Exzerpte | |||||||
Team | Peter Heilbronn | ||||||
Thema | Exzerpt zu Leppert-Fögen 'Die deklassierte Klasse' ( excerpt ) | ||||||
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Verweis | [ Struktur ] | ||||||
Status | in Arbeit | ||||||
Letzte Bearbeitung | 03/2006 | ||||||
Home | www.mxks.de |
IIII Kleinbürgerliche Relikte im Kapitalismus
IV
V
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Die Rede vom >neuen Mittelstand< unter Inanspruchnahme bestimmter Bewusstseinsinhalte kennzeichnet jedoch nur den Beginn einer wissenschaftlichen Schichttheorie. Was die Motivation ihrer Urheber betrifft, so entstand sie zumal in
Deutschland vor allem als Reaktion auf die Klassentheorie.
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(S. 21 f.)
| [Weg vom Klassenbegriff - hin zur ''sozialen'' Schicht] |
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Nachdem auf diese Weise ein soziales Verhältnis zum >bloß wirtschaftlichen< gestempelt war, griff man nach anderen ökonomischen Faktoren, die offenbar als umfassender galten, in der Wirklichkeit jedoch eher geeignet waren, den erfolgreichen Schlagersänger mit dem erfolgreichen Kapitalisten in in der Gesellschaftswissenschaft in ein und derselben Schicht verschmelzen zu lassen: zum >Einkommen< und später,
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mit der Differenzierung der Schichtungsskala, auch zum >Besitz an langlebigen Konsumgütern< usf.
Vor allem aber ging es um das Bewusstsein, das, nachdem man den Begriff des Ökonomischen erst einmal auf Einkommensverhältnisse und Lebensstandard eingeengt hatte, als eine von der >wirtschaftlichen< Situation eines Individuums in der Tat relativ unabhängigen Größe erscheinen konnte. Der Rekurs auf diese Größe im Rahmen der Stratifikationstheorie aber impliziert zugleich den Rekurs auf Ideologie: das herrschende Interesse an soziale Harmonie und der Existenz einer breiten Mittelschicht auf das der Beherrschten; soziale Selbstzuordnung drängt zur gesellschaftlichen Mitte. Schien die Attraktivität der Mittelschichtzugehörigkeit bei der Verkäuferin, die sich in Qualifikation und Einkommen vom Industriearbeiter in nichts unterscheiden mag, unmittelbar plausibel, so erklärte man den umgekehrten Vorgang, den Statusunterschätzungen von Oberschichtangehörigen, aus einer "Bescheidenheit in Erwartung öffentlicher Mißbilligung" (Mayntz). " (S. 22 f.) | [Doppelte Projektion als Begründung gegen die ''Ökonomie'' - Dialektik Zuweisung/Selbstzuweisung] |
{ Die doppelte Projektion ist ein beliebtes ideo-logisches Instrument. Sie taucht z.B. auch bei der Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Da die Natur auf Grund Folie der bürgerlichen Gesellschaft als Kampf aller gegen alle antropomorhisiert wird, kann man umgekehrt nun damit die bürgerliche Gesellschaft in ihrer gnadenlosen Konkurrenz als natürlich erklären. Die Projektion menschlicher Verhältnisse in die erste Natur wird mit der entsprechenden Rückprojektion eine Natürlichkeit menschlicher Verhältnisse als Begründungszusammenhang geschaffen. Das funktioniert genauso wie 'von Gottes Gnaden'. (d.V.)}
{
(d.V.)}
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Während - einem Marxschen Diktum zufolge - kein shopkeeper dem anderen glaubt, was er von sich selber sagt, einigten sich in die Hauptvertreter der deutschen Nachkriegssoziologie ohne größere theoretische Vorbehalte darauf, dass über die Zugehörigkeit zum Mittelstand in erster Linie eine gewisse >Mentalität<, ein Zugehörigkeitsgefühl und -bewusstsein also, entscheide. Galten demgemäß ökonomische oder sonstige objektiv fassbare und kontrollierbare Faktoren zumindest in der Mittelstandsfrage als zweitrangig(32), so brauchte man nur bei irgendwelchen >mittelständischen< Sehnsüchten des Proletariats anzuknüpfen, und mittels einer durch die Ideologie unermesslich aufgeblähten Mittelschicht alle Prognosen vom Zerfall der Gesellschaft in zwei Klassen ihrerseits als >Ideologie< zurückzuweisen.
Auf
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dieser Grundlage entstand das wissenschaftliche Monstrum einer >nivellierten Mittelstandgesellschaft<(33), die Parodie auf die klassenlose Gesellschaft, die glauben machen sollte, "dass ein Verständnis unserer Gesellschaftsstruktur als Klassengesellschaft nicht mehr aufrechtzuerhalten ist"(34, Schelsky). War bei den untersuchten Individuen selber das "Bekenntnis zum >Mittelstand< und zu den >middle classes< im Grunde genommen unabhängig [...] vom realen Bestand einer Ober- und Unterklasse"(35, Schelsky), so sah auch in der analysieren der Soziologe keinen Anlass, jenes Bekenntnis und den daran geknüpften sozialen Frieden durch Aufdeckung besteher Macht - und Herrschaftsverhältnisse zu stören.
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[Herv. v. P.H.] (S. 23 f.)
| [Ideologie begreift Mittelstand als subjektive Selbstzuschreibung, um sie zu vergrößern - sozialer Friede] |
{ Ist der Mittelstand objektiv relativ klein, kommt es darauf an, ihn ideologisch möglichst groß zu machen. Mit ihm soll ja gerade ein übergreifender Klassenkit aufgebaut werden, das kleinbürgerliche Bewusstsein der Proletarier aufgebaut bzw. erhalten werden. (d.V.)}
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Hatte man die >goldene Mitte< seit eh und je mit den Attributen der Ausgewogenheit und Mäßigung gelegt, so waren diese Vorstellungen auch der deutschen Soziologie der Nachkriegszeit nicht weiter >kontrovers<. Wie einerseits die Eschatologie einer Nivellierung, die die gesellschaftliche Ungleichheit auf immer besiegt, die Gegenwart von einen tendenziell sämt-
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liche Individuen umspannende Mittelstand bestimmt erscheinen ließ, geriet andererseits die politische Gestalt derjenigen gesellschaftlichen Minorität, die allein als >mittelständisch< sinnvollerweise zu klassifizieren wäre, aus dem Blick: Gänzlich ausgeblendet blieb die rezente Erfahrung des Faschismus, die angenommene politische Unschuld des Mittelstandes als Illusionen hätte entlarven müssen
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[Herv. v. P.H.] (S. 26 f.)
| [Widerspruch zwischen ideologischem und realem Mittelstand - Unschuld des Mittelstandes vs. Faschismus] |
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Die Erkenntnis dagegen, dass demokratische und faschistische Parteien zumindest eine Gemeinsamkeit besitzen - die gesellschaftliche Verankerungen im Mittelstand
, dessen politische Apathie somit keineswegs funktionslos ist -, formulierte sich umgekehrt in der amerikanischen Sozialwissenschaft. Dies bedeutete freilich den Bruch mit jener eingefleischten Vorstellung, dass stets nur "die Extremisten an beiden Enden des politischen Kontinuums zur Diktatur (neigen), während die Gemäßigten in der Mitte die Demokratie verteidigen". Spätestens der Faschismus hatte, Lipset zufolge, deutlich gemacht, "daß dies ein Irrtum ist"(47): Das einstige >Bollwerk< der demokratischen Gesellschaftsordnung kannte seine spezifische Form des Extremismus.
... Entgegen der stalinistischen Interpretation des Faschismus, die in ihm nichts als die Reaktion eines Teils des Finanzkapitals sah, wies insbesondere Trotzki auf seine weit über kapitalistische Minoritäten hinausreichende Fundie- [27] rung in den kleinbürgerlichen Massen hin. Als einer der wenigen marxistischen Theoretiker, den die Rolle des Mittelstands im Faschismus überhaupt wahrnahmen, aber griff er auf den von Marx geprägt in (und von Lenin tradierten) Begriff einer "zwischen den beiden Hauptlagern schwankenden Kleinbourgeoisie" zurück: "Ist das Kleinbürgertum unfähig zu selbstständiger Politik [...], so bleibt ihm nur die Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat."(48, Leo Trotzki ' Schriften über Deutschland', Band I, Seite 360) " [Herv. v. P.H.] (S. 27 f.) | [Mittelstand als Träger im Faschismus - Extremismus der Mitte] |
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Gerade die sozio-ökonomischen Definition des Kleinbürgertums als >Zwischenschicht< sowie seine von Marx diagnostizierte und Unfähigkeit zu selbstständiger Politik implizieren, dass seine jeweilige politische Gestalt primär als abhängige Variable zu analysieren ist: Sie variiert mit den verschiedenen Phasen, in denen das Verhältnis der beiden Hauptklassen sich verändert, und folgt mithin einer Entwicklung, die ihrerseits durch den ökonomischen Prozess bestimmt ist und daher vom Kleinbürgertum selbst immer weniger beeinflusst wird.
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(S. 30)
| [Relativierung von Marx' Begriff im Zuge der Entwicklung] |
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Insbesondere der Übergang zum Kapitalismus der Monopole und Kartelle zog einen politischen >Übergang< des Kleinbürgertums nach sich, der sich in den Kategorien, mit denen Marx die kleinbürgerliche Politik einer früheren Phase charakterisiert hatte, kaum noch erfassen lässt. Die Diskrepanz zwischen ökonomisch reaktionären und politischen demokratischen Forderungen, die am Kleinbürgertum der 48ger Revolution noch ins Auge fällt, verlosch. Mit dem Wandel seiner ökonomischen Zwischenstellung verging ihm schließlich auch das Schwanken. Sein politisches Verhalten entsprach immer mehr seiner anachronistisch ökonomischen und gesellschaftlichen Lage - denn die Abwendung des Kleinbürgertums von der Demokratie vollzog
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sich ideologisch als Radikalisierung derjenigen Komponenten seines Bewusstseins, die deutlichster Ausdruck seiner überalterten Produktionsweise sind.
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[Herv. v. P.H.] (S. 30 f.)
| [Übergang des Kleinbürgertums zur Reaktion - zur Dominanz des radikalen Anachronistischen im Bewusstsein] |
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Dieser ökonomischen Wandel: die zunehmende Entfernung des Kleinbürgertums von den Produktion, besitzt eine unmittelbar politische Dimension. Der Kampf des Kleinbetriebs gegen das industrielle Kapital ist inzwischen entschieden; er verlosch mit der Übergang zu monopolistisch strukturierten, >organisierten< Kapitalismus. Damit blieb vom ursprünglichen Antikapitalismus kaum mehr übrig als die gegen das Geldkapital geschleu-
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derten Brocken, die alsbald ihr rassistisches Profil erhielten, während seine Rebellion im selben Prozess ihr Ziel wechselte: Galt der Kampf um die Erhaltung der Selbständigkeit ursprünglich den kapitalistischen Expropriateuren, so dient er nur in der Absetzung von den eigentumslosen Produzenten; nach >oben<, gegen die Industrie ist er entschärft, nach >unteren<, gegen das Proletariat nimmt, gewinnt er Härte.
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[Herv. v. P.H.] (S. 31 f.)
| [Ökonomisches Fundament des Übergang zur Reaktion] |
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Je größer die faktische Abhängigkeit des Kleinbürgers von Kapital und "je kleiner sein Haus, desto größeren Wert legt er darauf, im Hause zu bleiben"(57, Hilferding 'Das Finanzkapital'). Denn "der Kleinbürger kämpft nicht gegen die Verschlechterung seiner Lage, er kämpft gegen seine Proletarisierung"(58, Grünberg).
... Während so "der alte Interessengegensatz zwischen Bourgeoisie und Kleinbürgertum" schwindet, wird in dieser gerade in der Furcht vor eigener Proletarisierung "zu einer politischen Schutztruppe des Kapitals".(59, Hilferding 'Das Finanzkapital') " [Herv. v. P.H.] (S. 32) | [Übergang zur politischen Schutztruppe des Kapitals] |
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Denn "Sozialismus ist Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Als Träger einer darauf gerichteten Entwicklung kommen im wesentlichen nur diejenigen Bevölkerungsteile in Betracht, die gegenwärtig nicht über Produktionsmittel verfügen. Das heißt aber eben: das Proletariat; und es heißt weiter: der Teil der Mittelschichten, die wir als Neuproletariat bezeichnen. Nicht aber die kleinen Eigentümer."(60, Theodor Geiger, 'Die Mittelschichten und die Sozialdemokratie')
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(S. 33)
| [Die kleinen Eigentümer sind nicht die Träger der Revolution] |
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Zweitens: die damit gesetzte >Subjektivierung< der Betrachtungsweise entspricht zwar dem Schichtbegriff, nicht jedoch den geschilderten Vorgehen der Schichttheorie. Nicht operationalisierend über die soziale Wirklichkeit verlegten Windungen, sondern die soziale Realität des Mittelstandes selbst spricht dafür, von ihm eher in Begriffen der >Schicht< als in denen der >Klasse< zu sprechen: Das Kleinbürgertum ist nicht nur >Zwischenschicht<, sondern auch untergehende Schicht - in diesem Sinne wird der Begriff der >Mittelschichten< auch im Marxschen Werk verwandt: als >Mittel- und Übergangsstufen<. Der Begriff der >Schicht< ist gerade dann am Platze, wenn soziale Gruppen ihre Klasseneigenschaften, ihre Mitglieder den gemeinsamen Bezug auf einen durchsetzbares gesellschaftliches Interesse verloren haben. Bilden nämlich die "einzelnen Individuen [...] nur insofern eine eigene Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen
eine andere Klasse zu führen haben"(63, Mars/Engels 'Deutsche Ideologie', S. 53), so wird diese Gemeinsamkeit im Kleinbürgertum bereits durch seine individuelle Produktionsweise , die widersprüchlichen Interessen und die Konkurrenz der Kleingewebetreibenden untereinander verhindert, während auch sein >Kampf< sich nicht mehr > gegen eine andere Klasse<, sondern gegen ein Gesellschaftssystem im Ganzen richtet, dessen ökonomische Reproduktion es auf keine Weise mehr bestimmt.
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(S. 35)
| [Schichtbegriff vs. Klassenbegriff] |
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Drittens: nicht herrschende Schichttheorie die Eigenständigkeit des Bewusstseins zum Anlass ihrer von Klassenbegriff abweichenden Schichtdefinition, so geht es in dieser Arbeit umgekehrt darum, jener relative Unabhängigkeit aus der tatsächlichen Situation einer nach sozio-ökonomischen
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Kriterien bestimmten Schicht erst abzuleiten. Daher bleiben die Aussagen über den Charakterstruktur und Ideologie und gebunden an die politische Ökonomie. Deren Kategorien sind für diese Arbeit um so wesentlicher, als es ihr um die Analyse eines Prozesses geht, der das Kleinbürgertum von der Revolution zur Konterrevolutionen drängte.
In diesem Prozess hat nicht etwa das Kleinbürgertum selbst seinen Kurs radikal gewechselt, sondern die Klassenstruktur der Gesamtgesellschaft, die globale gesellschaftliche und politische Situation hat sich derart verändert, dass eine in ihren Grundzügen konstante politische Reaktionsform des Kleinbürgertums zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft >progressiv<, in ihrer agonalen Krise dagegen >reaktionär< sich äußerte. Diese Eigengesetzlichkeit, die das politische Verhalten des Kleinbürgertums in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft trotz seines Funktionswandels aufwies, ist jedoch nur Ausdruck der Identität einer Produktionsweise, die als vorkapitalistisches Relikt in die kapitalistische Gesellschaft hineinreicht.
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[Herv. v. P.H.] (S. 35 f.)
| [Schicht oder Klasse bedürfen ihrer ökonomischen Fundierung - Veränderung der Produktions und Klassenstruktur sind der Grund für den Übergang zur Reaktion] |
I Kleinbürgerliche Relikte im Kapitalismus
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Verschiebung der Grenzen und des Verhältnisses der Klassen heißt im Kapitalismus: Polarisierung. Konzentrationen des Eigentums in wenigen Händen aber folgt der technischen Entwicklung der Produktivkräfte: Diese überschreiten in Größe und Wert zunehmend den Rahmen einer auf viele Kapitaleigener sich verteilende Kleinproduktion. Indem dieser allgemeine Übergang zur Produktion die materiellen Voraussetzungen für eine sozialistische Ökonomie schafft, ist er bereits nach seiner technischen Seite Vorbedingung für eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Wenn Lenin bemerkt, "dass Marx im höchsten Grade recht hatte, als er die Arbeiter lehrte, dass es wichtig sei, die Organisation der Produktion gerade im Interesse eines leichtern Übergangs zum Sozialismus zu erhalten"(1, Lenin 'Über die "linke" Kinderei ...'), so handelt es sich um diese technisch-materiellen Produktionsbedingungen, die, im Kapitalismus erzeugt, auf den Sozialismus übertragen, in ihm weiterentwickelt werden.
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[Herv. v. P.H.] (S. 39)
| [Polarisierung - Überschießende Momente im Kapitalismus] |
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Der Kapitalismus selbst verlangt nach Planung: die >Anarchie< der Produktion existiert nur makroökonomisch; im einzelnen Betrieb dagegen herrschen, und zwar in unmittelbarer Korrelation zu seiner Größenordnung, die Prinzipien von technischer und bürokratischer Kontrolle. Der gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion, der rationalen Planung, ohne die eine sozialistische Ökonomie undenkbar ist, wird im Kapitalismus vorgearbeitet: in den wirtschaftlichen Großgebilden, die der technischen Konzentration der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Zentralisation des Eigentums entsprechen.
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(S. 40)
| [Planung im Kapitalismus vs. Planung im Sozialismus] |