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Die Klassenverhältnisse und die Klassenkämpfe in den Niederlanden zur Zeit Spinozas
( original )
SPINOZAS STELLUNG IN DER VORGESCHICHTE DES DIALEKTISCHEN MATERIALISMUS - REDEN UND AUFSÄTZE ZUR WIEDERKEHR SEINES 250. TODESTAGES
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1. Hermann Duncker: Vorwort
2. A. THALHEIMER: DIE KLASSENVERHÄLTNISSE UND DIE KLASSENKÄMPFE IN DEN NIEDERLANDEN ZUR ZEIT SPINOZAS
2.1. Einleitung
2.2. Das kapitalistische Musterland des XVII. Jahrhunderts
2.3. Die Klassen, die Parteien, der Staat
2.4. Das politische und wirtschaftliche Programm der Handelsbourgeoisie
2.5. Die Handelsbourgeoisie: die Klassengrundlage der Philosophie des Spinoza
1. Hermann Duncker: Vorwort
Die vorliegende Schrift ist die Zusammenfassung dreier unabhängig
voneinander entstandener Reden und Aufsätze von Thalheimer und Deborin. Die zwei
Reden wurden anläßlich der 250. Wiederkehr des Todestages von Spinoza (gestorben
am 21. Februar 1677) vor der Kommunistischen Akademie in Moskau gehalten.
Was rechtfertigt den Neudruck dieser beiden Gelegenheitsreden und des
Aufsatzes von Thalheimer über Spinozas Einwirkung auf die klassische deutsche
Literatur außer der Tatsache, daß beide Verfasser hervorragende und anerkannte
Spezialisten auf dem Gebiet der marxistischen Durchdringung philosophischer
Probleme sind?
Die alte Internationale Bibliothek der deutschen Sozialdemokratie - jener
erste Versuch einer Schriftenreihe im Geiste des Marxismus - brachte zu Beginn
ihrer Veröffentlichungen (1891) ein Buch des Stuttgarter Rabbiners und
Spinoza-Uebersetzers Jakob Stern: Die Philosophie Spinozas, erstmals gründlich
aufgehellt und populär dargestellt.
Wenn jetzt die Marxistische Bibliothek des modernen Kommunismus ebenfalls
ein Spinoza-Bändchen vorlegt, so geschieht es aus dem Bewußtsein heraus, daß
Spinoza ein für die marxistische Weltanschauung bedeutsamer Vorläufer war und
wir in Spinoza den kühnsten Denker des XVII. Jahrhunderts verehren .
-5-
Hat der Marxismus seine materialistische Einstellung zu einem wesentlichen
Teil Feuerbach entnommen,
so griff er damit auch auf Spinoza zurück. Feuerbachs Humanismus ist ein von
seinem theologischen
Anhängsel befreiter Spinozismus - so hat einstmals G. Plechanow das
Verhältnis von Feuerbach zu Spinoza treffend gekennzeichnet .
Und auch Marx und Engels sind sich der Geistesverwandtschaft mit Spinoza voll
bewußt gewesen.
Die marxistische Weltanschauung läßt sich ja von den verschiedensten Seiten her
philosophisch charakterisieren. Sie ist in erster Linie eine Entwicklungslehre
(D i a 1 e k t i k) und zweitens M a t e r i a l i s m u s.
Als solche natürliche Weltanschauung ist sie aber auch zugleich
A t h e i s m u s und, insofern sie dementsprechend das Nebeneinanderbestehen
einer natürlichen und einer übernatürlichen Welt ablehnt, M o n i s m u s
(Einheitsauffassung)
und schließlich auch D e t e r m i n i s m u s
(Lehre von der kausalen Bedingtheit aller Erscheinungen).
Gerade die beiden zuletzt aufgeführten Kennzeichnungen gehen
philosophiegeschichtlich auf Spinozas Lehre zurück.
Spinoza hat mit unerbittlicher Schärfe die Lehre vom Determinismus
auch in ihrer speziellen Form als Lehre von der Unfreiheit des Willens
aufgestellt und wissenschaftlich begründet ,
und Spinoza hat das
erste streng monistische
-6-
System der neuzeitlichen Philosophie entwickelt. Der Pantheismus Spinozas
ist
ja nichts anderes als ein grandioser Monismus. Spinoza kennt nur die eine
allumfassende
und sich in allem auswirkende Substanz. Daß er sie auch Gott nennt - Gott
oder Substanz oder Natur
(Deus sive substantia sive natura) - ist nur ein theologisches Rudiment,
eine äußerliche Konzession an die herrschende Ideologie. Und wenn Spinoza dieser
Substanz
die Attribute der Ausdehnung und des Denkens zuspricht - übrigens unter
Hervorhebung der
Möglichkeit weiterer, unserer menschlichen Erkenntnis unzugänglicher Attribute
- so ist
das nicht so metaphysisch aufzufassen, wie es den Anschein haben könnte. Es
ist im Grunde
genommen doch ein materialistischer Ausgangspunkt. Sehr interessant ist es,
daß gerade Engels
diese Auffassung Spinozas akzeptiert hat. Plechanow teilt aus einem im Jahre
1889 erfolgten
Gespräch mit Engels folgendes mit:
"
Eines Tages kam unser Gespräch auf die Philosophie.
Engels verurteilte scharf das, was Genosse Stern in sehr ungenauer Weise den
naturphilosophischen Materialismus nennt. Sie glauben also - fragte ich -,
daß der alte Spinoza recht hatte: Der Gedanke und die Ausdehnung sind nichts
als die beiden Attribute einer einzigen Substanz? Gewiß - antwortete Engels -,
der alte Spinoza hat vollständig recht gehabt.
"
(Neue Zeit, 16. Band. 2. Hälfte, 1898, , S. 554f)
Die nunmehr vorliegende Veröffentlichung der naturphilosophischen Studien aus
dem
Nachlaß von Engels (Engels, Dialektik und Natur, siehe Marx-Engels-Archiv, 2.
Band (1927] 5. 117ff.)
zeigt übrigens zur Genüge, wie Engels spinozistische Begriffe zur Kennzeichnung
des eigenen
dialektisch-materialistischen Standpunktes verwendet .
Karl Marx hatte in seinem mit Engels zusammen herausgegebenen Literarischen
Erstling Die heilige Familie
(1845) zwar von einem Gegensatz des französischen Materialismus gegen die
Metaphysik des Descartes,
Spinoza, Malebranche und Leibniz gesprochen, andererseits aber doch zustimmend
be-
-7-
merkt, daß Hegels Geschichte der Philosophie den französischen Materialismus
als
Realisierung der spinozistischen Substanz darstellt .
Gerade im Hinblick auf diese letztere Stelle formulierte Plechanow:
"
Der Spinozismus von Marx und Engels war also der modernste Materialismus"
Das was Spinozas System so auszeichnet: seine innere Geschlossenheit, seine
strenge
Kausalitätsauffassung und sein materialistischer Grundcharakter, zeigt seine
Richtung auf den Marxismus hin. Auch der für Marx Denken so wichtige Gegensatz
von
Wesen und Erscheinungsform ist schon
angedeutet in Spinozas Gegenüberstellung
von essentia und existentia, d. h. von Wesenheit und Wirklichkeit.
Im übrigen findet der Leser in Deborins Rede Ueber die Weltanschauung Spinozas
reiches und unseres
Erachtens unwiderlegbares Material zur Bekräftigung des Schlusssatzes Deborins:
"
Wir müssen in Spinoza einen Vorläufer des dialektischen Materialismus sehen.
Der wirkliche Erbe Spinozas
ist daher nur das moderne Proletariat.
"
Eine kurze b i o g r a p h i s c h e Kennzeichnung S p i no z a s mag hier noch
folgen:
Baruch de Spinoza wurde 1632 in Amsterdam geboren. Er entstammte einer infolge
religiöser Bedrückung
aus Portugal nach den Niederlanden ausgewanderten jüdischen Familie. 1656 wurde
Baruch - 23 jährig!
- wegen seines freien Denkens aus der Synagoge durch schauerlichen Bannfluch
ausgeschlossen. Seitdem
nennt er sich Benedict , schloß sich aber
keiner anderen Religionsgemeinschaft an. Der erste religionslose
Europäer! Man hatte übrigens vergeblich, sowohl mit Geldversprechungen wie auch
durch Bedrohung mit
Attentaten, Spinoza an der jüdischen Glaubensgemeinde festzuhalten versucht. Da
Spinoza auch aus der Stadt
Amsterdam ausgewie-
-8-
sen wurde, lebte er in verschiedenen Städten Hollands. Seinen bescheidenen
Lebensunterhalt erwarb er sich
durch Schleifen optischer Gläser; das Einatmen von Glasstaub hat wahrscheinlich
seinen frühen Tod befördert.
Einen Ruf an die Universität Heidelberg (1673) lehnte Spinoza ab. Es war ihm
Freiheft des Lehrens
zugesichert worden, wobei aber die Erwartung ausgesprochen wurde, daß er nicht
gegen die Religion
auftreten werde. Spinoza antwortete, daß er nicht wisse, innerhalb welcher
Grenzen jene Freiheit zu
philosophieren gehalten sein müsse, damit er nicht die öffentlich feststehende
Religion umstürzen zu wollen
scheine. 1677 ist Spinoza im Haag gestorben. Zu seinen Lebzeiten war neben
einer kurzen Wiedergabe der
Lehre des Descartes nur der Theologisch politische Traktat, eine radikale
Streitschrift für Denkfreiheit
und Bibelkritik erschienen (1670), - aber anonym und mit fingiertem Druckort.
Das Buch wurde übrigens
sofort verboten. Spinozas Hauptwerk Die Ethik wurde erst nach seinem Tode
veröffentlicht (1677).
Spinozas Schriften sind in der Gelehrtensprache des Mittelalters, also
lateinisch abgefaßt .
Berlin, den 10. Juli 1928.
Hermann Duncker
-9-
2. A. THALHEIMER: DIE KLASSENVERHÄLTNISSE UND DIE KLASSENKÄMPFE IN DEN NIEDERLANDEN ZUR ZEIT SPINOZAS
2.1. Einleitung
Die, befreite Arbeiterklasse Sowjetrußlands hat alle Ursache, Benedict Spinoza
als vielleicht den kühnsten,
klarsten und reinsten unter den Denkern zu feiern, die der geistigen Befreiung
der Menschheit Bahn gebrochen
haben. Sie darf ihn zu ihren geistigen Ahnen zählen, so wie sie die
französischen Materialisten des XVIII.
Jahrhunderts, so wie sie die Kant, Fichte, Schelling, Hegel dazuzählt. Und nur
sie kann das so, daß sie
diesen Denkern volle historische Gerechtigkeit zuteil werden läßt. Sie braucht
weder die Denker der
bürgerlichen Revolution zu Sozialisten oder Marxisten zu machen, noch braucht
sie den Sozialismus oder
Marxismus durch Neu-Kantianismus, Neu-Hegelianismus oder Neu-Spinozismus zu
ergänzen. Das ist allemal
die Sache der niedergehenden Bourgeoisie, die großen Geister ihrer
revolutionären Vergangenheit neu zu
beschwören1 nicht um ihnen vom Blute des Lebens zu trinken zu geben - wie könnte
die Bourgeoisie, die sich
mit aller Macht den Kräften des geschichtlichen Fortschritts unserer Zeit, der
proletarischen Revolution,
entgegenstemmt, wie könnte sie die Denker wahrhaft erneuern, die in den
Klassenkämpfen i h r e r Zeit in
der vordersten Linie, weit voraus ihrer eigenen Klasse, kämpften? Nein, diese
Totenbeschwörungen haben
einen gerade umgekehrten Sinn. Diese großen und ruhmreichen Toten sollen einen
geistigen Schutzwall bilden,
hinter denen sich die heutige Bourgeoisie gegen die
-11-
Revolution u n s e r e r Zeit verschanzt. Wie ist das aber möglich? Nicht nur
dadurch, daß die wahre
geschichtliche Rolle dieser Geister verkehrt, verfälscht wird, was bei allen
diesen Erneuerungen
unabänderlich der Fall ist. Sondern vor allem auch dadurch, daß durch die
geschichtliche Dialektik selbst
das was spezifisch b ü r g e r l i c h ist an den Denkern der bürgerlichen
Revolution, wenn es in seiner
zeitbedingten geschichtlichen Erscheinungsweise f e s t g e h a l t e n wird,
sich gegen die verwandelte
und erhöhte Form wendet, in der es in das gedankliche System der revolutionären
Arbeiterklasse, in den
dialektischen Materialismus, eingegangen ist. Wie für Kant und in höherem Maße
noch für Hegel und Feuerbach
trifft dies für Spinoza zu. Spinoza ist im dialektischen Materialismus in dem
dreifachen Hegelschen
Sinne des Wortes aufgehoben: aufbewahrt, verneint und auf eine höhere Stufe
erhoben. Eine Rückkehr
zu Spinoza oder eine Ergänzung des dialektischen Materialismus durch Spinoza
ist wie jede solche Rückkehr
unmöglich. Der dauernde Gehalt des Spinozismus ist in den dialektischen
Materialismus eingemündet bereits
in doppelter Vermittlung - durch den französischen Materialismus einerseits,
durch Hegel und Feuerbach
andererseits. Dafür haben wir, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, eine
neuspinozistische Schule in
Deutschland, und die bürgerliche Philosophiegeschichte, voran der Pater
Dunin-Borkowski, macht aus
Spinoza einen gottestrunkenen, wie es so schön heißt, Mystiker, wie er dem
heutigen bürgerlichen
Bedürfnis entspricht, einen Sohn der Kabbala, der mittelalterlichen Scholastik
und Mystik, Sie ist darin
nicht einmal originell. Bereits um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts
wurde in Deutschland von einem heute vergessenen Gelehrten, Walch, der Versuch
gemacht, den
Spinozismus als die wahre, gereinigte Philosophie der jüdischen Mystik, der
Kabbala, hinzustellen, was
dann von Herder mit einer Handbewegung beiseite geschoben wurde. Dieser damalige
Versuch hatte jedoch
einen anderen Sinn als die heutige bürgerliche Vermystifizierung Spinozas. Es
war einer jener ersten
schüchternen Versuche der bürgerlichen Aufklärung, auf den nach dem Ausdruck
Lessings als toter Hund
behandelten Spinoza überhaupt wieder die Aufmerksamkeit zu lenken, ohne gleich
die rasende Meute der
orthodoxen Theologen auf
-12-
sich zu hetzen, für die Spinoza der Erzfeind, der radikalste und gefährlichste
aller Atheisten war - worin
sie schon die richtige Witterung hatten.
Ich will nun hier in kurzen Zügen versuchen, den Zusammenhang der Lehre des
Spinoza mit seiner Zeit, d. h.
bestimmter gesagt, mit der Klassenschichtung und mit den Klassenkämpfen des
Landes, in dem er aufwuchs
und wirkte, nämlich der Niederlande, zu zeigen. Es wird sich aus einer
Darstellung dieser Klassenkämpfe
ergeben, daß Spinoza weder ein zeitloser Denker ist, der allein kraft seiner
un-bestechlichen Logik den
Descartes zu Ende denkt, indem er das cartesische System von seinem DuaDualismus
zwischen Ausdehnung
und Denken befreit, noch daß sein System entsteht, indem er den Descartes mit
Bestandteilen der
scholastischen und mystischen Philosophie zu einem einheitlichen System
zusammenschmelzt. Spinozas Denken
wurzelt nicht im jüdischen oder christlichen Mittelalter, sondern in der
niederländischen Gegenwart, im
selben Boden, in dem der Maler Rembrandt wurzelte, der Verherrlicher des Lichtes
und Verklärer des
bürgerlichen Lebens, wie der große Naturforscher Christian Huyghens, der die
Wellentheorie des Lichtes
aufstellte, wie die beiden Staatsmänner Jan und Cornelis de Witt, die
Verbündeten und die Rivalen Oliver
Cromwells. Spinoza, wie jeder andere Denker vor ihm, hatte natürlich anzuknüpfen
an den Höhepunkt,
den seine Zeit im philosophischen Denken erreicht hatte. Das war Descartes.
Spinoza kannte die
Religionsphilosophie des Judentums, Maimonides, die Kabbala. Aber wie das Denken
Spinozas die gegebenen
Gedankenelemente seiner eigenen Zeit und die ihm näher bekannten
Gedankenelemente der Vergangenheit
zusammenfügt und weiterführt - darüber bestimmen diese Elemente noch gar nichts,
so wenig, wie die
Bausteine und der Mörtel schon die Form des Gebäudes bestimmen, zu dem sie
verwandt werden. Gegebene
Gedankenelemente sind an sich - rein logisch - auf die verschiedensten Weisen
zusammenzufügen und
weiterzuführen, die Verbindungen der Begriffe wie der Erscheinungen der
Wirklichkeit sind
a l l s e i t i g. Die Lösung ist, mathematisch ausgedrückt, unbestimmt. Der
wirkliche Weg, der von
einem gegebenen Punkt der gedanklichen Entwicklung eingeschlagen wird, wird
letzten Endes bestimmt
-13-
durch das Hinzutreten von Elementen der W i r k l i c h k e i t ; in den
Naturwissenschaften durch
Beobachtung und Experiment sowie durch die Antriebe aus dem technischen
Bedürfnis, in der Philosophie
durch die Klassengliederung und den Klassenkampf.
Hierbei gilt für die historisch-materialistische Aufklärung der
Philosophiegeschichte methodisch dasselbe,
was Marx von der Religionsgeschichte sagte. Die wissenschaftliche Methode ist
nicht, diese Gedankengebilde
zum Ausgangspunkt zu nehmen und sie auf ihre etwaigen Wurzeln in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit
zurückzuführen, sondern umgekehrt, aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit die
Gedankenbildung abzuleiten.
Und zwar deshalb, weil der Rückschluß von der Wirkung auf die Ursache der
Willkür ungebührlich viel Raum
läßt, während die Ableitung der Wirkung von der Ursa-che einmal den wirklichen
Vorgang selbst abbildet,
und zum anderen den Spielraum der Willkür und der Zufälligkeit mehr einschränkt.
Auch ist es ein
vergebliches Bemühen, so wie dies zum Beispiel Otto Bauer tut, die bestimmte
Philosophie eines bestimmten
Zeitabschnittes der neueren Philosophie aus a l l g e m e i n e n Merkmalen der
kapitalistischen Produktion
abzuleiten, zumal, wenn diese noch dazu verkehrt gefaßt sind. Solche allgemeinen
Züge des ökonomischen
Baues der kapitalistischen Wirtschaft oder des Baues der bürgerlichen
Gesellschaft können immer nur wieder
die allgemeinen Züge der Philosophie der kapitalistischen Zeit erklären. Um ein
bestimmtes philosophisches
System historisch-materialistisch zu verstehen, müssen sowohl der ökonomische
Bau wie die Klassenstruktur
und die Klassenkämpfe der gegebenen Zeit und des gegebenen Landes in ihrer
geschichtlichen
B e s t i m m t h e i t gefaßt werden, und es müssen auch die Mittelglieder
untersucht werden, die die
Verbindung herstellen zwischen diesem tiefen konkreten Untergrund und dem in die
dünnste Luft der
Abstraktion aufragenden Spitzengewebe der Philosophie. Die materialistische
Darstellung der
Philosophiegeschichte ist daher viel weniger einfach als die idealistische; wo
diese aufhört, hat jene
neu zu beginnen, sie hat neben dem historischen den ökonomischen und politischen
Stoff zu durchdringen.
-14-
Noch eine Vorbemerkung allgemeiner Art. Wenn man sich erinnert, daß Spinoza
nicht wagen konnte,
seinen theologisch-politischen Traktat unter seinem Namen und mit Angabe des
Druckers zu veröffentlichen,
daß er sein Hauptwerk, die Ethik, nicht bei Lebzeiten herausgeben konnte, daß
die Stimmen seiner Gegner
in den Niederlanden unverhältnismäßig zahlreicher und lauter waren als die
seiner geringen Anhängerschaft,
daß er über hundert Jahre als toter Hund galt, bis Jacobi in der Mitte der
achtziger Jahre des
XVIII. Jahrhunderts durch die Veröffentlichung der gesprächsweisen Aeußerungen
Lessings über ihn seine
geschichtliche Wirksamkeit in Deutschland einleitete und damit überhaupt seine
Erweckung von den Toten,
so könnte es scheinen, daß der G e g e n s a t z Spinozas zu seiner Zeit weit
stärker war als das Gemeinsame
und Verbindende. Dies führt mich zu der allgemeinen Bemerkung, daß das
Verhältnis einer Philosophie zu
der Klasse, deren Daseins- und Entwicklungstendenzen sie gedanklich ausdrückt,
nicht so einfacher Art ist,
daß hier nicht nur die Entsprechung, die Gleichheit in Betracht kommt, sondern
es ist immer
z u g l e i c h ein Gegensatz, ein Widerspruch vor-handen, der eben durch die
Erhebung des unbewußt,
gefühlsmäßig und zusammenhanglos Erfaßten zum System bedingt ist. Zugleich mit
der Gleichheit des
I n h a l t s des Klassenbewußtseins, die die Uebereinstimmung bedingt, haben
wir die Verschiedenheit der
F o r m, die den Gegensatz hervorruft.
Im Falle Spinozas wird die Besonderheit dieses allgemeinen Verhältnisses sich
hinreichend aus der
Besonderheit der Klassenverhältnisse erklären.
2.2. Das kapitalistische Musterland des XVII. Jahrhunderts
Ehe ich nun dazu übergehe, die ökonomische Grundlage der Klassenverhältnisse und
der internationalen Rolle
der Niederlande im XVII. Jahrhundert zu schildern, gebe ich noch zuvor zur
raschen Ori-entierung einige
Angaben, die einen zeitlichen Rahmen geben. Spinoza ist geboren 1632. Er war
also
-15-
sechzehn Jahre alt beim Abschluß des westfälischen Friedens oder des Friedens
von Münster, wie er auch
genannt wird. Dieser beendete nicht nur den Dreißigjährigen Krieg in
Deutschland, der dies verwüstet
hinterließ und um volle hundert Jahre in der geschichtlichen Entwicklung
zurückwarf, er beendete auch den
Aufstand der Niederlande gegen die spanische Monarchie, den Achtzigjährigen
Krieg, wie ihn die Niederländer
selbst nennen. Dieser Achtzigjährige Krieg, eine nationale Erhebung und eine
Revolution zugleich an der
Grenzscheide feudaler und bürgerlicher Revolutionen, hat ganz andere Resultate
erzeugt als der
Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Er führte Holland auf die höchste Höhe
seiner ökonomischen und
politischen Entwicklung. Nur bis Ende des XVI. oder Anfang des
XVII. Jahrhunderts hatten die Niederlande wirklich um ihre Existenz zu kämpfen.
Der weitere Krieg ist etwas
ganz anderes, er ist ein Hauptstück der ursprünglichen kapitalistischen
Akkumulation in den Niederlanden,
wo die kleinen Niederlande wie ein gefräßiger Raubfisch die mächtige spanische
Mo-narchie zerfleischen, ihr
ein Stück ihrer Kolonien und ihres Kolonialhandels um das andere aus dem Leibe
schneiden, Kaperei im größten
Stile betreiben, wobei es besonders auf die Silberschiffe abgese-hen ist, die
das amerikanische Silber und
Gold aus den spanischen Bergwerken nach Hause führen, und wobei dieselben
Niederlande zugleich Spanien, mit
dem sie im Kriege liegen, die nötigen Manufakturwaren liefern, die Spanien nicht
imstande war selbst zu
erzeugen, und auch auf diese sanftere Weise die spanischen Gold- und
Silberschätze in ihr Land leiteten.
Diese zweite Hälfte des Aufstandes der Niederlande ist also vorwiegend ein
Kolonial- und Handelskrieg mit
Spanien. Er ist die Quelle der gewaltigsten Akkumulation von Geldkapital für die
Niederlande. Wir kommen
darauf noch näher zu sprechen.
Aber kaum ist Spanien geschlagen und dezimiert, so beginnt der Konkurrenzkampf
der Niederlande mit dem
aufstrebenden England und mit Frankreich, der Konkurrenzkampf um die
Frachtfahrt, um die Kolonien, um
die Manufakturen und um den Handel. Oliver Cromwell führt den ersten starken
Schlag gegen das holländische
Monopol der Frachtfahrt durch die bekannte Schiffahrtsakte von 1651,
-16-
dem Frankreich mit einer ähnlichen Maßregel um 1655 folgt, die dann 1699
erneuert wurde. Während es aber
England in erster Linie um die holländische Frachtfahrt ging, ging es Frankreich
zu allererst um die
Niederringung der niederländischen Manufakturen. Es kommt zum ersten Seekrieg
zwischen England und den
Niederlanden 1653-54. Die Navigationsakte bleibt bestehen. 1657-1661 dauert der
Kolonialkrieg mit Portugal.
Nach einigen einleitenden Kolonialauseinandersetzungen kommt es zum zweiten
hartnäckigen Ringen zwischen
England und den Niederlanden, 1665-1667, wobei Frankreich sich zuerst gegen
England wendet (Januar 1666),
um im Februar des folgenden Jahres mit Karl II. einen Geheimvertrag gegen die
Niederlande abzuschließen.
Im Mai greift Frankreich die Niederlande an (der sogenannte D e v o 1 u t i o n
s k r i e g). Die
Niederlande sind genötigt, im Juli mit England Frieden zu schließen (den Frieden
von Breda), um sich
Frankreichs zu erwehren. Es kommt darauf zu einer Tripelallianz zwischen
England, den Niederlanden und
Schweden gegen Frankreich. Nachdem England die Niederlande durch Frankreich
geschwächt hatte, galt es nun,
Frankreich entgegenzutreten, um es auf dem Kontinent nicht übermächtig werden zu
lassen. Frankreich sah sich
genötigt, im folgenden Jahre, 1668, den Frieden von Aachen mit der von England
geführten Tripelallianz
abzuschließen. Schon zwei Jahre später (Mai, Juni 1670) kommt es zu einem neuen
Geheimvertrag zwischen
Karl II. von England und Ludwig XIV. (der Geheimvertrag von Dover) gegen die
Niederlande. Es ist das Jahr,
in dem Spinozas Tractatus Theologico-Politicus erscheint. Der neue Krieg bricht
zwei Jahre später aus. Er
erweitert sich. Der deutsche Kaiser und Brandenburg schlagen sich auf die Seite
von London, 1674, scheidet England aus der niederlandfeindlichen Front wieder aus. Dagegen tritt Schweden
auf die Seite der französischen Koalition, wogegen die Dänen auf die holländische Seite treten. Ein Jahr
nach dem Tode Spinozas, 1678, schließt der Friede von Nymwegen dieses Ringen ab.
Im Innern ist die Zeit Spinozas die Zeit Jan de Witts, der unter dem Titel des Großpensionärs von Holland
vom Jahre 1653 ab als Vertreter der holländischen Handelsbourgeoisie
-17-
tatsächlich die Niederlande regiert. Der gemeinsame Ueberfall Frankreichs und Englands im Jahre 1672 auf
die Niederlande führte zum Sturze der sogenannten Staatenpartei, zur Ermordung der beiden Brüder de Witt
(die allem Anschein nach von den Oraniern angestiftet war), und zur Erhebung Wilhelms von Oranien zum
Statthalter der Provinzen Holland und Seeland (vorher schon war er zum Kapitän-General der Vereinigten
Provinzen ernannt worden). Die Oranierpartei herrschte, als Spinoza starb. Es war aber im Grunde mehr ein
Personen- als ein Systemwechsel. Die wahren Herren im Lande waren nach wie vor die Oligarchen von der
Handelsbourgeoisie, nur daß sie jetzt die Beute mit der Adligen- und Offiziersclique sowie mit der
orangeistischen Fraktion der Bourgeoisie zu teilen hatten.
Dies der allgemeine geschichtliche Rahmen.
Ich gehe nun dazu über, die ökonomischen Grundlagen der Klassenverhältnisse und der internationalen Rolle
der Niederlande im XVII. Jahrhundert zu umreißen.
Holland ist, um es mit einem Wort zu sagen, das kapitalistische Musterland des XVII. Jahrhunderts. Auf kein
Land waren daher die forschenden Blicke der kapitalistisch sich entwickelnden Nachbarn mit solch brennendem
Eifer gerichtet, wie auf Holland, das kleine Land an der See, mit knapp zweieinhalb Millionen Einwohnern um
die Mitte des XVII. Jahrhunderts, mit der größten Handelsflotte der Zeit, Frachtfahrern in der ganzen Welt,
mit blühenden Manufakturen, mit dem größten Reichtum an Geldkapital (zugleich mit einer ungeheuerlichen
Kriegsschuldenlast) und mit dem niedrigsten Zinsfuß. Wie war dies Wunder möglich? Das fragten vor allem die
Engländer, deren ökonomischer und sozialer Aufschwung durch die Revolution mächtig beflügelt wurde und die
sich anschickten, mit diesem kapitalistischen Wunder- und Musterland die Kräfte zu messen. Diese Frage
führte die Engländer einerseits zu den ersten tieferen Untersuchungen über das wahre Wesen des
kapitalistischen Reichtums, über das Wesen des Wertes. Bestand es in Geld, von dem die Niederlande
überflossen, oder in etwas anderem, worin England eine Ueberlegenheit besaß? Auf diesem Forschungsweg
entdeckte William Petty die Arbeit als die wahre Substanz und das Maß des Werts
-18-
und kam daher zu dem zuversichtlichen Schluß, daß England mit seinem weit größeren Volksreichtum und Boden
potentiell stärker sei als die Niederlande und dies Land überflügeln könne und müsse. Uns interessiert hier
vor allem die andere Seite dieser Untersuchungen, nämlich die ökonomische (und auch soziale) Bestandsaufnahme
und die konkrete ökonomische Analyse des Landes durch die Engländer mit William Petty als dem genialsten
und scharfsichtigsten an der Spitze. Sie gibt uns das klarste Bild der ökonomischen Zustände und Kräfte in
den Niederlanden in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts.
Die erste Schrift Pettys, die hier einschlägt, sind seine Five Essays on Political Arithmetik aus dem
Jahre 1687, deren fünfter handelt Concerning Holland and the rest of the VII United Provinces. Unter Holland
ist hier die P r o v i n z Holland, die reichste und mächtigste der sieben Provinzen verstanden, die zusammen
die Vereinigten Provinzen der Niederlande bilden. Die Bewohnerzahl der Provinz Holland schätzt Petty auf
800 000, die der sieben Provinzen zusammen auf 1 952 000 Personen, während er dagegen hält die 7 Millionen
Englands, zu denen noch 2,8 Millionen Köpfe in Schottland und Irland kommen, also zusammen 9,8 Millionen
Köpfe. Er erwähnt, daß der Zins in Holland kaum 3½ Prozent betrage, ein unerhört niedriger Zinssatz für diese
Zeit.
Die Ursachen von Hollands Wohlfahrt erblickt er in folgenden Umständen:
- Der Fruchtbarkeit des Bodens, die ein dichtes Zusammenwohnen der Bevölkerung ermöglicht.
- Als ebenes Land an der See ist es windig. Dieses ermöglicht die Errichtung von arbeitsparenden
Windmühlen.
- Holland und Seeland liegen an der Mündung dreier großer Flüsse. Sie fabrizieren die Manufakturwaren für
alle an den Flüssen liegenden Länder, während diese für sie die Ackerbauprodukte liefern.
- Die Billigkeit der Fracht durch die zahlreichen Flüsse und Kanäle.
- Die leichte und billige Verteidigung des Landes durch seine Seelage, Marschen usw.
- Die Schiffe sind in Holland billig zu beherbergen.
-19-
- Die Seelage bringt die Schifferei, sie bringt allein dreimal hunderttausend fl. jährlichen Profit.
- Diese Schiffahrt und Fischerei zog nach sich den Handel mit Holz für Boote, Masten, Fässer, mit Hanf für
das Tauwerk, Segel, Netze, mit Salz, Eisen, Pech, Teer, Rosinen, Bimsstein, Oel, Talg.
- Als Fischer und Schiffer sind sie Factores and Carriers for the whole world of Trade geworden.
"
Aus welchem Grund sie alle Naturgüter bringen, um zu Hause fabriziert zu werden, und frachten sie zurück
gerade in das Land, in dem sie wuchsen, was wir alles sehen.
"Denn bearbeiten sie nicht den Zucker von Westindien? Das Holz und Eisen der Ostsee? Den Hanf von Rußland?
Blei, Zinn und Wolle von England? Quecksilber und Seide von Italien? Die Garne und Farbstoffe der Türkei
usw.?
"
(The Economic Writings of Sir William Petty. Ed. by Ch. H. Hull, Cambridge 1899, S. 253)
"
Es ist klar - folgert er daraus -. daß diejenigen, die andere bei 45 Millionen um eine Million unterbieten
können (nur auf Rechnung natürlicher und innerer Vorteile), leicht den Handel der Welt bekommen können, ohne
solchen englischen Verstand und Urteilskraft, wie manche sie den Holländern zuschreiben.
Man sieht gewöhnlich - sagt er weiter - daß jedes Land in der Manufaktur seiner eigenen einheimischen Waren
floriert
Aus welchem Grundsatz folgt, daß Holland und Seeland am meisten florieren müssen im Gewerbe der
Schiffahrt und so die Frachtführer und Faktoren der ganzen Handelswelt werden müssen.
"
(S. 258)
Ein Seemann ist, was die Akkumulation anlangt, nach Petty, drei Landwirte wert,
"
weshalb es wenig Pflügen und Kornsäen in Holland und Seeland gibt oder Aufzucht von Jungvieh: sondern ihr
Land ist verbessert durch den Bau von Häusern, Schiffen, Maschinen, Deichen, Werften, Lustgärten, außergewöhnlichen
Blumen und Früchten usw.
"
Als Frachtfahrer können sie billiger fahren als andere Nationen, weil sie infolge des Umfangs ihrer
Handelsschiffahrt eine besondere Sorte von Schiffen für jeden besonderen Handel sich leisten können.
Petty summiert:
"
Ich habe gezeigt, wie die Lage ihnen die Schiffahrt gegeben hat, und wie die Schiffahrt ihnen in der Tat
allen anderen Handel verschafft hat und wie der auswärtige Handel ihnen soviel Manufaktur geben muß, als sie
selbst bewältigen können, und was das Uebrige betrifft, so machen sie die übrige Welt zu Arbeitern für Ihre
Läden. Es bleibt jetzt noch - fährt er fort - die Wirkungen ihrer Politik zu zeigen, die auf diesen natürlichen
Vorteilen
[20]
aufgebaut ist und nicht, wie manche denken, auf ihrem Ueberschuß an Verstand."
(S. 260,261)
Das Land war vor hundert Jahren arm und unterdrückt. Das Klima war kalt und unangenehm. Deshalb mußte alles
hart arbeiten, und so sind sie hochgekommen. Was die politischen Einrichtungen des Landes anlangt, so sieht
Petty klar, daß sie aufs engste zusammenhängen mit der wirtschaftlichen Struktur des Landes:
"
Gewissensfreiheit, die Registratur von Fahrzeugen, die geringen Zölle, Banken, Lombards- und Handelsrechte
entstehen alle aus derselben Quelle und streben zum selben Meer; was die Niedrigkeit des Zinses anlangt, so
ist sie auch die notwendige Wirkung aller Voraussetzungen und nicht die Frucht ihrer absichtlichen Anstrengungen.
Gleichzeitig befreien die Holländer ihre Hände von zwei Geschäften, die mit der größten Unruhe und Gefahr
verbunden sind und den geringsten Profit bringen; das erste davon ist das Geschäft eines gewöhnlichen und
privaten Soldaten, denn solchen können sie mieten von England, Schottland und Deutschland, um ihr Leben für
Sixpence am Tage zu wagen, während sie selber sicher und ruhig solchen Gewerben folgen, wobei der geringste
von ihnen dreimal soviel gewinnt und wobei sie dann Fremde als Soldaten unterhalten. Die anderen Gewerbe,
von denen die Holländer sich befreit haben, sind das alte patriarchalische Gewerbe des Viehzüchters (des
Kuhhirten, sagt Petty drastisch) und größtenteils das Geschäft des Pflügers und Kornbauers, indem sie
dieses Geschäft den Dänen und Polen auferlegt haben, von denen sie ihr Jungvieh und Korn beziehen."
(S. 267)
Eine noch nähere Bestimmung der ökonomischen Struktur der Niederlande in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts
liegt uns vor in der berühmten oder berüchtigten Schrift des Pieter de la Court (oder, wie er eigentlich
hieß, van Hove) Anweisungen der heilsamen politischen Gründe und Maximen der Republiken Holland und
Westfriesland- Der Verfasser ist ein Leidener Tuchfabrikant, einer der engsten Freunde Jan de Witts, der
an der Abfassung einiger Kapitel seiner Schrift beteiligt ist, und der einflußreichste ökonomische und
politische Schriftsteller des Zeitabschnittes. Die genannte Schrift erschien zuerst 1669. Mir lag eine deutsche
Uebersetzung von 1671 vor. Diese Schrift, auf die ich nach später zu sprechen komme, erregte das größte
Aufsehen: nicht nur in Holland selbst, sondern auch im Ausland. Sie galt und sie war das ökonomische und
politische Manifest der herrschenden Partei im allgemeinen und des wahren Herrschers van Holland, des
Ratspensionärs Jan de Witt.
-21-
P. de la Court nun gibt folgende Gruppierung der Einwohnerschaft der Niederlande nach Produktionszweigen:
| Menschen |
Geamtbevölkerung | 2 400 000 |
Der Feldbau, das Torfgraben, Holzhacken | 200 000 |
Die Exportmanufaktur und der Handel damit | 650 000 |
Frachtfahrten, Negotien mir ausländischen Waren,
die Fischerei ausgeschlossen | 250 000 |
Die Konsumtion dieser Schichten | 650 000 |
Beamte, Offiziere, Bettler | 200 000 |
Die bäuerliche und ländliche Bevölkerung ist also nur noch eine kleine Minderheit, ein im ganzen übrigen
Europa unerhörter Zustand. Beherrschend der ökonomischen Bedeutung und Rolle nach ist der Handel, zum guten
Teil Transithandel und Frachtschiffahrt. Das Interesse des Handels und der Frachtschiffahrt ist das Herrschende
in Holland in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts. Hier herrschte auch die größte Kapitalskonzentration.
Mit der Frachtschiffahrt hängt aufs engste zusammen der Schiffbau, der als die kapitalistisch betriebene
Großindustrie der Niederlande bezeichnet werden kann. Die Niederlande bauen in dieser Zeit die Schiffe für
ganz Europa, nicht nur Handelsschiffe, sondern auch Kriegsschiffe - auch für die Gegner.
Der Ausgangspunkt des holländischen Handels war die Fischerei gewesen, mit ihrem Hauptsitz in der Provinz
Holland. Daran schlossen sich an Frachtfahrt und Handel in der Ostsee, in dem die Hol-länder bald die Hanse
überflügelten. Die Hauptartikel waren Korn, Holz, Salz, Wolle, Leinen, Hanf. Holland war für seine eigene
Ernährung weit überwiegend auf die Einfuhr von Korn angewiesen. An diesen Mutterhandel schloß sich im
Krieg gegen Spanien der ostindische Handel an, der ungeheure Reichtümer ins Land brachte und in wenigen
Händen monopolisiert war: durch die Ostindische Han-delskompagnie. Ebenso monopolisiert war der westindische
Handel in den Händen der Westindischen Handelskompagnie. Er trug aber einen anderen und ganz eigenartigen
Charakter. Die Hauptsache war hier die Kaperjagd auf die spanischen Schiffe, die die Schätze Amerikas nach
Spanien brachten. Dazu kam als flott betriebener Erwerbszweig der Sklavenhandel, in
-22-
erster Linie die Belieferung der spanischen Kolonien mit der schwarzen Ware. Der Levante-Handel kam in die
Hände der Holländer durch die Vermittlung der spanischen und portugiesischen Juden. Der jüngste Zweig des
Handels war der nordische Handel, ebenfalls durch eine Handelskompagnie monopolisiert, mit Walfischfang als
Hauptobjekt.
Die Manufakturen, so blühend sie waren, waren dem Handel streng untergeordnet. Wo Interessengegensätze
zwischen Manufaktur und dem Großhandel bestanden, siegte stets das Handelsinteresse, vor allem in der
Zollpolitik. Niedrige Zollsätze usw. Die Manufakturen waren zumeist Mittelbetriebe. Eine Reihe von ihnen,
insbesondere diejenigen, die am engsten mit dem Exporthandel verbunden waren, hatten sich vom Zunftzwange
freizumachen verstanden. Als solche Manufakturen, die außerhalb des Gildenwesens standen, finden wir unter
anderem: die Brauerei, Mälzerei, Schnapsbrennerei, He-ring- und Salzfischmanufaktur, Zuckerraffinerien,
Tabakspinnerei, Tauschlägerei, Teerfabrikation, Seifensiederei, Seidenspinnerei- und -weberei, Zwirnerei,
Kattundruckerei, Eisengießerei, Glasbläserei, Transiederei, Salpeter-, Schwefel- und Pulverfabrikation,
Lack- und Farbstoffabrikation, Diaman-tenschleiferei, Nadelmacherei usw.
Die Städte sahen ihrerseits streng darauf, daß das Land keinen eigenen Handel trieb und den städtischen
Manufakturen und Handwerkergilden keine Konkurrenz machte. Das Land wurde von der Stadt aufs schwerste
gedrückt und ausgebeutet.
Unterhalb des zünftigen Handwerks, das hauptsächlich der Versorgung des inneren Marktes diente, stand ein
modernes unzünftiges Proletariat: die Arbeiter der großen Manufakturen, die zahlreiche Besatzung der
Handelsflotte. Wir sehen dieses Proletariat aus der Auflösung des Feudalismus im XV. und XVI. Jahrhundert
entstehen. Es wird, wie später in England im XVI. Jahrhundert, grausam dafür gestraft, daß es aus den
feudalen Verhältnissen losgelöst und noch nicht in den kapitalistischen Betrieb eingereiht ist. Das XVI.
Jahrhundert sieht diese Elemente des modernen Proletariats in ungezählten Scharen als Bettler das Land
durchziehen. Zahllose Plakate
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und Verordnungen verhängen Rad, Galgen und Brandmarkung über sie. Das XVII. Jahrhundert reiht sie dann in
die Manufakturen und die Handels- und Kriegsflotte, in die Kaperschiffe usw. ein. Dieses Proletariat ist
national bunt zusammengewürfelt: aus aller Herren Länder flüchten Handwerker und Leibeigene im XVI. und XVII. Jahrhundert
nach Holland. Ein besonders starker Zustrom kam aus den südlichen Niederlanden, die unter der spanischen
Herrschaft verblieben. Dieses Proletariat schafft in erster Linie die ungeheuren Reichtümer des Handels-
und Manufakturkapitals. Die Fremden bestaunten die Billigkeit dieser Arbeitskräfte. In der Tat, wenn
Holland in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts das kapitalreichste Land Europas war, so war es
zugleich das Land der am elendesten bezahlten Lohnarbeiter. Die Holländer waren es, die zuerst die Erfindung
machten, die später in großem Maßstab in England praktiziert wurde, einen Teil der Löhne auf die Armenlasten
zu werfen. Die Summe der Armenlasten in Städten, wie Amsterdam, Leiden usw. im XVII. Jahrhundert ist für ihre
Zeit ungeheuerlich. Das Geheimnis dieser riesigen Armenlasten, der Waisenanstalten usw. war nicht ein besonders
ausgebildeter Wohltätigkeitssinn der holländischen Kapitalisten des XVII. Jahrhunderts, sondern die besonders
profitable Art, den Arbeitslohn zum Teil aus öffentlichen Mitteln zu zahlen, um auf diese Weise den Arbeiter
knapp am Zügel zu halten. Auf dem Arbeiter lasteten noch die schwersten indirekten Steuern, Akzisen, wie sie
damals hießen, in Europa. Dieses kapitalistische Musterland war auch hierin musterhaft.
Von diesen Plebejern sprachen die Handelsherren und Regenten fast nur in verächtlichen Ausdrücken: der
Mob, het graauw (die graue Masse) usw.
Sehen wir uns nun auf dem Lande um. Die Leibeigenschaft ist in den Niederlanden, wo sie sich festgesetzt
hatte, schon im XIV. Jahrhundert fast verschwunden. In Ostfriesland war sie überhaupt nie durchgedrungen.
Diese frühe Abschüttelung der Leibeigenschaft hängt aufs engste zusammen mit zwei Momenten: erstens der
schnellen Entwicklung der Städte, zweitens aber mit der besonderen Natur Hollands. Das Land mußte dem Meer
abgerungen werden. Es mußte durch ständige Arbeit an den Deichen usw. erhalten werden. Diese harte und
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ständige Arbeit war nicht durch Leibeigene zu leisten. Der Grundherr (der freie Boden war sehr beschränkt),
der durch Deichbauten, Entwässerungen usw. Land gewinnen wollte, konnte dafür Arbeitskräfte nur gewinnen,
wenn er sie von der Hörigkeit befreite. Die Arbeits- und Naturalrente wird daher schon ganz früh, schon im
Laufe des XIII., noch mehr im XIV. Jahrhundert durch feste Geldrenten abgelöst. Der hörige Bauer verwandelt
sich in einen freien Erbpächter, einen Meier. Reste des Feudalismus erhielten sich am längsten in den
Provinzen Overijsel. Drenthe, Groningen. Sie spielten wohl eine Rolle im Verhältnis der Provinz Holland zu
diesen Provinzen. Aber im Ganzen der niederländischen Wirtschaft sind sie unbeträchtlich. Die Entwicklung
des Kornhandels führte dazu, daß der holländische Bauer sich zumeist Spezialkulturen, der Gemüsezucht,
Gärtnerei usw. widmete und der Viehmästung.
Der alte Feudaladel existiert in den Niederlanden im XVII. Jahrhundert nur noch in geringer Zahl in den
paar rückständigen ländlichen Provinzen. Er hatte sich im XIII. und XIV. Jahrhundert in den inneren Fehden
zum größten Teil gegenseitig aufgerieben, war schließlich im Gefolge der städtischen Entwicklung verarmt
und bedeutungslos geworden. Die Hauptklassen der Niederlande im XVII. Jahrhundert sind also:
- Die große Handelsbourgeoisie, eng verbunden mit den Herren der Manufakturen.
- Das städtische Handwerkertum, in Zünften und Schützengilden organisiert.
- Das städtische Proletariat, die Arbeiter der Manufakturen, der Handelsflotte usw.
- Freie Bauern, Erbpächter.
- Kleine Reste von Bauern, die noch unter feudalen oder halbfeudalen Verhältnissen leben, mit eben so
kleinen Resten feudaler, patriarchatischer Grundbesitzer.
2.3. Die Klassen, die Parteien, der Staat
Wir gehen nun dazu über, die Klassen, die Partei- und staatlichen Verhältnisse zu skizzieren.
-25-
Wie wir für die ökonomische Schilderung den Engländer William Petty als Grundlage benützen konnten, so
können wir für die soziale und politische einen anderen Engländer benützen, Sir William Temple, den englischen
Gesandten im Haag. Es kommt hier in Betracht die Schrift: Remarques sur lEtat des Provinces Unies des
Pays-Bas. Faites en lan 1672 par monsieur le Chevalier Temple. A la Haye 1674. Sir William Temple bewährt
sich in dieser Schrift als ein ausgezeichneter Beobachter. Seine Schilderung wird durch die zeitgenössischen
Quellen in allem wesentlichen bestätigt. Sie ist sehr geeignet, die unbestimmten Vorstellungen, die man
manchmal trifft. von der demokratischen Repu-blik, die die Niederlande im XVII. Jahrhundert gewesen sein
sollen, als einen völlig unhistorischen Wahn zu zerstreuen.
Ueber den allgemeinen Charakter der Staatsverfassung der Niederlande bemerkt er:
"
Und obwohl sie den Namen eines freien Volkes bewahrten, so verloren sich doch die Früchte dieser Freiheit,
für die sie die Waffen ergriffen hatten in der absoluten Macht die die Magistrate sich in den Städten und
den Provinzen gaben, und in der unerträglichen Auferlegung von so vielen Steuern, die die Fortführung eines
langen Krieges mit einem so mächtigen Feind für die Aufrechterhaltung ihres Staates notwendig machte:"
(S. 74,75)
"
Man kann nicht eigentlich sagen, daß es eine Republik ist, sondern es ist vielmehr eine Föderation von
sieben souveränen Provinzen, die vereinigt sind für die gemeinsame und wechselseitige Verteidigung aller,
ohne jede gegenseitige Abhängigkeit oder Unterwerfung:"
(S. 120)
Jede dieser Provinzen ist aus mehreren Städten zusammengesetzt, die als eben so viele kleine Staaten, an
sich selbst mehrere Zeichen der souveränen Macht haben. Die Generalstaaten, wie diese Föderation hieß,
konnten Frieden, Bündnisse, Abgaben nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Provinzen, die Provinzen aber
nur mit Einwilligung der Städte abschließen. (S. 121.)
Die Städte haben eigene Rechtsprechung, das Recht der Besteuerung, des Kriegs. und Friedensschlusses.
Als Beispiel für die Form der städtischen Regierung gibt er die mächtigste Stadt der Niederlande, Amsterdam.
Sie hat einen Senat, wie er es nennt, von 36 Personen. Er bestimmt alle Abgaben. Die Senatoren sind
lebenslänglich. Früher wurden sie von den reichsten Bürgern der Stadt gewählt. Seit 26 oder
-26-
27 Jahren aber ist das Wahlrecht von der allgemeinen Bürgerversammlung (richtiger von der Versammlung der
reichsten Bürger) an den Senat selbst übergegangen.
"
Was macht - erläutert er -, daß die Regierung der Stadt sozusagen oligarchisch ist und sehr verschieden von
einer demokratischen oder Volksregierung; obwohl die meisten von denen, die durch diese Länder reisen, und
selbst die dort leben und sich mit einer oberflächlichen und unvollkommenen Kenntnis der Dinge begnügen,
sich das Gegenteil einbilden.
"
Der Senat wählt die Bürgermeister und Schöffen. Es sind, immer für Amsterdam, zwölf Bürgermeister, davon
vier regierende für ein bestimmtes Jahr. Drei wechseln jedes Jahr, einer alle zwei Jahre. Das Präsidium
wechselt alle drei Monate. Die Wahl der Bürgermeister erfolgt durch die Altbürgermeister und die Altschöffen
im Senat. Sie besetzen von oben her alle untergeordneten Stellen, bestimmen über die Verwendung der öffentlichen
Einkommen, ordnen die öffentlichen Arbeiten an. Der Senat ernennt die Abgeordneten zum Provinziallandtag.
Dieser besteht aus Abgeordneten des Adels und der Städte. Von den 19 Stimmen des Provinziallandtages der
Provinz Holland haben die Städte 18, der Adel eine Stimme.
Der Regierungsausschuß der Provinz wird gebildet von den gekomiteerden Raden, bestehend aus acht Vertretern
der großen Städte, drei Vertretern der Städte von Süd-Holland und einem Adelsvertreter. Es ist ein dauerndes
Kollegium, das die Provinzialstaaten einberuft, die Tagesordnung bestimmt, die Beschlüsse ausführt.
In den Generalstaaten hat jede Provinz eine Stimme, aber natürlich schlägt das ökonomische Uebergewicht
Hollands, das beinahe 60 Prozent der gesamten Einkünfte der Generalstaaten aufbringt, durch.
Sir William Temple macht folgende Klasseneinteilung der Bevölkerung:
- Die Bauern. Sie leben gewöhnlich von Gemüse, von Wurzeln und von Milchprodukten.
- Die Matrosen. Sie leben von Fisch und Grütze, die gröber ist als die der Bauern, woraus er ihre Roheit
teilweise erklären will.
- Die Kaufleute und Handwerker in den Städten.
- Die Rentiers, die in den größten Städten von dem Einkommen und den Zinsen leben, die sie früher in
ihren Familien erworben haben.
- Die Edelleute oder Offiziere.
-27-
Von besonderem Interesse ist die vierte Gruppe. Sie bilden die Oligarchie der Städte, der Provinzen des
Landes. Sie heben sich von den aktiven Kaufleuten ab. Die Familien - bemerkt Sir William darüber - die in
allen großen Städten von den Einkünften ihres Vermögens leben, bilden eine bestimmte Sorte von Leuten, die
ganz anders ernährt und erzogen sind als die Kaufleute, obwohl die Bescheidenheit ihres Auftretens und
ihrer Kleidung nicht sehr verschieden von denen der anderen sind, wie auch ihre zurückgezogene Lebensweise.
Die meisten von ihnen schicken ihre Kinder auf die Universitäten Leyden oder Utrecht, wo sie hauptsächlich
bürgerliches Recht studieren. Die reichsten unter ihnen lassen ihre Söhne meist in Frankreich oder England
reisen, manchmal in Italien, sehr selten in Spanien. Ihr Hauptstreben ist: die Befähigung zur Magistratur
oder zum Staatsdienste zu erwerben. Die politischen Aemter dieser Regierungen sind fast alle von Leuten
dieser Art angefüllt, die von Familien abstammen, die in den Magistraten der Städte gewesen sind, in denen
sie geboren sind, während einer ganzen Reihe von Jahren, und einige während mehrerer Jahrhunderte. Es sind,
bemerkt er weiter, keine Habenichtse oder Handwerker, wie die meisten Fremden glauben und dummerweise daraus
Anlaß nehmen, um allerlei Theaterstücke zu machen über die angebliche Form ihrer Regierung. Das schließt
nicht völlig aus, bemerkt er weiter, die Kaufleute, besonders diejenigen, die en gros handeln, die man oft
in Aemtern ihrer Städte sieht und zuweilen auch als Deputierte bei den Staatsversammlungen
Aber die meisten
Standesversammlungen und Magistrate sind eine andere Sorte von Leuten. Ihr Einkommen besteht in Pensionen
oder in Gehältern, die mit ihren Aemtern verbunden sind; in den Einkommen, die sie aus ihren Landgütern
ziehen, den Zinsen, die ihnen aus den Geldern fließen, die sie in den Bureaus der Generalstaaten, der
Provinzen und der Städte angelegt haben, oder in Aktien der Ostindischen Handelskompagnie oder aus den
Anteilen, die sie am Geschäft von Großkaufleuten haben.
Der Adel ist sehr gering in Holland, der größte Teil der adeligen Familien wurde in den langen Kriegen
gegen Spanien vernichtet. Sie haben meistens politische oder militärische Posten.
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Ebenso scharfsichtig sind Sir William Temples Beobachtungen über die kirchlichen Richtungen, von denen er richtig bemerkt, daß sie in
Wahrheit mit politischen Parteien zusammenfallen.
Er nennt erstens die A r m i n i a n e r (sie bilden eine Richtung innerhalb der calvinistischen Kirche). Er sagt von ihnen:
"
Die Arminianer haben einen großen Namen unter ihnen, da sie mehr eine Parteiunterscheidung im Staate sind als eine Sekte in der Kirche,
aber im Vergleich zu den anderen sind sie in sehr geringer Zahl, obwohl bedeutend wegen der Qualität der Personen, die meistens Leute von
Geist und Urteilskraft sind und von denen mehrere In der Regierung sitzen. Die Wiedertäufer dagegen sind in großer Zahl, aber gehören zur
niedersten Klasse des Volkes, es sind Handwerker (Gens de metiers) oder Marineleute. Und es gibt deren eine Menge in Nordholland. Die
Hauptmasse machen die Calvinisten. Sie besitzen alle öffentlichen Tempel. Ihre Minister oder Pastoren werden aus Staatsmitteln erhalten.
Sie hingen ganz vom Staate ab. Die calvinistischen Geistlichen, die Prädikanten, sind im ganzen Lande leidenschaftliche Vertreter
der Interessen des Hauses von Oranien und erklärte Feinde der Arminianer, die unter Oldenbarnevelt zu Spanien zu neigen schienen.
"
Diesem Bilde sind nur noch wenige Züge hinzuzufügen. Die. Scheidung zwischen den aktiven Kaufleuten und den regierenden Familien, die von
Renten und Dividenden leben, vollzog sich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte bilden sie eine geschlossene Kaste,
die sich selbst ergänzt, in Erziehung und Lebensweise von den aktiven Kaufleuten unterscheidet. Sie legen sich oft Adelstitel zu, erwerben
Landgüter, bauen darauf prächtige Landhäuser usw. Unter diesen Regentenfa-milien hebt sich wiederum eine kleinere Zahl hervor, die das
sogenannte Magnifikat haben, d. h. die wirkliche Macht in der Stadt und im Staate. Sie schlossen häufig sogenannte Contrakten van
Correspondentie, worin sie sich gegenseitig Aemter und Posten versicherten. Diese Familien waren hervorgegangen aus den sogenannten
Vroedschappen , dem Kreise der reichen Familien in den Städten, die schon im vorigen Jahrhundert sich zu geschlossenen und sich selbst
ergänzenden Körperschaften herausgebildet hatten, die alle Macht in der Stadt, in der Provinz und in der Union in sich vereinigten. Sie
ernannten die Häupter der Handwerkergilden und bildeten die Offiziere der Schützengilden. Die Vor-
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stellung, daß dies demokratische Körperschaften gewesen seien, wie manche sich einbilden, die die prächtigen Bilder von Schützengilden oder
der Handwerkergilden von Rembrandt betrachten, sind durchaus irrig. Sie waren vollkommen in der Hand der städtischen Regentenfamilien.
Der demokratische Widerstand gegen diese städtische Rentneroligarchie spielte sich in der eigenartigen Form der kirchlichen und
theologischen Kämpfe ab. Um die Klassenkämpfe in den Niederlanden im XVII. Jahrhundert zu erforschen, muß man die Kämpfe in der
reformierten oder calvinistischen Kirche studieren, die langatmigen und spitzfindigen Thesen und Streitschriften der kirchlichen Synoden
und der Theologieprofessoren lesen. Der abstrakte Inhalt dieser Auseinandersetzungen und die verschiedenen Formeln der Prädestination, der
Gnadenwahl werden mit einem Schlage durchsichtig, wenn man sie auf ihren Klasseninhalt hin untersucht. Rein als Theologie, als ideelle
Kämpfe betrachtet, ist es scheinbar ein hoffnungs- und sinnloser Wirrwarr. Die Klassen treten sich gegenüber unter wechselnden kirchlichen
Namen. Als Arminianer (nach dem Theologieprofessor Arminius), Remonstranten, Libertijnen, Kollegianten (der Kreis, in dem Spinoza in
Rijnsburg intim verkehrte) auf der einen Seite, als die Preziesen, Gomaristen, Gontraremonstranten auf der anderen Seite. Die erste Seite
repräsentiert die städtische Oligarchie, die große Handelsbourgeoisie. Deshalb die Kleinheit ihrer Zahl. Die andere Seite, der Haupttrupp
der calvinistischen Kirche, vertritt das Kleinbürgertum, die Bauernschaft und einen Teil des Proletariats. Die letzteren marschieren
gleichzeitig unter der Fahne der Oranier, die nach der Monarchie streben. Das anscheinende Streitobjekt ist die Gnadenwahl. Ist die Gnade
unwiderstehlich und der Mensch ein für allemal auserwählt für die himmlische Seeligkeit oder für die höllische Verdammnis? Dafür kämpfen
die Preziesen, die Masse der calvinistischen Kleinbürger. Oder ist die Gnade widerstehlich, wirkt bei der Vorherbestimmung neben dem Willen
Gottes auch ein subjektiver Faktor, der gute oder schlechte Wille, die guten oder schlechten Qualitäten des Einzelnen? Dafür kämpfen die
Arminianer. Die Kämpfe erschütterten den Staat bis in seine Tiefen. Das Haupt Oldenbarnevelds fällt ihnen zum Opfer.
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Die Regimenter der Städte wechseln ihren Bestand je nach dem Stand dieser Kämpfe. Den Schlüs-sel zu diesen Kämpfen bilden die scheinbar
damit gar nicht zusammenhängenden Kämpfe um das kirchliche Organisationsstatut, um die innere Organisation der Kirche und ihr Verhältnis
zur weltlichen Regierung. Die calvinistischen Kleinbürger kämpfen um die volle Autonomie und die demokratische Organisation der Kirche,
die freie und unabhängige Wahl ihrer Geistlichen, Synoden usw. durch die Kirchengemeinde. Die Gegenseite kämpft um das oberste
Entscheidungsrecht bei der Besetzung von Posten in der kirchlichen Verwaltung wie bei den theologischen Entscheidungen für die weltliche
Regierung. Der wahre Inhalt ist der Kampf um die Demokratie nicht nur in der Kirche, sondern auch im Staate. Deshalb erschüttern diese
Kämpfe den Staat bis in die Tiefe. Was hat aber die Lehre von der Vorherbestimmung, von der Prädestination damit zu tun? Die unwiderstehliche
Vorherbestimmung ist nur die theologische Formel für die demokratische Gleichheit aller Mitglieder der Kirche. Die Werke können zur
Auserwählung nichts dazu tun oder davon wegnehmen. Die arminianische Formel ist die oligarchische Formel. Die Gnade wirkt nicht auf alle
gleich. Die Verschiedenheit des subjektiven Ver-hältnisses bewirkt ein verschiedenes Resultat. Man sieht leicht, daß dahinter der
Herrschaftsanspruch der herrschenden und regierenden Oligarchie über Staat und Kirche steckt, die ihre privilegierte Klassenstellung mit
der Formel vom subjektiven Verdienst begründet und rechtfertigt.
Alle beherrschten Klassen vereinigten sich unter der orangeistischen Flagge gegen die Staatenpartei, die Partei Jan de Witts, nicht weil
die Oranier vielleicht bessere Demokraten gewesen wären - sie nutzten nur die demokratischen Strömungen für ihre Sonderzwecke aus -
sondern weil diese Fraktion, in der sich Teile der städtischen Oligarchie, die eben außerhalb der Macht gehalten wurden, vereinigten mit
den adeligen Offizieren, die nach der Macht strebten, den von der Stadt bedrückten Bauern usw., mit der Erinnerung an die heroische Zeit
des Kampfes gegen Spanien verknüpft war, in der die calvinistische Kleinbürgermasse ein stärkeres Gewicht gehabt hatte, in der sie eine
heilige Armee von Glaubens-
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streitern gewesen war. Die Oranier spielten eine Art bonarpartisches Vorspiel. Nachdem es ihnen gelungen war, unter dem Einbruch der
französischen Armeen im Jahre 1672 de Witt und seine Partei zu stürzen, änderte sich am Wesen des Oligarchenregiments nichts. Nur die
Personen und Cliquen änderten sich teilweise.
Üeber den zwieschlächtigen Charakter dieses frommgläubigen calvinistischen Kleinbürgertums geben klaren Aufschluß die Forderungen. mit
denen sie 1672 gegen das herrschende Regiment auftraten.
Die Schützengilde von D e l f t forderte:
- Die Säuberung der Stadtregierung von der Loevesteinschen Faktion (Loevesteinsche Faktion hieß die Partei Oldenbarnevelds, Arminianer
oder Remonstranten).
- Kein Stadtregent soll ein weiteres Amt haben.
- Niemand in die Regierung zu nehmen, der Bewindhebber (heute würden wir sagen Aufsichtsrat) der Ostindischen Kompagnie oder der
Westindischen Kompagnie sei.
- Keine politischen Kommissare im Kirchenrat!
- Nur Bürger und Reformierte sollen Beamtenposten erhalten.
- Niemand ist in die Regierung aufzunehmen, der sich nicht vorher zur reformierten Religion bekannt hat.
- Alle Privilegien und Freiheiten, die die Schützengilden vor 1580 hatten, sind wieder herzustellen.
- Die H a a r l e m e r fordern unter anderem: die freie Wahl der Offiziere durch die Schützengilden, statt wie bisher ihre Aufdrängung
durch die Stadtregenten.
Die A m s t e r d a m e r Bürger fordern unter anderem:
- Die Wiederherstellung aller Privilegien, die den Bürgern competieren;
- daß keine Magistratspersonen Mitglieder des Kriegsrates seien;
- daß jedes Regiment einen eigenen Oberst habe, gewählt vom Kriegsrat und aus dem betreffenden Regiment selbst;
- alle Aemter sind nur an Bürger zu vergeben, die seit mindestens sechs Jahren eingesessen sind;
-32-
- daß die Gilden in ihren Privilegien aufrecht erhalten werden und die Willküren, die zu diesem Zwecke gemacht sind, ausgeübt werden,
damit allen Straßen- und Landläufern gewehrt werde und die guten Eingesessenen in ihren Nahrungen und Wohlfahren gehandhabt und beschirmt
werden.
Unter den Straßen- und Landläufern, die die Nahrungen und das Wohlfahren der eingesessenen Bürger und Schützengildenmitglieder bedrohen,
erkennt man leicht die Arbeiter der kapitalistischen Manufakturen, durch die sich der Zunftbürger bedroht fühlte.
Es ist ebenso charakteristisch für das Wesen der orangeistischen Partei, daß sie sich am Ende des XVIII. Jahrhunderts unter dem Einfluß
der französischen Revolution spaltete: in einen reaktionären und einen demokratisch-revolutionären Bestandteil.
2.4. Das politische und wirtschaftliche Programm der Handelsbourgeoisie
An der historischen Vorderfront der Zeit steht nicht das streng calvinistische Kleinbürgertum mit seinen eifernden Prädikanten, sondern die große Handelsbourgeoisie (groß nicht der Zahl, sondern der Kapitalsmacht nach) mit ihrer Spitze von Regentenfamilien. Die aktive Handels- und Manufakturbourgeoisie bildet die herrschende Klasse des Landes, die Rentnerschicht der Regentenfamilien bildet ihre regierende Oberschicht.
Diese Klasse ist noch nicht die moderne Bourgeoisie. Das Handelskapital beherrscht hier noch das Industriekapital. Im Holland der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts beginnt bereits das Handelskapital die weitere Entfaltung des Industriekapitals zu hemmen. Andererseits dringt das Geldkapital weiter vor und hemmt seinerseits die weitere Entwicklung des Handels. Vom zweiten Jahrzehnt des XVIII. Jahrhunderts ab tritt ebenso die wirtschaftliche wie die kulturelle Stagnation in den Niederlanden ein, eine Stagnation, die bis heute noch andauert und die offenbar erst einen gründlichen Stoß erhalten
-33-
wird, wenn die siegreiche Erhebung der niederländischen Kolonialvölker die kolonialen Profite stoppen und dem Rentnerdasein der Bourgeoisie, an dem alle Klassen des Landes mehr oder weniger teilnehmen, ein Ende machen wird.
Die Niederlande wurden im XVIII. Jahrhundert der große Markt von Leihkapital. Diese Entwicklung bahnte sich in der zweiten Hälfte und noch mehr im letzten Viertel des XVII. Jahrhunderts bereits an.
Diese niederländische und im besonderen holländische Handelsbourgeoisie ist
ökonomisch die revolutionäre Potenz der Zeit. Sie entwickelt auf dem
ökonomischen Gebiet eine gewaltige Kraft und Kühnheit, ja Verwegenheit. Sie
befährt alle Meere, reißt die entlegensten Zonen in den Welthandel hinein, baut
auf den Rohstoffen der Länder, die sie erschließt, neue Manufakturen auf, wirft
die Zunftschranken nieder, wo es ihr Handelsinteresse erfordert, baut ein
kapitalistisches Handelswechselrecht usw. auf, entwickelt gewaltig die
Produktivkräfte des kleinen Landes. Sie macht ihr Land zur Freistatt für alle
Religionen und Sekten, die in anderen Ländern verfolgt sind, nicht nur aus dem
Interesse des Handels, sondern vor allem auch an der Frachtfahrt und der
Manufakturen. Sie zieht so die Kapitalien, die geschulten Handwerker, ein
Proletariat aus aller Herren Länder in ihr Land. Für den Sinn dieser Toleranz
ist nichts charakteristischer als die Tatsache, daß die Holländer keineswegs
erfreut sind, wenn andern Staaten sie bei sich einführen und so das holländische
Monopol der Anlockung von fremdem Kapital und Arbeitskraft schädigen wollen. Als
im Jahre 1668 die Kaufleute der Republik den König von Schweden um Erlaubnis der
freien Religionsausübung ersuchten, schreibt der niederländische Gesandte P i e
t e r d e G r o o t an Jan de Witt:
"
Da muß ich bekennen, der Meinung zu sein, daß nichts ruinöseres für den Handel unserer Staaten kann gefunden werden als eine solche freie Religionsausübung von der ich glaube, daß sie viele Familien aus unserem Lande ziehen wird, wenn das so in Dänemark wie in diesem Reiche Zugestanden würde.
"
( Brieven van de Witt, II., , S. 590.)
Diese Handelsbourgeoisie hat gleichzeitig das größte Interesse an der Entwicklung der Naturwissenschaften, der Technik, der Mathematik. Sie blühten außerordentlich in diesem Lande. Sie wurden aufs eifrigste gefördert und gepflegt von der herr-
-34-
schenden Handelsbourgeoisie. Ich erinnere an die Namen Hudde, Guldin, Christian Huyghens, Jan de Witt selber. Diese Handelsbourgeoisie ist aber zugleich die herrschende Klasse des Landes, die ein hartes, absolutes, oligarchisches Regiment führt. Sie ist also keineswegs p o l i t i s c h revolutionär. Tolerant, wie sie ist, gegenüber allen Sekten und Religionen. duldet sie keine organisatorische Selbständigkeit, keine demokratische Organisation der Landeskirche. Sie ist dem weltlichen Regiment streng unterworfen, streng von ihm kontrolliert. Und ebensowenig duldet sie eine demokratische Verfassung und Selbständigkeit in den Zünften, in den Schützengilden. Die Kommandostellen sind überall in ihren Händen. Die politischen Kommissare bei der Kirche, in der Armee - stammen aus dem Holland des XVII. Jahrhunderts. Ihr Republikanismus hat nicht das geringste Demokratische an sich, es ist die Diktatur der Handelsbourgeoisie ausgeübt durch den engen, geschlossenen, erblichen Kreis der Regentenfamilien, die
absoluten Herrscher der Städteregierungen, der Provinzen und der Generalstaaten.
Die ökonomischen und politischen Grundsätze und das Programm dieser Handelsbourgeoisie findet man zusammengefaßt in der schon oben erwähnten Schrift des Pieter de la Court, bei der Jan de Witt selbst mitwirkte. Die Schrift erschien zuerst unter dem Titel: Aanwijsing der heilsame politike Gronden en Maximen van de Republike van Holland en WestVriesland im Jahre 1669. Weitere Ausgaben führten den veränderten Titel: Interest van Holland, ofte Gronden van Hollands Welvaren, aangewezen door V. D. H. Eine französische Uebersetzung erschien 1709 unter dem Titel: Memoires de Jean de Witt, grand pensionnaire de Holland usw.
Die hier aufgestellten Forderungen und Grundsätze lassen sich so summieren:
- Volle Religionsfreiheit, begründet durch die Notwendigkeit, fremde Kapitalien und Arbeitskräfte heranzuziehen.
- Volle Gewerbefreiheit. Die Ausübung eines Gewerbes soll nicht an das Bürgerrecht, nur an festen Wohnsitz gebunden sein. Aufhebung aller geschlossenen Kompanien und Gilden. Regelung der Steuern, der Zollpolitik und des Rechtswesens im Interesse des Handels.
-35-
- Beschirmung und Förderung der Handelsschiffahrt durch Kolonien, Schutz der Kauffahrtsschiffe, Aufrechterhaltung des Friedens, strikter Neutralität und Abschluß gegenseitiger Handelsverträge.
- Dazu ist nötig: republikanische Regierungsform, wo das Interesse der Regenten an das ihrer Untertanen geknüpft ist, das heißt, wo das Interesse des Handels und der Manufaktur die Regierung bestimmt.
Pieter de la Court führt eine heftige Polemik gegen die Prädikanten, die calvinistischen Kleinbürger, die lehren, daß es besser sei, eine reingläubige entvölkerte als eine sehr volkreiche gläubige, doch mit Ketzern beschmutzte Stadt zu haben (S. 63). Die Verfolgung der Katholiken, die die Preciesen verlangen, würde die meisten alten Landbewohner, Bauern, Rentiers und Edelleute aus dem Lande treiben. Eine heftige Polemik führt er gegen die Gilden. Die Gildebrüder, sagt er, sind zwar sehr nötige, aber nach den Vagabunden die am wenigsten nützlichen Einwohner des Landes, weil sie außer Landes keine Gewinne holen. Den verfolgungssüchtigen Pfauen sagt er:
"
Nicht allein die Politiker, auch die Geistlichkeit sind Menschen, und gewöhnlich verändert sich der süße Ton der Menschen, die wegen der Religion verfolgt worden sind, in Zwang und Gewalt, sobald sie Meister werden über andere."
(S. 80)
Er führt eine heftige Polemik gegen
"
alle Hoofden, die naar de Souvereinitaet staan, de oproerige Predikers ende ijverige Devotarissen seen plegen te begonstigen, om door
der selver woelender menschen hulpe tot de Hoogheid te geraken und gegen het onverstandige quaadwillige graauw dat altijd sijn eigene
Magistralspersoonen, ende de aristokratike Politike Regeerders haat ende derfd lasteren."
Dagegen in der Republik ernähren sich sehr viele Regenten und Magistratspersonen mit Fischereien, Manufakturen, Außenhandel, Schiffahrt, oder sie verheiraten ihre Kinder an reiche Kaufleute, so daß sie entweder selber durch ihre Blutsverwandten oder Verschwägerten an der Wohlfahrt dieser Industrie- und Handelszweige interessiert sind. Unter den Zeiten der alten Monarchie hatten aber die Höflinge, Huren und
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Buben das Heft in der Hand, die den Herren oder Frauen in ihren debauches und Wollüsten das meiste Vergnügen machen.
2.5. Die Handelsbourgeoisie: die Klassengrundlage der Philosophie des Spinoza
Nach alledem, was wir ausgeführt haben, bedarf es keiner langen Nachweise mehr, daß diese Handelsbourgeoisie und ihre aristokratische
regierende Spitze die Klassengrundlage der Philosophie des Spinoza ist, ihre Grundzüge bestimmt. Aber die Beziehung ist nicht einfach die
der Gleichsetzung. Die Befreiung von der Hülle der religiösen Form, die abstrakte logische Zuspitzung bestimmt zugleich einen Gegensatz.
Die äußerlichen Beziehungen Spinozas zu den Kreisen von Jan de Witt und zu den Kollegianten von Rijnsburg, einer Richtung, die von den
Remonstranten stammt, sind bekannt. Wir heben hier nur in aller Kürze das innere Verhältnis hervor. Deus sive Natura - Gott oder die Natur - ist
die grundlegende Formel Spinozas. Der Materialismus, aber noch behaftet mit der Hülle des Gottbeg-riffes, die Natur, streng eigengesetzlich,
zusammenfallend mit Gott. Feuerbach sagt: Die Formel müßte sein aut Deus aut Natura: entweder Gott oder die Natur, das heißt
ausschließend. Die Formel Spinozas aber ist ei n s c h l i e ß e n d. Die völlige Beseitigung der religiösen Hülle, die polemische Wendung
gegen sie, tritt aber geschichtlich nur da und dann ein, wo der Bourgeoisie in der Kirche der Verbündete der feudalen Klassen und des
Absolutismus, also selbst ein feudales Element entgegentritt und sie die Volksmasse zum Sturm gegen sie aufruft. Davon kann aber im
Holland des XVII. Jahrhunderts keine Rede sein. Die Kirche ist hier nicht der feudale Gegner, der niederzuwerfen, zu besiegen ist, sie ist
selbst bürgerlichen, wenn auch kleinbürgerlichen Charakters, der herrschenden bürgerlichen Klasse unterworfen, von ihr als politisches
Instrument benutzt. Die Klassenverhältnisse Hollands boten also keinen Anlaß zum aut - aut, zum Entweder - Oder. Spinoza fordert
gleichzeitig mit der Freiheit der Kirche in reinen Glaubensfragen, mit der absoluten Toleranz die
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völlige p o l i t i s c h e Unterordnung der Kirche unter die Staatsorgane. Das trifft, wie man sieht, in den Grundzügen durchaus mit den
Anschauungen der herrschenden Klasse zusammen. Die schärfste Gegnerschaft erhob sich dagegen aus den Kreisen der calvinistischen
Kleinbürger, der Prädikanten. Andererseits hat die herrschende Handelsbourgeoisie Anlaß, ihre religiösen Ueberzeugungen zu schonen. Die
Lehre Spinozas ist wohl konsequent, aber nicht aggressiv, nicht propagandistisch. Die Religion des Kleinbürgers soll unangetastet bleiben.
Aber die geistige Aristokratie, der Weise, wie Spinoza ihn nennt, soll sich von dem Aberglauben der Menge befreien. Also ein Materialismus
für die wenigen, der die vielen nicht stören will und daher selbst noch den materialistischen Inhalt in die religiöse Form einhüllt, oder
die religiöse Form mit dem materialistischen Inhalt ausfüllt. Es ist nur zu begreiflich, wie diese Form Goethe so mächtig anzog und die
klassische deutsche Philosophie in dem Stadium, wo sie noch nicht unmittelbar die Trommel zum Sturm rührte, wie Feuerbach.
Nehmen wir einen weiteren Grundzug des Spinozismus, die Lehre von der streng kausalen Deter-mination, von der Unfreiheit des Willens.
Die Ethik Spinozas schließt ab mit dem Buch Ueber die menschliche Freiheit, dies ist ihr Ziel. Die Einsicht in die Gesetze des Denkens,
der menschlichen Affekte, der Natur, nicht die geträumte Unabhängigkeit von ihnen, ist der Weg zur Freiheit. Es ist dies die logisch zu
Ende gebrachte und philosophisch gereinigte Lehre des Arminianismus. Der Weise, der Herr über seine Affekte ist, nach Beherrschung der
Natur, nach Erweiterung der menschlichen Macht über sie strebt, dem die Welt nicht als Sündenpfuhl, sondern als Stätte seines Wirkens,
dem diese Welt zum Genusse und zur Entfaltung seiner eigenen Kräfte da ist - dieser Weise, was ist er anderes als das philosophisch
idealisierte, gereinigte Abbild jener jugendkühnen optimistischen Bourgeoisie, die sich anschickt, die materielle Welt ihrer Herrschaft
zu unterwerfen, sie sich anzueignen, sie zu genießen, die Produktivkräfte rastlos zu erweitern? Es ist diese revolutionäre Seite der
modernen Bourgeoisie, die Spinoza im Musterlande des Kapitalismus im XVII. Jahrhundert philosophisch formuliert und pro-klamiert, und
dies erklärt - wie weit er, obwohl der konsequen-
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teste Ausdruck der Handels- und Manufakturbourgeoisie seiner Zeit, gleichzeitig seiner Zeit, im weite-ren Sinne genommen, voraus war, wie
er so lange toter Hund sein konnte, wie er erst Generationen später in Frankreich und dann in Deutschland wieder entdeckt werden mußte.
Er drückt eine Stufe der Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins aus, hinter der die übrigen Länder noch weit zurückstanden.
Die revolutionäre Mission des Kapitalismus in der Entfaltung der Produktivkräfte, in der Erweite-rung der Macht des Menschen über die
Natur, ist geschichtlich gesehen zu Ende. Er stößt an die Schranken seiner eigenen ökonomischen Gesetze. Der weitere Fortschritt auf dem
Wege zur menschlichen Freiheit, in dem Sinne, wie Spinoza sie verstand, ist die Aufgabe des Proletariats geworden. Es ist als Ablösung
bereits erschienen oder bereitet sich zur Ablösung vor. Der große Denker, der diese Mission in der Sprache der Philosophie verkündete,
obwohl tief wurzelnd in der bürgerlichen Klasse seiner Zeit, reicht doch darüber hinaus, so wie diese Aufgabe über die Bourgeoisie
hinausreicht. Die revolutionäre Arbeiterklasse der Gegenwart hat ein tieferes und begründeteres Recht, ihn zu den ihrigen zu zählen, als
die heutigen bürgerlichen Klassen. Denn das, was revolutionär, in die Zukunft weisend war an Spinoza, das, wodurch seine Gedanken Epoche
machten in der Geschichte des menschlichen Denkens, das ist auf die heutige Arbeiterklasse übergegangen.
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Auch die
seit 1883 erscheinende sozialistische wissenschaftliche Revue Die Neue Zeit
enthielt im 5. Jahrgang (1887) einen längeren Aufsatz über den
Theologisch-politischen Traktat von B. Spinoza, der mit den Worten begann:
Kein philo-sophisches System ist mit den Ergebnissen der exakten Forschung
unserer Zeit mehr in Einklang als das Spinozas. (S. 83.)
In einem sonst ziemlich mageren Aufsatz: Spinoza und
Marx nennt der bekannte Soziologe Professor Tönnies diese beiden Männer
offenbar die bedeutendsten von den Denkern und Gelehrten jüdischer Abstammung.
die einen tiefen Einfluß auf die gesamte moderne Geistesbildung gewonnen haben.
(Neue Zeit. 39. Band, 1. Hälfte, 1921, S. 573.)
G. Plechanow, Die Grundprobleme des Marxismus, Stuttgart l910. S. 15.
In seinen Briefen gibt Spinoza einmal folgende anschauliche Darstellung von dem
Aberglauben des freien Willens: Denken wir uns, ein Stein empfängt von einer ihn
treffenden äußeren Ursache eine gewisse Quantität Bewegung, vermöge welcher er, auch
wenn der Stoß der äußeren Ursache aufhört, notwendig in seiner Bewegung fortfahren wird ...
Denken Sie sich ferner, daß der Stein, während er seine Bewegung fortsetzt, denke und wisse,
daß er, soviel er vermag, seine Bewegung fortzusetzen strebe, so wird dieser Stein, da er sich
bloß seines Strebens bewußt und durchaus nicht indifferent ist, glauben, daß er ganz frei sei
und aus keiner anderen Ursache in der Bewegung verharre, als weil er will. Und das ist die menschliche
Freiheit, die alle haben wollen und die bloß darin besteht, daß die Menschen sich ihres Begehrens,
aber nicht der Ursachen, durch die sie bestimmt werden, bewußt sind. So glaubt der Säugling, daß er
die Milch aus freien Stücken wolle, der erzürnte Knabe, daß er die Rache, und der Furchtsame, daß er
die Flucht wolle... Und weil dieses Vorurteil allen Menschen eingeboren ist, werden sie nicht so leicht
davon befreit. (Vergleiche Stern, Die Philosophie Spinozas, 3. Auflage, (6) 1908, S. 103 f; siehe
auch Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, 1922. S. 27 f.)
Das vorliegende Buch bringt dazu wichtige Belegstellen. Es mag noch daran erinnert werden, daß Engels
auch auf Descartes und Spinoza als glänzende Vertreter der Dialektik in der neueren Philosophie
hingewiesen hat (Engels. Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,
Elementarbücher des Kommunismus. Bd. 7, S. 23).
Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. 2. Bd. (1902), S. 240.
Plechanow, Die Grundprobleme des Marxismus. S. 16.
Vergleiche Marx, Kapital, III. Bd., II. Hälfte, S. 352: Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die
Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen. Siehe auch Marx Lohn, Preis und
Profit, S. 41.
Die lateinische Uebersetzung von Baruch, d. h. Der Gesegnete.
Eine billige, populäre Uebersetzung der Hauptwerke Spinozas und seines Briefwechsels von J.Stern ist
auch in Reclam Verlag erschienen.
Vortrag, gehalten am 2. April 1921 in der Kommunistischen Akademie, Moskau, aus Anlaß des 250jährigen
Todestages B. Spinozas.
Von dem holländischen Wort vroed klug (im Hildebrandslied frode).
Alle Häupter, die nach der Herrschaft trachten die aufrührerische Prädikanten und eifrige Frömmler zu begünstigen pflegen, tun durch die Hilfe dieser Wühler zur Macht zu kommen und gegen den unverständigen, böswilligen Pöbel, der immer seine eigenen Behörden und die aristokratischen politischen Regenten haßt und zu lästern wagt (S. 397).
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