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Seminar-AG - KB (Nord) |
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Sowjetunion 1921 - 1939 - von Lenin zu Stalin - Teil V: Die Zeit der Großen Säuberungen und der Apparat des Terrors
( Original )
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Status |
1989 - Materialsammlung |
Letzte Bearbeitung |
09/2004 |
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www.mxks.de
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V.E. Die Zeit der Großen Säuberungen und der Apparat des Terrors
54. Die Partei nach der ´Revolution von oben´ und die großen Säuberungen
1. Vorübergehende Entspannung
2. Die Ermordung Kirows
3. 1935/36: Die Verfassungsdebatte
4. Die Säuberungen - ´Moskauer Prozesse´
5. Verlauf und Ausmaß der Säuberungen
55. Dokument 38: Stalin: Über den Entwurf der Verfassung der UdSSR - Bericht Auß. 8. Sowjetkon. UdSSR, 25.11.1936
II. Die Veränderungen im Leben der Sowjetunion in der Periode von 1924 bis 1936
III. Die grundlegenden Besonderheiten des Verfassungsentwurfs
56. Dokument 39: Die Verfassung von UdSSR von 1936
I. Kapitel - Die gesellschaftliche Ordnung
X. Kapitel - Die Grundrechte und Grundpflichten der Staatsbürger
XI. Kapitel - Das Wahlsystem
57. Dokument 40: Stalin: Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler
1. Politische Sorglosigkeit - Auszug aus dem Referat Plenum ZK KPSU 3.3.1937
2. Unsere Aufgaben - Auszug aus dem Schlußwort Plenum ZK KPSU 5.3.1937
58. Die drei großen Prozesse - ab August 1936 - Anfang 1937 - ab März 1938
1. Das ´Vereinigte trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum´
2. Das ´Parallelzentrum´
3. Der ´Block der Rechten und Trotzkisten´
59. Dokument 41: Hermann Weber: Die kommunistischen Opfer der Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion 1936 - 1938
60. Die Entwicklung des Repressionsapparates in der UdSSR
1. 1917 - 1923: Von der Tscheka zur OGPU
2. Exkurs: 1917 - 1930: Vom revolutionären Strafrecht zur repressiven Justiz
3. 1928: Der ´Schachty-Prozeß´ - Beginn der ´Schädlingskampagne´
4. Die OGPU stärkt ihre gesellschaftliche Stellung
5. 1929 - 1933: Die OGPU während der Zwangskollektivierung
6. Das System der Zwangsarbeit
7. Ab 1933: Von der OGPU zum NKWD - der zentrale Sicherheitsapparat entsteht
8. Die OGPU und Parteisäuberung: Repression zur Lösung politischer Auseinandersetzung in der Partei
9. Ab 1935: Nach dem Mord an Kirow: Der Terror kündigt sich an
61. Dokument 42: ´Konterrevolutionäre Verbrechen´: Artikel 58 Strafgesetzbuch
62. Dokument 43: Peter W. Schulze: Die Zwangsarbeit und ihre ökonomische Relevanz
V.E. Die Zeit der Großen Säuberungen und der Apparat des Terrors
-
In den vorhergehenden Arbeiten und Dokumenten wurde versucht herauszuarbeiten, wie die "Revolution von oben" die Sowjetunion zwischen 1929 und 1934 verändert hat.
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Nach der Konstatierung einer "Verschärfung der Klassenkämpfe" durch die Stalin-Gruppe im Zentralkomitee der KPdSU (B) wurde die forcierte Industrialisierung und die Zwangskollektivierung der Bauernschaft mit Hilfe schärfster Repression, auch gegen die innerparteiliche Opposition, durchgezogen.
Innerhalb der Gesellschaft verschärften sich alte Widersprüche
- zwischen Arbeitern und leitenden Industrie- und Verwaltungskadern,
- zwischen Industrie und Landwirtschaft,
- zwischen Partei und Arbeiterklasse.
Neue Widersprüche traten hinzu
- zwischen der Parteiführung und der Intelligenz,
- zwischen dem staatlichen Wirtschaftsapparat und den Bauern,
- zwischen Arbeitern und der neuen roten Sowjetintelligenz.
In diesen Polarisierungen bildeten sich die Grundzüge der stalinistischen Ideologie heraus.
Diese behandelte die Widersprüche
- als subjektives und willkürliches Abweichen von der Generallinie der Partei und
- als Abweichen vom widerspruchslosen, harmonischen Charakter des bereits aufgebauten Sozialismus.
Wenn objektive Begründungen angeführt wurden, lagen deren Ursachen aber außerhalb der sowjetischen Gesellschaft.
- Demnach wurde Spionage und Konterrevolution im Dienste ausländischer Mächte betrieben.
- Es habe noch politische und ideologische Restwiderstände administrativ längst kaltgestellter Oppositionsanhänger und Vertretern der alten Bourgoisie gegeben, die verzweifelt versuchten, mit Hilfe terroristischer Mittel und bewußter Sabotage, den Durchmarsch des siegreichen Sozialismus aufzuhalten.
- Im Dokumententeil drucken wir Auszüge aus Stalins
- Rede "Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler" vom 3. März 1937 (siehe Kapitel 57. Dokument 40 )und
-
"Schlußwort" vom 5. März 1937 nach (siehe Kapitel 57. Dokument 40 ).
Diese Ausführungen wurden vor dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU (B) gehalten, und leiteten den Massenterror 1937/38 ein.
Der grundlegende Gedanke der stalinistischen Ideologie war
- die Einheit der Gesellschaft (nicht ihre Widersprüchlichkeit) und
- die grundsätzliche Harmonie einer vom Klassenkampf befreiten Gesellschaft.
Die neue Verfassung der UdSSR - verabschiedet im Dezember 1936 mit Beginn der
"Großen Säuberungen" und des Massenterrors - spiegelte das imaginäre Bild, das sich die Herrschenden von der Realität entworfen hatten.
- Ausschnitte aus der Verfassung (siehe Kapitel 56. Dokument 39 ) und
- einer Rede Stalins zur neuen Verfassung auf dem "außerordentlichen 8. Sowjetkongreß" am 25. November 1936 haben wir als Dokument angefügt (siehe Kapitel 55. Dokument 38 ).
Die Phase der
"Großen Säuberungen" und der drei großen Moskauer Schauprozesse gegen die früheren opposotionellen Revolutionäre scheinen uns ein Ausdruck des Bestrebens der führenden Parteigruppe um Stalin gewesen zu sein, diesen konstatierten harmonischen Charakter der errichteten neuen Gesellschaft ein für allemal von zufälligen und subjektiven Widerständen zu befreien.
- Wir dokumentieren im Anhang - auch zum Gedenken an die geopferten Revolutionäre - noch einmal eine Übersicht der Angeklagten der drei großen Prozesse und der gegen sie erhobenen Anschuldigungen (siehe Kapitel 58. Dokument 41 ).
- Von den dort genannten alten Revolutionären werden heute in der Sowjetunion mehr und mehr juristisch und politisch rehabiliert.
- Seit Februar 1989 beherbergt das Moskauer Revolutionsmuseum einen Nicolai Bucharin-Gedenkraum.
- Der Hauptangeklagte der drei Prozesse aber, Leo D. Trotzkij, ist bis heute weder politisch noch juristisch rehabilitiert.
- Der Verlauf und das Ausmaß der "Großen Säuberungen" und des Massenterrors ist für uns nicht einfach erklärbar als Lösungsversuch der Widersprüche, von denen die Gesellschaft durchsetzt war.
- Wir haben versucht, wenigstens einen Ausschnitt der Realität des stalinschen Sozialismus aus dem Bereich des "Irrationalen" herauszuholen (wenn auch der Massenterror durchaus irrationale Komponenten in sich birgt), wonach entweder einer pathologischen Person (Stalin), oder gar einer Theorie (Marxismus-Leninismus) alles in die Schuhe geschoben wird und die eigentlichen materiellen Mechanismen von Repression im Dunkeln bleiben.
- Um daß Außmaß des Massenterrors und der "Großen Säuberung" an Menschenopfern erahnen zu können, haben wir einen Auszug aus Hermann Weber "Weiße Flecken in der Geschichte" über die Opfer dieser Zeit im Dokumententeil (siehe Kapitel 59. Dokument 41 ) beigefügt.
Der folgende Text wurde von ak. erarbeitet.
Der Abschnitt
"Die Säuberungen - Moskauer Prozesse" wurde von bj. überarbeitet und ergänzt.
54. Die Partei nach der ´Revolution von oben´ und die großen Säuberungen
Die
"Revolution von oben" durch
- die beschleunigte Industrialisierung und
- die Kollektivierung
veränderte das Land ab 1929 grundlegend.
- In dieser Zeit verhärtete sich die Partei und
- die Idee einer monolithischen Einheit,
- einer absoluten und widerspruchsfreien Geschlossenheit der Partei,
- beherrschte zunehmend die Reden aller Parteiführer.
- Hintergrund ist die bedrohliche Feindschaft der bäuerlichen Massen, die sich gegen die Kollektivierung wehren.
- Des weiteren erscheint die Realisierung der gewaltigen Ziele des Fünfjahresplanes nur unter der Anspannung aller Kräfte möglich.
- Der geringste Widerspruch gegen die Maßnahmen wird zur "feindlichen Sabotage".
- In dieser Atmosphäre gründet der Kult um Stalin, der die Einheit von Partei, Volk und Anspannung aller Kräfte repräsentiert.
Opponierende Kräfte
-
gegen die Kollektivierung,
- gegen das überstürzte Industrialisierungstempo
werden
- politisch kaltgestellt (die sog. Rechte Opposition um Bucharin, Tomski und Rykow),
- liquidiert oder
- deportiert (Kulaken oder solche, die dafür gelten) oder
- durch Kampagnen und Gerichtsprozesse eingeschüchtert.
- Die bürgerliche Intelligenz und
- Teile der Parteikader in den wirtschaftlichen Planungsorganen und den Volkskommissariaten
gelten als offene oder stillschweigende Kritiker des forcierten Industrialisierungstempos.
Symptomatisch für die Einschüchterung dieser Kräfte ist die Schachty-Affäre 1928:
Beim Versuch, die Planvorgaben zu erfüllen,
- kommt es im Bereich des Kohlenbergbaus der Stadt Schachty im Nordkaukasus zu "Unregelmäßigkeiten" und
- zu schweren Arbeitsunfällen.
- Arbeitsschutzbestimmungen werden nicht beachtet,
- die Beschäftigten zur Steigerung ihrer Arbeitsleistung angetrieben.
- Gestiegener Druck und die Nichtbeachtung im Bergbau lebenswichtiger Verhaltensregeln führen zu mehreren schweren Unfällen, die in der Öffentlichkeit für Unruhe sorgen.
- Daraufhin weigern sich die für die Unfälle durch ihre Antreiberei verantwortlichen Ingenieure, weiter für die Planerfüllung einzutreten, und kritisieren die zu hohen Planvorgaben.
- Die Folge ist, daß sie nun von der Parteiführung angegriffen und als Saboteure der Aufbauleistung angeklagt werden.
-
Es beginnt die Kampagne gegen bürgerliche Spezialisten, die von nun an verdächtig sind, das gemeinsame Ziel, den Sozialismus aufbauen, torpedieren und sabotieren zu wollen.
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In den Jahren 1928 - 1931 folgen weitere Repressionskampagnen und Prozesse mit ähnlicher Stoßrichtung:
- gegen eine Reihe kritischer Agrarexperten,
- gegen führende Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrates und
- des Volkskommissariates für Handel.
Anklagepunkte sind der Vorwurf der Sabotage wegen
- schlechter Produktqualität und
- Nichterfüllung der Planvorgaben.
- Darüber hinaus wird etwa dem bekannten Ökonomen Isaac Rubin der Vorwurf der oppositionellen und zersetzenden Tätigkeit gemacht, weil er die aktuelle Wirtschaftspolitik kritisiert hat.
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Ende 1930 werden zwei bisher treue Stalinanhänger, Lominadse und Syrzow, der Fraktionsbildung beschuldigt. Syrzow soll angeblich den propagierten großen Erfolg der Industrialisierungspolitik als "Blendwerk" bezeichnet haben. Lominadse wird beschuldigt, von der "herrenmäßigen, feudalen Haltung gegenüber den Bauern" gesprochen zu haben. Beide werden im Dezember 1930 aus dem ZK ausgeschlossen.
-
Eine andere Zielscheibe der Repression sind Kritiker um den Bucharinanhänger Rjutin, deren Plattform in der Partei zirkuliert und eine Drosselung des Industrialisierungstempos und eine Wiederherstellung der Parteidemokratie fordert. Zudem fordert sie die Entfernung Stalins aus der Parteiführung.
Rjutin und die mit ihm Verbündeten werden auf der Plenarsitzung des ZK im Oktober 1932 aus der Partei ausgeschlossen:
" ... als Entartete, die Feinde des Kommunismus und des Sowjetregimes geworden sind, als Verräter der Partei und der Arbeiterklasse, die unter der Flagge eines unechten Marxismus-Leninismus versucht haben, eine bürgerlich-kulakische Organisation für die Wiederherstellung des Kapitalismus und besonders des Kulakentums in der UdSSR zu schaffen."
()
- Opposition und Kritik werden hier schon direkt mit Verrat und Entartung identifiziert.
- Kritiker sind Repräsentanten der Bourgeoisie und des Kapitalismus.
- Die Partei,
- im Besitz der historischen Wahrheit,
- ist genuiner Repräsentant der Arbeiterklasse,
die gerade in der Periode des beschleunigten sozialistischen Aufbaus
einen erbitterten Kampf gegen die Relikte der Vergangenheit führt.
1. Vorübergehende Entspannung
- Unrealistische Planziele,
- das Durcheinander des alltäglichen Lebens beim Versuch, diese Ziele zu erreichen,
sind auch innerhalb des Politbüros Anlässe für Kritik.
- Ordshonikidse, der Vorsitzende der Zentralen Kontrollkommission (ZKK), läßt bereits Mitte 1930 ein Papier zirkulieren, was auf die katastrophale Unerfahrenheit der "Praktiker" in den Leitungspositionen aufmerksam macht.
-
Die Kritik führt zur Absetzung Kuibyschews als dem Vorsitzenden des Obersten Volkswirtschaftsrates und zu seiner Ersetzung durch Ordshonikidse.
- Dieser tritt für eine "Korrektur der Verdrehungen der Parteilinie gegenüber den Spezialisten" ein, d.h. für einen Abbruch der Einschüchterungskampagne vor allem gegenüber bürgerlichen Fachkräften, die nötiger denn je in der Industrie gebraucht werden.
Die wirtschaftliche Krise 1933 verstärkt die Position der Kritiker.
- Die expandierenden Investitionen in der Industrie überschreiten bei weitem sowohl die sachlichen als auch die Arbeitskräftereserven des Landes.
- Infolgedessen signalisieren die rapide abnehmenden Zuwachsraten die Notwendigkeit, den aufgebauten industriellen Grundstock intensiver und sachgerechter als bisher zu nutzen.
- Die Verlangsamung des Industrialisierungstempos und
- eine neue Kaderpolitik sind angesagt.
- So werden die Pogrome gegen bürgerliche Spezialisten zunehmend eingestellt und
- stärker als bisher auf die universitären Absolventen als Repräsentanten einer zukünftigen Sowjetintelligenz orientiert.
- Dieser "Rückzug" scheint verursacht zu sein durch ein neues, aber sehr fragiles Kräfteverhältnis in den führenden Parteiinstanzen.
- Eine teilweise Rehabilitierung Bucharins und andere Exoppositioneller spricht für eine nicht mehr unangefochtene Position der Gruppe um Stalin, spricht für das Gewicht einer Strömung, die die Krise meistern will durch eine langsamere Gangart der Industrialisierung, eine Erholung des Landes von der "Revolution von oben".
-
Zu möglichen Differenzen in der Führung gibt es keine Beweise, sondern nur Indizien.
-
Kirow, der Parteisekretär von Leningrad, und Ordshonikidse scheinen die Repräsentanten einer "Wende zu einer gemäßigten Gangart" zu sein.
Auf dem 17. Parteitag 1934 setzt sich in einer Debatte über die Ziele des 2. Fünfjahresplans die Linie des Ordshonikidses durch, der gegen Molotow als dem Parteigänger Stalins für reduzierte Zielsetzungen eintritt.
-
Die Strömung um Molotow, Stalin und Kaganowitsch will die offensichtlichen Probleme, die erst die Krise ans Tageslicht gebracht hat, mit Hilfe verschärfter Disziplin, gelegentlichem Gebrauch von Terror und vor allem Durchsetzung einer unumschränkten Kommandogewalt der Parteispitze über die Industrie beseitigen.
- Ordshonikidse und Kirow hingegen betonen die Notwendigkeit größerer Handlungsfreiheit des betrieblichen Managements und den Schutz der Bürger gegen die Willkür der Repressions- und Überwachungsorgane.
-
Letzterem dient die Einrichtung einer Kolumne in der Prawda 1934 unter dem Titel "Kurze Signale", wo sich Bürger über Machtmißbrauch und Verletzungen der Gesetzlichkeit seitens der Partei- und Staatsorgane beklagen können.
Im Zusammenhang mit dieser Debatte gibt der folgende Brief des Parteisekretärs Rumyantsew aus dem Verwaltungsbezirk Smolensk einen Einblick in die willkürlichen und brutalen Ausschreitungen.
Darin ermahnt er Partei- und Komsomolorgane,
"die ungesunden und schändlichen Symptome einer Anzahl von Organisationen zu beseitigen: massive Verletzungen der revolutionären Legalität, administrative Ausschreitungen gegenüber Bauern und Kolchosmitgliedern, Lohnbetrug gegenüber Arbeitern, Unterschlagung und Veruntreuung im kooperativen Handelsnetz und was am bedeutendsten ist, die gleich gültige Haltung vieler Parteiorganisationen gegenüber diesen Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen."
Der Brief stellt fest, daß die
"Fälle, wo Veruntreuung und Unterschlagung von Kommunisten und Komsomolzen begangen wurden, nicht selten sind" .
Die Auseinandersetzungen um den weiteren
politischen und
ökonomischen Kurs haben ihre
materielle Begründung in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Ursachen der Krise 1933,
- der allgemeinen Schwierigkeiten beim Aufbau der Industrie und der Lösung dieser Probleme.
-
Das hektische Durchpeitschen immer höher angesetzter illusorischer Planziele seitens der Parteiführung führt nicht nur zu wiederkehrenden
- Produktionsengpässen,
- Stockungen oder
- zeitweiligem Stillstand von Unternehmen,
- sondern auch zum Widerstand leitender Kader und Experten.
"Ich lege meine Verantwortung für die Planungsabteilung nieder; ich halte das festgesetzte Ziel von 40 Mill. Tonnen für rein willkürlich. Mehr als ein Drittel des Erdöls müßte aus noch gar nicht ausgebeuteten Gebieten kommen, was bedeutet, die Haut eines Bären aufzuteilen, bevor er gefangen ist und sogar bevor man weiß, wo er ist. Darüber hinaus müßten aus den derzeit drei Crakking-Werke zum Ende des Jahrfünfts 120 werden. Das trotz des brenzligen Mangels an Metall und der Tatsache, daß diese hochkomplexe Technik des Cracking von uns noch gar nicht beherrscht ..."
()
So der Brief eines Experten aus der Erdölproduktion mit durchaus typischen Kritikpunkten.
Die Strömung um Ordshonikidse und Kirow ist anscheinend realistisch genug, einen Teil dieser Schwierigkeiten
- als "systembedingt" zu begreifen,
- sie nicht als Ausdruck von Verrat oder
- den Beweis mangelnden Vertrauens in die Möglichkeiten des Sozialismus zu betrachten.
Sie zielt darauf ab, die Bedingungen zu verändern, unter denen Loyalität gegenüber den Direktiven der Führung überhaupt möglich ist.
2. Die Ermordung Kirows
Am 1. Dezember 1934 wird der erste Sekretär des Leningrader Gebietskomitees S. Kirow ermordet.
- Der Täter kann noch am Ort der Tat verhaftet werden.
- Aus heutiger Sicht ist es Fakt, daß er ein Einzeltäter war, der aber wohl Helfer innerhalb des Sicherheitsapparates gehabt haben muß.
- Denn sonst wäre er nicht in die unmittelbare Nähe von Kirow gelangt, ohne daß dies aufgefallen wäre.
- Obwohl lange Jahre vermutet wird, daß Stalin mehr oder weniger der Auftraggeber dieses Mordes gewesen sei, so ist es ihm tatsächlich nicht nachzuweisen.
- Allerdings haben er und seine Strömung in der Parteileitung die Atmosphäre der Attentatspanik für sich nutzen können.
- Die Vollmachten für die Sicherheitsorgane werden ausgeweitet und das ZK-Sekretariat durch neue Mitglieder aus der Stalingruppe verstärkt.
- Dieses Sekretariat war unter Stalin von einem reinen Sekretariat zu einer Zentrale der Macht herangereift.
- Ihm gehören seit diesem Mord nur noch Vertraute und Anhänger Stalins an.
- Shdanow, Jeshow, Chruschtschow und Malenko rücken in diesen engeren Führungskreis auf.
- Shdanow übernimmt den Posten Kirows als Leningrader Parteisekretär.
- Jeshow spielt bereits in der Sonderabteilung für Staatssicherheit beim ZK eine wichtige Rolle und wird 1936 auf den Posten des NKWD-Chefs vorrücken.
Im Frühjahr 1935 startet die erste Terrorwelle, die sich vor allem gegen die Industrieleitungen richtet, aber auch Kader der Wirtschaftsverwaltung und Spezialisten erfaßt. Um diese Kader einzuschüchtern oder einfach durch loyalere Personen zu ersetzen, bedient sich die Propaganda der Unzufriedenheitder Arbeiter, die dem Druck ausgesetzt sind, den Leitungen und Spezialisten zwecks Planerfüllung auf sie ausüben.
Einen Einblick in die Säuberungshysterie gibt ein Protokoll der Parteiorganisation des Instituts für Marxismus-Leninismus in Smolensk am 9.7.1935.
- Bereits im Mai forderte ein geheimes ZK-Zirkular eine "Überprüfung der Feinde der Arbeiterklasse",
- am 27.6. folgte dann ein Sondererlaß des ZK, das die Funktionäre des westlichen Verwaltungsbezirkes ungenügender Wachsamkeit bezichtigt und eine Nachsäuberung fordert.
Im Protokoll heißt es:
"Es gibt Gerüchte (bemerkt der Gen. Davqdow), daß die soziale Zusammensetzung unseres Institutes nicht besonders günstig ist. Z.B.: es gibt Gerüchte, wonach Strogonow kulakischer Abstammung ist, daß der Vater von Smirnow ... ein Händler in Moskau war. ... Genossin Abetsunus hat eine sehr undurchsichtige Vergangenheit. Sie sagt, daß sie die Tochter eines Arbeiters sei, daß ihr Vater mit Schmuckstücken handelt. Das Parteikomitee hätte allen diesen Gerüchten nachgehen sollen, aber bis jetzt hat das Parteikomitee nichts getan; im Gegenteil, es gibt ein Gefühl der Selbstzufriedenheit."
Die Schlußresolution der Sitzung fordert:
"... jedes Parteimitglied soll alle Informationen aufnehmen, um fremde und feindliche Elemente, egal wie sie arbeiten ... zu entlaiven und hinauszusäubern."
()
- Die aus der Partei Ausgeschlossenen werden gemieden,
- finden keine Anstellung.
- Am 9.6.1935 beschließt ein Dekret, die Nichtdenunziation einer Handlung oder strafbarer Äußerungen zum Verbrechen nach dem Strafrecht zu erklären.
- Die Familienmitglieder solcher Personen können, wenn sie ihrer Denunziationspflicht nicht nachkommen, mit 2 bis 5 Jahren Gefängnis und Konfiszierung ihres Eigentums bestraft werden.
- Im Januar 1935 werden Sinowjew, Kamenew und andere ehemalige Oppositionelle, die beschuldigt sind, Kirows Ermordung ideologisch vorbereitet und eine geheime Oppositionszentrale in Moskau unterhalten zu haben, in einem Geheimprozeß zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.
- Dieser Prozeß ist insofern ein Präzedenzfall, als er zum ersten Mal politische Opposition innerhalb der Partei zum Gegenstand des Strafrechts macht. (Vgl. dazu auch: "Die Entwicklung des Repressionsapparates" im nächsten Kapitel)
3. 1935/36: Die Verfassungsdebatte
- Ende 1935 ebbt die Säuberungswelle ab.
- Die materiellen Verhältnisse im Lande verbessern sich,
- die Industrieproduktion steigt nach der Krise 1933 wieder an und
- die Lebensmittelversorgung wird reichlicher.
- Die Vorbereitungen und Erörterungen für das neue Verfassungsprojekt 1935/36 lassen Hoffnungen auf bessere Zeiten keimen.
Die Verfassung feiert
- die sozialistischen Errungenschaften der UdSSR,
- die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung (Artikel 4).
- Die Gewissensfreiheit und
- die Freiheit der Ausübung der Religion,
- die Meinungs- und Pressefreiheit,
- die Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses,
- die Unantastbarkeit der Person und
- der Wohnung der Staatsbürger
wird garantiert
"in Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Festigung des sozialistischen Systems" (s. Dokumententeil).
- Die Ansprüche, wie sie in der Verfassung formuliert werden, bleiben Makulatur.
- Bereits im Februar 1935 bestimmt der 8. Allunionskongreß im Hinblick auf das Verfassungsprojekt "eine weitere Demokratisierung des Wahlsystems".
Warum diese Bestimmungen zur Demokratisierung die administrativ durchgesetzte führende Rolle der Partei nicht in Frage stellen können, erklärt Stalin in seiner Rede zum 8. Sowjetkongreß im November 1936 entlang der Frage, warum es keine Partei außerhalb der herrschenden gibt, folgendermaßen:
"In der Sowjetunion gibt es schon keine Klassen mehr wie Kapitalisten, Gutsbesitzer, Kulaken usw. In der Sowjetunion gibt es nur zwei Klassen, die Arbeiter und Bauern, deren Interessen ... miteinander harmonieren. Folglich gibt es in der Sowjetunion ... Boden nur für eine Partei, die Kommunistische Partei, ... die kühn und bis zum letzten die Interessen der Arbeiter und Bauern verteidigt. Und daß sie die Interessen dieser Klassen nicht schlecht verteidigt; daran kann wohl kaum ein Zweifel bestehen."
(s. Dokumentation der Rede Stalins vorliegende html-datei Kapitel 55. Dokument 38)
Die mit dem Abebben der Säuberungen und der Verfassungsdiskussion Ende 1935 einhergehenden Hoffnungen auf ruhigere Zeiten erweisen sich bald als Trugschluß.
- Im März 1936 eröffnet die Presse durch Leserbriefe und Artikel das Feuer gegen "die Saboteure der Stachanowbewegung"
- Der Verwaltungs- und Wirtschaftsbürokratie wird Unfähigkeit in der Bestrafung und Entlarvung von Saboteuren vorgeworfen.
- Die darauf folgende Abrechnung mit den Leitungskadern schwächte deren Autorität, so daß die Prawda sich bereits am 2.6.1936 veranlaßt sieht, vor "Pogromen gegen die Leiter" zu warnen.
- Diese Art der "Basiskontrolle" produziert Wirkungen, die für die Parteiführung nicht wünschenswert sind.
- Im Juli schließlich wendet sich die Kampagne den ehemaligen Oppositionellen zu.
Am 29.7.1936 zirkuliert ein Brief des ZK an alle Parteikomitees mit dem Titel:
"Über die terroristische Aktivität des konterrevolutionären Blocks der Trotzkisten, Sinowjewisten" mit folgender Passage:
"Nur die Abwesenheit bolschewistischer Wachsamkeit kann die Tatsache erklären, daß einige der verhafteten Teilnehmer an terroristischen Gruppen in einer Anzahl von Parteiorganisationen die Überprüfung der Parteibücher (Anfang 1936) überstanden haben und in den Reihen der Partei blieben. Da nun bewiesen ist, daß die trotzkistisch-sinowjewistischen Monster im Kampf gegen den Sowjetstaat die allerabscheulichsten und feindseligsten Feinde der Werktätigen unseres Landes - die Spione, Provokateure, Diversanten, Weißgardisten, Kulaken etc. - einschließen, da nun alle Grenzen zwischen diesen Elementen auf der einen Seite und den Trotzkisten und Sinowjewisten auf der anderen Seite, weggeräumt sind, sollten alle Parteiorganisationen, alle Parteimitglieder verstehen, daß kommunistische Wachsamkeit in jedem Bereich und in jeder Situation nötig ist. Die unbedingte Qualität eines Bolschewisten in den gegenwärtigen Bedingungen sollte die Fähigkeit sein, einen Parteifeind, wie gut er sich auch zu maskieren versteht, zu entlatven."
()
Die folgenden Protokollausschnitte aus der Sitzung des Koselsker Regionalparteikomitees (Verwaltungsbezirk Smolensk), wo der oben genannte Brief besprochen wird, zeichnen die Denunziationen nach, die Entlarvungsriten:
- Diverse Leute aus Kooperativen, Schulen etc. werden der Unvorsichtigkeit gegenüber Trotzkisten bezichtigt.
- Ein Sprecher verbindet den Ruf nach mehr Wachsamkeit mit dem Hinweis
- auf Unterschlagungen,
- finanzielle Unregelmäßigkeiten in der Konsumvereinigung und
- beim Eisenbahnbau.
Ein weiterer Sprecher:
"In unserem Rayon gibt es viele Leute, die aus vielen anderen Rayons kommen. Sie kommen her, weil unsere bolschewistische Wachsamkeit nicht auf ausreichend hohem Niveau ist. Die Aufgabe unserer Organisation ist es, in jeder Weise bolschewistische Wachsamkeit zu entwickeln und zu steigern, entschlossen und kühn Leute zu entlarven, die in der Vergangenheit etwas mit dem Trotzkismus zu tun hatten. Es ist nicht wichtig, ob diese Verbindung direkt oder indirekt war. Da gibt es Natochin ... Er sagt selbst, er sei im Besitz der Plattform der Trotzkisten."
Dann spricht Kutasow:
"Ich liebe das Zentalkomitee, ich liebe den Genossen Stalin, aber ich denke, daß das Zentralkomitee und der Genosse Stalin bis jetzt eine versöhnlerische Haltung gegenüber der trotzkistisch-sinowjewistischen Gruppen eingenommen haben. Es ist jetzt notwendig, sie - die Trotzkisten und Sinowjewisten - gänzlich zu erledigen.... Wir sollten ihnen kein Pardon geben."
Nach den obligaten Verdächtigungen gegenüber verschiedenen Personen wendet sich der folgende Redner, der 2. Sekretär des Regionalkomitees, seinem Vorredner Kutasow mit den Worten zu:
"Kutasowss Rede muß als politisch nicht loyal und sogar schädlich betrachtet werden. Kutasows Vorwurf, das Zentralkomitee und der Genosse Stalin seien versöhnlerisch, ist unrichtig ..."
Kutasow übt sofort Selbstkritik:
"Meine Stellungnahme war unrichtig und schädlich. Ich erteile mir selbst einen Verweis."
Zum Schluß erklärt der 1. Sekretär, Demenok:
"Der Brief des Zentralkomitees gibt uns wieder Freude an den Höhen unseres Daseins dank der Wachsamkeit und des Scharfsinns des Genossen Stalin. ... die Möglichkeit unheilvoller Konsequenzen ist abgewendet. Das Leben ist besser geworden, Genossen, das Leben ist glücklicher geworden. Diese richtigen Worte des Genossen Stalin, des Führers der Partei, passen völlig zu unserem Rayon. Wir wissen um viele Unzulänglichkeiten in unserer Arbeit. Gleichzeitig werden wir entschlossen und gründlich einen Kampf um ihre Beseitigung führen. ... Wir werden die letzten trotzkistisch-sinowjewistischen konterrevolutionären Überbleibsel entschlossen entlarven und vorwärts zu neuen Siegen schreiten, wir werden die werktätigen Massen des Rayon zu einem besseren ... reicheren und kultivierten Leben führen. Lang lebe unser geliebter Führer, der Genosse Stalin."
()
4. Die Säuberungen - ´Moskauer Prozesse´
Am 19.8.1936, auf dem Höhepunkt der Verfassungsdiskussion, beginnt der (
erste) große öffentliche Prozeß gegen Sinowjew, Kamenew und 14 andere.
- Sie werden beschuldigt, unter Anleitung Trotzkis das "Vereinigte trotzkistisch- sinowjewistische Zentrum" gebildet zu haben
-
"und in dieser Zeit eine Reihe terroristischer Gruppen organisiert und eine Reihe praktischer Maßnahmen zur Ermordung" Stalins und anderer Führer der Partei vorbereitet zu haben.
- Desweiteren wird ihnen vorgeworfen, daß "von einer dieser terroristischen Gruppen, die auf direkte Anweisung ... (der Angeklagten) gehandelt haben, am 1. Dezember 1934 der niederträchtige Mord an dem Genossen S. M. Kirow verübt wurde."
Die vom Generalstaatsanwalt konstruierte politische Zusammensetzung der Anklagebank verschmilzt die sich in den 20er Jahren bekämpfenden Strömungen
- um Sinowjew, Kamenenew und
-
"linke" trotzkistische Oppositionelle
zu einer einheitlichen Oppositionsgruppe.
Im Verlaufe des viertägigen Prozesses werden auch noch die Namen
- der "Rechten", Bucharin, Rykow und Tomski,
- als auch weitere frühere "Linke" wie Preobrashenski ins Spiel gebracht.
Am Ende des Prozesses, bei dem keinerlei konkrete Beweise für die zur Last gelegten Anschuldigungen vorgelegt werden, bezichtigen sich alle Angeklagten der Schuld und Sinowjew erklärt:
"Mein mangelhafter Bolschewismus verwandelte sich in Antibolschewismus, und über den Trotzkismus gelangte ich zum Faschismus, Trotzkismus ist eine Abart des Faschismus, und Sinowjewismus ist eine Abart des Trotzkismus ..."
()
Gerade die Kombination der Geständnisse der Angeklagten
- mit ihrer politischen Geschichte als Oppositionelle,
- die mehrmals abschwörten,
- und wieder in die Partei aufgenommen wurden,
schafft im Lande eine Stimmung, welche die Anschuldigungen zwar für überzogen hält, aber im Verhalten der Oppositionellen begründet sieht.
- Während des Prozesses gehen immer wieder Resolutionen aus Betrieben und Organisationen ein, in denen der Kopf der Angeklagten gefordert wird.
- Auch ehemalige Oppositionelle wie Pjatakow und Radek beteiligen sich an dieser Kampagne.
Am 22. August werden alle Angeklagten für schuldig befunden und hingerichtet.
-
Die Vorbereitung auf diesen Prozeß durch den NKWD dauert drei Monate.
- Erst die Anwendung folterähnlicher Verhörmethoden bricht den Widerstand.
- Zu diesen Methoden gehören
- stundenlange Verhöre (im Fall des Angeklagten Mratschkowski bis zu 90 Stunden ohne Schlaf),
- überhitzte Zellen,
- sogenannte "Konfrontationen" mit vom NKWD präparierten "Zeugen", bei denen diese die Angeklagten beschuldigen.
- Ein weiteres Element des Drucks gegenüber den Angeklagten ist die Androhung von Verhaftung der Familienangehörigen nach dem Erlaß vom 7. April 1935, der die volle Strafmündigkeit auf Kinder bis zu 12 Jahren ausdehnte.
- Familienangehörige von "Terroristen" drohte bei Nicht-Denunziation die Todestrafe.
Leo Sedow, der Sohn Trotzkis kommt in seiner Untersuchung
"Über den Moskauer Prozeß 1936" zu dem Schluß, daß
- eine viel größere Anzahl Oppositioneller für den öffentlichen Prozeß präpariert werden sollte,
- aber nur die letztendlich vorgeführt wurden, die bereit waren die Rolle eines reuigen Angeklagten zu übernehmen.
"Die Akten der Angeklagten tragen jede eine Nummer. (Diese Nummern wurden bei den Zitaten aus den Aussagen in Klammern angegeben). ... Auf 19 Personen fallen 38 Nummern. Auf wen beziehen sich die übrigen achtzehn? ... Es erscheint uns sehr wahrscheinlich, daß diese fehlenden Angeklagten zu denen gehören, die Stalin nicht zu brechen vermochte und darum wahrscheinlich ohne Verfahren erschossen hat."
()
- Sinowjew und Kamenew sollen im Juli erklärt haben, sich einem Prozeß zu stellen.
- Dies aber unter der Bedingung, daß Stalin in Gegenwart des gesamten Politbüros das Versprechen gebe, weder sie selbst noch ihre Anhänger hinzurichten.
- Dieses sei ihnen gegeben worden.
- Allerdings seien auf der Politbüro-Sitzung, zu der sie gefahren worden seien, nur Stalin, Woroshilow und Jeshow anwesend gewesen.
- Mit diesem Versprechen hätten sie auf die noch standhaften Angeklagten eingewirkt, auch Schuldgeständnisse abzulegen.
- In der Folge des Prozesses werden durch NKWD-Einheiten eine große Zahl Oppositioneller in den Lagern erschossen.
- Die Appelle der Führung an die Massen, ihre Unzufriedenheit zu artikulieren, zu denunzieren und Feinde und Saboteure zu entlarven, bilden ein populistisches Element, mit dessen Hilfe das Volk über den Terror mit der Macht vereinigt wird.
- Das ganze System der Massenversammlungen und öffentlichen Denunziationen lenkt die Wut und die Unzufriedenheit der Massen, die Verzweiflung über Arbeits- und Lebensbedingungen auf handgreiflich erfahrbare Sündenböcke:
- Parteichefs, die sich wie kleine Despoten benehmen,
- Industrieleitungen,
- Spezialisten,
- Vorarbeiter,
- Meister,
- Techniker,
- Ingenieure und
- Verwaltungskader, die durch Druck, sichtbaren Machtmißbrauch, Antreiberei, öffentliche Zurschaustellung von Privilegien zum Gegenstand des "öffentlichen Ärgernisses" werden.
- Ab Sommer 1936 verstärkt sich der Druck auf diese Funktionsträger.
- Dabei werden auch die ZK-Mitglieder Pjatakow (Stellvertretender Volkskommissar für Schwerindustrie) und Sokolnikow (Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR und 1926 Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Planungskommission) verhaftet.
- Der in der Öffentlichkeit bekannte Propagandist und Agitator Radek, ehemals "Linker", der nicht nur abschwor sondern offen auf die Seite der ZK-Mehrheit überschwenkte, wird ebenfalls verhaftet.
Der
zweite Schauprozeß wird vorbreitet.
Am 29.11. 1936 ordnet der Generalstaatsanwalt Wyshinsky an,
"daß innerhalb eines Monats alle kriminellen Fälle von größerer Brandstiftung, Unfällen, und Produktion minderwertiger Güter überprüft und untersucht werden sollen, damit die ihnen zugrunde liegenden konterrevolutionären und Sabotagezusammenhänge darin aufgedeckt und die Schuldigen zu schweren Strafen verurteilt ... werden können."
()
- In diese Zeit fällt die Ablösung des NKWD-Chefs Jagoda durch den Vorsitzenden der Parteisäuberungskommission Jeshow.
- Jagoda wurde das politische Vertrauen entzogen.
- Er habe "sich als unfähig erwiesen, den Block der Trotzkisten und Sinowjewisten zu entlatven", begründete Stalin in einem Telegramm vom 25. September die Ablösung.
- R. Conquest vermutet, daß Jagoda für die bevorstehende Ausweitung des Terrors nicht genug "Festigkeit" aufgewiesen, als auch bei der Vorbereitung des ersten Prozesses zu viele Fehler gemacht habe.
- Im dritten großen Schauprozeß findet sich Jagoda auf der Anklagebank wieder.
Die Anklage gegen Pjatakow und weitere 16 ehemalige Trotzkisten, die aber alle schon abgeschworen hatten, und wieder Funktionsträger im Staat geworden sind,
- wirft ihnen neben der Bildung eines "terroristischen Parallelzentrums" nicht nur die beabsichtigte Ermordung der Führung vor.
- Im Auftrag Trotzkis sollen sie "Sabotage, Diversion, Spionage" zugunsten "fremdländischer Aggressoren" (gemeint sind Japan und Deutschland) betrieben haben
- mit dem Ziel der "Wiederherstellung des Kapitalismus und der Macht der Bourgeoisie in der Sowjetunion".
- Dabei sollen sie auch Gebietsabtretungen an diese Staaten zugesichert haben.
Hier verbinden sich alte Elemente der Schädlingskampagne und des Schachty-Prozesses von 1929 (Präsentation von Schuldigen für die Mißstände in den Betrieben) mit der Weiterentwicklung der im ersten Prozeß angewendeten Verknüpfung
"Trotzkismus ist eine Abart des Faschismus".
Am 23. Januar 1937 beginnt der Prozeß.
- Wieder gibt es keine Beweise, sondern nur Geständnisse der Angeklagten.
- Radek macht auf diesen Schwachpunkt aufmerksam, als er vom Generalstaatsanwalt Wyshinsky vorgehalten bekommt, daß er sich drei Monate geweigert habe, zu gestehen.
- Ob dies nicht ein schlechtes Licht auf ihn werfe.
Darauf Radek:
"Ja, wenn sie die Tatsache außer acht lassen, daß Sie von dem Programm und von Trotzkis Anweisungen lediglich durch mich Kenntnis erlangt haben, dann wirft das natürlich ein zweifelhaftes Licht auf das, was ich gesagt habe."
()
- Im Verlaufe des Prozesses werden Bucharin und Rykow denunziert.
- Ebenso werden die Militärführer Tuchatschweski und Putna ins Spiel gebracht.
- Die endgültige, physische Ausschaltung der ehemals "Rechten" Oppositionellen kündigt sich an.
Am 30. Januar 1937 werden bis auf 4 Angeklagte, die Lagerhaft erhalten und dort später umkommen, alle anderen 12 zum Tode verurteilt. Am selben Tag versammeln sich über 200.000 Menschen auf dem Roten Platz in Moskau und fordern die sofortige Vollstreckung der Todesurteile.
- 14 Tage später ist der Vorgesetzte Pjatakows, Stalins alter Kampfgefährte Ordshonikidse tot.
- Offiziell stirbt er an einem Herzanfall.
- Chrushtshow erklärt in seiner Geheimrede von 1956, Ordshonikidse habe Selbstmord begangen.
- Mit Ordshonikidse stirbt eines der ZK-Mitglieder, von dem R. Conquest behauptet, er habe sich gegen eine Verschärfung der Säuberungen ausgesprochen.
Auf der Plenarsitzung Februar-März 1937 setzt die Stalin-Gruppe durch, daß Bucharin und Rykow aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet werden. Beide werden auf der Sitzung festgenommen.
Auf dieser Plenarsitzung hält Stalin
- am 3. März seinen Politischen Bericht (siehe Dokumentation) und
- am 5. März das Schlußwort (s. Dokument).
- Ziel der Säuberungen sei die Erneuerung der Kader in jedem Bereich.
- Jeder Parteiführer - "von den Zellensekretären bis zu den Sekretären von Provinzen und Parteiorganisationen in den Republiken" - habe in "jedem Fall" zwei Leute auszuwählen, die in der Lage seien, sie wirklich zu ersetzen.
- Der Klassenkampf verschärfe sich, je stärker der Sozialismus sei.
- Der Klassenfeind habe sich hinter der Maske des servilen Parteiarbeiters versteckt, um besser Sabotage und Diversion betreiben zu können.
- Den Parteikadern mangele es an Wachsamkeit, was dem Klassenfeind diene.
- Mit dieser Rede wird der nun folgende Massenterror eingeleitet.
- Als ersten Schritt zur Durchführung des Massenterrors läßt der neue NKWD-Chef Jeschow ab 18. März alle Jagoda-Kader verhaften.
- Im Jahr 1937 sollen insgesamt 3.000 NKWD-Offiziere hingerichtet worden sein.
- Parallel dazu führt Wyshinsky eine Massensäuberung in den Organen der Staatsanwaltschaft durch.
- Neunzig Prozent werden entfernt und viele verhaftet.
- Der Stellvertretende Volkskommissar für Justiz, der führende Rechtstheoretiker der Sowjetunion J. Pasukanis, wird im Januar 1937 kritisiert und im April mit Bucharin in Verbindung gebracht.
- Im April 1937 beginnen die ersten Verhaftungswellen in Verbindung mit Massenkampagnen gegen Parteikader auf Bezirksebene, vor allem in Leningrad.
- Auf Massenversammlungen wird der Parteiausschluß von Parteikadern gefordert, denen es an Wachsamkeit gegenüber den "trotzkistischen Volksfeinden" fehlt.
- Es folgt der Ausschluß der Vorgesetzten, denen wiederum mangelnde Wachsamkeit gegenüber den untergebenen Kadern vorgeworfen wird, die "Volksfeinde" geschützt und/oder gefördert zu haben.
- Von unten nach oben wird gerade in den Provinzen, wo die leitenden Parteikader auf eigene Hausmachten zurückgreifen können, die Säuberungen durchgezogen.
- Für diese Aufgabe reisen die zuverlässigsten ZK-Mitglieder der Stalin-Gruppe durch das ganze Land.
- Dem Ausschluß aus der Partei folgt umgehend die Verhaftung durch die Truppen des NKWD.
- Lager oder gar Hinrichtung durch das "Sonderkollegium" des NKWD sind die Regel.
- Die Prämisse Stalins, "zwei neue Parteiarbeiter ersetzen einen alten" wird kräftig überschritten.
- Selbst die "Nachrücker" werden wiederum denunziert, verhaftet, liquidiert.
- Die ganze Aktion zielt im wesentlichen darauf ab, die Kadergeneration, die als neue Sowjetintelligenz ab 1928 in leitende Positionen von Wirtschaft und Politik und Verwaltung aufgerückt ist, vollständig auszuwechseln.
Stalin fordert in seiner Rede vom März 1937 die Parteimitglieder auf,
- die Funktionäre und Kader in den Staatsapparaten zu kontrollieren,
- von Kritik und Selbstkritik,
- ja sogar von geheimer Stimmabgabe bei Wahlen Gebrauch zu machen.
Bereits am 17.4. 1937 sieht sich die PRAWDA gezwungen, die losgelassenen Geister wieder einzufangen:
- sie warnt eindringlich vor Feinden des Bolschewismus, die geheime Wahlen fordern, um sich in die Partei einzuschleichen;
- die leitenden Funktionäre werden aufgefordert, Kritik zu lenken und unkorrekte Vorschläge zurückzuweisen.
- Bereits einige Monate später erlöschen diese Appelle an die Massen, die Säuberungen und Entlarvungen werden nun nur noch vom NKWD und den leitenden Kadern der Stalin-Gruppe unternommen.
- Shdanow wechselt das gesamte Funktionärskorps der Leningrader Parteiorganisation bis zum Frühjahr 1938 aus;
- die ukrainische Partei wird durch Chruschtshow zerschlagen, die Führung ausgerottet.
- Von 102 ZK-Mitgliedern überleben nur drei.
- Neben den üblichen Vorwürfen wie Trotzkismus werden auch nationalistische Abweichungen ins Feld geführt.
Im Juni 1937 schwappt die Verhaftungs- und Liquidierungswelle auch in die militärischen Apparate.
- Die Generäle Tuchatschewski, Jakir und eine Reihe anderer hoher Militärs und tausende von Offizieren fallen dem Terror zum Opfer.
- Bis auf einen werden alle Kommandeure der Luftwaffe und der Marine, 90% der Generale und 80% der Obersten sowie ca. 30.000 Personen unter dem Rang eines Obersten eliminiert.
In den Jahren 1937/38 soll - so S. T. Serdjuk in seiner Rede vor dem 22. Parteikongreß (nach einem Bericht der PRAWDA vom 31. 10. 1961) - NKWD-Chef Jeschow an Stalin 383 Listen gesandt haben mit Persönlichkeiten, die so bedeutend seien, daß sie seiner Zustimmung zur Hinrichtung bedürfen. Die Listen seien so vorgelegt worden:
"Genosse Stalin.
Ich lege Ihnen zu Genehmigung vier Listen von Leuten vor, die zum Prozeß vor das Militärkollegium gestellt werden sollen.
Liste 1: (allgemein)
Liste 2: (frühere Angehörige der Roten Armee)
Liste 3: (früheres Personal des NKWD)
Liste 4: (Ehefrauen von Feinden des Volkes)
Ich erbitte Genehmigung, alle im ersten Grad verurteilen zu lassen.
Jeschow."
()
Verurteilung im
"ersten Grad" bedeutet Tod durch Erschießen.
Den Höhepunkt stellt nach über einjähriger Vorbereitung der im März 1938 beginnende
dritte große Prozeß gegen den
"Block der Rechten und Trotzkisten" dar.
- Bucharin und weitere 20 Angeklagte werden der irrwitzigsten Verbrechen beschuldigt.
- Sie sollen neben den schon in den beiden ersten Prozessen erhobenen Anschuldigungen die Zerstückelung des Territoriums zugunsten der faschistischen Mächte Japan und Deutschland betrieben haben.
- Jagoda wird pikanterweise für die Ermordung Kirows mitschuldig gemacht.
18 der 21 Angeklagten werden zum Tode verurteilt und erschossen. (Zu den Prozessen siehe Dokumentation)
Anfang 1938 ist das Land paralysiert.
- Die rasende Kaderrotation beseitigt jede Initiative infolge der Angst, mit jeder falschen, oder heute richtigen, aber morgen bereits wieder falschen Aktivität in den Strudel der Verdächtigungen zu geraten.
-
Der Massenterror beschränkt sich aber nicht nur auf Parteimitglieder.
Alexander Weissberg-Cybulski - österreichischer Kommunist, der 1931 in die Sowjetunion geht und als Chemiker dort arbeitet, dann 1937 verhaftet wird und 1939 an die deutschen Faschisten ausgeliefert werden soll - macht in seinem autobiographischen Bericht über seine Haftzeit beim NKWD den Versuch einer Übersicht. Aufgrund seiner Kenntnisse kommt er zum Schluß, daß folgende Gruppen der Bevölkerung außerhalb der Partei vernichtet werden sollten:
"Alle früheren Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Bundisten und andere Anhänger der vorrevolutionären linken Parteien.
Die Leute, die das Ausland kennen und die Vorkriegszeit, die Verwandte und Freunde im Ausland haben und mit ihnen korrespondieren.
Die heimgekehrten Emigranten und Leute, die irgendwann einmal ins Ausland kommandiert waren.
Die ausländischen Kommunisten.
Die Angehörigen des militärischen Geheimdienstes im Ausland und die Auslandsagenten der GPU.
Die Angehörigen der nationalen Minderheiten.
Die religiösen Sekten.
Alle irgendwann aus der Partei Ausgeschlossenen.
Alle Leute, denen die Sowjetmacht irgendwann unrecht getan hat.
Die Familienangehörigen bedeutender Oppositioneller."
()
Das Januar-Plenum des Zentralkommitees 1938 läutet einen Rückzug ein.
- Eine entsprechende Resolution beschäftigt sich mit den Irrtümern der Säuberungen, fordert eine Korrektur.
- Diese Korrektur betrifft vor allem die Repressionsorgane selbst.
Ab Sommer 1938 läßt der Massenterror nach.
- Am 8. Dezember 1938 wird N. Jeshow als NKWD-Chef durch den Georgischen NKWD-Chef L. Berija abgelöst.
- Dieser Wechsel ist taktischer Natur.
- Die Exzesse der Sicherheitsorgane werden Feinden des Sowjetstaates in die Schuhe geschoben, bzw. Jeshow.
- Jeschow wird der Alleinschuldige.
- So entsteht in der Öffentlichkeit bald der Begriff der "Jeshowtschina" für die Zeit des Massenterrors.
- Berija wechselt die Jeshow-Kader im NKWD aus und strafft den Repressionsapparat.
- Viele Häftlinge, deren Verfahren nur Mühe macht, werden freigelassen.
- Gerichtsprozesse gegen NKWD-Untersuchungsrichter, die Geständnisse erpreßt haben, werden durchgeführt.
- Aus einem permanenten Ausnahmezustand, den der NKWD in der Öffentlichkeit prägt, überführt Berija den Repressionsapparat in "geregelte" Bahnen zurück: In ein Instrument der Herrschaftssicherung.
Die Partei scheint frei von Schuld, da auch sie Opfer zu bringen hatte, und Stalin ist weiterhin der unumstrittene Führer.
5. Verlauf und Ausmaß der Säuberungen
Langsam tritt eine Beruhigung ein. Der gewaltige Kahlschlag hat eine fast vollständige Kaderrotation zur Folge:
- 110 von 139 Mitgliedern des auf dem XVII. Parteitag (1934) gewählten ZK sind bis zum XVIII. Parteitag (1939) entweder verhaftet oder erschossen.
-
von 1.966 Delegierten des XVII. Parteitages sind 1.108 verhaftet oder erschossen. Nur 3% werden zum XVIII. Parteitag wieder als Delegierte nominiert.
-
80,6% der Sekretäre vom Gebietskomitee aufwärts zum Republik-ZK sind erst nach 1929 in die Partei eingetreten.
- Zwischen 1936 und 1939 beläuft sich die Gesamtzahl der Parteiausschlüsse auf 850.000. Das ist ein Drittel der Mitglieder von 1935.
Kaganowitsch zieht auf dem 18. Parteitag 1939 folgendes Fazit der Säuberungen in der ihm unterstellten Schwerindustrie:
"Zwischen 1936 und 1939 wurde das leitende Personal der Schwerindustrie völlig erneuert und neue Männer wurden auf den Platz der damaligen Saboteure ernannt. Tausende von neuen Männern wurden auf leitende Posten nominiert. ... Übrigens haben wir Kader, die jede Aufgabe erfüllen, die der Genosse Stalin ihnen zuweist."
()
Die Säuberungen
- töten jedes nicht verordnete politische Leben im Land,
- jede auch nur verhaltene Kritik ab,
- sie zerstören formelle und informelle Bindungen in den Apparaten, die ihre eigenen Interessen, ihre "Politik" dem Zugriff und den Direktiven der Zentrale entziehen wollen.
Sie machen den Weg frei für eine Kadergeneration mit neuem Habitus, deren Bindungen nichts mehr zu tun haben
- mit der Oktoberrevolution,
- dem Bürgerkrieg oder
- mit den Auseinandersetzungen um alternative Konzepte des sozialistischen Aufbaus der zwanziger Jahre.
An die Stelle dieser Bindungen und an die Stelle organisatorischer Zusammenhänge in der Bevölkerung (Gewerkschaften, Vereine, das Parteileben etc.)
- tritt eine tendenzielle Atomisierung der Gesellschaft,
- es entfaltet sich ein Führerkult um Stalin,
- die oberste politische und ideologische Instanz in der Partei,
- deren Prinzip die Scheinharmonie der absoluten Geschlossenheit ihrer Reihen und das Nichtaustragen von Widersprüchen ist.
Angesichts der Vollmachten der Sicherheitsorgane,
- die das entscheidende Korrektiv für die reibungslose Durchsetzung der Beschlüsse des Zentrums sind,
- wird die führende Rolle der Partei selbst imaginär.
Die führende Parteigruppe bestimmt um so mehr autokratisch die Politik
- als die minimalen Reste innerparteilicher Demokratie und Diskussion verschwinden und
- die Parteigremien zu Akklamationsorganen und reinen Verwaltungsinstanzen verkommen,
und die Parteigremien treten immer seltener zusammen:
-
1917 - 1923 (6 Jahre): 6 Parteitage, 5 Parteikonferenzen und 79 ZKPlenen.
-
1924 - 1934 (10 Jahre): 4 Parteitage, 5 Parteikonferenzen und 43 ZKPlenen.
-
1934 - 1953 (19 Jahre): 4 Parteitage, 1 Parteikonferenz und 23 ZK-Plenen.
(Hier ist allerdings zu berücksichtigen, daß durch den faschistischen Überfall 1941 und den gesamten Zweiten Weltkrieg mit seinen Nachkriegsfolgen auch das Parteileben extrem durcheinander gerät.)
Auch die soziale Zusammensetzung der Partei verändert sich grundlegend.
Der 18. Parteitag 1939 veröffentlicht keine Zahlen darüber, doch zeigen Zahlen über die soziale Zusammensetzung in den Parteien zweier Republiken einen Anteil der Intelligenz und Büroarbeiter von 42,8 und 44,5%. 1929 betrug sie 17%.
Andere Schätzungen nennen ähnliche Zahlen.
Tabelle: Soziale Zusammensetzung der Partei durch Neuzugänge: (in %)
Funktion | 1929 | 11/36 - 3/39 |
Arbeiter | 81,2 | 41 |
Bauern | 17,2 | 15,2 |
Intelligenz, Funktionäre, Angestellte | 1,7 | 43,8 |
- Die Neuzusammensetzung der Parteimitgliedschaft ist begleitet von der Formierung der stalinistischen Ideologie, die aus Bestandteilen der bolschewistischen Ideologie hervorgeht, nicht aber mit dieser identisch ist.
-
Ein wesentliches Kennzeichen der stalinistischen Ideologie ist der Staatsfetischismus.
- Gerade im Prozeß der "Revolution von oben" werden politische und ökonomische Veränderungen nicht mehr als Massenpolitik, sondern als Staatspolitik begriffen:
- Der Staat spielt quasi die Rolle eines Subjektes der Geschichte.
- Der Staat wälzt die Produktionsverhältnisse um, die in Gestalt des Staatseigentums an den Produktionsmitteln in der Industrie und der Landwirtschaft (die Sowchosen) das Niveau des sozialistischen Aufbaus, das Verschwinden des Kapitalismus, der Ausbeutung und des Klassenkampfes zur Folge haben.
In einem Aufsatz zur Verfassung 1935 zitiert der Historiker Mitin Stalin zur Frage des Staates:
"Wir sind für das Absterben des Staates. Wir sind gleichzeitig für die Verstärkung der Diktatur des Proletariats, die die stärkste und mächtigste Staatsgewalt ist, die je bestanden hat. Höchste Entwicklung der Staatsmacht zur Vorbereitung der Bedingungen für das Absterben der Staatsmacht - so lautet die marxistische Formel. Ist das widerspruchsvoll? Jawohl, es ist widerspruchsvoll. Dieser Widerspruch ist aber im Leben begründet und spiegelt die Marxsche Dialektik."
Mitin grenzt diese Postulate scharf ab von den schädlichen Thesen,
- die Diktatur des Proletariats sei ein fortlaufender realer Prozeß des Absterbens des Staates (was so aus Lenins "Staat und Revolution" entnommen werden könnte).
- Im Gegenteil: Der Staat der Diktatur des Proletariats stirbt erst nach der Erfüllung seiner Aufgaben ab: "Er stellt sich die Aufgabe, die Überreste des Kapitalismus zu liquidieren..."
- Diese und Stalins Ausführungen zum Verfassungsentwurf (s. a. Dokumentation) sind darauf abgestellt, die harmonistische Ideologie der Klassenversöhnung, der Abschaffung des Klassenkampfes und der Ausbeutung, der vollendeten Demokratie in der UdSSR (weil Arbeiter und Bauern und die Intelligenz ihre Interessen nahtlos in der Partei repräsentiert sehen) mit den Tatsachen der täglichen brutalen Repression und der Durchmilitarisierung des Alltags in Einklang zu bringen.
-
In dieser Ideologie haben innergesellschaftliche Widersprüche keinen Platz. Opposition, gegen die Sowjetmacht gerichtetes Verhalten, wird der Schädlings- und Sabotagetätigkeit des Auslandes und seiner trotzkistischen etc. Agenten angelastet, oder Kritik und Opposition entspringen den verzweifelten Rückzugsgefechten der Reste der entmachteten ausbeutenden Klassen.
-
Auf dem Hintergrund dieser ideologischen Disposition nicht nur der führenden Parteigruppe, sondern auch von Millionen Kommunisten in aller Welt, die an die Rechtmäßigkeit der Prozesse und an den wahren Kern der Anschuldigungen geglaubt haben, ist es logisch, daß der Terror und die Beseitigung illoyaler oder illegal scheinender Personen als durchaus rationales Mittel zur Beseitigung von Mißständen, Chaos, Mißachtung der Direktiven der Führung erscheint.
-
Die "persönliche Schuld" des verantwortlichen Individuums steht zur Debatte. Dem Betrachter (sofern er sich auf einem anderen ideologischen Terrain bewegt als die führende Parteigruppe) erscheinen die Ausmaße der Säuberungen wie ein irrationaler Orkan, als Suche nach Sündenböcken oder als subjektive Machterhaltungsstrategien Stalins.
Im Juni 1989, Sk. und bj.
Anmerkungen:
Robert Conquest, Am Anfang starb Genosse Kirow, Düsseldorf 1979. S. 49
C. Bettelheim, Les luttes de classes, 111,2, S. 116 ff
L. Schapiro, a.a.O., S. 420; C. Bettelheim, a.a.O., S. 120ff
Merle Fainsod, Smolensk under Stalins rule, London 1958, S. 56
zit.n.: C. Bettelheim, a.a.O., Teil 1, S. 273
M. Fainsod, a.a.0., S. 223, 224
C. Bettelheim, a.a.O., Teil 2, S. 133
L Schapiro, a.a.O., S. 426
H. Altrichter (Hrsg.), Die Sowjetunion, Band 1, München 1986, S. 260
C. Bettelheim, a.a.O., Teil 2, S. 135
M. Fainsod, a.a.O., S. 233
Texte zur Stalinfrage, S. 53, Reents-Verlag 1979 nach: Theo Pirker, Die Moskauer Schauprozesse 1936 - 38, dtv München 1963
R. Conquest, S. 146, nach Protokoll des Gerichtsverfahrens gegen das trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum, engl. Ausgabe 1936, Deutsche Auszüge, Theo Pirker, dtv München 1963
R. Conquest, a.a.0., S. 210
Lee Sedow, Rotbuch über den Moskauer Prozeß 1936, S. 44, 45, Reprint bei ISP-Verlag 1988
R. Conquest, S. 126, nach Alexander Orlov, The Secret History of Stalins Crime, London 1954
ebenda, S. 135, nach Th. Pirker
ebenda, S. 225, nach Prawda v. 31.1.1937
Alexander Weissberg-Cybulski, Hexensabbat, S. 348, Verlag d. Frankfurter Hefte, 1951
L. Shapiro, a.a.O., S. 456
R. Conquest, a.a.0, S. 54
C. Bettelheim, a.a.O., Teil 2, S. 149
L Shapiro, a.a.O., S. 463
C. Bettelheim, a.a.Q., Teil 2, S. 202
M. Mitin, Der proletarische Staat und die Änderungen in der Verfassung der UdSSR, in: Unter dem Banner des Marxismus, IX. Jahrgang, Heft 1, 1935, S. 12
55. Dokument 38: Stalin: Über den Entwurf der Verfassung der UdSSR - Bericht Auß. 8. Sowjetkon. UdSSR, 25.11.1936
[Bericht auf dem Außerordentlichen 8. Sowjetkongreß der UdSSR, am 25.11.1936; aus: Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 614 - 634]
(gekürzt)
II. Die Veränderungen im Leben der Sowjetunion in der Periode von 1924 bis 1936
Welches sind die Veränderungen im Leben der Sowjetunion, die in der Periode von 1924 bis 1936 erfolgt sind und die die Verfassungskommission in ihrem Verfassungsentwurf zum Ausdruck zu bringen hatte?
Worin besteht das Wesen dieser Veränderungen?
Was gab es bei uns im Jahre 1924?
Das war die erste Periode der NÖP, als die Sowjetmacht eine gewisse Belebung des Kapitalismus zuließ, wobei sie die Entwicklung des Sozialismus in jeder Weise förderte, als sie es sich zum Ziel setzte, im Verlauf des Wettkampfes der beiden Wirtschaftssysteme, des kapitalistischen und des sozialistischen, dem sozialistischen System das Übergewicht über das kapitalistische zu sichern. Die Aufgabe bestand darin, im Verlaufe dieses Wettkampfes die Positionen des Sozialismus zu stärken, die Liquidierung der kapitalistischen Elemente herbeizuführen und den Sieg des sozialistischen Systems als des grundlegenden Systems der Volkswirtschaft zu vollenden.
Unsere Industrie bot damals ein nicht gerade beneidenswertes Bild, besonders die Schwerindustrie. Zwar wurde sie allmählich wiederhergestellt, doch hatte sie ihre Produktion noch lange nicht auf das Vorkriegsniveau gebracht. Sie hatte eine alte, rückständige und dürftige Technik als Basis. Allerdings entwickelte sie sich in der Richtung zum Sozialismus. Der Anteil des sozialistischen Sektors an unserer Industrie betrug damals ungefähr 80 Prozent. Aber der Sektor des Kapitalismus umfaßte immerhin nicht weniger als 20 Prozent der Industrie.
Unsere Landwirtschaft bot ein noch weniger erfreuliches Bild. Allerdings war die Klasse der Gutsbesitzer bereits liquidiert, dafür aber stellte die Klasse der landwirtschaftlichen Kapitalisten, die Klasse der Kulaken, einen noch ziemlich bedeutenden Faktor dar. Im ganzen genommen erinnerte die Landwirtschaft damals an einen unermeßlichen Ozean kleiner bäuerlicher Einzelwirtschaften mit einer rückständigen mittelalterlichen Technik. In diesem Ozean gab es als einzelne Punkte und Inselchen Kollektiv- und Sowjetwirtschaften, die eigentlich noch keine einigermaßen ernste Bedeutung für unsere Volkswirtschaft hatten. Die Kollektiv- und Sowjetwirtschaften waren schwach, der Kulak aber war noch bei Kräften. Wir sprachen damals nicht von der Liquidierung des Kulakentums, sondern von seiner Einschränkung.
Dasselbe ist von dem Warenumsatz im Lande zu sagen. Der sozialistische Sektor im Warenumsatz machte an die 50 - 60 Prozent aus, nicht mehr, während das ganze übrige Feld von Kaufleuten, Spekulanten und sonstigen Privathändlern beherrscht wurde.
Das war das Bild unserer Ökonomik im Jahre 1924.
Was gibt es bei uns jetzt, im Jahre 1936?
Hatten wir damals die erste Periode der NÖP, den Beginn der NÖP, die Periode einer gewissen Belebung des Kapitalismus, so haben wir jetzt die letzte Periode der NÖP, das Ende der NÖP, die Periode der restlosen Liquidierung des Kapitalismus in allen Sphären der Volkswirtschaft.
Nehmen wir als erstes allein die Tatsache, daß unsere Industrie in dieser Periode zu einer gigantischen Kraft herangewachsen ist. Jetzt kann sie nicht mehr als schwach und technisch schlecht ausgerüstet gelten. Im Gegenteil, sie beruht jetzt auf einer neuen, reichen und modernen Technik mit einer stark entwickelten Schwerindustrie und einem noch entwickelteren Maschinenbau. Das Allerwichtigste jedoch ist, daß der Kapitalismus aus der Sphäre unserer Industrie gänzlich vertrieben und die sozialistische Prodtuktionsweise jetzt in unserer Industrie das unumschränkt herrschende System ist. Man kann die Tatsache nicht als Kleinigkeit betrachten, daß unsere heutige sozialistische Industrie hinsichtlich des Produktionsumfangs die Industrie der Vorkriegszeit um mehr als das Siebenfache übertrifft.
An Stelle des Ozeans kleiner bäuerlicher Einzelwirtschaften mit ihrer schwachen Technik und der Machtstellung des Kulaken haben wir jetzt in der Landwirtschaft eine maschinelle, technisch modern ausgerüstete Produktion der größten landwirtschaftlichen Betriebe der Welt, das allumfassende System der Kollektiv- und Sowjetwirtschaften. Es ist allbekannt, daß das Kulakentum in der Landwirtschaft liquidiert ist, während der Sektor der kleinen bäuerlichen Einzelwirtschaften mit seiner rückständigen mittelalterlichen Technik jetzt einen unbedeutenden Platz einnimmt, wobei sein Anteil an der Landwirtschaft hinsichtlich des Umfangs der Anbauflächen nicht mehr als 2 bis 3 Prozent ausmacht. Man kann nicht umhin, die Tatsache zu erwähnen, daß den Kollektivwirtschaften jetzt 316.000 Traktoren mit einer Leistungsfähigkeit von 5.700.000 Pferdestärken zur Verfügung stehen und daß sie zusammen mit den Sowjetwirtschaften über mehr als 400.000 Traktoren mit einer Leistungsfähigkeit von 7.580.000 Pferdestärken verfügen.
Was den Warenumsatz im Lande betrifft, so sind die Kaufleute und Spekulanten von diesem Gebiete gänzlich vertrieben. Der gesamte Warenumsatz ist jetzt in der Hand des Staates, der Genossenschaften und der Kollektivwirtschaften zusammengefaßt. Ein neuer Handel entstand und entfaltete sich, der Sowjethandel, der Handel ohne Spekulanten, der Handel ohne Kapitalisten.
Somit ist jetzt der volle Sieg des sozialistischen Systems in allen Sphären der Volkswirtschaft zur Tatsache geworden.
Was aber bedeutet das?
Das bedeutet, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben, beseitigt, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und -instrumenten sich aber als unerschütterliche Grundlage unserer Sowjetgesellschaft durchgesetzt hat.
(Anhaltender Beifall.)
Im Gefolge aller dieser Veränderungen in der Volkswirtschaft der Sowjetunion haben wir jetzt eine neue, eine sozialistische Ökonomik, die keine Krisen und keine Arbeitslosigkeit kennt, die kein Elend und keinen Ruin kennt und die den Staatsbürgern alle Möglichkeiten für ein wohlhabendes und kulturelles Leben gewährt.
Das sind im wesentlichen die Veränderungen, die in unserer Ökonomik in der Periode von 1924 bis 1936 vor sich gegangen sind.
Entsprechend diesen Veränderungen in der Ökonomik der Sowjetunion hat sich auch die Klassenstruktur unserer Gesellschaft verändert.
Die Klasse der Gutsbesitzer war bekanntlich schon mit der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges liquidiert worden. Was die anderen Ausbeuterklassen betrifft, so haben sie das Schicksal der Klasse der Gutsbesitzer geteilt. Verschwunden ist die Kapitalistenklasse in der Industrie. Verschwunden ist die Kulakenklasse in der Landwirtschaft. Verschwunden sind die Händler und Spekulanten auf dem Gebiete des Warenumsatzes. Alle Ausbeuterklassen sind somit liquidiert.
Geblieben ist die Arbeiterklasse.
Geblieben ist die Klasse der Bauern.
Geblieben ist die Intelligenz.
Es wäre aber verfehlt zu glauben, daß diese sozialen Gruppen während dieser Zeit keine Veränderungen durchgemacht hätten, daß sie dieselben geblieben seien, die sie, sagen wir, in der Periode des Kapitalismus waren.
Nehmen wir z. B. die Arbeiterklasse der Sowjetunion. Man nennt sie oft aus alter Gewohnheit Proletariat. Aber was ist das Proletariat? Das Proletariat ist eine Klasse, die der Produktionsmittel und -instrumente beraubt ist bei einem Wirtschaftssystem, in dem die Produktionsmittel und -instrumente den Kapitalisten gehören und die Kapitalistenklasse das Proletariat ausbeutet. Das Proletariat ist eine Klasse, die von den Kapitalisten ausgebeutet wird. Bei uns aber ist die Kapitalistenklasse bekanntlich schon liquidiert, die Produktionsmittel und -instrumente sind den Kapitalisten weggenommen und dem Staat übergeben worden, dessen führende Kraft die Arbeiterklasse ist. Also gibt es keine Kapitalistenklasse mehr, von der die Arbeiterklasse ausgebeutet werden könnte. Also ist unsere Arbeiterklasse der Produktionsmittel und -instrumente nicht nur nicht beraubt, sondern im Gegenteil, sie besitzt sie gemeinsam mit dem ganzen Volke. Da sie sie aber besitzt und die Kapitalistenklasse liquidiert ist, so ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, die Arbeiterklasse auszubeuten. Kann man danach unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es ist klar, daß man es nicht kann. Marx hat gesagt: um sich zu befreien, muß das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zerschmettern, den Kapitalisten die Produktionsmittel und -instrumente wegnehmen und jene Produktionsverhältnisse abschaffen, die das Proletariat erzeugen. Kann man sagen, daß die Arbeiterklasse der Sowjetunion diese Bedingungen ihrer Befreiung schon verwirklicht hat? Das kann man und muß man unbedingt sagen. Was bedeutet das aber? Das bedeutet, daß das Proletariat der Sowjetunion zu einer völlig neuen Klasse, zu der Arbeiterklasse der Sowjetunion geworden ist, die das kapitalistische Wirtschaftssystem abgeschafft, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und -instrumenten verankert hat und die Sowjetgesellschaft auf den Weg zum Kommunismus leitet.
Wie ihr seht, ist die Arbeiterklasse der Sowjetunion eine völlig neue, von Ausbeutung befreite Arbeiterklasse, derengleichen die Geschichte der Menschheit noch niemals gekannt hat.
Gehen wir zur Frage der Bauernschaft über. Gewöhnlich sagt man, daß die Bauernschaft eine Klasse von Kleinproduzenten ist, deren Angehörige atomisiert, über das ganze Land verstreut sind, sich einzeln in ihren Kleinwirtschaften mit deren rückständiger Technik abrackern, Sklaven des Privateigentums sind und von Gutsbesitzern, Kulaken, Händlern, Spekulanten, Wucherern u. dgl. ungestraft ausgebeutet werden. Und in der Tat, die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern ist, wenn man ihre Hauptmasse ins Auge faßt, gerade eine solche Klasse. Kann man sagen, daß unsere heutige Bauernschaft, die Sowjetbauernschaft, in ihrer Masse einer solchen Bauernschaft gleicht? Nein, das kann man nicht sagen. Eine solche Bauernschaft gibt es bei uns nicht mehr. Unsere Sowjetbauernschaft ist eine völlig neue Bauernschaft. Bei uns gibt es keine Gutsbesitzer und Kulaken, keine Händler und Wucherer mehr, die die Bauern ausbeuten könnten. Also ist unsere Bauernschaft eine von Ausbeutung befreite Bauernschaft. Weiter ist unsere Sowjetbauernschaft in ihrer erdrückenden Mehrheit eine Kollektivbauernschaft, d. h. sie gründet ihr Schaffen und ihr Vermögen nicht auf Einzelarbeit und aüf eine rückständige Technik, sondern auf kollektive Arbeit und auf eine moderne Technik. Schließlich liegt der Wirtschaft unserer Bauernschaft nicht das Privateigentum zugrunde, sondern das kollektive Eigentum, das sich auf der Basis der kollektiven Arbeit entwickelt hat.
Wie ihr seht, ist die Sowjetbauernschaft eine völlig neue Bauernschaft, derengleichen die Geschichte der Menschheit noch niemals gekannt hat.
Gehen wir schließlich zur Frage der Intelligenz über, zur Frage der Ingenieure und Techniker, der Mitarbeiter an der Kulturfront, der Angestellten überhaupt usw. Die Intelligenz hat in der vergangenen Periode ebenfalls große Veränderungen durchgemacht. Das ist schon nicht mehr jene alte, verknöcherte Intelligenz, die sich über die Klassen zu stellen suchte, tatsächlich aber in ihrer Masse den Gutsbesitzern und Kapitalisten diente. Unsere Sowjetintelligenz ist eine völlig neue Intelligenz, die mit allen Fasern mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft verbunden ist. Verändert hat sich erstens die Zusammensetzung der Intelligenz. Die Intellektuellen adliger und bürgerlicher Herkunft machen einen kleinen Prozentsatz unserer Sowjetintelligenz aus. 80 bis 90 Prozent der Sowjetintelligenz entstammen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und den anderen Schichten der Werktätigen. Geändert hat sich schließlich auch der Charakter der Tätigkeit der Intelligenz. Früher mußte sie den reichen Klassen dienen, denn sie hatte keinen anderen Ausweg. Jetzt muß sie dem Volke dienen, denn es gibt keine Ausbeuterklassen mehr. Und gerade deshalb ist sie jetzt gleichberechtigtes Mitglied der Sowjetgesellschaft, wo sie gemeinsam mit den Arbeitern und Bauern, an demselben Strange ziehend, die neue, die klassenlose, sozialistische Gesellschaft aufbaut.
Wie ihr seht, ist das eine völlig neue, eine werktätige Intelligenz, derengleichen ihr in keinem Lande der Welt findet.
Das sind die Veränderungen, die in der verflossenen Zeit in der Klassenstruktur der Sowjetgesellschaft vor sich gegangen sind.
Wovon zeugen diese Veränderungen?
Sie zeugen erstens davon, daß die Grenzlinien zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, ebenso wie diejenigen zwischen diesen Klassen und der Intelligenz sich verwischen, daß die alte Klassenabgeschlossenheit verschwindet. Das bedeutet, daß der Abstand zwischen diesen sozialen Gruppen sich immer mehr verringert.
Sie zeugen zweitens davon, daß die ökonomischen Gegensätze zwischen diesen sozialen Gruppen dahinschwinden, sich verwischen.
Sie zeugen schließlich davon, daß auch die politischen Gegensätze zwischen ihnen dahinschwinden und sich verwischen.
So steht es mit den Veränderungen in der Klassenstruktur der Sowjetunion.
III. Die grundlegenden Besonderheiten des Verfassungsentwurfs
Welche Widerspiegelung haben alle diese Veränderungen im Leben der Sowjetunion in dem Entwurf der neuen Verfassung gefunden?
Mit anderen Worten: welches sind die grundlegenden Besonderheiten des Verfassungsentwurfs, der dem gegenwärtigen Kongreß zur Prüfung vorgelegt wurde?
Die Verfassungskommission war beauftragt, Abänderungen am Verfassungstext vom Jahre 1924 vorzunehmen. Als Ergebnis der Arbeit der Verfassungskommission entstand der neue Verfassungstext, der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR. Bei der Ausarbeitung des Entwurfs der neuen Verfassung ging die Verfassungskommission davon aus, daß die Verfassung nicht mit einem Programm verwechselt werden darf. Das bedeutet, daß zwischen einem Programm und einer Verfassung ein wesentlicher Unterschied besteht. Während ein Programm von dem spricht, was noch nicht da ist und erst in der Zukunft erzielt und errungen werden soll, muß eine Verfassung im Gegenteil von dem sprechen, was bereits da ist, was jetzt, gegenwärtig, bereits erzielt und errungen ist. Ein Programm betrifft hauptsächlich das Künftige, eine Verfassung das Gegenwärtige.
Zwei Beispiele zur Illustration.
Unsere Sowjetgesellschaft hat erreicht, daß sie den Sozialismus im wesentlichen schon verwirklicht, die sozialistische Gesellschaftsordnung errichtet, d. h. daß sie das verwirklicht hat, was bei den Marxisten sonst die erste oder untere Phase des Kommunismus genannt wird. Also ist bei uns die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, im wesentlichen bereits verwirklicht. (Anhaltender Beifall.) Das Grundprinzip dieser Phase des Kommunismus ist bekanntlich die Formel: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung". Muß unsere Verfassung diese Tatsache, die Tatsache der Erringung des Sozialismus, zum Ausdruck bringen? Muß sie auf dieser Errungenschaft basieren? Unbedingt muß sie das. Sie muß das, weil der Sozialismus für die Sowjetunion das ist, was bereits erreicht und errungen ist.
Aber die Sowjetgesellschaft hat noch nicht die Verwirklichung der höheren Phase des Kommunismus erreicht, in der das herrschende Prinzip die Formel sein wird: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", obgleich sie es sich zum Ziele setzt, in der Zukunft die höhere Phase des Kommunismus zu verwirklichen. Kann unsere Verfassung auf der höheren Phase des Kommunismus basieren, die es noch nicht gibt und die erst errungen werden muß? Nein, das kann sie nicht, denn die höhere Phase des Kommunismus ist für die Sowjetunion das, was noch nicht verwirklicht ist und was in der Zukunft verwirklicht werden soll. Sie kann das nicht, wenn sie sich nicht in ein Programm oder in eine Deklaration über künftige Errungenschaften verwandeln will.
Das ist der Rahmen unserer Verfassung im gegebenen historischen Augenblick.
Somit stellt der Entwurf der neuen Verfassung das Fazit des zurückgelegten Weges dar, das Fazit bereits erzielter Errungenschaften. Er ist also die Registrierung und gesetzgeberische Verankerung dessen, was bereits in der Praxis erreicht und errungen ist.
(Stürmischer Beifall.)
Darin besteht die erste Besonderheit des Entwurfs der neuen Verfassung der UdSSR.
Weiter. Die Verfassungen bürgerlicher Länder gehen gewöhnlich von der Überzeugung aus, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung unerschütterlich sei. Die Hauptgrundlage dieser Verfassungen bilden die Prinzipien des Kapitalismus, seine Grundpfeiler: das Privateigentum an Grund und Boden, Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsmitteln und -instrumenten; die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und das Bestehen von Ausbeutern und Ausgebeuteten; Unsicherheit der Existenz der werktätigen Mehrheit auf dem einen Pol der Gesellschaft und Verschwendung der nichtwerktätigen, aber in ihrer Existenz gesicherten Minderheit auf dem andern Pol usw. usf. Sie stützen sich auf diese und ähnliche Grundpfeiler des Kapitalismus. Sie widerspiegeln sie, verankern sie auf gesetzgeberischem Wege.
Zum Unterschied von ihnen geht der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR von der Tatsache aus, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung beseitigt ist, von der Tatsache, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion gesiegt hat. Die Hauptgrundlage des Entwurfs der neuen Verfassung der UdSSR bilden die Prinzipien des Sozialismus, seine bereits errungenen und verwirklichten Grundpfeiler: das sozialistische Eigentum an Grund und Boden, Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsmitteln und -instrumenten; die Aufhebung der Ausbeutung und der Ausbeuterklassen; die Beseitigung des Elends der Mehrheit und der Verschwendung der Minderheit; die Beseitigung der Arbeitslosigkeit; die Arbeit als Obliegenheit und Ehrenpflicht jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers nach der Formel: "Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen". Das Recht auf Arbeit. d.h. das Recht jedes Staatsbürgers auf garantierte Beschäftigung; das Recht auf Erholung; das Recht auf Bildung usw. usf. Der Entwurf der neuen Verfassung stützt sich auf diese und ähnliche Grundpfeiler des Sozialismus. Er widerspiegelt sie, er verankert sie auf gesetzgeberischern Wege.
Das ist die zweite Besonderheit des Entwurfs der neuen Verfassung.
Weiter. Die bürgerlichen Verfassungen gehen stillschweigend von der Voraussetzung aus, daß die Gesellschaft aus antagonistischen Klassen besteht, aus Klassen, die Reichtümer besitzen, und Klassen, die keine besitzen; daß, welche Partei auch an die Macht kommen möge, die staatliche Führung der Gesellschaft (die Diktatur) sich in den Händen der Bourgeoisie befinden müsse, daß die Verfassung dazu notwendig sei, die gesellschaftlichen Zustände zu verankern, die den besitzenden Klassen genehm und vorteilhaft sind.
Zum Unterschied von den bürgerlichen Verfassungen geht der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR davon aus, daß es in ihr (Wort unleserlich 2004mxks) keine antagonistischen Klassen mehr gibt; daß die Gesellschaft aus zwei befreundeten Klassen, aus Arbeitern und Bauern, besteht, daß eben diese werktätigen Klassen an der Macht stehen, daß die staatliche Führung der Gesellschaft (die Diktatur) der Arbeiterklasse als der fortgeschrittensten Klasse der Gesellschaft zukommt, daß die Verfassung dazu notwendig ist, die gesellschaftlichen Zustände zu verankern, die den Werktätigen genehm und vorteilhaft sind.
Was die Freiheit verschiedener politischer Parteien anbetrifft, so vertreten wir hier einigermaßen andere Ansichten. Die Partei ist ein Teil der Klasse, ihr fortgeschrittenster Teil. Mehrere Parteien und folglich auch eine Freiheit der Parteien kann es nur in einer Gesellschaft geben, wo es antagonistiche Klassen gibt, deren Interessen einander feindlich und unversöhnlich sind, wo es, sagen wir, Kapitalisten und Arbeiter, Gutsbesitzer und Bauern, Kulaken und Dorfarmut usw. gibt. In der Sowjetunion gibt es aber schon keine Klassen mehr wie Kapitalisten, Gutsbesitzer, Kulaken usw. In der Sowjetunion gibt es nur zwei Klassen, die Arbeiter und die Bauern, deren Interessen einander nicht nur nicht feindlich gegenüberstehen, sondern im Gegenteil miteinander harmonieren. Folglich gibt es in der Sowjetunion keinen Boden für die Existenz mehrerer Parteien und somit auch keinen Boden für die Freiheit dieser Parteien, in der Sowjetunion gibt es Boden nur für eine Partei, die Kommunistische Partei, in der Sowjetunion kann es nur eine Partei geben, die Partei der Kommunisten, die kühn und bis zum letzten die Interessen der Arbeiter und Bauern verteidigt. Und daß sie die Interessen dieser Klassen nicht schlecht verteidigt, daran kann wohl kaum ein Zweifel bestehen.
(Stürmischer Beifall.)
Man spricht von Demokratie. Was aber ist Demokratie? Die Demokratie in den kapitalistischen Ländern, wo es antagonistische Klassen gibt, ist in letzter Instanz eine Demokratie für die Starken, eine Demokratie für die besitzende Minderheit. Die Demokratie in der Sowjetunion ist im Gegenteil eine Demokratie für die Werktätigen, d. h. eine Demokratie für alle.
Daraus folgt aber, daß die Grundlagen des Demokratismus nicht durch den Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR verletzt werden, sondern durch die bürgerlichen Verfassungen. Deshalb glaube ich, daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis zum letzten demokratische Verfassung der Welt ist.
So liegen die Dinge mit der bürgerlichen Kritik am Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR.
56. Dokument 39: Die Verfassung von UdSSR von 1936
[aus: H.Altrichter (Hg.: Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 1. Partei und Staat, München 1986, S. 266 - 268 und 286 - 291]
I. Kapitel - Die gesellschaftliche Ordnung
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Artikel
Die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.
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Die politische Grundlage der UdSSR bilden die Sowjets (Räte) der Abgeordneten der Werktätigen, erwachsen und erstarkt im Ergebnis des Sturzes der Macht der Gutsherren und der Kapitalisten und der Eroberung der Diktatur des Proletariats.
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Alle Macht in der UdSSR gehört den Werktätigen in Stadt und Land in Gestalt der Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen.
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Die ökonomische Grundlage der UdSSR bilden das sozialistische Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionswerkzeugcn und -mitteln, gefestigt im Ergebnis der Beseitigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsinstrumenten und -mitteln und der Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
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Das sozialistische Eigentum in der UdSSR hat entweder die Form von Staatseigentum (Gemeingut des Volkes) oder die Form von genossenschaftlich-kollektivwirtschaftlichem Eigentum (Eigentum einzelner Kollektivwirtschaften, Eigentum genossenschaftlicher Vereinigungen).
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Der Boden, seine Schätze, die Gewässer, die Wälder, die Werke, die Fabriken, die Gruben, die Bergwerke, das Eisenbahn-, Wasser- und Luftverkehrswesen, die Banken, die Nachrichtenmittel, die vom Staat organisierten landwirtschaftlichen Großbetriebe (Sowjetwirtschaften, Maschinen- und Traktorenstationen u. dgl.) sowie die Kommunalbetriebe und der Grundbestand an Wohnhäusern in den Städten und Industrieorten sind Staatseigentum, das heißt Gemeingut des Volkes.
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Artikel
Die gesellschaftlichen Betriebe in den Kollektivwirtschaften und die genossenschaftlichen Organisationen mit ihrem lebenden und toten Inventar, die von den Kollektivwirtschaften und den genosscnschaftlichen Organisationen erzeugte Produktion wie auch ihre öffentlichen Bauten bilden das gesellschaftliche, sozialistische Eigentum der Kollektivwirtschaften und der genossenschaftlichen Organisationen.
Jeder Kollektivbauernhof hat außer dem Grundeinkommen aus der gesellschaftlichen, kollektiven Wirtschaft in persönlicher Nutzung ein kleineres Stück Hofland und als persönliches Eigentum eine Nebenwirtschaft auf dem Hofland, ein Wohnhaus, Nutzvieh, Geflügel und landwirtschaftliches Kleininventar - gemäß dem Statut des landwirtschaftlichen Artels.
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Artikel
Der Boden, den die Kollektivwirtschaften innehaben, wird ihnen zu unentgeltlicher und unbefristeter Nutzung, das heißt für ewig, urkundlich zuerkannt.
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Artikel
Neben dem sozialistischen Wirtschaftssystem, das die in der UdSSR herrschende Wirtschaftsform darstellt, ist die auf persönlicher Arbeit beruhende und eine Ausbeutung fremder Arbeit ausschließende kleine Privatwirtschaft von Einzelbauern und Gewerbetreibenden gesetzlich zugelassen.
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Artikel
Das persönliche Eigentumsrecht der Staatsbürger an ihren Arbeitseinkünften und Ersparnissen, am Wohnhaus und an der häuslichen Nebenwirtschaft, an den Hauswirtschafts- und Haushaltungsgegenständen, an den Gegenständen des persönlichen Bedarfs und Komforts, ebenso wie das Erbrecht an dem persönlichen Eigentum der Staatsbürger werden durch das Gesetz geschützt.
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Artikel
Das Wirtschaftsleben der UdSSR wird durch den staatlichen Volkswirtschaftsplan im Interesse der Mehrung des gesllschaftlichen Reichtums, der unentwegten Hebung des materiellen und kulturellen Niveaus der Werktätigen, der Festigung der Unabhängigkeit der UdSSR und der Stärkung ihrer Wehrfähigkeit bestimmt und gelenkt.
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Artikel
Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und Ehrensache jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers nach dem Grundsatz: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen."
In der UdSSR wird der Grundsatz des Sozialismus verwirklicht: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung."
X. Kapitel - Die Grundrechte und Grundpflichten der Staatsbürger
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Artikel 118.
Die Staatsbürger der UdSSR haben das Recht auf Arbeit, das heißt das Recht auf garantierte Beschäftigung mit Entlohnung ihrer Arbeit nach Quantität und Qualität.
Das Recht auf Arbeit wird gewährleistet durch die sozialistische Organisation der Volkswirtschaft, das unentwegte Wachstunt der Produktivkräfte der Sowjetgesellschatt, die Beseitigung der Möglichkeit von Wirtschaftskrisen und die Liquidierung der Arbeitslosigkeit.
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Artikel 119.
Die Staatsbürger der UdSSR haben das Recht auf Erholung. Das Recht auf Erholung wird für die überwiegende Mehrheit der Arbeiter gewährleistet durch die Verkürzung des Arbeitstages auf 7 Stunden, durch Festsetzung eines vollbezahlten alljährlichen Urlaubs für die Arbeiter und Angestellten und durch das in den Dienst der Werktätigen gestellte dichte Netz von Sanatorien, Erholungsheimen und Klubs.
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Artikel 120.
Staatsbürger der UdSSR haben das Recht auf materielle Versorgung im Alter sowie im Falle von Krankheit und Verlust der Arbeitsfähigkeit.
Dieses Recht wird gewährleistet durch die weitgehende Entwicklung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten auf Staatskosten, durch unentgeltliche ärztliche Hilfe für die Werktätigen, durch das den Werktätigen zur Verfügung gestellte dichte Netz von Kurorten.
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Artikel 121.
Die Staatsbürger der UdSSR haben das Recht auf Bildung.
Dieses Recht wird gewährleistet durch die allgemeine Grundschulpflicht, durch die Unentgeltlichkeit der Bildung, einschließlich der Hochschulbildung, durch das System staatlicher Stipendien für die überwiegende Mehrheit der Hochschulstudenten, durch Schulunterricht in der Muttersprache, durch Organisierung unentgeltlicher gewerblicher, technischer und agronomischer Schulung der Werktätigen in den Betrieben, den Sovjetwirtschaften, den Maschinen- und Traktorenstationen und den Kollektivwirtschaften.
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Artikel 122.
Der Frau werden in der UdSSR auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen und gesellschaftlich-politischen Lebens die gleichen Rechte wie dem Manne gewährt.
Die Möglichkeit zur Verwirklichung dieser Rechte wird der Frau gewährleistet durch Gleichstellung mit dem Manne im Recht auf Arbeit, auf Entlohnung der Arbeit, auf Erholung, auf Sozialversicherung und Bildung, durch staatlichen Schutz der Interessen von Mutter und Kind, durch Gewährung eines vollbezahlten Schwangerschaftsurlaubs, durch das dichte Netz von Entbindungsheimen, Kinderkrippen und -gärten.
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Artikel 123.
Die Gleichberechtigung der Staatsbürger der UdSSR, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, ist unverbrüchliches Gesetz.
Jede wie immer geartete direkte oder indirekte Beschränkung der Rechte oder, umgekehrt, eine Festlegung direkter oder indirekter Bevorzugungen von Bürgern mit Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu einer Rasse und Nationalität, ebenso wie jegliche Propagierung einer rassenmäßigen oder nationalen Exklusivität oder des Hasses und der Mißachtung einer Rasse oder einer Nationalität werden gesetzlich geahndet.
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Artikel 124.
Um die Gewissensfreiheit des Staatsbürgers zu gewährleisten, ist in der UdSSR die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und die Freiheit antireligiöser Propaganda werden allen Staatsbürgern zuerkannt.
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Artikel 125.
In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Festigung des sozialistischen Systems werden den Staatsbürgern der UdSSR durch Gesetz garantiert:
a) die Freiheit des Wortes,
b) die Freiheit der Presse,
c) die Freiheit der Versammlungen und Meetings,
d) die Freiheit der Straßenumzüge und Kundgebungen.
Die Rechte der Staatsbürger werden dadurch gewährleistet, daß den Werktätigen und ihren Organisationen die Druckereien, Papiervorräte, öffentlichen Gebäude, Straßen, das Nachrichtenwesen und andere materielle Bedingungen, die zu ihrer Ausübung notwendig sind, zur Verfügung gestellt werden.
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Artikel 126.
In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Entwicklung der organisatorischen Selbstbetätigung und der politischen Aktivität der Volksmassen wird den Staatsbürgern der UdSSR das Recht gewährleistet, sich zu gesellschaftlichen Organisationen zusammenzuschließen in Gewerkschaften, genossenschaftlichen Vereinigungen, Jugendorganisationen, Sport- und Wehrorganisationen, Kulturvereinigungen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften; die aktivsten und zielbewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderer Schichten der Werktätigen aber vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (der Bolschewiki), die der Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für die Festlegung und Entwicklung des sozialistischen Systems ist und den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen darstellt.
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Artikel 127.
Den Staatsbürgern der UdSSR wird die Unantastbarkeit der Person gewährleistet. Niemand kann anders als auf Gerichtsbeschluß oder mit Genehmigung des Staatsanwaltes verhaftet werden.
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Artikel 128.
Die Unantastbarkeit der Wohnung der Staatsbürger und das Briefgeheimnis werden durch das Gesetz geschützt.
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Artikel 129.
Die UdSSR gewährt ausländischen Staatsbürgern, die wegen Verfechtung der Interessen der Werktätigen oder wegen wissenschaftlicher Betätigung oder wegen nationalen Befreiungskampfes verfolgt werden, das Asylrecht.
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Artikel 130.
Jeder Staatsbürger der UdSSR ist verpflichtet, die Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken einzuhalten, die Gesetze zu befolgen, die Arbeitsdisziplin zu wahren, seinen gesellschaftlichen Pflichten ehrlich nachzukommen, die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens zu achten.
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Artikel 131.
Jeder Staatsbürger der UdSSR ist verpflichtet, das gesellschaftliche, sozialistische Eigentum als die heilige und unverletzliche Grundlage der Sowjetordnung, als die Quelle des Reichtums und der Macht der Heimat, als die Quelle eines wohlhabenden und kulturellen Lebens aller Werktätigen zu hüten und zu festigen.
Personen, die sich am gesellschaftlichen, sozialistischen Eigentum vergehen, sind Feinde des Volkes.
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Artikel 132.
Die allgemeine Wehrpflicht ist Gesetz.
Der Militärdienst in der Roten Arbeiter- und Bauernarmee ist Ehrenpflicht der Staatsbürger der UdSSR.
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Artikel 133.
Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige Pflicht eines jeden Bürgers der UdSSR. Vaterlandsverrat, Verletzung des Eides, Überlaufen zum Feind, Schädigung der militärischen Macht des Staates, Spionage werden mit aller Strenge des Gesetzes als schwerste Freveltat bestraft.
XI. Kapitel - Das Wahlsystem
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Artikel 134.
Die Wahl der Abgeordneten zu allen Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen: zum Obersten Sowjet der UdSSR, zu den Obersten Sowjets der Unionsrepubliken, zu den Gau- und Gebietssowjets der Abgeordneten der Werktätigen, zu den Obersten Sowjets der Autonomen Republiken, zu den Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen der autonomen Gebiete, zu den Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen der Kreise, der Bezirke, der Städte und der Dörfer (ostanica, dercvnja, chutor, kuluk, au) wird von den Wählern auf Grundlage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahhrechts in geheimer Abstimmung vorgenommen.
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Artikel 135.
Die Wahlen der Abgeordneten sind allgemein: Alle Staatsbürger der UdSSR, die das Alter von 18 Jahren erreicht haben, unabhängig von ihrer rassischen und nationalen Zugehörigkeit, von Konfession, Bildungsgrad, Ansässigkeit, sozialer Herkunft, Vermögenslage und früherer Tätigkeit, haben das Recht, an den Wahlen der Abgeordneten teilzunehmen und gewählt zu werden, ausgenommen Geisteskranke und Personen, die vom Gericht unter Aberkennung des Wahlrechts verurteilt worden sind.
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Artikel 136.
Die Wahlen der Abgeordneten sind gleich: Jeder Staatsbürger hat eine Stimme; alle Staatsbürger nehmen an den Wahlen auf gleicher Grundlage teil.
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Artikel 137.
Die Frauen genießen das gleiche Recht zu wählen und gewählt zu werden wie die Männer.
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Artikel 138.
Die in den Reihen der Roten Armee stehenden Staatsbürger genießen das gleiche Recht zu wählen und gewählt zu werden wie alle übrigen Staatsbürger.
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Artikel 139.
Die Wahlen der Abgeordneten sind direkt: Die Wahlen zu allen Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen, angefangen von den Dorf- und Stadtsowjets, der Abgeordneten der Werktätigen bis hinauf zum Obersten Sowjet der UdSSR, werden von den Staatsbürgern unmittelbar auf dem Wege direkter Wahl vorgenommen.
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Artikel 140.
Die Abstimmung bei den Wahlen der Abgeordneten ist geheim.
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Artikel 141.
Die Kandidaten werden bei den Wahlen der Abgeordneten nach Wahlkreisen aufgestellt.
Das Recht, Kandidaten aufzustellen wird den gesellschaftlichen Organisationen und den Vereinigungen der Werktätigen gewährleistet: den kommunistischen Parteiorganisationen, den Gewerkschaften, Genossenschaften, Jugendorganisationen, Kulturvereinigungcn.
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Artikel 142.
Jeder Abgeordnete ist verpflichtet, vor den Wählern über seine Arbeit und über die Arbeit des Sowjets der Abgeordneten der Werktätigen Rechenschaft abzulegen und kann jederzeit durch Mehrheitsbeschluß der Wähler, in dem durch das Gesetz festgesetzten Verfahren, abberufen werden.
57. Dokument 40: Stalin: Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler
[Referat und Schlußwort auf dem Plenum des ZK der KPdSU (B), 3. und 5. März 1937; aus: Ders.: Werke, Bd. 14, Dortmund 1976, S. 118 - 160]
Genossen! - Auszug aus dem REFERAT Plenum ZK KPSU 3.3.1937
Aus den auf dem Plenum erstatteten Berichten und aus den Diskussionsreden ist ersichtlich, daß wir es hier mit folgenden drei grundlegenden Tatsachen zu tun haben.
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Erstens, die Schädlings-, Diversions- und Spionagetätigkeit von Agenten ausländischer Staaten, unter denen die Trotzkisten eine ziemlich aktive Rolle spielten, hat in diesem oder jenem Grade alle beziehungsweise fast alle unsere Organisationen in Mitleidenschaft gezogen, sowohl die Wirtschaftsorganisationen als auch die Verwaltungs- und Parteiorganisationen.
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Zeitens, Agenten ausländischer Staaten, darunter Trotzkisten, sind nicht nur in die unteren Organisationen eingedrungen, sondern sind auch auf einige verantwortliche Posten gelangt.
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Drittens, einige unserer führenden Genossen sowohl im Zentrum als auch im Lande haben nicht nur das wahre Gesicht dieser Schädlinge, Diversanten, Spione und Mörder nicht zu erkennen vermocht, sondern sich derart sorglos, vertrauensselig und naiv gezeigt, daß sie nicht selten selbst dazu beigetragen haben, daß Agenten ausländischer Staaten auf diese oder jene verantwortlichen Posten gelangten.
Das sind die drei unbestreitbaren Tatsachen, die sich zwangsläufig aus den Berichten und den Diskussionsreden ergeben.
1. Politische Sorglosigkeit - Auszug aus dem Referat Plenum ZK KPSU 3.3.1937
Woraus ist zu erklären, daß sich unsere führenden Genossen, die reiche Erfahrungen im Kampf gegen parteifeindliche und sowjetfeindliche Strömungen jeder Art besitzen, im gegebenen Fall so naiv und blind gezeigt haben, daß sie das wahre Gesicht der Volksfeinde nicht zu erkennen, die Wölfe im Schafspelz nicht herauszufinden, ihnen die Maske nicht herunterzureißen vermochten?
Kann man behaupten, daß die Schädlings-, Diversions- und Spionagetätigkeit von Agenten ausländischer Staaten auf dem Territorium der UdSSR für uns etwas Unerwartetes sein kann, etwas, was noch nie dagewesen ist? Nein, das kann man nicht behaupten. Davon zeugen die Schädlingsakte, die während der letzten zehn Jahre, angefangen mit der Schachty-Periode, in den verschiedenen Zweigen der Volkswirtschaft verübt wurden und die in offiziellen Dokumenten festgehalten sind.
Kann man behaupten, daß es in der letzten Zeit bei uns keinerlei Warnsignale und mahnende Hinweise auf die Schädlings-, Spionage- oder Terrortätigkeit der trotzkistisch-sinowjewistischen Agenten des Faschismus gegeben habe? Nein, das kann man nicht behaupten. Solche Signale gab es, und Bolschewiki haben nicht das Recht, sie unbeachtet zu lassen.
Der ruchlose Mord an Genossen Kirow war die erste ernste Warnung, die davon zeugte, daß die Feinde des Volkes Doppelzünglerei betreiben und sich bei ihrem doppelzünglerischen Treiben als Bolschewiki, als Parteimitglieder maskieren werden, um sich Vertrauen zu erschleichen und sich den Zutritt zu unseren Organisationen zu erschließen.
Der Prozeß gegen das
"Leningrader Zentrum", ebenso wie der
"Sinowjew-Kamenew"-Prozeß, bekräftigte erneut die Lehren, die sich aus dem ruchlosen Mord an Genossen Kirow ergaben.
Der Prozeß gegen den
"sinowjewistisch-trotzkistischen Block" hat die Lehren aus den vorhergegangenen Prozessen erweitert und augenfällig gezeigt, daß die Sinowjewleute und Trotzkisten alle feindlichen bürgerlichen Elemente um sich scharen, daß sie sich in eine terroristische Spionage- und Diversionsagentur der deutschen Geheimpolizei verwandelt haben, daß Doppelzünglerei und Maskierung das einzige Mittel der Sinowjewleute und Trotzkisten sind, um in unsere Organisationen einzudringen, daß Wachsamkeit und politischer Scharf blick das sicherste Mittel sind, um ein solches Eindringen zu verhüten und die sinowjewistisch-trotzkistische Bande zu liquidieren.
Das Zentralkomitee der KPdSU(B) hat in seinem Rundschreiben vom 18. Januar 1935 anläßlich des ruchlosen Mordes an Genossen Kirow die Parteiorganisationen energisch vor politischer Vertrauensseligkeit und spießerhafter Maulafferei gewarnt. In dem Rundschreiben heißt es:
"Es gilt, mit der opportunistischen Vertrauensseligkeit Schluß zu machen, die von der falschen Annahme ausgeht, als ob der Feind in dem Maße, wie unsere Kräfte wachsen, immer zahmer und harmloser werde. Eine solche Annahme ist grundfalsch. Das ist eine Nachwirkung der rechten Abweichung, deren Vertreter aller Welt weiszumachen suchten, daß die Feinde allmählich in den Sozialismus hineinkriechen, daß sie zu guter Letzt richtige Sozialisten werden würden. Es ist nicht Sache der Bolschewiki, auf ihren Lorbeeren auszuruhen und Maulaffen feilzuhalten. Nicht Vertrauensseligkeit brauchen wir, sondern Wachsamkeit, wirkliche bolschewistische revolutionäre Wachsamkeit. Man muß dessen eingedenk sein, daß die Feinde, je hoffnungsloser ihre Lage sein wird, um so eher zu dem äußersten Mittel greifen werden, als dem einzigen Mittel der im Kampfe gegen die Sowjetmacht zum Untergang Verurteilten. Man muß dessen eingedenk und wachsam sein."
In seinem Rundschreiben vom 29. Juli 1936 anläßlich der Spionage- und Terrortätigkeit des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks rief das Zentralkomitee der KPdSU(B) die Parteiorganisationen erneut auf, höchste Wachsamkeit an den Tag zu legen und zu lernen, die Feinde des Volkes zu erkennen, mögen sie auch noch so gut maskiert sein. In dem Rundschreiben heißt es:
"Jetzt, da bewiesen ist, daß die trotzkistisch-sinowjewistischen Scheusale im Kampf gegen die Sowjetmacht alle die wütendsten und erbittertsten Feinde der Werktätigen unseres Landes um sich scharen, Spione, Provokateure, Diversanten, Weißgardisten, Kulaken usw., da sich jede Grenze zwischen diesen Elementen einerseits und den Trotzkisten und Sinowjewleuten anderseits verwischt hat - müssen alle unsere Parteiorganisationen, alle Parteimitglieder begreifen, daß von Kommunisten an einem jeden Abschnitt und in jeder Situation Wachsamkeit gefordert wird. Unabdingbare Eigenschaft jedes Bolschewiks unter den gegenwärtigen Verhältnissen muß die Fähigkeit sein, den Feind der Partei zu erkennen, mag er auch noch so gut maskiert sein."
Im Prozeß von 1936 haben Kamenew und Sinowjew, wenn Sie sich erinnern, entschieden geleugnet, irgendeine politische Plattform zu besitzen. Sie hatten durchaus die Möglichkeit, in der Gerichtsverhandlung ihre politische Plattform zu entwickeln. Sie taten dies jedoch nicht, sondern erklärten, sie hätten keinerlei politische Plattform. Es kann kein Zweifel bestehen, daß beide logen, als sie leugneten, eine politische Plattform zu haben. Heute sehen sogar Blinde, daß sie eine eigene politische Plattform hatten. Warum aber leugneten sie, irgendeine politische Plattform zu haben? Weil sie sich fürchteten, ihr wahres politisches Gesicht zu zeigen, weil sie sich fürchteten, mit ihrer wirklichen Plattform, der Plattform der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR, hervorzutreten; denn sie hatten Angst, daß eine solche Plattform in der Arbeiterklasse Abscheu hervorrufen würde.
In dem Prozeß von 1937 schlugen Pjatakow, Radek und Sokolnikow einen anderen Weg ein. Sie leugneten nicht, daß die Trotzkisten und Sinowjewleute eine politische Plattform besitzen. Sie gaben zu, daß sie eine bestimmte politische Plattform besitzen, gaben das zu und entwickelten sie in ihren Aussagen. Aber sie entwickelten sie nicht, um die Arbeiterklasse, um das Volk zur Unterstützung der trotzkistischen Plattform aufzurufen, sondern um sie als volksfeindliche und antiproletarische Plattform zu verdammen und zu brandmarken. Restauration des Kapitalismus, Liquidierung der Kollektiv- und Sowjetwirtschaften, Wiederaufrichtung des Systems der Ausbeutung, Bündnis mit den faschistischen Kräften Deutschlands und Japans zur beschleunigten Entfesselung eines Krieges gegen die Sowjetunion, Kampf für den Krieg und gegen die Politik des Friedens, territoriale Zerstückelung der Sowjetunion unter Auslieferung der Ukraine an die Deutschen und des fernöstlichen Küstengebiets an die Japaner, Vorbereitung der militärischen Niederlage der Sowjetunion im Falle eines Überfalls feindlicher Staaten und, als Mittel zur Erreichung dieser Ziele, Schädlingsarbeit, Diversionsakte, individueller Terror gegen die Führer der Sowjetmacht, Spionage zugunsten der japanisch-deutschen faschistischen Kräfte - das ist die von Pjatakow, Radek und Sokolnikow entwickelte politische Plattform des heutigen Trotzkismus. Es versteht sich, daß die Trotzkisten eine solche Plattform vor dem Volk, vor der Arbeiterklasse verbergen mußten. Und sie verbargen sie nicht nur vor der Arbeiterklasse, sondern auch vor den trotzkistischen Anhängern, ja nicht nur vor den trotzkistischen Anhängern, sondern sogar vor der führenden trotzkistischen Spitze, die aus einem kleinen Häuflein von Leuten, aus 30 - 40 Menschen bestand. Als Radek und Pjatakow von Trotzki die Erlaubnis zur Einberufung einer kleinen Konferenz von 30 - 40 Trotzkisten forderten, um sie über den Charakter dieser Plattform zu informieren, verbot ihnen Trotzki das und sagte, es sei unzweckmäßig, selbst vor einem kleinen Häuflein Trotzkisten über den wirklichen Charakter der Plattform zu sprechen, da eine solche
"Operation" eine Spaltung hervorrufen könne.
"Politiker", die ihre Anschauungen, ihre Plattform nicht nur vor der Arbeiterklasse, sondern auch vor den trotzkistischen Anhängern, und nicht nur vor den trotzkistischen Anhängern, sondern auch vor der führenden Spitze der Trotzkisten verbergen - das ist die Physiognomie des gegenwärtigen Trotzkismus.
Daraus aber folgt, daß der gegenwärtige Trotzkismus schon nicht mehr als politische Strömung in der Arbeiterklasse bezeichnet werden kann.
Der gegenwärtige Trotzkismus ist keine politische Strömung in der Arbeiterklasse, sondern eine prinzipien- und ideenlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Kundschaftern, Spionen, Mördern, eine Bande geschworener Feinde der Arbeiterklasse, die im Solde der Spionageorgane ausländischer Staaten. arbeiten.
Das ist das unbestreitbare Ergebnis der Evolution des Trotzkismus in den letzten 7 - 8 Jahren.
Das ist der Unterschied zwischen dem Trotzkismus der Vergangenheit und dem Trotzkismus der Gegenwart.
Der Fehler unserer Parteigenossen besteht darin, daß sie diesen einschneidenden Unterschied zwischen dem Trotzkismus der Vergangenheit und dem Trotzkismus der Gegenwart nicht bemerkt haben. Sie haben nicht bemerkt, daß die Trotzkisten längst aufgehört haben, für eine Idee einzutreten, daß die Trotzkisten sich längst in Wegelagerer verwandelt haben, die zu jeder Abscheulichkeit, zu jeder Niedertracht fähig sind, bis zur Spionage und bis zum direkten Verrat an der eigenen Heimat, nur um den Sowjetstaat und die Sowjetmacht zu schädigen. Sie haben das nicht bemerkt und haben es deshalb auch nicht vermocht, sich rechtzeitig umzustellen, um den Kampf gegen die Trotzkisten auf neue Art entschlossener zu führen.
Deshalb waren die Niederträchtigkeiten der Trotzkisten während der letzten Jahre für manche unserer Parteigenossen eine völlige Überraschung.
Weiter. Schließlich haben unsere Parteigenossen nicht bemerkt, daß zwischen den heutigen Schädlingen und Diversanten, unter denen die trotzkistischen Agenten des Faschismus eine ziemlich aktive Rolle spielen, einerseits und den Schädlingen und Diversanten aus der Schachty-Periode anderseits ein wesentlicher Unterschied besteht.
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Erstens: Die Schachtyleute und die Leute von der Industriepartei waren Leute, die uns offenkundig fremd waren. Es waren größtenteils ehemalige Besitzer von Betrieben, ehemalige Verwalter im Dienste der alten Herren, ehemalige Teilhaber der alten Aktiengesellschaften oder schlechthin alte bürgerliche Spezialisten, die uns politisch unverhohlen feindlich gegenüberstanden. Niemand von unseren Leuten hatte den geringsten Zweifel über das wahre politische Gesicht dieser Herrschaften. Ja, auch die Schachtyleute selbst machten kein Hehl aus ihrer feindseligen Haltung gegenüber dem Sowjetregime. Von den heutigen Schädlingen und Diversanten, von den Trotzkisten, kann man das nicht sagen. Die heutigen Schädlinge und Diversanten, die Trotzkisten - das sind größtenteils Parteimitglieder, mit dem Parteimitgliedsbuch in der Tasche, also Leute, die uns formell nicht fremd sind. Waren die alten Schädlinge gegen unsere Leute eingestellt, so scharwenzeln die neuen Schädlinge, im Gegenteil, vor unseren Leuten, lobpreisen unsere Leute, benehmen sich ihnen gegenüber knechtisch unterwürfig, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Ein, wie Sie sehen, wesentlicher Unterschied.
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Zweitens: Die Stärke der Schachtyleute und der Leute von der Industriepartei bestand darin, daß sie in größerem oder geringerem Maße über die erforderlichen technischen Kenntnisse verfügten, während unsere Leute, die solche Kenntnisse nicht besaßen, gezwungen waren, bei ihnen zu lernen. Dieser Umstand verlieh den Schädlingen der Schachty-Periode einen großen Vorteil, gab ihnen die Möglichkeit, das Schädlingshandwerk frei und ungehindert zu betreiben, gab ihnen die Möglichkeit, unsere Leute auf technischem Gebiet zu betrügen. Anders verhält es sich mit den heutigen Schädlingen, mit den Trotzkisten. Die heutigen Schädlinge sind unseren Leuten keineswegs technisch überlegen. Im Gegenteil, technisch sind unsere Leute besser ausgebildet als die heutigen Schädlinge, als die Trotzkisten. In der Zeit seit der Schachty-Periode bis zu unseren Tagen sind Zehntausende wirklich technisch ausgebildeter bolschewistischer Kader herangewachsen.
2. Unsere Aufgaben - Auszug aus dem Schlußwort Plenum ZK KPSU 5.3.1937
Wie sind diese Mängel unserer Arbeit zu beseitigen? Was muß dazu getan werden?
Es ist notwendig, folgende Maßnahmen durchzuführen:
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Es ist vor allem notwendig, die Aufmerksamkeit unserer Parteigenossen, die in den "laufenden Fragen"
des einen oder anderen Ressorts versinken, auf die großen politischen Fragen internationalen und inneren Charakters zu lenken.
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Es ist notwendig, die politische Arbeit unserer Partei auf die gebührende Höhe zu bringen, wobei die Aufgabe der politischen Schulung und der bolschewistischen Stählung der Partei-, Sowjet- und Wirtschaftskader in den Mittelpunkt zu stellen ist.
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Es ist notwendig, unseren Parteigenossen klarzumachen, daß die wirtschaftlichen Erfolge, deren Bedeutung unbestreitbar sehr groß ist und die wir auch weiterhin, tagaus, tagein, jahraus, jahrein erzielen müssen, dennoch nicht das ganze Wesen unseres sozialistischen Aufbaus erschöpfen.
Es muß klargelegt werden, daß die Schattenseiten der wirtschaftlichen Erfolge, die sich in Selbstzufriedenheit, Sorglosigkeit und Abstumpfung des politischen Instinkts äußern, nur dann beseitigt werden können, wenn sich die wirtschaftlichen Erfolge mit Erfolgen des Parteiaufbaus und mit einer voll entfalteten politischen Arbeit unserer Partei paaren.
Es muß klargelegt werden, daß die wirtschaftlichen Erfolge selbst, ihre Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, voll und ganz von den Erfolgen der organisatorischen und der politischen Arbeit der Partei abhängen, daß ohne diese Voraussetzung sich erweisen kann, daß die wirtschaftlichen Erfolge auf Sand gebaut sind.
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Es ist notwendig, immer daran zu denken und nie zu vergessen, daß die kapitalistische Umkreisung die grundlegende Tatsache ist, durch die die internationale Lage der Sowjetunion bestimmt wird.
Man muß immer daran denken und darf nie vergessen, daß es, solange es eine kapitalistische Umkreisung gibt, auch Schädlinge, Diversanten, Spione, Terroristen geben wird, die von den Spionageorganen ausländischer Staaten ins Hinterland der Sowjetunion geschickt werden; man muß daran denken und den Kampf gegen jene Genossen führen, die die Bedeutung der Tatsache der kapitalistischen Umkreisung unterschätzen, die die Kraft und Bedeutung des Schädlingswesens unterschätzen.
Unseren Parteigenossen muß klargemacht werden, daß keinerlei wirtschaftliche Erfolge, wie groß sie auch sein mögen, die Tatsache der kapitalistischen Umkreisung und die sich aus dieser Tatsache ergebenden Folgen aus der Welt zu schaffen vermögen.
Es müssen Maßnahmen getroffen werden, die notwendig sind, um unseren Genossen, den Bolschewiki in der Partei und den parteilosen Bolschewiki, die Möglichkeit zu geben, sich mit den Zwecken und Aufgaben, mit der Praxis und Technik der Schädlings-, Diversions- und Spionagetätigkeit der ausländischen Spionageorgane bekannt zu machen.
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Es ist notwendig, unseren Parteigenossen klarzumachen, daß die Trotzkisten, die aktive Elemente der Diversions-, Schädlings- und Spionagetätigkeit ausländischer Spionageorgane bilden, schon längst aufgehört haben, eine politische Strömung in der Arbeiterklasse zu sein, daß sie schon längst aufgehört haben, irgendeiner Idee zu dienen, die mit den Interessen der Arbeiterklasse vereinbar ist, daß sie sich in eine prinzipien- und ideenlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Spionen und Mördern verwandelt haben, die im Solde ausländischer Spionageorgane arbeiten.
Es muß klargelegt werden, daß im Kampf gegen den gegenwärtigen Trotzkismus jetzt nicht die alten Methoden, nicht die Methoden der Diskussion, sondern neue Methoden, die Methoden der Ausrottung und der Zerschmetterung nötig sind.
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Es ist notwendig, unseren Parteigenossen den Unterschied zwischen den heutigen Schädlingen und den Schädlingen der Schachty-Periode klarzumachen, ihnen klarzumachen, daß, während die Schädlinge der Schachty-Periode unsere Leute auf dem Gebiet der Technik betrogen, indem sie ihre technische Rückständigkeit ausnutzten, die heutigen Schädlinge, die das Parteimitgliedsbuch besitzen, unsere Leute durch Mißbrauch des politischen Vertrauens, das man ihnen als Parteimitgliedern erweist, betrügen, indem sie die politische Sorglosigkeit unserer Leute ausnutzen.
Es ist notwendig, die alte Losung, Meisterung der Technik, die der Schachty-Periode entspricht, durch eine neue Losung zu ergänzen, durch die Losung: politische Erziehung der Kader, Meisterung des Bolschewismus und Liquidierung unserer politischen Vertrauensseligkeit, eine Losung, die voll und ganz der Periode entspricht, in der wir gegenwärtig leben.
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Es ist notwendig, die faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, daß der Klassenkampf bei uns mit jedem Schritt unseres Vormarsches mehr und mehr erlöschen müsse, daß der Klassenfeind in dem Maße, wie wir Erfolge erzielen, immer zahmer werde.
Das ist nicht nur eine faule Theorie, sondern auch eine gefährliche Theorie, denn sie schläfert unsere Leute ein, lockt sie in die Falle, während sie dem Klassenfeind die Möglichkeit gibt, für den Kampf gegen die Sowjetmacht Kräfte zu sammeln.
Im Gegenteil, je weiter wir vorwärtsschreiten, je mehr Erfolge wir erzielen werden, um so größer wird die Wut der Überreste der zerschlagenen Ausbeuterklassen werden, um so eher werden sie zu schärferen Kampfformen übergehen, um so mehr Niederträchtigkeiten werden sie gegen den Sowjetstaat begehen, um so mehr werden sie zu den verzweifeltsten Kampfmitteln greifen, als den letzten Mitteln zum Untergang Verurteilter.
Man muß im Auge behalten, daß die Reste der zerschlagenen Klassen in der UdSSR nicht allein dastehen. Sie genießen die direkte Unterstützung unserer Feinde jenseits der Grenzen der UdSSR. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die Sphäre des Klassenkampfes sich auf das Gebiet der UdSSR beschränke. Spielt sich der Klassenkampf mit einem Ende innerhalb der UdSSR ab, so reicht das andere Ende in das Gebiet der uns umgebenden bürgerlichen Staaten. Das kann den Resten der zerschlagenen Klassen nicht unbekannt sein. Und eben weil sie es wissen, werden sie auch künftighin ihre verzweifelten Vorstöße fortsetzen.
Das lehrt uns die Geschichte. Das lehrt uns der Leninismus.
Man muß das alles im Auge haben und auf der Hut sein.
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Es ist notwendig, eine andere faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, die besagt, daß derjenige kein Schädling sein könne, der nicht immer schädigt und der wenigstens manchmal Erfolge in seiner Arbeit aufzuweisen hat.
Diese seltsame Theorie verrät die Naivität ihrer Urheber. Kein einziger Schädling wird fortwährend schädigen, wenn er nicht in kürzester Frist entlarvt werden will. Im Gegenteil, ein richtiger Schädling muß von Zeit zu Zeit Erfolge in seiner Arbeit aufweisen, denn das ist das einzige Mittel, seine Existenz als Schädling zu behaupten, sich Vertrauen zu erschleichen und seine Schädlingsarbeit fortzusetzen.
Ich glaube, diese Frage ist klar und bedarf keiner weiteren Erläuterungen.
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Es ist notwendig, eine dritte faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, die besagt, daß die systematische Erfüllung der Wirtschaftspläne die Schädlingsarbeit und die Folgen der Schädlingsarbeit aufhebe.
Eine solche Theorie kann nur das eine Ziel verfolgen: die Eigenliebe unserer Funktionäre, die nur ihr Ressort im Auge haben, zu kitzeln, sie zu beruhigen und ihren Kampf gegen das Schädlingswesen abzuschwächen.
Was bedeutet "systematische Erfüllung unserer Wirtschaftspläne" ?
- Erstens: Es ist erwiesen, daß alle unsere Wirtschaftspläne zu niedrig angesetzt sind, denn sie lassen die gewaltigen Reserven und Möglichkeiten unberücksichtigt, die im Schoße unserer Volkswirtschaft schlummern.
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Zweitens bedeutet die summarische Erfüllung der Wirtschaftspläne der einzelnen Volkskommissariate im ganzen noch nicht, daß in einigen sehr wichtigen Zweigen die Pläne ebenfalls erfüllt werden. Im Gegenteil, die Tatsachen besagen, daß eine ganze Reihe von Volkskommissariaten, die die Jahreswirtschaftspläne erfüllt und sogar übererfüllt haben, die Pläne in einigen sehr wichtigen Zweigen der Volkswirtschaft ständig nicht erfüllen.
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Drittens kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es mit der Erfüllung der Wirtschaftspläne, wenn die Schädlinge nicht entlarvt und davongejagt worden wären, weit schlechter stehen würde, woran die kurzsichtigen Urheber dieser Theorie denken sollten.
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Viertens entfalten die Schädlinge ihre Schädlingsarbeit in vollem Umfang gewöhnlich nicht in Friedenszeiten, sondern in einer Periode unmittelbar vor dem Kriege oder während des Krieges selbst. Angenommen, wir würden uns von der faulen Theorie von der "systematischen Erfüllung der Wirtschaftspläne" einlullen lassen und die Schädlinge nicht anrühren. Haben die Urheber dieser faulen Theorie eine Vorstellung davon, welch kolossalen Schaden die Schädlinge unserem Staate im Falle eines Krieges zufügen würden, wenn wir sie im Schoße unserer Volkswirtschaft unter den Fittichen der faulen Theorie von der "systematischen Erfüllung der Wirtschaftspläne" beließen?
Ist es nicht klar, daß die Theorie von der "systematischen Erfüllung der Wirtschaftspläne" eine Theorie ist, die nur den Schädlingen von Nutzen sein kann?
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Schließlich ist es notwendig, noch eine faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, die besagt, daß wir Bolschewiki einem Häuf1ein von Schädlingen gar keine Beachtung zu schenken brauchten, da wir Bolschewiki viele, die Schädlinge aber wenige sind, da wir Bolschewiki von Dutzenden Millionen Menschen unterstützt werden, die trotzkistischcn Schädlinge aber nur von einzelnen und Dutzenden.
Das ist falsch, Genossen. Diese mehr als seltsame Theorie wurde ersonnen, um einige unserer führenden Genossen zu trösten, die wegen ihres Unvermögens, gegen das Schädlingswesen zu kämpfen, in ihrer Arbeit Fiasko erlitten haben, und um ihre Wachsamkeit einzuschläfern, sie ruhig schlafen zu lassen.
Daß die trotzkistischen Schädlinge von einzelnen, die Bolschewiki aber von Dutzenden Millionen Menschen unterstützt werden, ist natürlich wahr. Aber daraus folgt keineswegs, daß die Schädlinge unserer Sache nicht ernstesten Schaden zufügen können. Um Unheil zu stiften und Schaden anzurichten, dazu bedarf es keineswegs einer großen Zahl von Menschen. Um ein Dnjepr-Kraftwerk zu erbauen, muß man Zehntausende Arbeiter einsetzen. Um es aber in die Luft zu sprengen, dazu sind vielleicht ein paar Dutzend Menschen nötig, nicht mehr. Um eine Schlacht im Kriege zu gewinnen, dazu bedarf es vielleicht einiger Armeekorps von Rotarmisten. Um jedoch diesen Sieg an der Front zunichte zu machen, dazu genügen ein paar Spione irgendwo im Stab einer Armee oder sogar einer Division, die den Operationsplan entwenden und ihn dem Feind ausliefern. Um eine große Eisenbahnbrücke zu bauen, dazu sind Tausende Menschen erforderlich. Um sie aber in die Luft zu sprengen, dazu genügen ein paar Menschen. Solcher Beispiele könnte man Dutzende und Hunderte anführen.
Folglich darf man sich nicht damit trösten, daß wir viele, sie, die trotzkistischen Schädlinge, dagegen wenige sind.
Man muß erreichen, daß es überhaupt keine trotzkistischen Schädlinge in unseren Reihen gibt.
So verhält es sich mit der Frage, wie die Mängel unserer Arbeit zu liquidieren sind, die in allen unseren Organisationen zu verzeichnen sind, sowohl in den Wirtschafts- und Sowjetorganisationen als auch in den Verwaltungs- und Parteiorganisationen.
Das sind die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese Mängel zu liquidieren.
Was speziell die Parteiorganisationen und die Mängel in ihrer Arbeit anbetrifft, so wird in dem Ihnen zur Entscheidung vorgelegten Resolutionsentwurf ausführlich genug über die Maßnahmen zur Liquidierung dieser Mängel gesprochen. Ich glaube daher, daß keine Notwendigkeit besteht, hier auf diese Seite der Sache ausführlich einzugehen.
Ich möchte nur einige Worte über die Frage der politischen Schulung und Weiterbildung unserer Parteikader sagen.
Ich glaube, wenn wir es verstünden und fertigbrächten, unsere Parteikader von unten bis oben ideologisch so zu schulen und politisch so zu stählen, daß sie sich in der inneren und der internationalen Situation ohne Schwierigkeit zurechtzufinden vermögen, wenn wir es verstünden, sie zu völlig reifen Leninisten, Marxisten zu machen, die fähig sind, die Fragen der Leitung des Landes ohne ernste Fehler zu entscheiden, dann hätten wir damit neun Zehntel aller unserer Aufgaben gelöst.
Wie steht es um die führenden Kader unserer Partei?
In unserer Partei gibt es, wenn man ihre führenden Schichten im Auge hat, etwa 3.000 - 4.000 höhere Funktionäre. Das ist, ich möchte sagen, die Generalität unserer Partei.
Dann kommen 30.000 - 40.000 mittlere Funktionäre. Das ist das Offizierskorps unserer Partei.
Dann kommen etwa 100.000 - 150.000 untere Parteifunktionäre. Das ist sozusagen das Unteroffizierskorps unserer Partei.
Das ideologische Niveau dieser führenden Kader zu heben und sie politisch weiter zu stählen, diesen Kadern frische Kräfte zuzuführen, die darauf warten, aufrücken zu können und auf diese Weise den Bestand an führenden Kadern zu erweitern - das ist die Aufgabe.
Was ist dazu erforderlich?
Vor allem muß unsern Parteifunktionären, angefangen von den Zellensekretären bis zu den Sekretären der Gebiets- und Republik-Parteiorganisationen, empfohlen werden, sich im Laufe einer bestimmten Zeit je zwei Genossen, je zwei Parteifunktionäre, auszuwählen, die fähig sind, tatsächlich ihre Stellvertreter zu sein. Man mag sagen: Wo soll man sie hernehmen, zwei Stellvertreter für jeden, wir haben solche Leute nicht, haben keine entsprechenden Funktionäre. Das stimmt nicht, Genossen. Fähige Menschen, begabte Menschen gibt es bei uns Zehntausende. Man muß sie nur kennen und rechtzeitig aufrücken lassen, damit sie nicht zu lange an einem Fleck bleiben und zu faulen anfangen. Suchet, so werdet ihr finden.
Nun aber die Frage: Wie ist die Aufgabe der Zerschmetterung und Vernichtung der japanisch-deutschen Agenten des Trotzkismus praktisch zu verwirklichen? Bedeutet das, daß es nicht nur die wirklichen Trotzkisten zu schlagen und zu vernichten gilt, sondern auch diejenigen, die irgendeinmal nach der Seite des Trotzkismus hin schwankten, später aber, schon vor langer Zeit, sich vom Trotzkismus abgewandt haben, nicht nur diejenigen, die wirklich trotzkistische Schädlingsagenten sind, sondern auch diejenigen, die irgendeinmal in die Lage kamen, durch eine Straße zu gehen, durch die irgendeinmal dieser oder jener Trotzkist gegangen ist? Jedenfalls sind solche Stimmen hier auf dem Plenum laut geworden. Kann man eine solche Auslegung der Resolution für richtig halten? Nein, man kann sie nicht für richtig halten. In dieser Frage ist, wie auch in allen anderen Fragen, ein individuelles, differenziertes Herangehen an die Menschen erforderlich. Man darf nicht alle über einen Kamm scheren. So ein summarisches Verfahren kann der Sache des Kampfes gegen die wirklichen trotzkistischen Schädlinge und Spione nur schaden.
Unter unseren verantwortlichen Genossen gibt es eine gewisse Anzahl ehemaliger Trotzkisten, die sich schon längst vom Trotzkismus abgewandt haben und den Kampf gegen den Trotzkismus nicht schlechter, ja besser führen als manche unserer verehrten Genossen, die nie in die Lage gekommen sind, nach der Seite des Trotzkismus hin zu schwanken. Es wäre töricht, solche Genossen jetzt in Verruf zu bringen.
Unter unseren Genossen gibt es auch solche, die ideologisch stets gegen den Trotzkismus eingestellt waren, aber trotzdem persönliche Verbindungen mit einzelnen Trotzkisten unterhielten, die sie unverzüglich abbrachen, sobald ihnen die wahre Physiognomie des Trotzkismus klargeworden war. Es ist natürlich nicht gut, daß sie ihre persönlichen freundschaftlichen Verbindungen mit einzelnen Trotzkisten nicht sofort, sondern mit Verspätung abbrachen. Es wäre aber töricht, solche Genossen mit den Trotzkisten auf die gleiche Stufe zu stellen.
Was bedeutet es, die Mitarbeiter richtig auszuwählen und auf den richtigen Arbeitsplatz zu stellen?
Das bedeutet, die Mitarbeiter erstens nach politischen Gesichtspunkten auszuwählen, das heißt nach dem Gesichtspunkt, ob sie politisches Vertrauen verdienen, und zweitens nach fachlichen Gesichtspunkten, das heißt nach dem Gesichtspunkt, ob sie für eine bestimmte konkrete Arbeit geeignet sind.
Das bedeutet, daß die fachliche Methode der Auswahl nicht zu einer praktizistischen Methode werden darf, bei der man sich für die fachliche Eignung der Mitarbeiter interessiert, ohne sich für ihre politische Physiognomie zu interessieren.
Das bedeutet, daß die politische Methode der Auswahl nicht zur einzigen und ausschließlichen Methode werden darf, bei der man sich für die politische Physiognomie der Mitarbeiter interessiert, ohne sich für ihre fachliche Eignung zu interessieren.
Kann man sagen, daß dieser bolschewistische Grundsatz von unseren Parteigenossen befolgt wird? Leider kann man das nicht sagen. Hier auf dem Plenum wurde bereits darüber gesprochen. Aber es wurde nicht alles gesagt. Es handelt sich darum, daß dieser bewährte Grundsatz in unserer Praxis auf Schritt und Tritt, und zwar aufs gröbste verletzt wird. Meistens erfolgt die Auswahl der Mitarbeiter nicht nach objektiven Gesichtspunkten, sondern nach zufälligen, subjektiven, spießerhaft-kleinbürgerlichen Gesichtspunkten. Meistens sucht man sich sogenannte Bekannte, Freunde, Landsleute, persönlich ergebene Leute, Meister in der Lobpreisung ihrer Vorgesetzten aus - ohne Rücksicht auf ihre politische und fachliche Eignung.
Es ist klar, daß auf diese Weise statt einer führenden Gruppe verantwortlicher Funktionäre eine Sippschaft einander nahestehender Leute, eine Innung herauskommt, deren Mitglieder darauf bedacht sind, in Frieden zu leben, einander nicht weh zu tun, nicht aus der Schule zu plaudern, einander zu lobpreisen und der Zentrale von Zeit zu Zeit völlig nichtssagende und Übelkeit erregende Berichte über Erfolge einzusenden.
Es ist nicht schwer, zu begreifen, daß es bei einer solchen Sippenwirtschaft weder für Kritik an den Mängeln der Arbeit noch für Selbstkritik der Leiter der Arbeit Platz geben kann.
Es ist klar, daß eine solche Sippenwirtschaft einen günstigen Boden abgibt für die Züchtung von Speichelleckern, von Leuten, die jeglichen Gefühls eigener Würde bar sind und deshalb mit dem Bolschewismus nichts gemein haben.
Manche Genossen meinen, die Kontrolle der Funktionäre könne nur von oben erfolgen, wenn die Führer die von ihnen Geführten aufgrund der Ergebnisse ihrer Arbeit überprüfen. Das ist falsch. Kontrolle von oben ist natürlich nötig als eine der wirksamen Maßnahmen zur Überprüfung der Menschen und zur Überprüfung der Durchführung der Aufträge. Aber mit der Kontrolle von oben ist bei weitem nicht die ganze Kontrolle erschöpft. Es gibt noch eine andere Art der Kontrolle, die Kontrolle von unten, wenn die Massen, wenn die Geführten die Führer überprüfen, ihre Fehler aufdecken und ihnen die Wege zu ihrer Behebung zeigen. Eine solche Kontrolle ist eins der wirksamsten Mittel zur Überprüfung der Menschen.
Die Parteimassen überprüfen die führenden Funktionäre in Aktivtagungen, in Konferenzen, auf Parteitagen durch Entgegennahme ihrer Rechenschaftsberichte, durch Kritik an den Mängeln, schließlich durch Wahl beziehungsweise Nichtwahl dieser oder jener führenden Genossen in die leitenden Organe. Strikte Durchführung des demokratischen Zentralismus in der Partei, wie dies vom Statut unserer Partei gefordert wird, unbedingte Wählbarkeit der Parteiorgane, das Recht, Kandidaten aufzustellen und abzulehnen, geheime Wahl, Freiheit der Kritik und Selbstkritik - alle diese und ähnliche Maßnahmen müssen unter anderem auch deshalb durchgeführt werden, um die Überprüfung und Kontrolle der Führer der Partei durch die Parteimassen zu erleichtern.
Die parteilosen Massen überprüfen die führenden Wirtschafts-, Gewerkschafts- und übrigen Funktionäre in Aktivversammlungen der Parteilosen, in Massenberatungen jeder Art, wo sie die Rechenschaftsberichte der führenden Funktionäre entgegennehmen, Mängel kritisieren und Wege zu ihrer Behebung aufzeigen.
Schließlich überprüft das Volk die Führer des Landes bei den Wahlen zu den Machtorganen der Sowjetunion durch die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Abstimmung.
Die Aufgabe besteht darin, die Kontrolle von oben mit der Kontrolle von unten zu vereinigen.
58. Die drei großen Prozesse - ab August 1936 - Anfang 1937 - ab März 1938
[aus: RGW-Kommission des KB/Hamburg (Hg.): Texte zur Stalinfrage, Hamburg 1979, S. 51 - 58]
1. Das ´Vereinigte trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum´
Am 19. August 1936 begann ein Prozeß gegen sechzehn Angeklagte;
die Anklageschrift umfaßte folgende Vorwürfe:
"
- daß in der Periode 1932 - 1936 in Moskau ein vereinigtes trotzkistisch-sinowjewistisches Zentrum organisiert wurde, das sich die Verübung einer Reihe von Terrorakten gegen die Führer der KPdSU (B) und der Sowjetregierung zur Aufgabe machte, um die Macht an sich zu reißen;
-
daß diesem vereinigten trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum aus der Zahl der in der vorliegenden Strafsache als Angeklagte zur Verantwortung Gezogenen angehört haben: von den Sinowjewleuten G.J. Sinowjew, L.S. Kamenew, G.J. Jewdokimow, I.P. Bakajew und von den Trotzkisten T.N. Smirnow, W.A. Ter-Waganjan und S.W. Mratschkowski;
-
daß das vereinigte trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum in dieser Zeit eine Reihe von terrroristischen Gruppen organisiert und eine Reihe praktischer Maßnahmen zur Ermordung der Genossen Stalin, Woroschilow, Shdanow, Kaganowitsch, Kirow, Kosior, Ordshonikidse und Postyschew vorbereitet hat;
-
daß von einer dieser terroristischen Gruppen, die auf direkte Weisungen Sinowjews und L. Trotzkis so wie des vereinigten trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums und unter der unmittelbaren Leitung des Angeklagten Bakajew gehandelt haben, am 1. Dezember 1934 der niederträchtige Mord an dem Genossen S.M. Kirow verübt wurde.
"
()
Neben den unter 2. Aufgeführten waren in diesem Prozeß angeklagt:
J.A. Dreitzer, V.P. Olberg, Fritz David (I.I. Krugljanski), E.S. Golzman, R.W. Pikel, I.I. Reingold, K.B. German-Jurin, M.I. Lourie und N.L. Lourie.
Dem Antrag des Staatsanwalts der UdSSR, A.J. Wyschinski, folgend, werden alle Angeklagten nach viertägiger Verhandlung zum Tode verurteilt. Die
"tollwütigen Kettenhunde des Kapitalismus" und
"geschworenen Feinde der Sowjetunion" werden unmittelbar nach der Urteilsverkündung hingerichtet.
Zur Verdeutlichung der Problematik und der Dimension dieses, wie auch der folgenden Prozesse muß auf jeweils einige der Angeklagten näher eingegangen werden.
G.J. Sinowjew war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei seit 1899, Mitglied des Zentralkomitees von 1907 - 1929, nach der Revolution Vorsitzender des Petrograder Stadtsowjets. 1919 - 1926 Vorsitzender der Kommunistischen Internationale; zwischen 1927 und 1934 insgesamt dreimal aus der Partei ausgeschlossen wegen Linksabweichung bzw. Zusammenarbeit mit der trotzkistischen Opposition.
L.B. Kamenew, Mitglied seit 1901, 1917 Mitglied des ZK, 1919 - 1925 Mitglied des Politbüros, 1918 - 1926 Vorsitzender des Moskauer Stadtsowjets, 1926 - 1927 Volkskommissar für Innen- und Außenhandel; 1927 und 1932 aus der Partei ausgeschlossen.
Auch Jewdokimow, Smirnow, Bakajew, Ter-Waganjan und Mratschkowski waren Parteimitglieder seit Beginn des Jahrhunderts und hatten nach der Revolution in der Partei und in der Roten Armee verantwortliche Posten eingenommen.
Alle Angeklagten, mit zeitweiliger Ausnahme von Smirnow, hatten im Prozeß die gegen sie erhobenen Beschuldigungen
"bestätigt" und die geplanten Verbrechen
"zugegeben". Dagegen waren im Verlauf des fünftägigen Prozesses von der Anklage so gut wie keine konkreten und nachprüfbaren Beweise für die Schuld der Angeklagten vorgelegt worden.
In seiner Schlußrede sagte Ankläger Wyschinski:
"Diese tollen Hunde des Kapitalismus wollten unser Land zerstückeln und ihm die allerbesten Gebiete entreißen. Sie töteten einen unserer beliebtesten Revolutionsmänner, diesen bewundernswerten und wunderbaren Menschen, dessen Lächeln immer so strahlend und froh war, wie unser neues Leben strahlend und froh ist. Sie töteten unseren Kirow, sie fügten uns selbst eine Wunde nahe an unserem Herzen zu ... Der Feind ist verschlagen, ein verschlagener Feind darf nicht geschont werden ... Unser ganzes Volk bebt vor Empörung, und namens der Staatsanwaltschaft vereine ich meine zornige und empörte Stimme mit den Donnerstimmen von Millionen ... Ich fordere, daß man die tollwütigen Hunde erschießt, jeden von ihnen!"
()
In ihren Schlußworten bezichtigten sich die Angeklagten noch einmal selbst ihrer Schuld:
Kamenew sagte:
"Wir sitzen hier Seite an Seite mit den Agenten ausländischer Geheimpolizeiabteilungen. Wir kämpften mit dem gleichen Rüstzeug, unsere Waffen verbanden sich miteinander, bevor sich hier auf der Anklagebank unsere Schicksale miteinander verbanden. Wir haben dem Faschismus gedient, wir haben die Konterrevolution gegen den Sozialismus organisiert."
Sinowjew ergänzte:
"Ich trage gleich Trotzki die Schuld an der Organisation des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks, der sich das Ziel setzte, Stalin, Woroschilow und andere Führer zu ermorden ... Ich bekenne mich schuldig, der Hauptorganisator der Ermordung Kirows gewesen zu sein.
Meine Abtrünnigkeit vom Bolschewismus verwandelte sich in Antibolschewismus und durch den Trotzkismus langte ich beim Faschismus an."
()
In allen Schlußworten der Angeklagten wie auch in der abschließenden Rede Wyschinskis wurde Trotzki als das eigentliche Oberhaupt der Verschwörung, als direkter Organisator und Leiter von
"konterrevolutionären, terroristischen, faschistischen" Aktionen gegen die UdSSR und die Führer der KPdSU (B) dargestellt.
2. Das ´Parallelzentrum´
Ein zweiter großer Prozeß fand Anfang 1937 statt.
Angeklagt waren:
J.L. Pjatakow, K.B. Radek, G.J. Sokolnikow, L.P. Serebrjakow,
N. I. Muralow, J.A. Liwschitz, WN. Drobnis, M.S. Boguslawski, I.A. Knjasew,
S.A. Rataitschak, B.O. Norkin, A.A. Schestow, M.S. Stroilow, J.D. Turok,
I.J. Hrasche, G.J. Puschin und V.W. Arnold;
Die Anklage ging davon aus,
"
- daß auf Weisung L.D. Trotzkis im Jahre 1933 ein Parallelzentrum organisiert wurde, bestehend aus den in der vorliegenden Strafsache Angeklagten Pjatakow, Radek, Sokolnikaw und Serebrjakow, dessen Aufgabe die Leitung der verbrecherischen sowjetfeindlichen Spionage-, Diversions- und Terrortätigkeit war, die abzielte auf Untergrabung der militärischen Macht der UdSSR, Beschleunigung eines Kriegsüberfalls auf die UdSSR, Hilfeleistung an fremdländische Aggressoren bei der Besitzergreifung von Territorien und Zerstückelung der UdSSR, Sturz der Sowjetmacht und Wiederherstellung des Kapitalismus und der Macht der Bourgeoisie in der Sowjetunion;
-
daß im Auftrag desselben L.D. Trotzki dieses Zentrum durch die Angeklagten Sokolnikow und Radek in Beziehungen zu Vertretern gewisser auswärtiger Staaten trat zwecks Organisation des gemeinsamen Kampfes gegen die Sowjetunion, wobei das trotzkistische Zentrum sich verpflichtete, im Falle seines Machtantritts diesen Staaten eine ganze Reihe politischer und wirtschaftlicher Vergünstigungen und Gebietsabtretungen zu gewähren;
-
daß gleichzeitig dieses Zentrum durch seine Mitglieder und andere Teilnehmer der verbrecherischen trotzkistischen Organisation systematisch Spionage zugunsten dieser Staaten betrieb, indem es den Spionagediensten fremder Staaten geheime Informationen von größter staatlicher Bedeutung auslieferte;
-
daß zum Zwecke der Untergrabung der wirtschaftlichen Macht und Wehrfähgikeit der UdSSR von diesem Zentrum in einigen Betrieben und im Eisenbahnwesen eine Reihe von Schädlings- und Diversionsakten organisiert und verübt wurden, die Opfer an Menschenleben und Vernichtung wertvollen Staatsgutes zur Folge hatten;
-
daß dieses Zentrum eine Reihe von terroristischen Akten gegen die Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sowjetregierung vorbereitete, wobei Versuche unternommen wurden, diese Akte auszuführen.
"
()
Gemeint waren mit dieser Anklage
- Spionage und Vorbereitung eines Krieges gegen das faschistische Deutschland und gegen Japan mit dem Ziel, eine Niederlage der UdSSR herbeizuführen.
- Für ihre Unterstützung bei der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR sollten Japan, Polen und Deutschland nach dem angeblichen Plan der Angeklagten die Amur- und die pazifische Küstenregion, Weißrußland und die Ukraine erhalten.
In ihrem Schlußwort vor der Urteilsverkündung
"bekannten" sich insbesondere Pjatakow und Radek noch einmal aller ihnen vorgeworfenen Verbrechen
"schuldig",
-
"bestätigten" das Vorhandensein einer konterrevolutionären trotzkistischen Verschwörung,
- in der Trotzki für den Sturz der Sowjetmacht auf Hitler gesetzt habe und
- erklärten Trotzki zum Hauptverantwortlichen für die in der Anklage enthaltenen konterrevolutionären Aktivitäten.
Von den 17 Angeklagten wurden 13 zum Tod durch Erschießen verurteilt und hingerichtet; Sokolnikow, Radek, Arnold und Stroilow erhielten Gefängnisstrafen zwischen 8 und 10 Jahren. Sokolnikow starb in der Haft; über das Schicksal Radeks ist nichts bekannt, er gilt seit 1939 als
"verschwunden".
J.L. Pjatakow war Parteimitglied seit 1910; nach der Oktoberrevolution Stellvertretender Vorsitzender des GOS-Plans (oberste staatliche PIanungsbehörde) und des Allrussischen Volkswirtschaftsrates; später u.a. Vorsitzender der Staatsbank und Stellvertretender Volkskommissar für die Schwerindustrie. 1927 und 1936 aus der Partei ausgeschlossen.
Radek war seit 1903 in Polen und Deutschland als Agitator tätig und arbeitete 1918 an der Organisierung der KPD mit; seit 1920 nahm er leitende Funktionen in der Komintern ein; 1927 und 1936 aus der Partei ausgeschlossen.
Sokolnikow, seit 1905 in der Partei, war 1917 u.a. Redaktionsmitglied der Prawda; nach der Revolution Volkskommissar für Finanzen, Stellvertretender Vorsitzender des GOS-Plans und Stellvertretender Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten.
3. Der ´Block der Rechten und Trotzkisten´
Am 2. März 1938 begann ein dritter Prozeß gegen 21 Angeklagte:
N.I. Bucharin, A.I. Rykow, G.G. Jagoda, N.N. Krestinski, Ch.G. Rakowski,
A.P. Rosengolz, W.I. Iwanow, M.A. Tschernow, G.F. Grinko, I.A. Selenski,
S.A. Bessonow, A. Ikramow, F. Chodshajew, W.F. Scharangowitsch,
Pl. Subarew, P.P. Bulanow, L.G. Lewin, D.D. Pletnjow, I.N. Kasakow,
W.A. Maximow-Dikokski und P.P. Krjutschkow.
Die Anklagepunkte umfaßten:
"
- In den Jahren 1932 - 1933 wurde im Auftrage der Spionagedienste der UdSSR feindlichen Staaten von den in der vorliegenden Strafsache Angeklagten eine Verschwörergruppe unter dem Namen Block der Rechten und Trotzkisten gebildet, die sich zum Ziele setzte, Spionage zugunsten auswärtiger Staaten, Schädlingstätigkeit, Diversionen, Terrorakte, Untergrabung der Wehrkraft der UdSSR, Provozierung eines militärischen Überfalls dieser Staaten auf die UdSSR, Niederlage der UdSSR, Zerstückelung der UdSSR und Lostrennung der Ukraine, Bjelorußlands, der Mittelasiatischen Republiken, Georgiens, Armeniens, Aserbaidschans und des Fernöstlichen Küstengebiets (Primorje) zugunsten der erwähnten auswärtigen Staaten, endlich Sturz der in der UdSSR bestehenden sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung und Wiederherstellung des Kapitalismus und der Macht der Bourgeoisie in der UdSSR.
-
Der Block der Rechten und Trotzkisten ist mit einigen auswärtigen Staaten in Verbindung getreten, um von ihnen bewaffnete Hilfe zur Verwirklichung seiner verbrecherischen Absichten zu erhalten.
-
Der Block der Rechten und Trotzkisten hat systematisch zugunsten dieser Staaten Spionage getrieben, indem er den ausländischen Spionagediensten wichtigste staatliche Geheiminformationen lieferte.
-
Der Block der Rechten und Trotzkisten hat in verschiedenen Zweigen des sozialistischen Aufbaus (Industrie, Landwirtschaft, Eisenbahnverkehr, Finanzen, Kommunalwirtschaft usw.) systematisch Schädlings- und Diversionsakte durchgeführt.
-
Der Block der Rechten und Trotzkisten hat eine Reihe terroristischer Akte gegen die Führer der KPdSU (B) und der Sowjetunion organisiert und Terrorakte gegen S. M. Kirow, W R. Menshinski, W. W Kuibyschew, A.M. Gorki durchgeführt.
Sämtliche Angeklagten sind überführt (...) und haben sich in vollem Umfange der gegen sie erhobenen Anklagen für schuldig bekannt."
()
In seiner Anklagerede führte Staatsanwalt Wyschinski unter anderem aus:
"Er (Bucharin - d. Verf.) hält es aber nicht aus und beendet sein wissenschaftlich-fiebertolles Gestammel mit dem Geständnis: Wir haben uns alle in erbitterte Konterrevolutionäre, in Verräter an der sozialistischen Heimat verwandelt, wir haben uns in Spione, Terroristen, Restauratoren des Kapitalismus verwandelt, wir gingen auf Verrat, Verbrechen, Landesverrat aus ... Wir verwandelten uns in einen Aufstandstrupp, organisierten terroristische Gruppen, befaßten uns mit Schädlingsarbeit, wollten die .. Sowjetmacht des Proletariats stürzen.
Bucharin hätte dem hinzufügen sollen: Wir haben uns in eine Polizeiabteilung des japanisch-deutschen Spionagedienstes verwandelt, wir haben uns in schamlose Verschacherer unserer Heimat verwandelt.
Der Block - das ist eine Agentur der ausländischen Spionagedienste."
()
In seinem Schlußwort wiederholte Bucharin sein Geständnis bezüglich
- der Zugehörigkeit zum "Block der Rechten und Trotzkisten"
- sowie der Organisierung von Kulakenaufständen
- und der Vorbereitung eines Staatsumsturzes.
Gleichzeitig wies er aber auf viele Widersprüche in der Anklage hin und wies eine Reihe von Anklagepunkten zurück, so die Behauptung, der
"Block" sei im Auftrage des faschistischen Spionagedienstes organisiert worden.
18 der 21 Angeklagten wurden am 13. März zum Tode verurteilt, Pletnow zu 25 Jahren, Rakowski und Bessonow zu je 15 Jahren Gefängnis.
In seinem Geständnis machte Krestinski u.a. die Angabe,
- daß er Trotzkis Sohn Lew (bekannt unter dem Namen Leo Sedow) mit General von Seeckt, dem Chef der deutschen Reichswehr, zusammengebracht habe und
- daß er zur Finanzierung der Verschwörung mehr als zwei Millionen Goldmark und eine Million Dollar ausgegeben habe.
- Neben Anschlägen auf das Leben Stalins, Woroschilows und Kaganowitschs
- sowie der Organisierung von Sabotageakten verschiedenster Art
-
"gestanden" die Angeklagten auch die Ermordung Gorkis, Menschinskis, Kuibyschews und Swerdlows - letztere bereits im Jahre 1919.
Bucharin hatte zusammen mit Lenin in Wien und Moskau die Prawda herausgegeben; seit 1918 war er Mitglied des Zentralkomitees, von 1924 - 1928 Mitglied des Politbüros; 1926 - 1929 außerdem Vorsitzender der Komintern; 1929 wurde er wegen Rechtsabweichung aus der Partei ausgeschlossen, aber wieder aufgenommen.
Rykow war Mitglied des Politbüros von 1924 - 1929, in der gleichen Zeit Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrates.1930 wegen Rechtsabweichung aus der Partei ausgeschlossen, aber im selben Jahr wieder aufgenommen, war er 1930 - 1936 Volkskommissar für das Post- und Fernmeldewesen. 1937 wurde er erneut ausgeschlossen.
Jagoda war seit 1924 Stellvertretender Vorsitzender der Tscheka (
"Sonderkommission" - Geheimpolizei im Innenministerium), seit 1934 Volkskommissar für Inneres und hatte in dieser Eigenschaft noch die ersten Moskauer Prozesse von 1936 durchgeführt; nach seiner Absetzung war er 1937 Volkskommissar für das Post- und Fernmeldewesen; 1938 wurde er selbst des Mordes an Kirow angeklagt, für den 1936 bereits Kamenew und Sinowjew verurteilt worden waren.
Krestinski, Parteimitglied seit 1903, war nach der Oktoberrevolution Sekretär des ZK der Russischen Kommunistischen Partei, Botschafter der UdSSR in Berlin und Stellvertretender Volkskommissar für Äußeres. 1937 wurde er aus der Partei ausgeschlossen;
Rakowski hatte nach der Oktoberrevolution verschiedene hohe Funktionen in der Partei und im Staatsapparat; 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1935 wieder aufgenommen. Nach seiner Verurteilung 1938 starb er 1941 im Gefängnis.
Anmerkungen(aus Gründen eindeutiger Zuweisung innerhalb dieses html-files ist die Originalfussnotennumerierung indiziert durch die Kapitelnummer (hier 58.)):
Th. Pirker (Hrsg.), Die Moskauer Schauprozesse 1936 - 1938. München 1963.
I. Deutscher. Trotzki III - Der verstoßene Prophet. Stuttgart. Berlin, Köln, Mainz 1972. S. 314 f.
alle Zit. nach Deutscher, a.a.O., S. 313 1.
Pirker, a.a.0., S. 155 1.
Pirker,a.a.O., S. 176 - 191
59. Dokument 41: Hermann Weber: Die kommunistischen Opfer der Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion 1936 - 1938
[aus: Ders.:
"Weiße Flecken in der Geschichte". Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Frankfurt/Main 1989, S. 11 - 16]
1. Kapitel
Die Säuberungen
Die Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion
Die Ermordung deutscher Kommunisten im sowjetischen Exil ist nur in Zusammenhang mit den Stalinschen
"Säuberungen" zu verstehen. Diese haben in der UdSSR zwischen 1936 und 1938 unzählige Opfer unter den sowjetischen Kommunisten gefordert, aber sie haben auch ausländische Kommunisten schwer getroffen. Die Säuberungen sind in der kritischen Literatur vielfach dargestellt worden. Seit den Rehabilitierungen werden sie nun zunehmend auch von der sowjetischen Geschichtsschreibung thematisiert. Dabei stellte sich heraus, daß in den Stalinschen Säuberungen nicht nur über eine Million sowjetische Kommunisten ermordet wurden, sondern darüber hinaus breite Schichten der Bevölkerung. Jetzt haben die sowjetischen Historiker den Massenmord in Kuropaty (Belorußland) aufgedeckt, dem mindestens 100.000 Menschen zum Opfer fielen, die meist ohne Gerichtsverfahren umgebracht wurden. Heute beschreiben sowjetische Zeugen die unsäglichen Methoden:
"Die Exekutionen erfolgten ebenfalls gruppenweise, jedoch nicht mit Genickschüssen. Die Opfer wurden in einer Front vor der Grube aufgestellt, jeder bekam einen Pfropfen in den Mund, der mit einem Lappen zugebunden wurde. Dann wurde aus dem Gewehr auf den Kopf der Person an der Flanke so geschossen, daß die Kugel zwei Menschen zugleich durchbohrte - - - Sie sparten Patronen."
Die meisten der Ermordeten waren einfache Leute, sie wurden offenbar
"liquidiert", um das vorgegebene
"Soll" an
"Volksfeinden" zu
"erfüllen". Von dieser ungeheuerlichen Seite der Säuberungen und dem dafür verantwortlichen Stalinismus distanziert sich jetzt ein sowjetischer Autor mit der Forderung:
"Jeder anständige Mensch sollte den Stalinismus, diese widerwärtige, verlogene, bestialische und volksfeindliche Erscheinung bekämpfen."
()
Die Zahl der im
"Gulag" Inhaftierten jener Zeit wird auf über 10 Millionen geschätzt; da es Sippenhaft gab, waren auch die Familienangehörigen der Verhafteten von Repressalien betroffen. Die Säuberungen von 1936 bis 1938 (denen 1949 und nochmals 1952/53 Säuberungen folgten, die nach Stalins Tod im März 1953 schließlich abgebrochen wurden) verursachten einen Aderlaß der sowjetischen Kommunistischen Partei und darüber hinaus - was hier thematisiert werden soll - ausländischer Kommunisten.
Von den in Revolution und Bürgerkrieg führenden sowjetischen Kommunisten wurden die bekanntesten in der Säuberung 1936 bis 1938 verhaftet und ermordet. In drei großen, spektakulären
"Schauprozessen" wurden über 50 maßgebliche Führer des Sowjetkommunismus vor Gericht gestellt: im August 1936 Sinowjew, der erste Vorsitzende der Komintern, Kamenew, der Stellvertreter Lenins als Regierungschef und weitere 14 Parteifunktionäre. Im Januar 1937 folgte der zweite Schauprozeß gegen ehemalige Politbüro- und ZK-Mitglieder wie Jun Pjatakow, Karl Radek (der lange Zeit die deutschen Kommunisten anleitete) und L. Serebrjakow sowie weitere führende Kommunisten. Schließlich standen im März 1938 21 Angeklagte vor Gericht, darunter der Parteitheoretiker und Nachfolger Sinowjews als Komintern-Vorsitzender Nikolai Bucharin (von Lenin einst
"Liebling der Partei" genannt), Christian Rakowski, Führer der ukrainischen Sowjetrepublik, G. G. Jagoda, bis 1936 Leiter der Geheimpolizei und N. N. Krestinski, der einzige, der sich zunächst weigerte, ein Geständnis abzulegen.
Für die Beschuldigungen wurden in den Schauprozessen keinerlei Beweise erbracht, zur Verurteilung genügten allein die absurden Geständnisse der Angeklagten. Ausgerechnet die Führer der Revolution von 1917, die die Sowjetunion begründeten,
"gestanden" nun, sie wollten den Sowjetstaat abschaffen, den Kapitalismus restaurieren.
Daß diese Geständnisse mit Folter und psychischem Terror erpreßt wurden, ist durch offizielle Rehabilitierungen der Verurteilten 1988 offengelegt. Inzwischen kritisiert die sowjetische Geschichtsschreibung sowohl körperliche als auch seelische Foltern, betont aber zugleich:
"Allerdings gab es auch Angeklagte, die der menschlichen Natur trotzten und durch nichts in die Knie zu zwingen waren. Laut Gerichtsakten wurden zum Prozeß Pjatakow-Radek 36 Fälle bearbeitet, von denen jedoch nur 19 verhandelt wurden. Ob wir die Namen der Unerschütterlichen je erfahren?"
()
Die Parteiführer, die erschossen wurden, mußten zuvor in den Tribunalen erniedrigende Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Und zwar vom Hauptankläger Wyschinski. Dieser hatte bezeichnenderweise 1917 noch die Menschewiki unterstützt und damals sogar einen Haftbefehl gegen Lenin unterschrieben. Wyschinski 1936:
"Ich fordere, daß diese tollgewordenen Hunde allesamt erschossen werden."
Neben den Schauprozessen fanden zahlreiche Prozesse unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, so gegen Tuchatschewski und die Armeeführung im Juni 1937 und gegen die Altbolschewiki Jenukidse, Karachen u. a. im Dezember 1937. Ebenso gab es ungezählte Prozesse gegen regionale und lokale Parteichefs, aber auch Mitglieder in der Provinz. Noch größer war die Zahl der Parteiführer, die stillschweigend erschossen wurden, weil sie sich geweigert hatten, Geständnisse abzulegen. Die Folgen der Stalinschen Säuberungen von 1936 bis 1938 waren verheerend. Da eine Million Mitglieder der KPdSU verhaftet wurden und fast alle ums Leben kamen - wie der Sowjethistoriker Medwedjew berichtet - ist die Säuberung zur größten Kommunistenverfolgung aller Zeiten geworden. Vor allem aber vernichtete Stalins Geheimpolizei die alte Garde des Bolschewismus, das gesamte Führungskorps aus der Revolutionszeit.
Zu Lenins Lebzeiten waren neben ihm folgende KP-Führer Mitglied des Politbüros: Swerdlow, er starb 1919; Bucharin, Kamenew, Krestinski, Rykow, Sinowjew und Serebrjakow, alle wurden in Schauprozessen verurteilt; Preobraschenski, ihn liquidierte das NKWD stillschweigend als
"Volksfeind"; Tomski beging Selbstmord, und Trotzki wurde ermordet. Der einzige, der überlebte, war Stalin.
Dem Zentralkomitee gehörten in der für das Bestehen der Sowjetmacht entscheidenden Periode zwischen 1919 und 1921 insgesamt 25 Personen an. Davon starben vier vor den Säuberungen: Lenin, Dzierzynski, Artem und Stutschkz. Zwei verloren allen Einfluß: Muranow und Stassowa. Allein zehn wurden in Schauprozessen verurteilt und hingerichtet: Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow, I. N. Smirnow, Radek, Serebrjakow, Bucharin, Rykow, Rakowski und Krestinski. Vier wurden ohne öffentlichen Prozeß als
"Volksfeinde" erschossen: Beloborodow, Preobraschenski, Rudsutak und Smilga. Tomski verübte Selbstmord, Trotzki wurde ermordet. Damit überlebten außer Stalin nur Andrejew und Kalinin die Säuberungen unbeschadet.
Von den 32 Mitgliedern des Politbüros zwischen 1919 und 1938 fielen nicht weniger als 17 der Säuberung zum Opfer. Die Schreckensbilanz ergibt weiter 40 Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU wurden liquidiert, 18 frühere Volkskommissare (d. h. Regierungsmitglieder), 16 Botschafter und Gesandte, fast sämtliche Vorsitzende der einzelnen Republiken wurden erschossen oder kamen in der Verbannung in Sibirien um. Auch in der sowjetischen Armee wütete die Säuberung. Ihr fielen beinahe alle 80 Mitglieder des 1934 geschaffenen Obersten Kriegsrates und vermutlich 40.000 höhere Offiziere zum Opfer. Allein aus dem höheren Offizierskorps verschwanden: drei von fünf Marschällen (Tuchatschewski, Blücher, Jegorow), sowie 13 von 15 Armeekommandeuren. Sämtliche Befehlshaber der Marine wurden erschossen. Die Folgen dieser Dezimierung der Armeeführung 1937/38 bekam die Sowjetunion beim Überfall durch Hitler-Deutschland zu verspüren.
Doch selbst diejenigen Kommunisten, die Stalin zur Macht gebracht und immer treu zu ihm gestanden hatten, gerieten in die Mühlen der Säuberungen. Chruschtschow gab 1956 bekannt, daß von den Mitgliedern des ZK, das der XVII. Parteitag der KPdSU 1934 wählte, 70 Prozent
"verhaftet und liquidiert wurden" und auch von den fast 2.000 Delegierten 1.108 Personen, also über die Hälfte,
"unter der Beschuldigung gegenrevolutionärer Verbrechen verhaftet" wurden.
Terror und Gewalt nahmen 1938 unvorstellbare Formen an. Niemand, bis in die höchsten Spitzen des Staates und der Partei hinein, war davor sicher, Opfer Stalins, Jeschows und des NKWD zu werden. Der Kommunistenführer Barmine, zuletzt sowjetischer Gesandter in Athen, äußerte sich unmißverständlich:
"Es war nicht die Liquidierung einer Verschwörung, es war nicht der Versuch feindlicher Parteien, es war nicht die Unterdrückung einer Opposition. Es war die systematische Vernichtung all jener, die mit ihrem klaren Verständnis der sozialistischen Sache gedient hatten und sich der kaltblütigen Verwandlung ihres Staates in einen totalitären Sklavenstaat widersetzten. Es war eine Gegenrevolution."
()
Im März 1939 trat der XVIII. Parteitag der KPdSU zusammen, und Stalin verkündete nach der Säuberung, daß der
"Sozialismus" nun endgültig aufgebaut sei. Die KPdSU zählte noch 1.600.000 Mitglieder, 300.000 weniger als vor der Säuberung (Mitglieder und Kandidaten zusammen gingen von 2,8 Millionen auf 2,47 Millionen zurück). Nur etwa 20.000 Veteranen aus der Zeit vor 1918 waren 1939 übriggeblieben. Da die Partei 1918 immerhin 270.000 Mitglieder gezählt und es sich dabei meist um junge Menschen gehandelt hatte, muß der größte Teil der Altkommunisten bei den Stalinschen Säuberungen ausgeschlossen oder ermordet worden sein. 130.000 Mitglieder der Partei waren 1939 seit dem Jahre 1920 in der KP. Damals aber zählte die Kommunistische Partei 730.000 Mitglieder. Auch der Großteil dieser 600.000 Kommunisten ist wohl Stalin zum Opfer gefallen. Innerhalb von 15 Jahren, zwischen 1923 und 1938, wurden nicht weniger als 2,5 Millionen Mitglieder aus der KPdSU ausgeschlossen.
Die Säuberung stellte den folgenschwersten Einschnitt in der Sowjetgeschichte dar. Sie zog einen Schlußstrich unter die gesellschaftliche Entwicklung, die seit den zwanziger Jahren zur Herrschaft der Apparate, der hauptamtlichen Bürokratie unter Stalin geführt hatte. Nun wurden alle die Kräfte beseitigt, die durch ihre Verbundenheit mit der revolutionären Tradition der neuen Herrschaft gefährlich werden konnten.
Zugleich bildete die Säuberung den Ausgangspunkt zu einem neuen System. Schließlich steigerte sich die absolute Macht Stalins zu einer despotischen Willkürherrschaft, die erst nach seinem Tod 1953 und mit den ersten Schritten der Entstalinisierung unter Chruschtschow ab 1956 endete.
Anmerkungen (aus Gründen eindeutiger Zuweisung innerhalb dieses html-files ist die Originalfussnotennumerierung indiziert durch die Kapitelnummer (hier 59.)):
Vgl. u. a. Roy Medwedew, Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen des Stalinismus. Frankfurt 1973.
- Hermann Weber, Stalinismus. Zum Problem der Gewalt in der Stalin Ära, in R. Crusius und M. Wilke (Hrsg.), Der X. Parteitag und seine Folgen. Frankfurt 1977
- Robert Conquest, Am Anfang starb Genosse Kirow, Düsseldorf 1970.
- Jod Carmichael, Säuberungen, Berlin (West) 1972.
- Boris Lewytzkyi, Vom roten Terror zur sozialistischen Gesetzlichkeit, München 1961.
- Zum Sinowjew-Prozeß vgl. Leo Sedow, Rotbuch über den Moskauer Prozeß 1936. Trotzkis Sohn klagt an. 4. Aufl. ISP-Verlag, Frankfurt 1988.'
2 Moskau News, Nr. II, November 1988, S. 18.
J. Ambsrzumov, Die Opfer der Moskauer Schauprozesse sind rehabilitiert. in: Moskau News, Nr.8, August 1988, S. 10.
A. Barmine, Einer der entkam. Wien o. J. (1947). S. 453.
Die Kommunistische Partei der Sovjetunion (KPdSU). Berlin(Ost) 1958, S. 90.
Vgl. Wolfgang Leonhard, Schein und Wirklichkeit in der Sowjetunion, Berlin (West) 1952, S. 65 f. - Vgl. auch Roy Medwedew, Wo blieb die erste Million verbluteter Kommunisten? ..Arcbipel Gulag II. in: Rudi Dutschke/Manfred Wilke (Hrsg.). Die Sovjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke. Reinbek b. Hamburg, 1975, S. 226 ff.
60. Die Entwicklung des Repressionsapparates in der UdSSR
- Nach der erfolgreichen Revolution sah sich die junge Sowjetmacht konterrevolutionären Freischärlern und militärischen Truppen gegenüber, deren Niederhaltung mit allen Mitteln für die Revolutionäre eine Überlebensfrage war.
- Dazu diente auch die Schaffung der "Allrussischen außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage" (Tscheka) im Dezember 1917.
- Der Druck auf die Bolschewiki verschärfte sich noch, als 1918 die linken Sozialrevolutionäre den Bruch mit der Sowjetmacht vollzogen mit dem Höhepunkt des Aufstands in Moskau.
- Das Attentat auf Lenin im Sommer 1918 beantworteten die Bolschewiki mit dem Ausrufen des "Roten Terrors", der die Repression nun auch auf die nichtbolschewistische Linke ausweitete.
- Bis dahin galt die Tatsache, daß die Tscheka ohne gesetzlich definierte Richtlinien nach eigenem Ermessen handeln konnte und nur dem ZK der Bolschewiki verantwortlich war, als den Umständen angemessen.
- Nun aber wurde der "Rote Terror" und die dem zugrunde liegende "Nichtgesetzlichkeit" Gegenstand von Kritiken auch aus den eigenen Reihen der Bolschewiki.
- Lenin behandelte aufkommende Kritiken an dem Vorgehen der Tscheka immer sehr auf den Augenblick bezogen.
- Und das hieß beispielsweise 1919, daß die Situation des Bürgerkrieges nur die Frage nach dem "entweder oder" erlaubte.
- Schon 1920, als sich der Sieg im Bürgerkrieg abzeichnete, skizzierten sowohl der Vorsitzende der Tscheka, Dsershinski, als auch Lenin eine Reform der Tscheka.
- Die Tscheka sollte vom Terror ablassen und in einen gesetzlichen Rahmen eingebunden werden.
- Diese Reform führte nach Einführung der NEP
- zur Neuformierung der Tscheka in die "Staatliche Politische Verwaltung" (GPU), und
- nach der Gründung der UdSSR 1923 in die "Vereinigte Staatliche Politische Leitung, Politische Polizei" (OGPU).
- Sonderbestimmungen und die Tatsache, daß die OGPU als eigenständiges Volkskommissariat nicht den Justizbehörden, sondern nur dem ZK unterstellt blieb, erlaubten der OGPU immer wieder, die "Gesetzlichkeit" auszuhebeln.
- Welche Rolle politischer Druck und die Zunahme von Zwangsmaßnahmen (Verschärfung des Straf- und Haftvollzugsrechts) bei der Durchsetzung der forcierten Industrialisierung spielten, wird dargelegt am Beispiel
- der "Schachty-Affäre" 1928,
- der "Schädlingskampagne" 1929,
- der Zwangskollektivierung 1930 und
- der Entwicklung des Zwangsarbeitssystems.
- Zur ökonomischen Bedeutung der Zwangsarbeit drucken wir im Dokumententeil Auszüge aus "Herrschaft und Klassen in der Sowjetgesellschaft" von Peter W. Schulze nach.
- Im Rahmen der sozialen und politischen Entwicklung der Sowjetunion, die in den anderen Referaten ausführlich behandelt wird, erlangte die OGPU zunehmenden Einfluß auf die Politik und durchdrang die Gesellschaft.
- Zunehmend machte sich die ZK-Strömung um Stalin die Zusammenarbeit mit der OGPU zur Durchsetzung ihrer Politik zunutze.
- Der Ausbau des Machteinflusses der OGPU, die gleichzeitig sich verschärfende Strafrechts- und Haftvollzugspolitk veränderten das gesellschaftliche Klima in der Sowjetunion nachhaltig.
- So wurde der 1926 in das Strafrecht eingeführte (im Dokumententeil nachgedruckte) Artikel 58 die Grundlage der späteren Anklagen gegen Oppositionelle.
-
Das Stadium der "Allmacht" der OGPU schien 1934 beendet, als eine Staatsanwaltschaft der UdSSR eingerichtet wurde, die u.a. die "Gesetzlichkeit und Korrektheit der Tätigkeit der OGPU" beaufsichtigen sollte.
- Die Neuformierung des "Volkskommissariats für Inneres" (NKWD) unter Eingliederung der OGPU sollte dieser neuen "Gesetzlichkeit" Rechnung tragen, bedeutete praktisch aber die Schaffung eines "Superministeriums für Innere Sicherheit".
- Mit der Bildung dieser Behörde war ein zentraler Unterdrückungsapparat geschaffen, und es bedurfte nur noch der entsprechenden politischen Situation, um dessen Kräfte freizusetzen.
- Das Attentat auf das ZK-Mitglied S. Kirow am 1. Dezember 1934 setzte das politische Signal, das jene Phase einleitete, deren trauriger Höhepunkt der Massenterror (nach dem für die Durchführung Verantwortlichen Jeshow auch "Jeshowshtshina" genannt) und - in diese eingebettet - die drei großen Moskauer Prozesse in den Jahren 1936 - 1938 darstellen.
1. 1917 - 1923: Von der Tscheka zur OGPU
- Nach der Oktoberrevolution erließ der Rat der Volkskommissare am 5. Dezember 1917 ein Dekret zur Gerichtsbarkeit.
- Darin wurde ein Strafrecht geschaffen, das mit seinem Anspruch darauf abzielte, sich gleichsam mit der Entwicklung der entfalteten sozialistischen Gesellschaft überflüssig zu machen.
- Es zielte mit seinem Strafzweck - soweit es mit gemeiner Kriminalität aus dem Proletariat konfrontiert war - auf Besserung und Erziehung.
- Die neuen Gerichte sollten aufgrund demokratischer Wahlen vom Volk gewählt werden.
- Alle bürgerlichen juristischen Institutionen wie Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und Rechtsanwalt wurden abgeschafft.
- Alle "unbescholtene Bürger" waren als Ankläger und Verteidiger zugelassen.
- Alle Gesetze, die der "Rätemacht" widersprachen, galten als aufgehoben.
Am 20. Dezember 1917 bildete der Rat der Volkskommissare die
"Allrussische Außerordentliche Kommission" (
Tscheka). Zu ihrer wesentlichen Aufgabe gehörte
"die Verfolgung und Bestrafung aller Akte der Konterrevolution und Sabotage in ganz Rußland ungeachtet ihrer Ursachen."
()
-
Die Tscheka unterstand dem Rat der Volkskommissare.
- Dsershinski, erster Leiter der Tscheka, war Mitglied des ZK.
- In seiner ersten Ansprache vor den "Tschekisten" betonte er vor dem Hintergrund der drohenden Konterrevolution die notwendige Härte bei der Verteidigung der Revolution.
"Glaubt nicht, daß es mir um formales revolutionäres Recht zu tun ist. Wir brauchen jetzt keine Justiz. Was wir brauchen ist Kampf bis aufs Messer. Ich beantrage, ich fordere die Schaffung des revolutionären Schwertes, das alle Konterrevolutionäre vernichten soll. Wir müssen handeln, nicht morgen, sondern heute - sofort."
()
-
Auf den Widerstand bürgerlich-konterrevolutionärer Gruppen reagierte die Tscheka mit unnachgiebiger Härte.
- Ihrer Aufgabe, die Konterrevolution mit allen Mitteln niederzuhalten, wurde die Tscheka vor allem dadurch gerecht, daß sie Razzien durchführte, Verhaftungen vornahm, im Zweifelsfall Verdächtige erschoß.
- Sie war zur Erfüllung ihrer Aufgabe durch keinerlei gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt.
- Es galt die entschlossene Macht zu demonstrieren.
Als die deutschen Truppen am 23. Februar 1918 ihre militärische Offensive begannen, erließ der Rat der Volkskommissare ein Manifest, daß
"Agenten der Spekulanten, Schieber, konterrevolutionäre Agitatoren und deutsche Spione umgehend zu erschießen seien."
()
Dieses Frühjahr 1918 drohte des Ende der noch jungen Sowjetmacht einzuläuten:
- Die konterrevolutionären Truppen organisierten sich und gingen zum "weißen Terror" gegenüber der Bevölkerung und den Anhängern und Aktivisten der Bolschewiki über,
- die Bauern widersetzten sich den Getreiderequirierungen, die zur Dämpfung der drohenden Hungersnot angeordnet wurden,
- und schließlich im Juli 1918 intervenierten Frankreich und Großbritannien zugunsten der Konterrevolution.
- Die Tscheka agierte in dieser Zeit faktisch nach eigenem Ermessen, Hinrichtungen häuften sich.
M. Latsis, einer der Stellvertreter Dsershinskis, schrieb dazu später:
"Das Leben hatte es notwendig gemacht, sich durch revolutionäre Mittel das Recht zur unverzüglichen Hinrichtung anzueignen. Genosse Dsershinski hatte einen von dem Erlaß nicht vorgesehenen Schritt unternommen, den niemand autorisiert hatte. (Lenin) erkannte, daß Genosse Dsershinski recht hatte. Man kann sich nicht gegen das Leben stellen. Auf diese Weise legalisierte das Leben selbst das Recht der Tscheka zu unverzüglichen Hinrichtungen."
()
- Nach dem bewaffneten Aufstandsversuch der Linken Sozialrevolutionäre im Juli und
- dem Attentat auf Lenin durch eine Sozialrevolutionärin, Ende August 1918,
- erweiterte sich die Härte der Tscheka zum Gegenterror
- und schloß nun auch die nicht-bolschewistischen, aber sozialistischen Parteien mit ein.
- Am 3. September 1918 meldete die Regierungszeitung Iswestija als "Antwort" der Sowjetmacht auf das Attentat die Erschießung von 500 Geiseln.
Der Sowjet des Ersten Stadtbezirks von Petrograd verabschiedete eine Resolution, in der es u.a. hieß:
"Die Versammlung begrüßt die Tatsache, daß Massenterror gegen die Weißgardisten und die höheren Bourgeois-Klassen angewandt wird..."
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Am 5.9. 1918 beschloß der Rat der Volkskommissare den Erlaß
"Über den Roten Terror", der die Tscheka ermächtigte,
- Klassenfeinde in Internierungslager zu sperren,
- jeden, der Verbindungen zu konterrevolutionären Organisationen hatte, zu erschießen.
- Die Namen und Gründe der Hinrichtungen sollten öffentlich gemacht werden.
Eine Instruktion vom 17. September 1918 ermächtigte die Tscheka
"ohne Überstellung an die Revolutionären Tribunale zu verurteilen und hinzurichten."
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Es häufte sich die Kritik gegenüber den Massenerschießungen und Übergriffen (einschließlich Folterungen) der Tscheka, selbst durch alte, kampferprobte Revolutionäre wie L. Krassin (Volkskommissar für Außenhandel). In einem Brief vom 23. September 1918 schrieb er:
"Nach der Ermordung Uritzkijs und dem Attentat auf Lenin machten wir eine Zeit eines sogenannten Terrors durch, eine der ekelhaftesten Manifestationen der Neo-Bolschewiken. Ungefähr sechs- bis siebenhundert Personen wurden in Moskau und Petrograd erschossen, nachdem neun Zehntel von ihnen aufs Geradewohl verhaftet worden waren, oder auf den Verdacht hin, Rechts-Sozialrevolutionäre zu sein. In der Provinz erfolgten daraufhin eine Reihe von empörenden Zwischenfällen, wie Verhaftungen und Massenhinrichtungen."
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Lenin sah sich veranlaßt zu diesen Kritiken Stellung zu nehmen.
"Wenn ich die Taten der Tscheka betrachte und gleichzeitig die abfällige Kritik darüber höre, muß ich sagen, das ist alles müßiges Geschwätz der Kleinbürger. ... Es ist sehr gut möglich, daß unerwünschte Elemente in die Tscheka gekommen sind. Wir werden sie durch Selbstkritik wieder vertreiben."
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- Lenin war damals davon überzeugt, daß die Tscheka die volle Rückendeckung der Partei benötigte, auch dann, wenn sie beim Kampf gegen die "Weißgardisten", Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilose wie "Konterrevolutionäre" behandelte, was selbst in den eigenen Reihen auf Kritik stieß.
- Im Juli 1919 ging Lenin in einem Brief des ZK "an die Parteiorganisationen" der KPR anläßlich der bevorstehenden Offensive der Konterrevolution unter General Denikin auf diese Kritik noch einmal ein.
Lenin:
"Martow, Wolski und Co. wähnen sich über den beiden kämpfenden Parteien zu stehen, wähnen, eine dritte Partei bilden zu können. ... Das ist ihre Sache. Unsere Sache aber ist es, daran zu denken, daß es in der Praxis unvermeidlich ist, daß solche Leute heute zu Denikin hin, morgen zu den Bolschewiki schwanken. Und heute muß die Arbeit des heutigen Tages gemacht werden.
Unsere Sache ist es, die Fragen offen zu stellen: Was ist besser? Hunderte von Verrätern unter den Kadetten, Parteilosen, Menschewiki, Sozialrevolutionären, die (der eine mit der Waffe in der Hand, der andere auf dem Wege der Verschwörung oder durch Agitation gegen die Mobilmachung, wie die menschewistischen Drucker oder Eisenbahner usw.) gegen die Sowjetmacht, das heißt für Denikin, aufzutreten, einzufangen und ins Gefängnis zu stecken, manchmal sogar zu erschießen? Oder es dahin kommen zulassen, daß es Koltschak und Denikin gestattet wird, Zehntausende von Arbeitern und Bauern zu erschlagen, zu erschießen, zu Tode zu prügeln? Die Wahl ist nicht schwer.
So und nur so ist die Frage gestellt."
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- Unmittelbar nach der Propagierung des Massenterrors gab M. Latsis seinen Tschekisten die Anweisung, bei Verhaftungen bräuchten sie nicht "nachzuweisen", ob die Verdächtigen "durch Wort und Tat gegen die Sowjetmacht gehandelt" hätten.
- Es reiche Klassenzugehörigkeit, Abstammung, Erziehung und Beruf.
- Als die Partei feststellte, daß sie zur Betriebs- und Wirtschaftsorganisation auf Mitarbeit der bürgerlichen Spezialisten, Techniker und Ingenieure angewiesen war, erließen Dsershinski und Latsis am 17. Dezember 1918 ein Rundschreiben, in dem das Abstellen der "Neigung, Spezialisten allein darum zu verhaften, weil sie bürgerlicher oder gar adliger Herkunft waren", gefordert wurde .
Eine Truppe der aufrechtesten Revolutionäre mit politisch hohem Bewußtsein scheint die Tscheka nicht gewesen zu sein, denn 1921 stellte Latsis fest, daß die Tscheka Anziehungspunkt für
"Schwindler und verbrecherisches Gesindel geworden ist, das sich des Titels Beauftragter der Tscheka bedient, um zu erpressen und sich die Taschen zu füllen."
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- In der Bürgerkriegszeit unterschied die Tscheka zwischen
- den "Politischen Gefangenen" und
- den Konterrevolutionären.
- Zur ersten Kategorie zählten alle Mitglieder der nicht-bolschewistischen, aber sozialistischen Parteien.
- Am 30. Dezember 1920, noch vor Ende des Bürgerkrieges gab die Tscheka eine Anweisung heraus, nach der die "Politischen" nicht als zur Strafe verurteilte Personen behandelt werden durften, sondern als solche, "die im Interesse der Revolution vorübergehend von der Gesellschaft isoliert" zu betrachten seien.
- Die "Politischen" bekamen Sonderrationen, brauchten keine Zwangsarbeit zu machen, durften sich eine "Selbstverwaltung" wählen, die mit der Gefängnisleitung verhandelt.
Nach Beendigung des Bürgerkrieges und mit dem Eintreten in die Phase des Wiederaufbaus und der NEP
"drängte die Führung der Tscheka darauf, daß die Gefängnisse und Lager geleert wurden". In einer Verordnung vom 8. Januar 1921 wird zugegeben:
"Die Gefängnisse sind überfüllt, aber nicht etwa mit Bürgerlichen, sondern zumeist mit Arbeitern und Bauern (die bei Diebstahl oder Schwarzhandel erwischt worden waren). Diese Erbschaft (des Bürgerkriegs) muß liquidiert werden..."
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- Die Aufgaben der Sicherheitsorgane mußten neu definiert werden.
- Dsershinski formulierte schon auf der 4. Tschekistenkonferenz am 3. Februar 1920 einen neuen Arbeitsstil der Tscheka.
- Die "Waffe des Terrors" sei nicht mehr notwendig.
Notwendig sei vielmehr,
"neue Methoden zu suchen, mit deren Hilfe wir, ohne Massenhausdurchsuchungen durchzuführen und Terror anzuwenden, eine ständige Beobachtung aufrechterhalten und die Wurzel der Verschwörungen und feindseligen Pläne unserer Widersacher zerschneiden können."
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Der Tscheka wurden die Befugnisse eingeschränkt.
- Lenin erläuterte auf dem 9. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Dezember 1921, daß die Notwendigkeit einer Institution wie der Tscheka unbestritten sei.
- Aber die jetzige Lage, in der der Warenumlauf entwickelt werde, erfordere, die "Losung der Verwirklichung größerer revolutionärer Gesetzlichkeit in den Vordergrund" zu rücken,
-
"und desto mehr verengt sich die Sphäre der Institution, die auf jeden Schlag der Verschwörer mit einem Gegenschlag antwortet."
- Er forderte eine Reform der Tscheka, "ihre Funktionen und Kompetenzen festzulegen und ihre Arbeit auf politische Aufgaben zu beschränken."
Der 9. Sowjetkongreß verabschiedete eine Entschließung, die zur Reorganisierung der Tscheka führte.
- Sie wurde am 7. Februar 1922 in "Staatliche Politische Verwaltung" (GPU) umbenannt
- und bekam den Auftrag, sich mit besonders gefährlichen Staatsverbrechen zu befassen:
- politische und
- wirtschaftliche Konterrevolution,
- Spionage und
- Banditenunwesen.
- Die GPU wurde dem Volkskommissariat für Inneres (NKWD) unterstellt.
- Ihre Arbeit sollte sich auf die Ermittlungen beschränken,
- während die Aburteilung den Gerichten übertragen wurde.
- Damit schienen willkürliche Übergriffe und Machtmißbrauch eingedämmt.
Gleichzeitig erhielt die GPU aber die Vollmacht,
"hinsichtlich von Personen, die am Ort der Tat ergriffen werden, .. Verhaftungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen ... ohne besondere Verfügung und ohne besonderen Befehl (vorzunehmen), mit nachfolgender Bestätigung seitens des Vorsitzenden der Staatlichen Politischen Verwaltung..."
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- Im August und Oktober 1922 hatte die Sowjetmacht "Sonderkommissionen" eingerichtet - in denen die GPU großen Einfluß hatte.
- Diese Kommissionen hatten das Recht,
- Konterrevolutionäre auf administrativem Wege auszuweisen oder zu verbannen,
- im Falle von Banditentum oder bewaffnetem Raub Strafen bis zur Erschießung zu verhängen
- sowie Personen, die antisowjetische Aktivitäten ausübten bis zu drei Jahren in Konzentrationslager einzuweisen.
- Diese Bestimmungen galten auch für Funktionäre "sowjetfeindlicher Parteien".
- Die Auseinandersetzung mit der politischen Opposition (außerhalb der Partei der Bolschewiki) ging damit zunehmend auf den Bereich der politischen Polizei über.
-
1923, mit Gründung der UdSSR und mit Schaffung der Verfassung,
- wurde die GPU aus dem NKWD herausgelöst,
- und als selbständige Organisation den anderen Volkskommissariaten gleichgestellt
- und in "Vereinigte Staatliche politische Leitung" (OGPU) umbenannt
- und war damit formell die Zentrale der Sicherheitsapparate in der gesamten Sowjetunion.
- Ihr oberster Chef blieb weiterhin Dsershinski.
- Das Budget dieser Behörde am Gesamthaushalt der UdSSR betrug in diesem Jahr 2,9%
- (Der Etat der Roten Armee betrug 29,1%)
- Bis 1928 wuchs das Gesamtbudget nicht mehr als das der anderen Behörden.
- Schon in diese Zeit fällt auch die Zusammenarbeit Dsershinskis mit Stalin.
- Im Februar 1921 überfielen auf Befehl Stalins Abteilungen der Roten Armee Georgien, dessen Unabhängigkeit im März 1920 vertraglich anerkannt wurde.
- Lenin ließ sich von Dsershinski Berichte über die Lage im Kaukasus anfertigen, die dieser erst nach heftigen Anfragen Lenins lieferte.
- Lenin hielt es für notwendig, "Stalin und Dsershinski für diese ganze großrussische Kampagne verantwortlich zu machen".
- Mitte 1923 entfaltete eine Gruppe usbekischer und tatarischer Kommunisten eine Kampagne für die Gleichstellung der türkischen Völker in der Sowjetunion.
- Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu, und Generalsekretär Stalin wies Dsershiriski an, diese Parteimitglieder wegen "Nationalismus" zu verhaften.
- Auf dem ZK-Plenum vom Juni 1923 kam dieser Fall zur Sprache.
- Trotz heftiger Kritik u.a. Kamenevs und Sinowjews billigte das ZK die Verhaftungen nachträglich.
- Damit war ein Präzedenzfall geschaffen.
- Die OGPU griff erstmalig in innerparteiliche politische Auseinandersetzungen ein.
- 1926 starb Dsershinski, sein Nachfolger wurde Menshinski, dessen Gesundheit sehr angegriffen war.
- So lag die praktische Arbeit bei dem schon unter Dsershinski als Stellvertreter fungierenden Jagoda, ein enger Mitarbeiter Stalins.
Die OGPU war in den zwanziger Jahren zwar präsent,
- bei der Verfolgung der Sowjetmacht feindlich gegenüberstehenden Parteien,
- beim Aufspüren parteiinterner Opposition
- und auch bei der Bekämpfung von Gewaltkriminalität
bis zum Übergang zur forcierten Industrialisierung ab 1929/30 dominierte sie das gesellschaftliche Leben aber noch nicht.
2. Exkurs: 1917 - 1930: Vom revolutionären Strafrecht zur repressiven Justiz
- Ende der zwanziger Jahre war die OGPU in 11 Abteilungen untergliedert
- und hatte begonnen eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche zu überwachen.
Darunter:
- Die Geheimabteilung (SO): Kampf gegen feindliche politische Parteien, Beobachtung von Fraktionen innerhalb der KPdSU und Kirchenfragen. Diese Abteilung unterstützte das ZK beim Vorgehen gegen die parteiinterne Opposition.
-
Die Volkswirtschaftliche Abteilung (EKO): Bekämpfung von Wirtschaftsspionage, Wirtschaftskriminalität und Versagen bei Planerfüllung. Im Rahmen der "Schädlingskampagne" spielte diese Abteilung eine wichtige Rolle.
-
Die Informationsabteilung (INFO) überwachte Literatur, Medien und Post.
-
Die operative Abteilung (OPO): Beschattung von Personen, Hausdurchsuchungen, Festnahmen .
Der Ausbau der OGPU verlief parallel mit einem Wandel in der Rechtspolitik und der Strafvollzugspolitik,
- zu der auch die Entwicklung der Zwangsarbeitslager gehört.
- Schon Anfang der zwanziger Jahre war im Strafgesetzbuch die "Besserungsarbeit" eingeführt worden.
- Der Verurteilte arbeitete - oft auf seiner eigenen Arbeitsstätte - zu einem reduzierten Lohn.
- Dagegen nahmen Haftstrafen einen untergeordneten Platz ein.
-
Die Modifizierungen des Strafrechts vom 1.6.1922, und auch die vom 22.11.1926 gingen noch von einem "Strafrecht ohne Schuld und Sühne" aus,
- das weniger auf die "Schuld"
- als auf die "soziale Gefährlichkeit"
- einer zu beurteilenden "Straftat" abstellte.
- Die Klassenzugehörigkeit der Täter sollte bei der Strafzumessung beachtet werden.
- Das Strafgesetzbuch von 1926, das - mit Abweichungen - bis in die dreißiger Jahre hinein gültig war, teilte die "Maßnahmen des sozialen Schutzes" in drei Kategorien ein.
Als wichtigste Maßnahnen galten:
- Freiheitsentzug in Besserungslagern in abgelegenen Gebieten der UdSSR (bis 20.5.1930: Freiheitsentzug mit strenger Isolierung);
- Freiheitsentzug, verbüßt in allgemeinen Haftanstalten (bis 20.5.1930: Freiheitsentzug ohne strenge Isolierung);
- Besserungsarbeit ohne Freiheitsentzug.
- Bis 1930 spielten lange Haftstrafen kaum eine Rolle,
- während Geld- und Vermögensstrafen vorherrschend waren,
- kurze Freiheitsstrafen und Zwangsarbeit ohne Haft dagegen eine gewisse Rolle spielten.
- Arbeit galt als wichtigstes Mittel zur Resozialisierung.
- Dieses Resozialisierungssystem wurde vom Rat der Volkskommissare am 11. Juli 1929 annulliert, nachdem der 6. Kongreß der Staatsanwälte, Gerichts- und Untersuchungsbehörden im Frühjahr neue Richtlinien fur eine neue Strafrechtspolitik erarbeitet hatte.
In einem Bericht zu diesem Kongreß heißt es:
"Die Notwendigkeit, solche Haftanstalten wie Besserungsarbeitshäuser und Isolatoren durch andere Besserungsarbeitseinrichtungen (Fabrik- und Werks-, bzw. landwirtschaftliche Kolonien) zu ersetzen mit Rücksicht auf die Hauptmasse ... der Verurteilten aus dem werktätigen Milieu. (Für Klassenfeinde, Berufsverbrecher und Wiederholungstäter, aber auch für die Werktätigen, die besonders gefährliche Verbrechen verübt haben, schlug der Kongreß Konzentrationslager und Isolatoren vor)."
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- Binnen vier Monaten werden 64.000 Häftlinge aus Arbeitshäusern in Lager überführt.
- Die Zahl der Insassen von Arbeitskolonien stieg vom 1.9.29 bis 1.5.1930 von 7.000 auf 60.000.
- Die Lager und Arbeitshäuser unterstanden dem NKWD (Volkskommissariat des Inneren), später dem NKJu (Volkskommissariat der Justiz).
Eine drastische Abwendung von der Zielsetzung der Strafgesetzgebung unmittelbar nach der Revolution stellten
- die "Unionsgesetze über Staatsverbrechen und Militärverbrechen" dar, die in das Strafgesetzbuch vom 22.11.1926 aufgenommen wurden.
- Artikel 58 erfaßte die "gegenrevolutionären Verbrechen".
- Als solche galten alle Handlungen, "die auf den Sturz, die Unterhöhlung oder die Schwächung" der inneren und äußeren Sicherheit der UdSSR gerichtet waren.
- Als Strafmaß schrieb der Artikel 58-la die "Erschießung" und bei milderen Umständen "10 Jahre Freiheitsentzug" vor.
- Dieser Artikel war die grundlegende Norm für die Verhaftungswellen des NKWD ab 1934
- und die Norm für die drei Großen Prozesse 1936 - 38.
- Der Artikel 58 wurde erst nach dem XX. Parteitag - 1958 - aufgehoben.
3. 1928: Der ´Schachty-Prozeß´ - Beginn der ´Schädlingskampagne´
- Die schwere Getreidebeschaffungskrise des Winters 1927/28 und
- der sichtbare Wandel des Verhältnisses von Parteiführung zur Wirtschaftsleitung,
- der sich vor allem im "Schachty-Prozeß" niederschlug,
- schufen den Rahmen
- für die scharfen Auseinandersetzungen um Planentwurf und Industrialisierungstempo, die sich im Laufe des Jahres entwickelten und
- den Beginn der Auseinandersetzung mit der "Rechten Opposition" einleiteten.
Dabei wuchs der Einfluß der OGPU, zumal die Verschärfungen des Strafrechtes und des Strafvollzuges begannen Wirkung zu zeigen.
Der Oberste Gerichtshof der UdSSR legte am 2. Januar 1928 eine verbindliche Auslegung jenes Artikels 58 fest, wonach es sich um konterrevolutionäre Delikte handelt,
"wenn die Person, die sie, auch ohne unmittelbar ein konterrevolutionäres Ziel damit zu verfolgen, beging, wissentlich die Möglichkeit eines Eintretens eines solchen Ziels nicht ausschloß oder den gesellschaftlich gefährlichen Charakter der Folgen dieser Taten hätte voraussehen müssen."
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Das April-Plenum der Partei beschloß eine Reform der Wirtschaftsleitung und die Entscheidungen im wirtschaftlichen Bereich unter die Kontrolle der Partei zu nehmen.
- Verbunden damit war eine Kritik an der Rolle der Partei in Wirtschaftsfragen.
- Für die Kaderpolitik wurden daraus weitgehende Schlußfolgerungen gezogen.
- Es sollte der "rote" Wirtschaftskader herangezogen werden.
- Die "bürgerlichen Spezialisten" sollten in ihrem Einfluß zurückgedrängt werden.
- Ein Teil dieser Überlegungen floß in die "Schädlingskampagne" ein.
- Der "Schachty-Prozeß" wurde zum propagandistischen Aufhänger erklärt.
Am 18. Mai begann der
"Schachty-Prozeß".
- 53 Angeklagten wurde vorgeworfen, im Auftrag der früheren kapitalistischen Besitzer systematisch Sabotage im Kohlebergbau betrieben zu haben.
- 11 Angeklagte sollten erschossen werden (5 wurden erschossen), 4 wurden freigesprochen, die übrigen zu Freiheitsstrafen verurteilt.
- Bucharin berichtete Kamenev in einem Gespräch am 11.7.28, Stalin habe sich gegen die Erschießungen verwahrt, sei aber überstimmt worden.
- Die Kampagne wurde vor dem Hintergrund gestartet, daß die forcierte Industrialiserung sich nicht ohne Widerstand innerhalb und außerhalb der Partei durchsetzen ließ.
- Vielerorts standen die bürgerlichen Fachleute dem Tempo der Industrialisierung skeptisch gegenüber.
- Andererseits stand die Industriearbeiterschaft den "Spezialisten" mißtrauisch gegenüber, ihrer Stellung früher und heute, als auch ihrer Herkunft wegen.
- Diesen Widerspruch machte sich die Mehrheitsfraktion um Stalin zunutze.
- Die "Volkswirtschaftliche Abteilung" (EKO) der OGPU spielte die zentrale Rolle bei der Umsetzung der Kampagne. Sie lieferte das "Material", das die Schauprozesse dieser Zeit erst möglich machte.
- (So auch später beim Schauprozeß gegen
- die sogenannte "Industriepartei",
- dem "Menschewisten-Prozeß" und
- dem Prozeß gegen die "Vickers Ingenieure").
- In diese Phase fällt die enge Zusammenarbeit der ZK-Mehrheit und der OGPU, der Ersatz politischer Auseinandersetzung durch das Mittel der Repression.
Das Jahr 1929 wurde beherrscht durch eine angespannte wirtschaftliche und soziale Lage im Land.
- Zur Sicherung der Versorgung mußten in allen größeren Städten die Lebensmittel per Karte rationiert werden.
- In dieser Zeit wurde der Strafvollzug verschärft.
- Nicht mehr die Resozialisierung, sondern die Strafe durch Zwangsarbeit in Lagern und Kolonien wurde beherrschendes Rechtsmittel.
- Die Verhaftungswellen im Zuge der "Schädlingskampagne" nahmen zu.
- Die OGPU gewann zunehmend an Einfluß in Staat und Gesellschaft, da sie der Organisator und Verwalter der immer größer werdenden Arbeitslager wurde.
- Das Strafrecht forderte von den Sowjetbürgern die vom Staat bestimmte "Pflichterfüllung" unter Androhung von Strafe.
- Die Auseinandersetzung in der Partei zwischen der Stalin-Gruppe und der "Rechten Opposition" endete mit der Niederlage der Opposition und
- einer Ausweitung der Kampagne "gegen die rechte Abweichung in der Praxis" - die parallel zur "Schädlingskampagne" lief und mit ihr verquickt wurde - auf alle Bereiche der Gesellschaft.
- Die Kampagne diente vor allem der Disziplinierung all jener innerhalb und außerhalb der Partei, die an dem einen oder anderen Punkt mit der forcierten Industrialiserung nicht übereinstimmten,
- und sie diente auch der Massenmobilierung für eben diese Industrialisierung.
Im November 1929 wurde eine Änderung im Strafgesetzbuch vorgenommen:
- Danach sollten Häftlinge, die zu drei und mehr Jahren Freiheitsentzug verurteilt waren, ihre Strafe in Arbeitslagern in abgelegenen Gebieten ableisten.
- Häftlinge mit Freiheitsentzug unter drei Jahren dagegen in Arbeitskolonien.
- Straftäter, die zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt waren, sollten nicht mehr "erzogen", sondern massiv bestraft werden.
4. Die OGPU stärkt ihre gesellschaftliche Stellung
- Die "Schädlingskampagne" bestimmte die Politisierung des Strafrechts und markierte politische Oppositionelle damit zu Straftätern.
- Von 1928 bis 1934 steigerte der Straftatbestand "Konterrevolution" (Artikel 58) sich um das Dreifache, lag aber immer noch erheblich unter der Zahl der
-
"Vergehen gegen die öffentliche Ordnung",
-
"Eigentumsdelikte" und
-
"Gewaltverbrechen"
Das Gesetz vom
"Verbot des Arbeitsplatzwechsels, die Inpflichtnahme jedes Arbeiters für den reibungslosen Ablauf der Produktion" steigerte die Repression.
Von A. J. Wyschinski, dem späteren Oberstem Staatsanwalt wurde die aktive
"Pflichterfüllung", nicht eben nur ein nicht-gesellschaftsschädigendes Verhalten, als Normzweck des Strafrechts gesehen.
"Das sowjetische Strafrecht... erhebt die Forderung nach bestimmten Verhalten, nach einer bestimmten Einstellung zu den Pflichten der Sowjetbürger, indem es die Erfüllung dieser Pflichten unter Strafandrohung für verbindlich erklärt."
()
- Nach dieser Auffassung war es den Behörden möglich, jedes Individuum für die objektiven Mißstände im Zuge der Kollektivierung und forcierten Industrialisierung zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen.
- Das erste Mal wurde dieses während der "Schädlingskampagne" 1929 bis 1931 praktiziert, was zum massenhaften Vollstopfen
- der Arbeitshäuser (bei geringeren Strafen) und
- der Arbeitslager (bei schwereren Strafen)
-
mit einfachen Arbeitern und Bauern,
- bürgerlichen Technikern und Ingenieuren,
- als auch mit vermeintlichen und
- wirklichen Oppositionellen führte.
Die OGPU begann nun auch direkt in die Produktion und Wirtschaftsplanung einzugreifen.
- Bereits Ende 1927 wurden im Staats- und Behördenapparat "Beobachtungszellen" organisiert, die "unzuverlässige Elemente" aufzuspüren hatten.
- 1929/30 war die OGPU in allen größeren Betrieben und Behörden durch "Spezialbeauftragte" vertreten.
"Zunächst überwachten sie das Personal und sammelten Daten und Charakteristiken der Beschäftigten. Sie hatten Mitspracherecht bei Einstellungen oder Beförderungen. Daneben befaßten sie sich mit der Absicherung des Betriebs und sorgten für Einhaltung der Geheimhaltungsvorschriften. Schließlich beobachteten sie die Produktionsabläufe und gingen allen Unregelmäßigkeiten nach."
()
Die OGPU erreichte trotz anfänglicher Widerstände eine Stellung in Partei und Gesellschaft, die Ordshonikidse, Volkskommissar für Schwerindustrie, auf dem 16. Parteitag 1930 so umriß:
"Es ist unnötig zu wiederholen, welche gewaltige Rolle die GPU bei der Aufdeckung des Schädlingswesens gespielt hat. ... Die Mitarbeiter der GPU haben all das Gesindel mit einem unwahrscheinlichen Mut aufgestöbert, und das war damals nicht so einfach. Heute sind wir das gewöhnt und wissen, daß es viele solcher Schädlinge gibt und daß es nicht besonders schwierig ist, sie zu entlarven. Aber damals hat eine große Zahl unserer Mitarbeiter nicht daran geglaubt, sie waren der Ansicht, daß die GPU übertreibt, und es kostete große Mühe, sie zu überzeugen, daß es Schädlingswesen wirklich gibt."
()
5. 1929 - 1933: Die OGPU während der Zwangskollektivierung
Mit Beginn der Zwangskollektivierung zur Jahreswende 1929/30 deren Durchführung nun auch offiziell von Kräften der OGPU übernommen wurde, schossen die Zahlen der Haft- und Arbeitslagerinsassen in die Höhe.
- Über das Ausmaß der Methoden und Formen der Durchführung der Kollektivierung gibt eine Instruktion vom 8. Mai 1933, gezeichnet von Molotow und Stalin an "alle Angestellten in den Parteisowjets und alle Organe der OGPU, Gerichte und Staatsanwaltschaften" einen Eindruck.
- Diese Instruktion verbot "Verhaftungen durch dazu vom Gesetz nicht Ermächtigte - Angehörige von Bezirksexekutivkomitees, Bezirks- und Kreisbevollmächtigte, Vorsitzende des Dorfsowjets, Vorsitzende von Kolchosen und Kolchosvereinigungen, Sekretäre u.a.".
-
"u.a." deutet darauf hin, daß die aufgezählten gesellschaftlichen Institutionen und nicht genannte "andere" bis dahin Bauern verhaften durften.
- Welches Ausmaß diese Massenverhaftungen angenommen haben, mag mensch erahnen bei Punkt Zwei dieser Instruktion.
- Demnach seien die Haftanstalten - "außer Lagern und Kolonien" - "unverzüglich zu entlasten und innerhalb von zwei Monaten die Anzahl der Häftlinge von 800.000 auf 400.000 zu verringern."
Das Vorgehen der OGPU gegenüber den Bauern nahm Formen an, die das ZK und den Rat der Volkskommissare im Mai 1933 zu einer scharfen Verurteilung veranlaßten:
"Es erstaunt nicht, daß bei einer derart zügellosen Verhaftungspraxis die Organe, die verhaften dürfen, darunter auch die Organe der OGPU und besonders die Miliz, das Gefühl für den Maßstab verlieren und häufig Verhaftungen ohne jeglichen Grund vornehmen, indem sie nach der Regel vorgehen, erst verhaften, dann untersuchen."
()
- Über die Menschenopfer der Zwangskollektivierung liegen keine statistischen Daten vor, sondern nur Schätzungen.
- Zu den Opfern gezählt werden müssen
- sowohl die Getöteten, die Verschleppten, Zwangsumgesiedelten, Verhafteten und in Arbeitslager oder Kolonien gewiesenen Bauern,
- als auch die Zahl der Opfer der sich in folge der Zwangsmaßnahmen ergebenen Hungersnot.
- Die OGPU gab eine Zahl von 3,3 bis 3,5 Millionen Opfern allein durch Verhungern an,
- Stalin selbst soll sich 1944 Winston Churchill gegenüber dahingehend geäußert haben, daß die "Dorfarmut" mit "zehn Milionen Kulaken", "fertiggeworden" sei, wobei eine "enorme Menge vernichtet" und der Rest nach Sibirien verschickt worden sei. Zynische Prahlerei und Übertreibung oder Wahrheit?
- Der englische Historiker R. Conquest kommt zu einer Schätzung von 5 bis 6 Millionen Opfern insgesamt in den Jahren 1929 - 1933.
- Der sowjetische Historiker R. Medwedjew kommt zu ganz anderen Zahlen:
- Er behauptet, daß zwischen 1930 und 1931 während der Zwangskollektivierung zwischen neun und elf Millionen Bauern von ihrem Land vertrieben und nach Sibirien verschleppt worden seien.
- Eine weitere Million sei 1933 gefolgt.
- Zwischen 1932 und 1933 seien zwischen sechs und sieben Millionen Menschen bei der Hungersnot infolge der Kollektivierungsmaßnahmen gestorben.
Begleitend zur Kollektivierung wurde am 7.8.1932
- der Diebstahl sozialistischen Eigentums
- sowie alle Versuche, Bauern zum Austritt aus den Kolchosen zu bewegen,
als
"konterrevolutionärer Straftatbestand" eingestuft,
"mit Haft bis zu 10 Jahren oder Erschießung" bedroht. Die Täter wurden als Volksfeinde eingestuft und fielen damit in den Zuständigkeitsbereich der OGPU, deren Macht ständig zunahm.
Am 27.12.1932 beschloß der Rat der Volkskommissare die Einführung des Melde- und Paßzwangs für alle Sowjetbürger ab 16 Jahren.
- Durchführung und Handhabung der Paßverordnung lag bei der Miliz, die der OGPU unterstellt wurde.
- Die Erfassung und Kontrolle über die Bevölkerung war in der Hand des Polizeiapparates, und damit der OGPU.
6. Das System der Zwangsarbeit
Zwischen 1927 und 1928 saßen in den Lagern und Gefängnissen des Volkskommissariats des Innern ca. 200.000 Häftlinge, in denen der OGPU ca. 30.000.
- Der Beginn der forcierten Industrialisierung und die Zwangskollektivierung waren von einer Verhaftungswelle begleitet, die sich vor allem gegen die Bauern, aber auch gegen Ingenieure und Wirtschaftsmanager richtete.
- Das existierende Strafvollzugssystem reichte für diesen Gefangenenzustrom nicht mehr aus.
- Ab 1930 übernahm die OGPU die Arbeitslager (und schuf die Hauptverwaltung Lager, GULAG) und baute - mangels ausreichender Mittel des Staates - eine eigenständige Gefangenenökonomie auf.
- Das zentrale System der Lager war die Selbstfinanzierung.
- Bis 1932 gelang es der OGPU nicht nur, die Häftlinge ihre Knäste selber bauen zu lassen, sondern sogar noch Gewinne zu erzielen.
- Das Ausmaß der Strafarbeit wuchs rasch, immer mehr Massenarbeitskolonien wurden gegründet.
-
Neben Erdarbeiten und Wegebau war Holzfällen eine häufige Beschäftigung von Häftlingen.
- Der starke Mangel an Waldarbeitern, der die Energiepläne und die Pläne des Holzexports gefährdete,
sowie der Mangel an Pionierkräften, die bereit waren, sich in die unwirtlichen Regionen Sibiriens und anderer Regionen am Polarkreis zu begeben, veranlaßte die Regierung dazu, die Häftlinge heranzuziehen.
- Schon im Februar 1930 arbeiteten 10.000 Häftlinge bei der Brennstoffbeschaffung für die Hüttenindustrie im Ural.
- Eine große Anzahl von Strafgefangen wurde schließlich bei Industriegroßbauten eingesetzt.
- So bei Bauprojekten in Magnitogorsk, Tscheljabinsk, Moskau (Metro), Saratow u.a.
- In Magnitogorsk arbeiteten 1933 etwa 50.000 Strafgefangene, davon ca. 18.000 Bauern und 20 - 25.000 Kriminelle.
- Nach nur 20 monatiger Bauzeit wurde am 2.8.1933 die Eröffnung des Weißmeerkanals bekanntgegeben.
- Nach westlichen Schätzungen und Emigrantenberichten seien 250.000 - 300.000 Häftlinge eingesetzt worden.
- (Zum Ausmaß des Lagersystems siehe Kapitel 62 Dokument 43)
Die OGPU unterhielt bis 1930 eine begrenzte Zahl an Konzentrationslagern, in denen bis 1928 die Häftlinge nicht zur Produktionsarbeit herangezogen wurden.
- Hier saßen die "Politischen" in den Haftlagern des NKWD.
- Das bekannteste dieser Lager sind die "Solowki-Inseln".
- Die menschenunwürdigen Bedingungen, der Terror der Bewacher wurden 1926 der westeuropäischen Öffentlichkeit bekannt, als das Buch "An Island Hell" von S. A. Malsagoff erschien. Diesem war die Flucht von den Inseln gelungen.
- Eine Kommission des WZIK (Allrussisches Zentral-Exekutivkomitee der Räte der Arbeiter-, Bauern-und Rotarmistendeputierten) lud daraufhin Maxim Gorki zum Besuch der Inseln ein um die Beschuldigungen zu widerlegen.
- Diesen Besuch beschreibt A. Solschenizyn im "Archipel GULAG - Folgeband" .
Aber auch aus den nicht der OGPU unterstellten Lagern sind schlimme Verhältnisse bekannt:
- Schlechte Ernährung und schlechte sanitäre Verhältnisse zogen Skorbut, Fleckfieber und Typhus nach sich.
- Schlechte Kleidung, die das Arbeiten in klirrender Kälte zu einer todbringenden Angelegenheit machte.
- Dazu die sich herausbildenden Lagerstrukturen, wonach die Kriminellen gegenüber den "Politischen" - den Klassenfeinden, später den "Schädlingen, Trotzkisten, Bucharinisten" etc. durch die Willkür der Lagerwächter bevorzugt wurden und die "Politischen" auch quälen und ungestraft töten konnten.
- Berichte darüber finden sich zahlreich.
Die OGPU erhielt nicht nur dadurch ökonomisches Gewicht, daß sie die Wirtschaftspläne kontrollierte und die Verfolgung von
"Schädlingen" betrieb, sondern auch dadurch, daß sie eigene Projekte betrieb.
- Der brutale Verschleiß menschlicher Arbeitskraft ließ sich immer wieder wettmachen durch den "Nachschub" weiterer Tausender von Häftlingen.
- Vor diesem Hintergrund erscheint die Verhaftungspolitik der OGPU gar nicht mehr irrational, sondern zynische Kalkulation.
Andererseits war der Machtzuwachs der OGPU, der sich u.a. im Aufbau des Lagersystems manifestierte, Baustein einer repressiven Politik der Gruppe um Stalin, die das Mittel der Verhaftung und Verschleppung zur Lösung sozialer und politischer Konflikte machte. Stalin erläuterte diese Sichtweise:
"Wir überzeugten uns davon, welchen Fehler wir begangen hatten, als wir Milde walten ließen. Wir lernten aus der Erfahrung, daß wir mit diesen Feinden nur dann fertig werden können, wenn man ihnen gegenüber eine Politik der schonungslosen Unterdrückung verfolgt."
()
7. Ab 1933: Von der OGPU zum NKWD - der zentrale Sicherheitsapparat entsteht
Ende 1933 wurden die Machtbefugnisse der OGPU formell wieder eingeschränkt.
- Eine Generalstaatsanwaltschaft (Erster stellv. Generalstaatsanwalt wurde A. Wyschinski - später Hauptankläger in den drei großen Moskauer Schauprozessen), die die OGPU beaufsichtigen sollte, wurde eingerichtet.
- Im Juli 1934 wurde die OGPU Teil eines neugeschaffenen Unionsvolkskommissariats für Inneres (NKWD), dessen Leiter Jagoda wurde.
- Das NKWD sollte die "revolutionäre Ordnung" und die staatliche Sicherheit aufrechterhalten.
Das NKWD wurde in Hauptverwaltungen untergliedert. Darunter:
- Staatssicherheit
- Besserungslager und Arbeitssiedlungen (GULAG)
- Personenstandsakte (Personenregistrierung)
- Der Haftvollzug und die "Innere Sicherheit" waren nun wieder in einer Behörde zusammengefaßt.
- Zwar waren Personenregistrierung und Arbeitslager und Miliz der OGPU entzogen, aber faktisch waren alle Bereiche, bis auf das Gerichtswesen in einer Behörde zentralisiert, deren Chef einer der führenden Leute der alten OGPU war.
- Dieses reformierte NKWD unterstand nur noch dem ZK der Partei, und das hieß praktisch: Stalin.
- Das Dekret über die Bildung des NKWD, das das Gerichtswesen der OGPU abschaffte, führte dieses durch eine Hintertür wieder ein, indem das NKWD eine "Sonderberatung zu organisieren" hatte, die das Recht erhält, "auf administrativem Wege Verbannung, Ausweisung, Haft in Arbeitsbesserungslagern bis zu fünf Jahren und Ausweisung aus den Grenzen der UdSSR zu verhängen."
- Diese Sonderberatungen wurden am 5.11.1934 eingerichtet.
Politisch aber nahm der Einfluß der OGPU zu, da ihre führenden Kader im Parteiapparat in die Führungsgremien einrückten.
- Auf dem 17. Parteitag im Februar 1934 wurden von 139 Mitgliedern und Kandidaten des ZK 48 (34,5%) erstmals ernannt.
- Unter den 77 Vollmitgliedern gab es 22 (30,9%) neue, darunter OGPU-Chef Jagoda, die OGPU-Leute Mechlis und Berija (ab 1938 Chef des NKWD), N. Jeshow, 1934 Chef der Industrieabteilung und von Stalin mit der Überwachung des NKWD betraut in seiner Funktion als Mitglied der Parteisäuberungskommission.
- Diese Männer arbeiteten eng mit Stalin zusammen und verdankten ihm ihren Aufstieg.
- Sie standen für den Kader neuen Typs, der seine politische Entwicklung und Sozialisation in der Hierarchie des Parteiapparates erfahren hatte und seine politische Loyalität in den Auseinandersetzungen mit der "linken" und später mit der "rechten" Opposition erwiesen hatte.
8. Die OGPU und Parteisäuberung: Repression zur Lösung politischer Auseinandersetzung in der Partei
- Die Verfolgung der "Linken" durch die OGPU hatte schon Mitte der zwanziger Jahre eingesetzt.
- Oppositionelle wurden überwacht, ihre Post bespitzelt.
- Die Zusammenarbeit zwischen OGPU und Parteiapparat funktionierte.
- Ab 1928 überwachte die Sicherheitspolizei auch systematisch führende Parteimitglieder, die der Links- oder Rechtsopposition verdächtig waren.
- Im Laufe eines Gesprächs, das Bucharin am 11.7.1928 heimlich mit Kamenev führte, sagte er: "Sprich mit mir nicht am Telefon, mein Anschluß wird abgehört. Mich verfolgt die GPU und auch bei dir steht die GPU."
- In der Folge war es auch die OGPU, die die Repressionsmaßnahmen gegen die Opposition durchführte: Verhaftungen, Haussuchungen, Deportationen, Untersuchungshaft und die Verhöre.
- Dabei verwischten die Grenzen zwischen Parteiapparat und Sicherheitsapparat immer mehr.
- Ab 1931 nahmen an allen Sitzungen des Politbüros Personen der OGPU teil.
Ein Korrespondent der Zeitung
Sozialistitscheski Vestnik schrieb 1931:
"Die, die lange aus Rußland weg sind und die Tscheka der alten Zeit kennen, die handwerkelte, können sich die heutige rationalisierte und raffinierte Arbeit der GPU nicht vorstellen."
(Hervorhebung im Original, Anm. d. Verf.)
Die OGPU war zu Beginn der dreißiger Jahre ein Instrument zur Durchsetzung der politischen Vorstellungen der Gruppe um Stalin geworden. Sie ergänzte und unterstützte den Parteiapparat bei der Unterdrückung von
"Abweichlern".
- Mit dem Sieg der Stalin-Fraktion über die Rechts-Opposition war auch die Phase der öffentlichen politischen Auseinandersetzung beendet.
- Weitere oppositionelle Strömungen wurden mit disziplinarischen und polizeilichen Mitteln unterdrückt.
- Nach dem 16. Parteitag im Juli 1930 wurde der "Rechts-Links-Block" aufgedeckt.
- Als Führer dieses Blocks wurden Syrzow (Kandidat des Politbüros und Vorsitzender des Rates der Volkskommissare in der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjet Republik) und Lominadse (Mitglied des ZK und Erster Sekretär der Transkaukasischen KP) vorgeworfen, gegen Stalin fraktioniert zu haben.
- Sie sollen Kritik an der Wirtschaftspolitik geäußert haben.
- Diese Gruppe wurde im Dezember 1930 aus der Partei ausgeschlossen.
- Außer der Tatsache der Beschuldigungen und des Parteiausschlusses erklären die zitierten westlichen Historiker diese "Affaire" als "rätselhaft".
-
1932 trat die Gruppe um Rjutin in Erscheinung. Dieser war Moskauer Bezirksparteisekretär.
- Diese Gruppe hatte ein Programm entworfen, das die Auflösung von Kolchosen forderte.
- Die Partei und die Apparate sollten durchgreifend reformiert werden, die Ausgeschlossenen (einschließlich Trotzki) sollten wieder aufgenommen werden.
- Die Absetzung Stalins wurde sogar gefordert.
- Dieses Programm wurde in Moskauer Betrieben verbreitet.
- Auch wurden Sinowjew und Kamenev informiert sowie einige Mitglieder der ehemaligen linken Opposition.
- Die OGPU verhaftete im Oktober 1932 alle Mitglieder dieser Gruppe, und legte die Unterlagen zunächst der Zentralkommission für Staatliche Kontrolle in der Partei vor.
- Diese entschied, den Fall vor das Politbüro zu bringen.
- Dort soll Stalin auf die Hinrichtung Rjutins gedrungen haben, während die Mehrheit dagegen stimmte.
- Am 9. Oktober 1932 wurde die Rjutin-Gruppe aus der Partei ausgeschlossen.
- Sie seien "Verräter an der Partei und der Arbeiterklasse, die ... versucht haben, eine bürgerlich-großbäuerllche Organistion zur Wiederherstellung des Kapitalismus und besonders des Kulakentums" zu schaffen.
-
Am Fall Rjutin wird von den Historikern viel dahingehend interpretiert, daß Stalin zum ersten Mal gegen Oppositionelle die Hinrichtung gefordert hat, aber noch an der Mehrheit des Politbüros gescheitert sei.
- Diese Interpretation ist nicht von der Hand zu weisen, da Stalin am 25. September 1936 ein Telegramm an die Mitglieder des Politbüros schickte, das die Absetzung Jagodas und die Ernennung Jeshows als NKWD-Chef forderte: "... Jagoda hat sich endgültig als unfähig erwiesen, den Block der Trotzkisten und Sinowjewisten zu entlarven. Die GPU ist in dieser Angelegeheft um vier Jahre im Verzug."
- Die Formulierung "vier Jahre" wird heute interpretiert, daß Stalin damit auf die Septembertagung 1932 abstellte, auf der die Mehrheit des Politbüros die Hinrichtung Rjutins abgelehnt haben soll.
-
Eine weitere Oppositionsgruppe wurde von der OGPU im Januar 1933 verhaftet.
- Unter ihnen der ZK-Sekretär und Altbolschewik A.P. Smirnow.
- Dieser Gruppe wurde vorgeworfen, eine "Antiparteigruppe" gebildet zu haben, die die Industrialisierung ablehne und eine Wiedererrichtung des Kapitalismus angestrebt habe.
- Smirnow wurde aus dem ZK, die anderen aus der Partei ausgeschlossen.
- Aus diesen und weiteren Meldungen ergibt sich, daß es in der Führungsgruppe der Partei durchaus Auseinandersetzungen gab infolge der desolaten Lage auf dem Lande, hervorgerufen durch die Kollektivierung und die Desorganisation in den Betrieben, die durch zu hohe Planzahlen überfordert waren.
- Die Lösungsmodelle der Oppositionellen zielten eher auf Verlangsamung des Industrialisierungstempos und vorsichtigeren Umgang mit Bauern, also eher "rechte" Lösungen.
- Die ZK-Mehrheit um Stalin versuchte die aus ihrer Politik resultierenden sozialen und politischen Konflikte vor allem mit Repression zu bekämpfen.
Dazu gehörte neben dem polizeilichen Eingreifen auch die Parteisäuberung.
- Diese war vom Verständnis der Bolschewiki bis dahin der administrative Endpunkt heftiger politischer und ideologischer Auseinandersetzungen, der zwar den Ausschluß aus der Partei nach sich zog, aber die persönliche und gesellschaftliche Stellung der Betroffenen nicht berührte.
- Jetzt wurde die Parteisäuberung Parteisäuberung immer mehr ein reines Disziplinierungsinstrument.
- Oft verkam sie zu reiner Denunziation.
Die Parteisäuberung von 1933 soll dies zeigen. Nach Verkündung der Säuberung wurde am 29. April 1933 eine zentrale Säuberungskommission gebildet, die diese leitete. Ihr gehörte N. Jeshow an. Zu den eben auch schon früher üblichen Kategorien, nahm die Säuberungskommission nun u.a. folgende hinzu:
-
"Doppelzüngler", die vorgaben, der Partei treu zu dienen, in Wirklichkeit jedoch die Politik der Partei unterliefen.
-
Personen, die offen oder verdeckt die "eiserne Disziplin" von Partei und Staat verletzten, indem sie Zweifel vorschützten oder indem sie Anweisungen durch Geschwätz über deren Realitätsferne diskreditierten.
-
Entartete Personen, die sich bürgerlichen Elementen angepaßt hatten und nicht in den Kampf mit dem Klassenfeind eintreten wollten.
- Mit diesen Vorgaben konnten alle Formen aktiver und passiver Kritik an Einzelerscheinungen dervom ZK ausgegebenen Politik (von der Kritik an der "Generallinie" ganz zu schweigen) erfaßt und eingeebnet werden.
- Die Partei hatte sich von einer Organisation der politischen Willensbildung in einen riesigen Apparat zur Ausführung der Anweisungen der Zentrale verwandelt.
- Während dieser Säuberung sind 1,9 Millionen Parteimitglieder überprüft worden (bei insgesamt 3,5 Millionen Mitgliedern 1933).
- Bei den insgesamt Ausgeschlossenen wurden 35,1% wegen "Doppelzünglerei", "Entartung" und "Disziplinverletzung" ausgeschlossen.
- Das bezog sich auf jene Mitglieder, die sich Anweisungen widersetzt und Pläne unterlaufen hatten, ohne jedoch einer politischen Oppositionsgruppe zugeordnet werden zu können.
- Zwischen 1930 und 1934 waren lediglich ca. 1.400 Personen wegen "Trotzkismus", "rechtem Abweichlertum" und "nationalem Abweichlertum" ausgeschlossen worden.
Die Ergebnisse der Parteisäuberung als auch die Tatsache, daß alle nennenswerten Parteioppositionellen geschlagen waren, sowie der Eindruck sich einstellender Erfolge der forcierten Industrialisierung als auch der Gesundung der Landwirtschaft machten den 17. Parteitag 1934 zu einem großen Erfolg für die Gruppe um Stalin.
- Dieser Parteitag "der Sieger" darf insofern als Abschluß einer Phase betrachtet werden,
- weil nun der Abschnitt begann, in dem die Stalin-Gruppe zur physischen Liquidierung aller vermeindlichen und tatsächlichen Oppositionellen in Partei und Gesellschaft überging.
- Wer sich auf dem 17. Parteitag, außerdem engsten Kreis um Stalin, als "Sieger" fühlte, sollte bis spätestens 1938 nicht mehr leben.
In seiner Geheimrede 1956 auf dem 20. Parteitag nannte Chruschtschow eine offizielle Statistik:
"Es wurde festgestellt, daß von den auf dem 17. Parteitag gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei 98 Personen, das sind 70%, in den Jahren 1937/1938 verhaftet und liquidiert wurden. ... Das gleiche Schicksal ereilte die Mehrzahl der Delegierten des 17. Parteitages. Von den 1966 stimmberechtigten oder beratenden Delegierten wurden 1.108 Personen unter der Beschuldigung gegenrevolutionärer Verbrechen verhaftet."
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Stalin hat selbst auf dem 17. Parteitag 1934 keinen Zweifel daran gelassen, daß weitere Auseinandersetzungen in der Partei bevorstünden. In seinem Rechenschaftsbericht sagte er zum Punkt
"Fragen der ideologisch-politischen Leitung", daß - obwohl
"die Feinde der Partei, die Opportunisten aller Schattierungen, die nationalen Abweichler aller Art geschlagen" seien,
"ein Boden für solche Stimmungen zweifellos" im Lande bestehe.
"Kein Wunder, daß nicht selten von außen ungesunde Stimmungen in die Partei eindringen, weil bei uns immer noch gewisse Zwischenschichten der Bevölkerung sowohl in der Stadt als auch im Dorfe vorhanden sind, die einen Nährboden für solche Stimmungen bilden."
Und an die Adresse all derer gerichtet, die den Kampf als endgültig gewonnen betrachteten, mahnte Stalin:
"... Es kann keinen Zweifel darüber bestehen, daß dieser Wirrwarr in den Köpfen ... den be kannten Ansichten der rechten Abweichler wie ein Ei dem andern gleichen, denen zufolge das Alte von selbst in das Neue hineinwachsen müsse und wir eines schönen Tages, ohne es zu merken, in der sozialistischen Gesellschaft anlangen würden."
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Der 17. Parteitag war lediglich ein Parteitag des Waffenstillstands.
9. Ab 1935: Nach dem Mord an Kirow: Der Terror kündigt sich an
Dieser Waffenstillstand währte nicht lange. Auf dem 17. Parteitag wurde die Bildung einer
"Sonderabteilung" des Zentralkomitees bestätigt, das von Poskrebyshew geleitet wurde.
- Diese Sonderabteilung war Stalins Privatsekretariat.
- In diesem Zusammenhang wurde ein besonderes Staatssicherheits-Komitee eingerichtet, in dem neben Poskrebyshew noch die beiden Mitglieder der Säuberungskommission Schkirijatow und Jeshow, der auch die Partei-Archive leitete, und der Stellvertretende NKWD-Chef Agranow.
- Über diese "Seilschaft" sollen dann alle heiklen Entscheidungen von Stalin in den Repressionsapparat umgesetzt worden sein.
Nach einigen Monaten der Ruhe wurde am 1. Dezember 1934 S. Kirow erschossen.
- Kirow war Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU sowie Erster Sekretär des Leningrader Gebietsparteikomitees.
- Der Mörder wurde noch am Tatort verhaftet. Als Fakt gelten kann heute, daß der Mörder ein Einzelgänger war bzw. von Kräften aus dem NKWD Unterstützung fand, zu seinem Opfer vorzudringen.
Noch am selben Abend unterzeichnete der Sekretär des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR auf Vorschlag Stalins und ohne Zustimmung des Politbüros (die wurde erst zwei Tage später eingeholt) eine Verordnung, die als Grundlage für die weiteren Repressionsmaßnahmen dienen sollte:
- Die Untersuchungsbehörden beschleunigen ab sofort die Arbeit in allen Fällen von Vorbereitung oder Ausführung terroristischer Handlungen.
- Die Gerichte schieben die Vollstreckung der Todesstrafe ab sofort nicht mehr auf, wenn von Verbrechern dieser Kategorie Gnadengesuche eingereicht wurden,
-
Organe des NKWD vollstrecken Todesurteile an Verbrechern der oben genannten Kategorie sofort nach Verkündigung.
- Von jetzt an kam die Beschuldigung des "Terrorismus" dem Todesurteil gleich.
- Bis zum 6. Dezember wurden über 100 Menschen durch die Militärgerichte zum Tode verurteilt und erschossen, ohne daß sie mit dem Kirow Mord in Zusammenhang standen.
- Schon am 22. Dezember wurde verbreitet, der Täter gehöre einer terroristischen Untergrundorganisation an, die von Mitgliedern der Siniowjewschen Opposition gegründet worden sei.
- Diesem "Leningrader Zentrum" wurde ein Mordkomplott unterschoben.
- Am 29. Dezember wurden der Täter und seine "Mitverschwörer" nach einem Gerichtsverfahren hingerichtet.
- In einer Presseerklärung hieß es, die Gruppe hätte den Mord an Kirow gestanden, um die Führung durch Sinowjew und Kamenev zu ersetzen.
- Dieses Stichwort war des Kettenglied zur Verhaftung des "Moskauer Zentrums", zu dem Sinowjew und Kamenev gezählt wurden.
- Am 15.u. 16. Januar wurden Sinowjew, Kamenev und 17 andere in Leningrad vor Gericht gestellt.
- Sie wurden beschuldigt, die terroristischen Neigungen des "Leningrader Zentrums" gekannt und dies politisch unterstützt zu haben.
- Sinowjew und Kamenev bekannten sich der "Verführung" der Täter für schuldig.
- Sie wurden zu 10 bzw. 5 Jahren Gefängnis verurteilt.
-
Wenn es auch heute noch umstritten ist, ob Stalin der Auftraggeber des Mörders Kirows war, ist er doch derjenige, der aus diesem Fall Nutzen gezogen hat.
- Die Terrorismuskampagne hatte eine Legitimation, die Parteiorganisation war eingeschüchtert und die ersten ehemaligen Oppositionellen konnten zum Abschuß freigegeben werden.
- Der reformierte NKWD hatte seine erste Bewährungsprobe bestanden und seinen Einfluß nochmals erweitert.
Weitere personelle Veränderungen führten zu einer weiteren Machtverschiebung zugunsten der Stalin-Gruppe.
- Ins Politbüro rückten nach dem Tode Kirows und Kuibyschews zwei Männer aus Stalins Gefolgschaft nach, Mikojan und Shdanow.
- N. Jeshow wurde Mitglied des Sekretariats und am 23. Februar 1935 Chef der Parteikontrollkommission.
- A. Wyshinski wurde im Juni Generalstaatsanwalt.
- Am 8. Juli wurde Malenkow der leitende Stellvertreter Jeshows als Direktor der Kaderabteilung des ZK.
- In einem Rundschreiben vom 7. März 1935 wurde die Entfernung aller Werke von Trotzki, Sinowjew und Kamenev aus den Büchereien angeordnet.
- Eine weitere Liste vom 21. Juni bezog auch Preobrashenski und andere mit ein.
-
Ein Geheimbrief des ZK vom 19. Mai 1935 forderte die besondere Überprüfung der "Feinde der Partei und der Arbeiterklasse", die in der Partei geblieben waren.
Drastische Verschärfungen in der Rechtsprechung wurden vorgenommen.
- Am 9. Juni 1935 wurde ein Erlaß verfaßt und später ins Strafgesetzbuch aufgenommen (Artikel 58, la - c), der die Todesstrafe forderte bei Flucht ins Ausland durch Soldaten und Zivilisten.
- Familienangehörige, die von den beabsichtigten Verbrechen unterrichtet waren, sollten mit Freiheitsentzug bis zu zehn Jahren bestraft werden, während "die übrigen erwachsenen Mitglieder der Familie des Verräters und diejenigen, die zur Zeit bei ihm lebten oder von ihm abhängig waren" mit fünf Jahren Verbannung bestraft werden sollten; eine eindeutige Geiselbestimmung.
Auf Protest stieß in Westeuropa das Bekanntwerden des Erlasses vom 7. April 1935.
- Dieser dehnte sämtliche Strafen, einschließlich der Todesstrafe, auf Kinder bis zum zwölften Lebensjahr aus.
- Es ist bekannt geworden, daß mit Hilfe dieses Erlasses der NKWD politische Gefangene und deren Familien unter Druck setzte.
- Dies galt für Bucharin als auch für Sinowjew.
Nachdem die
"Gesellschaft der alten Bolschewiken" und die
"Gesellschaft früherer politischer Häftlinge" Unterschriften für eine Petition an das Politbüro gesammelt hatten, in der sich gegen die Todesstrafe für Mitglieder der Opposition ausgesprochen wurde, verbot am 25. Mai 1935 ein Erlaß des ZK beide Gesellschaften wegen
"spalterischer Tätigkeit".
Diese Kombination
- personeller Veränderungen,
- administrativer und
- juristischer Repressionsmaßnahmen
schuf die Voraussetzungen für die große Schauprozeßreihe von 1936 bis 1938 und den Massenterror.
Juni 1989, Bj./Hamburg
Quellen und Anmerkungen (aus Gründen eindeutiger Zuweisung innerhalb dieses html-files ist die Originalfussnotennumerierung indiziert durch die Kapitelnummer (hier 60.)):
dtv-dokumente: Die Sowjetunion Bd.l S. 99
David Shub: Lenin, Eine Biographie, hier Umes Verlag Wiesbaden 1957, S. 336
Am Anfang starb Genosse Kirow, R. Oonquest, Droste Verlag Düsseldorf, 1971, S. 648
D. Shub, S. 378, beruft sich auf: Wochenblatt der Tscheka, Moskau 1918, Nov-Dez.
Die Wahrheit ist unsere Stärke, R. Medwedew, S. Fischer Verlag, 1971, S. 431
Boris Lewytzkij, Vom Roten Terror zur sozialistischen Gesetzlichkeit, Nymphenburger Verlagsanstalt, 1961, S. 43
Lenin, Werke Bd. 33, S. 159ff.
dtv-dokumente, Bd.l, S. 120
Hans-Henning Schröder, Industrialisierung und Parteibürokratie in der Sowjetunion (1928 - 1934), Berlin 1988, 0. Harrassowitz Verlag Wiesbaden, S. 187
Boris Lewytzkij, S. 53, siehe auch Texte zur Stalinfrage, J. Reents-Verlag, 1979 S. 80
ebenda, S. 203, beruft sich dabei auf Esegodnik sovetsgo stroitelstva i prava S. 431
dtv-dokumente, Bd. 1, S. 215
R. Conquest, S. 378, beruft sich auf: Vierzig Jahre Sowjetrecht, Leningrad 1957, S. 486
H.H. Schröder, S. 35, siehe Anmerkung 120 (T. 1897, S. 2)
L Shaplro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, S. Fischer Verlag
1961, S. 417
Brink, Kritische Justiz 4/79, S. 344
ebenda, S. 214, 215; als auch Heller/Nekrich, Geschichte der Sowjetunion Bd. 1, S. 229, nach M. Fainsod: Comment IURSS et gouverne S. 215
ebenda S. 41, bezieht sich auf W. Churchills Memoiren
taz, 6.2.1989, nach einem Artikel, den R. Medwedjew in der Wochenzeitschrift Argumentl 1 Fakti veröffentiicht hat.
A. Solschenizyn, Der Archipel Guiag, Folgeband, Scherz Verlag, S. 57 - 63
So auch bei Jewgenia Ginsburg: Marschroute eines Lebens, Verlag Piper 1986. J. Ginsburg war Mitglied der KPdSU, 1937 wurde sie des Terrorismus beschuldigt und vor ein Militärgericht gestellt. Nach 18 Jahren Gefängnis und Lager wurde sie 1955 rehabilitiert.
Stalin, Werke Bd. 13, S. 97
R.V. Daniels, Das Gewissen der Revolution, Kiepenheuer und Witsch, 1962, S. 435, R. Conquest, S. 46, H.H. Schröder, S. 320ff.
vgl. auch Victor k Kravchenko, ich wählte die Freiheit, S. 177 ff. In seinen Erinnerungen schildert Kravchenko den denunziatorischen Charakter der Prateisäuberung 1933.
ebenda; R. Medwedjew schreibt dazu in der Moscow News vom 1.1. 1989 (zitiert nach H.Weber:,,Weiße Flecken in der Geschichte, isp-pocket 41 S. 169),,Die erste Welle der Massenrepressionen rollte bereits 1927/28 nach dem Sieg Staiins über die vereinigte linke Opposition. Ihr fielen damals Zehntausende Trotzkisten und Sonowjew-Anhänger, die in entfernte Landesregionen verbannt, in politische Zuchthäuser gesteckt und vom Arbeitsplatz vertrieben wurden, zum Opfer. Belegt hat er diese Angaben aber nicht. Selbst wenn die Angaben, die Schröder aus offiziellen Quellen zitiert, zu niedrig angesetzt sind, bleibt der Widerspruch zwischen den Zahlen sehr kraß.
Chrustschows Geheimrede, hier zitiert aus Daniels, S. 453
Stalin: Fragen des Leninismus, Ausgabe 1947, S. 564
61. Dokument 42: ´Konterrevolutionäre Verbrechen´: Artikel 58 Strafgesetzbuch
[Strafgesetzbuch der RSFSR vom 22.11.1926 (in der am 1.1.1952 gültigen Fassung); nach: H.Altrichter (Hg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 1. Partei und Staat, München 1986, S. 215 - 220]
-
58,1. Als gegenrevolutionär gilt jede Handlung, die auf den Sturz, die Unterhöhlung oder die Schwächung der Herrschaft der Räte der Arbeiter und Bauern und der von ihnen auf Grund der Verfassung der UdSSR und der Verfassungen der Unionsrepubliken gewählten Regierungen der Arbeiter und Bauern der UdSSR, der Unionsrepubliken und autonomen Republiken oder auf die Unterhöhlung oder die Schwächung der äußeren Sicherheit der UdSSR und der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaften der proletarischen Revolution gerichtet ist.
Kraft der internationalen Solidarität der Interessen aller Werktätigen gelten Handlungen gleicher Art als gegenrevolutionär auch dann, wenn sie gegen einen anderen - der UdSSR nicht angehörenden - Staat der Werktätigen gerichtet sind. [6. Juni1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
-
58,1 a. Vaterlandsverrat, d. h. Handlungen, begangen von Bürgern der UdSSR zum Nachteil der militärischen Macht der UdSSR, ihrer staatlichen Unabhängigkeit oder der Unantastbarkeit ihres Gebiets, wie Spionage, Preisgabe eines militärischen oder Staatsgeheimnisses, Überlaufen zum Feind, Flucht ins Ausland, wird bestraft
mit der schwersten Kriminalstrafe: Erschießung, verbunden mit Konfiskation des gesamten Vermögens; bei Vorliegen mildernder Umstände: mit zehn Jahren Freiheitsentzug, verbunden mit Konfiskation des gesamten Vermögens. [20. Juli 1934 (SZ SSSR Nr. 30, Art. 173)]
-
58,1 b. Die gleichen Handlungen werden, wenn von einer Militärperson begangen, mit der schwersten Kriminalstrafe: Erschießung, verbunden mit Konfiskation des gesamten Vermögens, bestraft. [20. Juli 1934 (SZ SSSR Nr. 30, Art. 173)].
-
58,1 c. Flieht eine Militärperson ins Ausland, so werden die volljährigen Mitglieder ihrer Familie, sofern sie die Vorbereitung oder Begehung des Verrats in irgendeiner Weise gefördert oder davon zwar gewußt, die Behörden aber nicht in Kenntnis gesetzt haben, bestraft
mit Freiheitsentzug von fünf bis zu zehn Jahren, verbunden mit der Konfiskation des gesamten Vermögens.
Die übrigen volljährigen Mitglieder der Familie des Verräters, die mit ihm zusammengelebt haben oder zur Zeit der Begehung des Verbrechens von ihm unterhalten worden sind, werden ihrer Wahlrechte für verlustig erklärt und auf fünf Jahre in entlegene Bezirke Sibiriens verschickt. [20. Juli 1934 (SZ SSSR Nr. 30, Art. 173)]
-
58,1 d. Unterläßt es eine Militärperson, von einem in Vorbereitung befindlichen oder vollendeten Verrat Anzeige zu erstatten, so zieht dies nach sich
Freiheitsentzug von zehn Jahren.
Wird eine solche Unterlassung von sonstigen Bürgern (Nichtmilitärpersonen) begangen, so wird sie gemäß Art. 58,12 verfolgt. [20. Juli 1934 (SZ SSSR Nr. 30, Art. 173)]
-
58,2. Bewaffneter Aufstand oder Eindringen von bewaffneten Banden in das Sowjetgebiet in gegenrevolutionärer Absicht, Ergreifung der zentralen oder örtlichen Gewalt in der gleichen und insbesondere der Absicht, von der UdSSR und der einzelnen Unionsrepublik irgendeinen ihrer Gebietsteile gewaltsam abzutrennen oder die von der UdSSR mit ausländischen Staaten abgeschlossenen Verträge aufzuheben, ziehen nach sich
die schwerste Maßnahme des sozialen Schutzes: Erschießung oder Erklärung zum Feind der Werktätigen, verbunden mit Vermögenskonfiskation, Aberkennung der Staatsangehörigkeit der Unionsrepublik und damit der Staatsangehörigkeit der UdSSR und dauernder Verweisung aus dem Gebiet der UdSSR; bei Vorliegen mildernder Umstände ist Herabsetzung bis zu Freiheitsentzug nicht unter drei Jahren, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation, zulässig. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
-
58,3. Unterhaltung von Beziehungen zu einem ausländischen Staat oder zu einzelnen Vertretern desselben in gegenrevolutionärer Absicht oder Vorschubleistung jeder Art zugunsten eines ausländischen Staates, der sich mit der UdSSR im Zustand des Krieges, der bewaffneten Intervention oder Blockade befindet, ziehen nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
-
58,4. Jegliche Art der Unterstützung des Teiles der internationalen Bourgeoisie, der die Gleichberechtigung des das kapitalistische System ablösenden kommunistischen Systems nicht anerkennt und seinen Sturz erstrebt, oder der sozialen Gruppen und Organisationen, die unter dem Einfluß dieser Bourgeoisie stehen oder unmittelbar von ihr organisiert sind, bei Ausübung der der UdSSR feindlichen Tätigkeit, zieht nach sich
Freiheitsentzug nicht unter drei Jahren, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation; bei Vorliegen besonders erschwerender Umstände Erhöhung bis zur schwersten Maßnahme des sozialen Schutzes: Erschießung oder Erklärung zum Feind der Werktätigen, verbunden mit Aberkennung dcr Staatsangehörigkeit der Unionsrepublik und damit der Staatsangehörigkeit der UdSSR, dauernder Verweisung aus dem Gebiet der UdSSR und Vermögenskonfiskation. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
-
58,5. Veranlassung eines fremden Staates oder irgendwelcher in ihm bestehender sozialer Gruppen im Wege der Konspiration mit ihren Vertretern, durch Benutzung falscher Urkunden oder auf sonstige Weise zu einer Kriegserklärung, einer bewaffneten Einmischung in die Angelegenheiten der UdSSR oder zu sonstigen unfreundlichen Akten, insbesondere Blockade, Beschlagnahme von Staatseigentum der UdSSR oder der Unionsrepubliken, Abbruch der diplomatischen Beziehungen, Bruch der mit der UdSSR geschlossenen Verträge u. dgl., zieht nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6.Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
-
58,6. Spionage, d.h. Weitergabe, Entwendung oder zwecks Weitergabe vorgenommene Sammlung von Nachrichten, die sich ihrem Inhalt nach als ein besonders schutzwürdiges Staatsgeheimnis darstellen, zugunsten ausländischer Staaten, gegenrevolutionärer Organisationen oder Privatpersonen, zieht nach sich
Freiheitsentzug nicht unter drei Jahren, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation; in den Fällen jedoch, in denen die Spionage besonders schwere Nachteile für die Interessen der UdSSR herbeigeführt hat oder hätte herbeiführen können: Erhöhung bis zur schwersten Maßnahme des sozialen Schutzes: Erschießung oder Erklärung zum Feind der Werktätigen, verbunden mit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit der Unionsrepublik und damit der Staatsangehörigkeit der UdSSR, dauernder Verweisung aus dem Gebiet der UdSSR und Vermögenskonfiskation.
Weitergabe, Entwendung oder zwecks Weitergabe vorgenommene Sammlung von wirtschaftlichen Nachrichten, die sich ihrem Inhalt nach als ein besonders schutzwürdiges Staatsgeheimnis nicht darstellen, aber gemäß einem ausdrücklichen gesetzlichen Verbot oder der Verfügung des Leiters einer Behörde, Anstalt oder Unternehmung der Bekanntgabe entzogen sind, zugunsten der oben bezeichneten Organisationen und Personen, sei es entgeltlich, sei es unentgeltlich, ziehen nach sich
Freiheitsentzug bis zu drei Jahren. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
ANMERKUNG 1: Als besonders schutzwürdiges Staatsgeheimnis gelten Nachrichten, die in einem besonderen vom Rat der Volkskommissare der UdSSR im Einvernehmen mit den Räten der Volkskommissare der Unionsrepubliken bestätigten und zur allgemeinen Kenntnis gebrachten Verzeichnis aufgeführt sind. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
ANMEKKUNG 2: Soweit die Spionage von einer der in Art. l93,l dieses Gesetzbuchs bezeichneten Personen begangen wird, verbleibt es bei der Bestimmung des Art. 193,24 desselben Gesetzbuchs. [9. Januar 1928 (SZ SSSR Nr. 12, Art. 108)]
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58,7. Unterhöhlung der staatlichen Industrie, des staatlichen Verkehrswesens, Handels, Geldverkehrs oder Kreditsystems sowie des Genossenschaftswesens, begangen in gegenrevolutionärer Absicht durch mißbräuchliche Benutzung staatlicher Behörden oder Unternehmen oder durch Beeinträchtigung ihrer normalen Tätigkeit, sowie mißbräuchliche Benutzung staatlicher Behörden oder Unternehmen oder die Beeinträchtigung ihrer Tätigkeit, begangen im Interesse der ehemaligen Eigentümer oder interessierter kapitalistischer Organisationen, ziehen nach sich die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,8. Begehung terroristischer Handlungen gegen Vertreter der Sowjetmacht oder Funktionäre revolutionärer Organisationen der Arbeiter und Bauern sowie Teilnahme auch einer gegenrevolutionären Organisation nicht angehöriger Personen an der Ausführung solcher Handlungen ziehen nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,9. In gegenrevolutionärer Absicht mittels Sprengung, Brandstiftung oder auf andere Weise begangene Zerstörung oder Beschädigung von Eisenbahnen oder sonstigen Verkehrswegen und -mitteln, von nationalen Nachrichtenmitteln, Wasserleitungen, öffentlichen Depots oder sonstigen zum staatlichen oder öffentlichen Vermögen gehörigen Anlagen zieht nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
Art. 193.1 bezog sich auf aktive Militärpersonen und Reservisten; Art. 194,24 drohte für die Weitergabe militärischer Nachrichten (oder deren Vorbereitung) an fremde Regierungen Freiheitsentzug nicht unter fünf Jahren, in schweren Fällen bis zur Höchststrafe an.
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58,10. Propaganda oder Agitation, die zu Sturz, Unterhöhlung oder Schwächung der Sowjetherrschaft oder zu Begehung einzelner gegenrevolutionärer Verbrechen (Art. 58,2 - 58,9 dieses Gesetzbuchs) auffordern, sowie Verbreitung, Herstellung oder Aufbewahrung von Schriften gleichen Inhalts ziehen nach sich
Freiheitsentzug nicht unter sechs Monaten.
Werden die gleichen Handlungen bei Massenaufruhr, unter Ausnutzung religiöser oder nationaler Vorurteile der Massen, während des Krieges oder an Orten, über die der Kriegszustand verhängt ist, begangen, so ziehen sie nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,11. Auf die Vorbereitung oder Begehung der in diesem Kapitel vorgesehenen Verbrechen gerichtete organisatorische Tätigkeit jeglicher Art sowie Teilnahme an einer Organisation, die zur Vorbereitung oder Begehung eines in diesem Kapitel vorgesehenen Verbrechens gebildet worden ist, ziehen nach sich
die in den entsprechenden Artikeln dieses Kapitels genannten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (52 SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,12. Nichtanzeige eines in Vorbereitung befindlichen oder vollendeten gegenrevolutionären Verbrechens, von dem man auf glaubwürdige Weise Kenntnis erlangt hat, zieht nach sich
Freiheitsentzug nicht unter sechs Monaten. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,13. Aktive Handlungen und aktiver Kampf gegen die Arbeiterklasse und die revolutionäre Bewegung, ausgeführt auf verantwortlichem Posten oder im Geheimdienst (Agentur) während des zaristischcn Regimes oder bei gegenrevolutionären Regierungen während des Bürgerkriegs ziehen nach sich
die in Art. 58,2 dieses Gesetzbuchs bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
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58,14. Gegenrevolutionäre Sabotage, d.h. bewußte Nichterfüllung bestimmter Verpflichtungen oder deren vorsätzlich unzulängliche Erfüllung in der speziellen Absicht, die Macht der Regierung und das Funktionieren des Staatsapparates zu beeinträchtigen, zieht nach sich
Freiheitsentzug nicht unter einem Jahr, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation; bei Vorliegen besonders erschwerender Umstände Erhöhung bis zur schwersten Maßnahme des sozialen Schutzes: Erschießung, verbunden mit Vermögenskonfiskation. [6. Juni 1927 (SZ SSSR Nr. 49, Art. 330)]
62. Dokument 43: Peter W. Schulze: Die Zwangsarbeit und ihre ökonomische Relevanz
[aus: Ders.: Herrschaft und Klassen in der Sowjetgesellschaft. Die historischen Bedingungen des Stalinismus, Frankfurt/New York 1977, S. 201 - 205]
Die Maßnahmen zur Intensivierung der Arbeitskraft, Akkordarbeit, Stoßarbeit, freiwillige Aufbauschichten, Rationalisierung der Arbeitsorganisation, die alle letztlich im System der materiellen Anreize gebündelt sind, werden zunehmend von offenen staatlichen Zwangsmaßnahmen abgelöst, bzw. begleitet. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch die Verlängerung des Arbeitstages wird Ziel der Kampagne zur Senkung der Arbeitskosten. Die repressiven Maßnahmen sollen die Disziplin der Arbeiter wieder herstellen, der Fluktuation Einhalt gebieten und die Gleichgültigkeit gegen Arbeit und Arbeitsprodukt materiell und physisch sanktionieren. Eine Ausweitung des Systems der materiellen Anreize war ökonomisch nicht mehr vertretbar, da 1938 der Lohnfonds bereits um 3, 5 Mrd. Rubel überzogen war; d. h. es wurden mehr Arbeiter als geplant in der Produktion beschäftigt und höhere Löhne als im Plan vorgesehen (bei nur geringen Wachstumsraten der industriellen Produktion und beim Rückgang der Produktivität gegenüber dem zweiten FJP) gezahlt. Eine Ausweitung des materiellen Anreizsystems durch mehr Prämien und höhere Löhne hätte keinen stimulierenden Effekt auf die Arbeitsproduktivität gehabt, weil die Investitionen innerhalb des Konsumgüterbereiches im Hinblick auf die internationale Lage zugunsten der Abteilung 1 reduziert wurden und so den Löhnen keine Gebrauchsgüter entgegenstanden, die ein materielles Interesse der Arbeiter an
"Mehrarbeit" hätten wecken können.
In diesem skizzierten Zusammenhang wollen wir auf ein Phänomen aufmerksam machen, das bei der Betrachtung der Säuberungen oft übersehen oder nur als singuläre Erscheinung (S. Swianiewicz 1965), ohne jeden Zusammenhang zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen betrachtet wird: die Zwangsarbeit. Die ersten systematischen Versuche, die Arbeit von Strafgefangenen wirtschaftlich aus zubeuten, gehen auf die Anfangsperiode des ersten FJP zurück. 1928 wurde ein Gesetz mit der Verabschiedung des ersten FJP beschlossen, daß die systematische wirtschaftliche Anwendung von Strafgefangenenarbeit vorsah. Trotz Arbeitskräftemangel fand das Gesetz bis 1930/31 wenig Beachtung, wie I. S. Gudkov kritisiert (
Sovietskaye Yustisia Nr. 34, 20. 12. 1931).
Die Diskussion tritt um 1930/31 in ein neues Stadium. Im Aufbauprogramm wird besonders die Entwicklung von Industriezentren in klimatisch und verkehrstechnisch ungünstigen Bereichen östlich des Urals (Ural-Kuznetsk-Becken), in weiter nach Osten verschobenen Forstgebieten und in der extraktiven Industrie akzentuiert. Dort ist der Arbeitskräftemangel besonders gravierend. Arbeiter sind nur schwer zu bewegen, exploratorische Funktionen in diesen Gebieten, trotz Gewährung erheblich höherer materieller Anreize, zu übernehmen. Es werden zwar systematisch Migrationsbewegungen initiiert, aber die Fluktuation der Arbeitskräfte, ihre Rückwanderung, ist immens. 1931 berichtet die Zeitung
Wirtschaftsleben, daß der Plan für die Migration nicht erfüllt sei und daß außerdem 50 % der in diesen Gebieten tätigen Arbeiter rückgewandert seien. Es stellte sich nicht nur die Aufgabe, verkehrsmäßig (Straßen, Kanal, Eisenbahnbau) diese Gebiete zu erschließen. Mit dem stetig steigenden Bedarf an Rohstoffen für die eigene Produktion und für den Export (Bergbauprodukte und Holz) - von dem die Importe hochwertiger kapitalistischer Technologien abhingen - wurde das Problem eine konstante Arbeitsbevölkerung in den neuen Industriegebieten, in den extraktiven Industrien und im Kommunikationswesen zu schaffen, dringlich und bestimmend für den weiteren Industrialisierungsprozeß.
Ab Mitte der 30er Jahre wird dieses Problem noch um den Aspekt der internationalen Lage, d. h. des aufziehenden europäischen Krieges, verschärft. Für die UdSSR stellt sich die Aufgabe, eine jenseits des Ural liegende Verteidigungsindustrie aufzubauen.
Am 20. 12. 1931 berichtet I.S. Gudkov über die Vorteile der Ausbeutung von Strafgefangenenarbeit und weist ihnen einen wichtigen Platz in der industriellen und landwirtschaftlichen Aufbaustrategie zu. Er bemängelt, daß bislang nicht die notwendige Aufmerksamkeit der Frage der völligen und totalen Ausnutzung von Zwangsarbeit gewidmet wurde und teilt ihr eine entscheidende Funktion gerade beim Aufbau der industriellen Anlagen im Ural zu. Der Mangel an Arbeitskräften habe, so sagt er, die Anwendung solcher Arbeit praktisch unabdingbar für den weiteren industriellen Fortschritt in diesen Gebieten gemacht. Die wirtschaftliche Nutzung von Strafgefangenenarbeit in sogenannten Strafkolonien geht auch aus einer Verlautbarung des sowjetischen Strafarbeitsgesetzes hervor, in dem es heißt, daß die Strafgefangenen-Kolonien, in einen geschlossenen Typus umgewandelt werden, um den effizienten Gebrauch der Arbeit sicherzustellen .
"
Alle anderen Strafgefangenen, die nicht in dieser Arbeit involviert sind, sollen in offene Kolonien gebracht werden, wo sie Massenarbeit verrichten können, d. h. landwirtschaftliche Arbeit, Irrigationsarbeiten, Bergbau und Kommunikationgarbeit, Wegebau etc."
Die systematische wirtschaftliche Ausbeutung war bereits in einem Dekret des Rates der Volkskommissare vom 25. 2. 1930 enthalten, in dem den Institutionen, die Zwangsarbeiter beschäftigen, ein spezifischer ökonomischer Status zugesprochen wurde.
Zwangsarbeit wurde wirtschaftlich während der ganzen Periode des ausgehenden ersten und während des zweiten FJP angewendet. Internationale Einwände und Proteste, besonders in den USA, führten teilweise zu einer Verschlechterung der internationalen Beziehungen der UdSSR zu diesen Ländern und erschwerten die Außenhandelskontakte der UdSSR erheblich. Sie mündeten sogar in Vermutungen einer Wirtschaftsblockade 1930/31 von Seiten der USA gegen die UdSSR ein und zögerten, neben wirtschaftlichen Gründen (die Begleichung von zaristischen Kriegsschulden), die Aufnahme diplomatischer Beziehungen hinaus. Diese Proteste waren mehr politische Manöver der interessierten Kreise kapitalistischer Fraktionen, die an einer Intensivierung des Handels mit der UdSSR keinen Gewinn und daher kein Interesse hatten. Sie konnten sich den Luxus einer Konfrontationspolitik in der Weltwirtschaftskrise leisten. Zudem war das Ausmaß der Zwangsarbeit, gemessen am gesellschaftlichen Gesamtarbeitskörper, relativ gering. Zweifelsohne hatte diese aber wirtschaftliche Vorteile und unterstützte Industrialisierungsvorhaben an klimatisch und kulturell benachteiligten Standorten. Solange aber forcierte Aufbauprogramme nicht erforderlich waren, genügten hohe Löhne als Mittel zur Verteilung der Arbeitskräfte.
Schenkt man den Statistiken von Wiles und Avtorkhanow Glauben, die Swianiewicz benutzt , so hat bis 1936 die Zwangsarbeit quantitativ keine übermäßige Rolle gespielt.
Tabelle: Anzahl der Gefangenen in der UdSSR 1927 - 1941
Jahr | Wiles | Avtorkhanow |
1927 | - | 140.000 |
1928 | 30.000 | - |
1930 | 550.000 - 730.000 | 1,5 Millionen |
1931 | 2 Millionen | - |
1932 | - | 2,5 Millionen |
1936 | - | 6,5 Millionen |
1937 | (Jan) 2 Millionen | - |
1937 | (Dez) 3 Millionen | - |
1938 | - | 11 Millionen |
1939 | 8 Millionen | 11 Millionen |
1940 | 6,5 Millionen | 11 Millionen |
1941 | 9 Millionen | 13,5 Millionen |
Die Situation ändert sich schlagartig Ende 1937. Ab 1938 tritt die verschärfte Arbeitsgesetzgebung gegen die Arbeiterklasse in Kraft ünd die Repression gegen die ehemaligen Oppositionellen wird abgelöst von offenen Repressionsmaßnahmen gegen das Proletariat. Schwarz deutet diese Tendenz dahingehend, daß die Arbeiter an die Produktionsmittel gebunden werden sollten. Die drakonischen Repressalien in den Betrieben nehmen zu. Lohnkürzungen, Entlassungen, Entzug der Sozialversicherungen, Wegnahme der Wohnungen (bei der desolaten Wohnungssituation in der UdSSR wohl mit die furchtbarste Bestrafung) sind abgestufte Maßnahmen, die zur Herausschleuderung von Millionenmassen von Arbeitern aus dem normalen Produktionsprozeß führen und sie in Zwangsarbeiter verwandeln.
Dodge schätzt die Zahl der Zwangsarbeiter in den 40er Jahren auf ca. 15 Millionen. Erst gegen Ende der 1940er Jahre reduziert sich ihre Zahl, da ihre Bedeutung für die Rekonstruktion der Wirtschaft weniger wichtig wird.
Vordergründig lassen sich diese Entwicklungen durchaus mit den aufgeheischten Zwängen der internationalen Lage, mit der Kriegsgefahr und den Kriegsvorbereitungen erklären, die Verlagerungen von Produktionsstätten, Verbesserungen des Infrastrukturnetzes und die Sicherstellung der Rohstoffversorgung erforderlich machten.
Doch selbst diese an der Apologie orientierte Antwort hat Schwierigkeiten, in diesen Maßnahmen einen sozialistischen Kern zu entdecken. Es sei denn, daß die Konstruktion akzeptiert wird, daß bürgerliche Bedrohungen die Aufrechterhaltung sozialistischer Verkehrsformen und sozialistischer Gesellschaftsinhalte negieren. Die altbekannte Regel von den zielgeheiligten Mitteln steht dieser Erklärung nahe.
Wir meinen, daß die Hinweise auf den Krieg als Beschönigungsgrund (schon an sich affirmativ), bewußt von der sozio-ökonomischen Situation der UdSSR am Ausgang der 30er Jahre ablenken wollen, deren Krisencharakter zwar durch externe Faktoren verschärft wurde, aber nicht ausschließlich auf sie zurückgeführt werden kann. Die Ursachen für die Entwicklung liegen eben nur zum Teil in der konjunkturellen Entwicklung der Konstellationen im internationalen System. Sie können weder für die politische Struktur noch für die Lage der Klassen in der UdSSR direkt und allein verantwortlich gemacht werden.
Die Institution der Zwangsarbeit und die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse können auch nicht mehr mit dem Aspekt der sozialpädagogischen Diktatur, der Schaffung industrieller Mentalität wie noch zu Anfang der FJP-Periode erklärt und bemäntelt wurden. Sie waren Produkt einer auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragenen Politik, in der das unmittelbare Existenzinteresse und die Bedürfnisse des Proletariats den Interessen der neuen Klassenherrschaft untergeordnet wurden. Nicht die Arbeiter bestimmten die Produktion, sondern sie wurden den fremd bestimmten Produktionszielen subsumiert.
Die gesellschaftlichen Kosten der innerbürokratischen Herrschaftsauseinandersetzung, die den Produktionsverlauf störten und die nach einem trial-and-error-Konzept verfahrende Planung vollends dysfunktional machte, wurden erneut, wie zu Beginn der Planungsperiode, auf das Proletariat abgewälzt. Die Zwangsarbeit ordnete sich dem wirtschaftlichen Ziel der Verringerung der Produktionskosten unter, d. h. der schonungslosen Ausbeutung der Arbeitskraft bei gleichbleibendem Lohnvolumen, bzw. bei noch unzureichenderer Gewährleistung der physischen Reproduktion in den Arbeitslagern. Die Expropriation des Proletariats fand ihren reinen Ausdruck in der Zwangsarbeit.
Quellen und Anmerkungen (aus Gründen eindeutiger Zuweisung innerhalb dieses html-files ist die Originalfussnotennumerierung indiziert durch die Kapitelnummer (hier 62.)):
E. Shirvindt/B. Utevskyin: Sowjetische Strafarbeit, Moskau 1931. 90 abgedruckt in Auszügen in: SDF 861.5048/65.
76 Swianiewicz (1965, 33, 37); bereits am 17.8.1931 macht die Deutsche Botschaft in. Moskau, Dirksen, darauf aufmerksam, daß sich die 0. G. P. U. (Geheimpolizei) nicht nur als bewaffneter Arm betätigt, sondern sich allmählich zu einem Staat im Staate auswachse, Sie habe vornehmlich die Kontrolle über Wirtschaftsbereiche, in denen Strafgefangene beschäftigt werden. Ihr leitendes technisches und administratives Personal rekrutiere sie aus verhafteten Oppositionellen (Auswärtiges Amt, Selected and German Foreign Office Records, Geheimakten IV RU. PC 2/RU Dt. 5200 - K 171002 - K 171007).
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