssen (diesem Thema ist das nachfolgende Kapitel gewidmet). Das sind: die Frage der Umwandlung der öffentlichen Funktionen aus politischen in einfache administrative und die Frage des ´politischen Staates´. Dieser letzte Ausdruck, der besonders geeignet ist, Mißverständnisse hervorzurufen, deutet auf den Prozeß des Absterbens des Staates hin: Den absterbenden Staat kann man auf einer gewissen Stufe seines Absterbens als unpolitischen Staat bezeichnen.
Am bemerkenswertesten ist in dieser Engelsschen Betrachtung Wiederum die gegen die Anarchisten gebrauchte Fragestellung. Die Sozialdemokraten, die Schüler von Engels sein wollen, haben seit 1873 millionenmal sich mit den Anarchisten herumgestritten, aber gerade nicht so, wie Marxisten streiten können und sollen. Die anarchistische Vorstellung von der Abschaffung des Staates ist konfus und unrevolutionär - so stellte Engels die Frage. Die Anarchisten wollen gerade die Revolution in ihrem Entstehen und in ihrer Entwicklung, in ihren spezifischen Aufgaben hinsichtlich der Gewalt, der Autorität, der Macht, des Staates nicht sehen.
Die übliche Kritik des Anarchismus lief bei den heutigen Sozialdemokraten auf die reinste kleinbürgerliche Banalität hinaus: "Wir erkennen den Staat an, die Anarchisten nicht!" Natürlich muß etwas so Banales auf einigermaßen denkende und revolutionäre Arbeiter abstoßend wirken. Engels sagt etwas anderes: Er betont, daß alle Sozialisten das Verschwinden des Staates als Folge der sozialistischen Revolution anerkennen. Er stellt dann konkret die Frage der Revolution, eben jene Frage, die die Sozialdemokraten aus Opportunismus zu umgehen pflegen, deren ´Bearbeitung´ sie sozusagen ausschließlich den Anarchisten überlassen. Und während Engels die Frage stellt, packt er den Stier bei den Hörnern: Hätte sich die Kommune der revolutionären Macht des Staates, das heißt des bewaffneten, als herrschende Klasse organisierten Proletariats, nicht mehr bedienen sollen?
Die herrschende offizielle Sozialdemokratie pflegte die Frage nach den konkreten Aufgaben des Proletariats während der Revolution entweder einfach mit Philisterspötteleien oder, bestenfalls, mit der ausweichenden sophistischen Redewendung abzutun: "Das werden wir dann sehen." Und die Anarchisten durften mit Recht von dieser Sozialdemokratie behaupten, daß sie ihre Aufgabe preisgebe, die Arbeiter im revolutionären Geiste zu erziehen. Engels nutzt die Erfahrungen der letzten proletarischen Revolution gerade zu einer ganz konkreten Erforschung der Frage aus, was das Proletariat sowohl in bezug auf die Banken als auch in bezug auf den Staat zu tun hat und wie das zu tun ist.

2.3. Ein Brief an Bebel

Eine der bemerkenswertesten, wenn nicht die bemerkenswerteste Betrachtung in den Werken von Marx und Engels über den Staat ist folgende Stelle in einem Brief von Engels an Bebel vom 18./28. März 1875. Dieser Brief ist - in Klammern sei es bemerkt - unseres Wissens zum ersten Male von Bebel im Zweiten Teil seiner Memoiren (´Aus meinem Leben´) veröffentlicht worden, die 1911, das heißt 36 Jahre nach Niederschrift und Absendung des Briefes, erschien sind.
Engels kritisierte in seinem Brief an Bebel denselben Entwurf des Gothaer Programms, an dem auch Marx in seinem berühmten Brief an Bracke Kritik übte. Speziell zur Frage des Staates schrieb Engels folgendes:
"Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallen lassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der ´Volksstaats´ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx‘ gegen Proudhon und nachher das ´Kommunistische Manifest´ direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampfe, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von freiem Volksstaat zu sprechen: Solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat ´Gemeinwesen´ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische ´Kommune´ sehr gut vertreten kann." (S. 321/322)*22
Man muß im Auge behalten, daß dieser Brief sich auf das Parteiprogramm bezieht, das Marx in einem nur wenige Wochen später geschriebenen Brief (datiert vom 5. Mai 1875) kritisierte, und daß Engels damals, mit Marx zusammen, in London lebte. Wenn also Engels im letzten Satz ´wir´ sagt, so empfiehlt er zweifellos in seinem und Marx‘ Namen dem Führer der deutschen Arbeiterpartei, das Wort ´Staat´ aus dem Programm zu streichen und es durch das Wort ´Gemeinwesen´ zu ersetzen.
Welches Geheul über ´Anarchismus´ würden die Häuptlinge des jetzigen, für die Opportunisten gebrauchsfertig zurechtgemachten ´Marxismus´ erheben, wenn man ihnen eine solche Korrektur am Programm vorschlagen wollte!
Mögen sie heulen. Dafür werden sie von der Bourgeoisie gelobt werden.
Wir aber werden unser Werk weiter tun. Bei der Überprüfung unseres Parteiprogramms muß der Ratschlag von Engels und Marx unbedingt berücksichtigt werden, um der Wahrheit näher zu kommen, um den Marxismus wiederherzustellen und ihn von Entstellungen zu säubern, um den Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung sicherer zu lenken. Unter den Bolschewiki werden sich gewiß keine Gegner des Ratschlages von Engels und Marx finden. Die Schwierigkeit dürfte wohl nur im Terminus liegen. Im Deutschen gibt es zwei Wörter: ´Gemeinde´ und ´Gemeinwesen´, von denen Engels dasjenige wählte, das nicht die einzelne Gemeinde, sondern die Gesamtheit, das System der Gemeinden, bedeutet. Im Russischen gibt es kein entsprechendes Wort, und man wird sich vielleicht für das französische Wort ´Kommune´ entscheiden müssen, obgleich auch das seine Nachteile hat.
"Die Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war" - das ist die theoretisch höchst wichtige Behauptung von Engels. Nach dem oben Dargelegten ist diese Behauptung durchaus begreiflich. Die Kommune hörte auf, ein Staat zu sein, insofern sie nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) niederzuhalten hatte; die bürgerliche Staatsmaschine wurde von ihr zerschlagen; an Stelle einer besonderen Repressionsgewalt trat die Bevölkerung selbst auf den Plan. Alles das sind Abweichungen vom Staat im eigentlichen Sinne. Und hätte sich die Kommune behauptet, so wären in ihr die Spuren des Staates von selbst ´abgestorben´, sie hätte seine Institutionen nicht ´abzuschaffen´ brauchen: Diese hätten in dem Maße aufgehört zu funktionieren, wie sie nichts mehr zu tun gehabt hätten.
"Der ´Volksstaat´ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden", sagt Engels und meint in erster Linie Bakunin und dessen Ausfälle gegen die deutschen Sozialdemokraten. Engels erkennt diese Ausfälle soweit für berechtigt an, als der ´Volksstaat´ ein ebensolcher Unsinn und ein ebensolches Abweichen vom Sozialismus ist wie der ´freie Volksstaat´ auch. Engels ist bemüht, den Kampf der deutschen Sozialdemokraten gegen die Anarchisten zu korrigieren, diesem Kampf die prinzipiell richtige Linie zu geben, ihn von den opportunistischen Vorurteilen in bezug auf den ´Staat´ zu reinigen. Aber leider! Der Brief von Engels hat 36 Jahre lang in einer Schreibtischlade gelegen. Wir werden weiter unten sehen, daß auch nach der Veröffentlichung dieses Briefes Kautsky im wesentlichen die gleichen Fehler hartnäckig wiederholt, vor denen Engels warnte.
Bebel antwortete Engels mit einem Brief vom 21. September 1875, in dem er unter anderem schrieb, daß er mit Engels‘ Urteil über die Programmvorlage "vollkommen übereinstimme" und daß er Liebknecht Nachgiebigkeit vorgeworfen hätte (Bebel, ´Aus meinem Leben´, Bd. II, S. 334) *23 . Nimmt man jedoch Bebels Broschüre ´Unsere Ziele´ zur Hand, so findet man in ihr vollkommen falsche Betrachtungen über den Staat:
"Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden." (´Unsere Ziele´, Ausgabe von 1886, S. 14)
So zu lesen in der neunten (neunten!) Auflage der Bebelschen Broschüre! Kein Wunder, daß die so hartnäckig wiederholten opportunistischen Räsonnements über den Staat von der deutschen Sozialdemokratie aufgesaugt wurden, besonders da die revolutionären Erläuterungen von Engels vor der Welt geheimgehalten wurden und die ganzen Lebensverhältnisse für lange Zeit von der Revolution ´entwöhnten´.

2.4. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx, ´Der Bürgerkrieg in Frankreich´

In seiner Einleitung zur dritten Auflage des ´Bürgerkriegs in Frankreich´ - diese Einleitung datiert vom 18. März 1891 und war ursprünglich in der ´Neuen Zeit´ veröffentlicht - gibt Engels neben interessanten beiläufigen Bemerkungen über Fragen, die mit dem Verhältnis zum Staat zusammenhängen, eine überaus prägnante Zusammenfassung der Lehren der Kommune. Diese Zusammenfassung, vertieft durch die ganze Erfahrung eines Zeitabschnitts von zwanzig Jahren, der den Verfasser von der Kommune trennte, und speziell gerichtet gegen die in Deutschland verbreitete "abergläubische Verehrung des Staates", kann mit Recht als das letzte Wort des Marxismus zu der Frage, die wir hier untersuchen, bezeichnet werden.
In Frankreich, bemerkt Engels, waren die Arbeiter nach jeder Revolution bewaffnet, "für die am Staatsruder befindlichen Bourgeois war daher Entwaffnung der Arbeiter erstes Gebot. Daher nach jeder, durch die Arbeiter erkämpften Revolution ein neuer Kampf, der mit der Niederlage der Arbeiter endigt."*24
Die Bilanz der Erfahrung der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie eindrucksvoll. Das Wesen der Sache - unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die u n t e r d r ü c k t e K l a s s e W a f f e n b e s i t z t) - ist hier treffend erfaßt. Gerade diesen Kern umgehen meistenteils sowohl die unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie stehenden Professoren als auch die kleinbürgerlichen Demokraten. In der russischen Revolution von 1917 fiel dem ´Menschewik´ und ´Auch-Marxisten´ Zereteli die Ehre zu (eine Cavaignacsche*25 Ehre), dieses Geheimnis der bürgerlichen Revolutionen auszuplaudern. In seiner ´historischen´ Rede vom 11. Juni plauderte Zereteli aus, die Bourgeoisie sei entschlossen, die Petrograder Arbeiter zu entwaffnen, wobei er natürlich diesen Beschluß auch als seinen eigenen wie überhaupt als eine ´Staats´notwendigkeit hinstellte!
Die historische Rede Zeretelis vom 11. Juni wird natürlich für jeden Geschichtsschreiber der Revolution von 1917 eine der anschaulichsten Illustrationen dafür bieten, wie der von Herrn Zereteli geführte Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki sich auf die Seite der Bourgeoisie gegen das revolutionäre Proletariat geschlagen hat.
Eine andere beiläufige Bemerkung von Engels, die ebenfalls mit der Frage des Staates zusammenhängt, bezieht sich auf die Religion. Es ist bekannt, daß die deutsche Sozialdemokratie in dem Maße, wie sie versumpfte und immer opportunistischer wurde, immer öfter und öfter zu einer philisterhaften Falschdeutung der berühmten Formel ´Erklärung der Religion zur Privatsache´ hinabglitt. Nämlich: Diese Formel wurde so gedeutet, als sei auch für die Partei des revolutionären Proletariats die Frage der Religion Privatsache!! Gegen diesen völligen Verrat am revolutionären Programm des Proletariats machte eben Engels Front, der 1891 erst ganz schwache Keime des Opportunismus in seiner Partei beobachtete - und sich daher äußerst vorsichtig ausdrückte:
"Wie in der Kommune fast nur Arbeiter oder anerkannte Arbeitervertreter saßen, so trugen auch ihre Beschlüsse einen entschieden proletarischen Charakter. Entweder dekretierten sie Reformen, die die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheit unterlassen hatte, die aber für die freie Aktion der Arbeiterklasse eine notwendige Grundlage bildeten, wie die Durchführung des Satzes, daß dem Staat gegenüber die Religion bloße Privatsache sei; oder sie erließ Beschlüsse direkt im Interesse der Arbeiterklasse und teilweise tief einschneidend in die alte Gesellschaftsordnung. " *26
Engels unterstrich die Worte "dem Staat gegenüber" mit Vorbedacht, um haargenau den deutschen Opportunismus zu treffen, der die Religion zur Privatsache der Partei gegenüber erklärte und auf diese Weise die Partei des revolutionären Proletariats auf das Niveau eines banalen ´freidenkerischen´ Spießertums herabddrückte, das bereit ist, Konfessionslosigkeit zu dulden, aber auf den Kampf der Partei gegen das volksverdummende Opium Religion verzichtet.
Der künftige Geschichtsschreiber der deutschen Sozialdemokraten wird bei der Aufspürung der Wurzeln ihres schmachvollen Zusammenbruchs im Jahre 1914 recht viel interessantes Material zu dieser Frage vorfinden, angefangen von den ausweichenden, dem Opportunismus Tür und Tor öffnenden Erklärungen in den Artikeln Kautskys, des ideologischen Führers der Partei, bis zu dem Verhalten der Partei zu der ´Los-von-der-Kirche-Bewegung´ im Jahre 1913. *27
Gehen wir jedoch zu den Lehren über, die Engels zwanzig Jahre nach der Kommune aus ihren Erfahrungen für das kämpfende Proletariat zog.
Das sind die Lehren, die Engels in den Vordergrund rückte:
"Gerade die unterdrückende Macht der bisherigen zentralisierten Regierung, Armee, politische Polizei, Bürokratie, die Napoleon 1798 geschaffen und die seitdem jede neue Regierung als willkommenes Werkzeug übernommen und gegen ihre Gegner ausgenutzt hatte, gerade diese Macht sollte überall fallen, wie sie in Paris bereits gefallen war.
Die Kommune mußte gleich von vornherein anerkennen, daß die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine; daß diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zu gehn, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andrerseits aber sich sichern müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte."
()*28
Engels unterstreicht immer wieder, daß nicht nur in der Monarchie, sondern auch in der demokratischen Republik der Staat Staat bleibt, das heißt sein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal beibehält: die beamteten Personen, die "Diener der Gesellschaft", ihre Organe in Herren über die Gesellschaft zu verwandeln.
"Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen. Das höchste Gehalt, das sie überhaupt zahlte, war 6ooo Franken. Damit war der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sichrer Riegel vorgeschoben, auch ohne die gebundenen Mandate bei Delegierten zu Vertretungskörpern, die noch zum Überfluß hinzugefügt wurden." ()*29
(6000 Franken waren nominell zirka 2400 Rubel, nach dem heutigen Kurs [d. h. 1917, d. Hg.] zirka 6ooo Rubel. Ganz unverzeihlich handeln die Bolschewiki, die zum Beispiel vorschlagen, in den Stadtparlamenten Gehälter von 9ooo Rubel einzuführen, statt ein Maximum von 6ooo Rubel für den ganzen Staat zu beantragen - eine Summe, die durchaus genügen dürfte. [Lenin])
Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes sich in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rechnungslegung verwandeln, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar sind. Zur völligen Beseitigung des Strebertums ist es erforderlich, daß ein ´Ehrenamt´ im Staatsdienst, auch wenn es nichts einbringt, nicht als Sprungbrett dienen kann, um in hochbezahlte Stellungen bei Banken und Aktiengesellschaften zu gelangen, wie das in allen kapitalistischen Ländern, auch den freiesten, ständig vorkommt.
Engels begeht aber nicht den Fehler, den zum Beispiel manche Marxisten in der Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen begehen: unter dem Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und unter dem Sozialismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn ein restlos konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, unter dem Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.
Das ist eine Sophisterei, die an die alte Scherzfrage erinnert, ob ein Mensch beginnt kahlköpfig zu werden, wenn er ein Haar vom Kopfe verliert.
Entwicklung der Demokratie bis ans Ende, Auffinden der Formen einer solchen Entwicklung, ihre Erprobung durch die Praxis usw. - das alles bildet eine der integrierenden Aufgaben des Kampfes um die soziale Revolution. Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen. Im Leben aber wird der Demokratismus nie "für sich genommen", sondern er wird mit anderen Erscheinungen "zusammengenommen", er wird seinen Einfluß auch auf die Ökonomie ausüben, ihre Umgestaltung fördern, dem Einfluß der ökonomischen Entwicklung unterliegen usw. Das ist die Dialektik der lebendigen Geschichte.
Engels fährt fort:
"Diese Sprengung der bisherigen Staatsmacht und ihre Ersetzung durch eine neue, in Wahrheit demokratische, ist im dritten Abschnitt des ´Bürgerkriegs´ eingehend geschildert. Es war aber nötig, hier nochmals kurz auf einige Züge derselben einzugehn, weil gerade in Deutschland der Aberglaube an den Staat aus der Philosophie sich in das allgemeine Bewußtsein der Bourgeoisie und selbst vieler Arbeiter übertragen hat. Nach der philosophischen Vorstellung ist der Staat die ´Verwirklichung der Idee´ oder das ins Philosophische übersetzte Reich Gottes auf Erden, das Gebiet, worauf die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit sich verwirklicht oder verwirklichen soll. Und daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staats und alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden. Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es, ebensowenig wie die Kommune, umhinkönnen wird sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun." ()*30
Engels ermahnte die Deutschen, bei der Ersetzung der Monarchie durch eine Republik die Grundlagen des Sozialismus in der Frage des Staates überhaupt nicht zu vergessen. Seine Warnungen lesen sich jetzt geradezu wie eine Lektion an die Herren Zereteli und Tschernow, die in ihrer ´Koalitions´praxis ihren Aberglauben an den Staat und ihre abergläubische Verehrung des Staates offenbart haben!
Noch zwei Bemerkungen. Erstens: Wenn Engels sagt, daß in einer demokratischen Republik der Staat "nicht minder" als in der Monarchie eine "Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre" bleibt, so bedeutet das durchaus nicht, daß die Form der Unterdrückung dem Proletariat gleichgültig sei, wie manche Anarchisten ´lehren´. Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf für die Aufhebung der Klassen überhaupt.
Zweitens: Die Frage, warum erst eine neue Generation imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun, hängt mit Frage der Überwindung der Demokratie zusammen, einer Frage, zu der wir nun übergehen.


Anmerkungen
*1
´Staat und Revolution´ wurde von Lenin im August/September 1917 geschrieben. Der vorliegende Text gibt das III. Kapitel dieser Schrift sowie Auszüge aus dem IV. wieder.

*2
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS, Das Kommunistische Manifest. Elementarbücher des Kommunismus, Bd. 1, 4. Aufl., o. 0. 1927, S. 16.

*3
S. vorl. Texte, S. 7 - 45.

*4
Die russische Ausgabe mit dem Vorwort von LENIN erschien 1907 in Petersburg. S. vor. Texte, S. 66; s. auch Anm. 184 (Text d. MARX-Briefes an KUGELMANN).

*5
STRUVE, P. (1870 - 1944), liberaler russischer Politiker, zählte zu den sogenannten legalen Marxisten, die die ökonomischen Thesen von MARX übernahmen, jedoch jede konspirative Politik ablehnten und die sozialen Spannungen durch Reformen lösen wollten. STRUVE gab seit 1902 die liberale Zeitschrift ´Osvobozdenie´ (Befreiung) heraus, die zuerst in Stuttgart und ab 1904 in Paris erschien. Aus dem Kreis um ´Osvobozdenie´ bildete sich 1904 der ´Sojuz Osvobozdenija´ (Bund der Befreiung), aus dem die Partei der Kadeten hervorging.

*6
Gemeint sind die bürgerlichen Revolutionen in Portugal im Februar 1908 und in der Türkei im August 1908.

*7
S. vorl. Texte, S. 22 ff.

*8
Ebd., S. 24.

*9
Ebd., S. 24 f.

*10
BERNSTEIN, EDUARD (1850 - 1932), Begründer des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie.

*11
S. vorl. Texte, S. 27.

*12
Ebd., S. 26.

*13
Ebd., S. 25 f; vgl. auch Anm. 76.

*14
EDUARD BERNSTEIN, Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899; in der vorl. Reihe ´Texte des Sozialismus...´ Nr. 252—254, Hg. G. HILLMANN, Reinbek b. Hamburg 1970.

*15
S. vorl. Texte, S. 26 f.

*16
Ebd., S. 27.

*17
FRIEDRICH ENGELS, Zur Wohnungsfrage, MEW 18, S. 226 f.

*18
Ebd., S. 282.

*19
Ebd., S. 266.

*20
FRIEDRICH ENGELS, Von der Autorität, MEW 18, S. 307.

*21
Ebd., S. 307 f.

*22
AUGUST BEBEL, Aus meinem Leben, Bd. II, Berlin (Ost) 1953, S. 281 f.

*23
Ebd., S. 292 f.

*24
S. vorl. Texte, 5. 48.

*25
S. Anm. 125.

*26
S. vorl. Texte, S. 52.

*27
Eine der treibenden Kräfte dieser Bewegung war KARL LIEBKNECHT. Vgl. hierzu dessen Artikel vom 16. 1. 1914 in der ´Neuen Zeit´, 1. Bd., Nr. 16, der sich gegen PAUL GÖHRES richtet (dessen Standpunkt in einem Artikel vom 2.1. 1914 ebenfalls in der ´Neuen Zeit´, 1. Bd. Nr. 14).

*28
S. vorl. Texte, S. 55.

*29
Ebd., S. 56.

*30
Ebd., S.56f.


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