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Subject: Tom Holert: New Economy Folklore

Katharsis am Neuen Markt


Die Kurseinbrueche an den Technologieboersen leiten eine neue Phase ein: Wer

flexibel sein will, muss auch mit Verlusten umgehen koennen. von tom holert


Kurskollaps am Neuen Markt? Alle haben es geahnt, deshalb regt sich jetzt

auch niemand auf. Eher herrscht eine Stimmung der Scham. Man hat sich

verfuehren lassen durch die Medien, die Anlageberater und die Einfluesterungen

von Partybekanntschaften. Hatte nicht schon vor Monaten der niederlaendische

Notenbankchef Arnout Wellink gewarnt: "Seien Sie bei Internet-Titeln auf der

Hut"? Also.

"Die Deutschen gehen zuversichtlich ins neue Jahr", finden jetzt das

Meinungsforschungsinstitut Allensbach und die FAZ fuer ihre Bilanz des Jahres

2000 heraus. Mehr noch: "Die Stimmung wird immer besser." Von diesem High

will sich niemand herunterstossen lassen, auch und schon gar nicht die Opfer

der Abstuerze an Nemax und Nasdaq. Selbst die schwer gebeutelten Kleinanleger

des E-Commerce-Unternehmens Intershop uebten sich nach dem

70-Prozent-Einbruch ihrer Aktie zu Jahresbeginn in Gelassenheit. Der Crash

werde ueberbewertet. So sei eben die Boerse. Immer auf und ab.

Besitz macht gelassen, sogar wenn er ploetzlich nur noch ein Drittel wert

ist. Mehr noch, der Verlust scheint mobilisierend zu wirken. Erklaerungen

werden gesucht, Strategien der Risikominimierung entwickelt, notfalls wird

Uwe Jean Heuser von der Zeit konsultiert. Dieser klaert mitfuehlend ueber

den "Sog des oekonomischen" und den "diffusen Druck" der vermeintlichen

Wahlfreiheit im digitalen Kapitalismus auf, kommt aber rechtzeitig auf die

guten Seiten des Konkurrenzprinzips zu sprechen: "Mehr Markt, mehr

Wettbewerb in der oekonomie und in den Koepfen schaffen ein Element der

Befreiung und der

rness."

Die Universalisierung des oekonomischen - oder wie immer man das hinter solchen Aeusserungen stehende Prinzip nennen soll - wirkt als universelles Sedativum mit Geltungsanspruch. Eigentlich ahnt jeder Telekom-Kleinanleger, dass sein individuelles Opfer einer notwendigen Reinigung des Marktes dient, der

Trennung von "Spreu und Weizen", wie es jetzt in der Sprache der Saeuberer in

den Finanzberatungsmagazinen heisst.

In den USA haelt man den ueberall platzenden Web-Business-Blasen statt Scham

und Zweckoptimismus bereits Zynismus entgegen. Die vielen arbeitslos

gewordenen Dot-com-Mitarbeiter im Silicon Valley amuesieren sich mit Sites

wie ijustgotfired.com, netslaves.com oder fuckedcompany.com. So mancher

Internet-Mensch ist froh, die netzfremden Unternehmertypen aus den Banken

und Risikokapitalfirmen los geworden zu sein, auch wenn sie ihr Geld gleich

mitgenommen haben. Jetzt kann wieder an und in der Netzkultur gearbeitet

werden.

Der Einstieg in die Welt der so genannten New Economy verknuepft sich fuer den

Grossteil der Akteure mit dem hingebungsvollen Verzicht auf Besitz alter

Ordnung. Viel verlockender als sofortige Belohnung ist die Aussicht auf

groesseren Gewinn in der Zukunft. MitarbeiterInnen eines Start-Up-Unternehmens

erwarten fuers erste Profite anderer Art: Nicht das oekonomische Kapital - das

kann warten, man ist ja noch jung -, sondern kulturelle Kapitalien,

Anleitungen zur Professionalisierung, Kontakt mit Usern und Klienten, den

Boss duzen, Teilnahme am Lifestyle der neuen Gruenderzeit.

"Das Wichtigste in einem Start-up ist die Kultur", zitierte die Zeit im Juli

2000 den DooYoo-Gruender Marcus Rudert. Die Illusion, das oekonomische

Interesse sei an ein kulturelles Projekt geknuepft, das etwas mit Revolution

und Aufbruch zu tun habe, gehoert zum ehernen Bestand der

New-Economy-Ideologie. Der blutjunge Unternehmensgruender ist ein Genie,

seine Geschaeftsidee eine Vision, das Mindeste, was man sich als

MitarbeiterIn abverlangen sollte, commitment. Und in Berlin-Mitte oder im

Londoner East End werden Dot-Com-Bueros in unmittelbarer Nachbarschaft von

Galerien eroeffnet.

Inzwischen gehoert das alles laengst zur New-Economy-Folklore. Das Bild vom

Chef, der sich nicht zu schade ist, die Pizza zu holen, wird jetzt durch die

kathartische Szene abgerundet, in der derselbe Chef den Bankrott und damit

die totale Wertlosigkeit der Unternehmensanteile der MitarbeiterInnen

verkuendet. Wow! "Umsatz- und Gewinnerwartungen verdraengen Wachstumsvisionen

aus dem Mittelpunkt des Interesses", umschreibt die deutsche Financial Times

die Ankunft der New Economy in der "rauen Wirklichkeit" der Oekonomie alter

Ordnung.

Die raue Wirklichkeit hat in der Regel wenig Sinn fuer Kultur.

Umsatzerwartungen koennen auf Visionen verzichten. Schlaegt jetzt, da die

Traeume vom schnellen Boersengang ausgetraeumt sind, die Stunde eines

distinktionsbewussten New-Economy-Undergrounds? In den Kreisen derjenigen,

die schon seit einiger Zeit die Uebernahme der Netzkultur durch die

Kapitalgeber beklagen, scheint es dringend geboten, zwischen schlechter und

guter New Economy zu unterscheiden.

Es gilt, eine soziokulturelle Klassifikation zum eigenen Vorteil

vorzunehmen, die es vielleicht sogar erlaubt, sich vom schmuddelig

gewordenen Label New Economy ganz zu befreien. Zum Beispiel, indem man nicht

auf willkuerlich gesetzte Statussymbole zurueckgreift, sondern das Prekaere der

eigenen Situation zur Identitaetsbildung benutzt. Wir haben zwar nichts. Aber

wir formieren hier nicht nur eine oekonomische, sondern auch eine kulturelle

Avantgarde. Vernetzt, mobil, autonom, rhizomatisch.

Doch auch solche Selbstbeschreibungen sind voller Existenzgruender-Kitsch.

Die ideologischen Verheissungen einer vermeintlich neuen Art, den

oekonomischen Ueberlebenskampf mit kulturellen Programmen zu schmuecken, sind

aber auch Ausdruck einer bestimmten Rationalitaet. Die kleinen flexiblen

Einheiten, das Quereinsteigertum, die hybriden Wissensformen, der

Enthusiasmus und

all die anderen Merkmale, die Kunst, Underground und New Economy angeblich

miteinander verbinden, werden ja nicht zufaellig mit Belobigungen aus allen

Ecken der Gesellschaft bedacht. Inzwischen beten nicht nur

Managementtheoretiker oder Bundeskanzler Gerhard Schroeder, sondern auch

Vertreter der Gewerkschaften, die sich neuerdings in New-Economy-Betrieben

bemerkbar machen, das Mantra von flachen Hierarchien, teilautonomen

Institutionen und mutigen Experimenten herunter.

"In Phasen relativer Verunsicherung wird der Status jedes Wissens prekaerer,

zugleich ist die versichernde Funktion des Wissens beim Aufbau neuer

Sicherheiten gefragt", schrieben 1987 die Risikoforscher Adalbert Evers und

Helga Nowotny. Sicherheit verspricht in den heutigen Zeiten allein das

Erlebnis Oekonomie, und deren Erleben darf dann auch - phasenweise - ein

Erleiden sein. Die Einwilligung in ein solches Erleiden nimmt die Form eines

Wissens an, das beim Aufbau neuer Sicherheiten in der Unsicherheit hilft.

Entscheidend fuer gegenwaertige Subjektivierungsprozesse ist es, mit

Konjunkturen, Krisen und Aufschwuengen immer selbstverstaendlicher und

souveraener umgehen zu lernen. Hierin zeigt sich die "oekonomie der

acht" (Foucault), die den Subjekten mit der Faehigkeit zur

Kontingenzbewaeltigung auch eine Selbsttechnologie abverlangt, die eng mit

den Herrschaftstechniken von Beschleunigung, Deregulierung und

Kulturalisierung verbunden ist.

Die Lockerungsuebungen der New-Economy-Culture haben bis weit hinein in

Kreise einer linken Boheme zurueckgewirkt, von denen ja die entsprechenden

Appelle an Deregulierung, Flexibilitaet und Einsatzbereitschaft urspruenglich

ausgegangen waren. Ob all die kleineren und groesseren oekonomisch-kulturellen

Selbstermaechtigungen (zum Kleinunternehmertum) endgueltig auf eine kolossale

Selbstentmaechtigung hinauslaufen, wie sie symbolisch von Vertretern eines

flexibilisierten Kulturunternehmertums wie Christoph Schlingensief

vorgefuehrt wird? Oder laesst sich aus den Truemmern noch etwas Konstruktiveres

bergen?

Die gegenwaertigen Einbrueche am Internet-Markt bedeuten nicht das Ende der

New Economy. Die Pleiten dienen vielmehr der Durchsetzung einer Ordnung, in

der erneut ein Old-Economy-Gigant vom Schlage General Electric an der Spitze

der Liste der weltweit groessten Unternehmen steht. Aber vielleicht fuehrt

diese Entwicklung ja auch dazu, dass sich neue Subjektivitaeten entwickeln.

Subjekte, die aus der Verschraenkung von Selbstorganisation und

Ausbeutungseffekten den Schluss ziehen, dass der Kultur misstraut werden

muss, will man nicht den falschen Versprechungen der Oekonomie anheimfallen.

Eine Minimalhoffnung.