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Geschrieben 28. August 1937.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive
Reaktionäre Epochen wie die unsere zersetzen und schwächen nicht nur die Arbeiterklasse und isolieren ihre Avantgarde, sondern drücken auch das allgemeine ideologische Niveau der Bewegung herab und werfen das politische Denken auf bereits längst durchlaufene Etappen zurück.
Die Aufgabe der Avantgarde besteht unter diesen Umständen vor allem darin, sich nicht von dem allgemeinen, rückwärts flutenden Strom davontragen zu lassen – es heißt gegen den Strom schwimmen. Wenn ein ungünstiges Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die früher eroberten politischen Positionen zu wahren, gilt es, sich wenigstens auf den ideologischen Positionen zu halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer bezahlten vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine solche Politik als „Sektierertum“. In Wirklichkeit bereitet sie nur einen gigantischen neuen Sprung vorwärts vor, zusammen mit der Welle des kommenden historischen Aufschwungs.
Große historische Niederlagen rufen unvermeidlich eine Umwertung hervor, die sich im allgemeinen in zwei Richtungen vollzieht. Auf der einen Seite trachtet das Denken der wahren Avantgarde, bereichert um die Erfahrung der Niederlagen und mit Zähnen und Klauen das Erbe des revolutionären Gedankens verteidigend, auf seiner Grundlage neue Kader für die künftigen Massenkämpfe heranzuziehen.
Auf der anderen trachtet das über die Niederlage erschrockene Denken der Routiniers, Zentristen und Dilettanten, die Autorität der revolutionären Tradition zu zerstören, und kehrt unter dem Schein der Suche nach „Neuem“ weit zurück.
Man könnte eine Fülle von Beispielen ideologischer Reaktion anführen, die übrigens zumeist die Form der Prostration (Selbsterniedrigung) annimmt. Die gesamte Literatur der II. und III. Internationale wie ihrer zentristischen Satelliten vom Londoner Büro besteht im Grunde aus derartigen Beispielen. Nicht die Spur einer marxistischen Analyse. Nicht ein ernster Versuch, die Ursache einer Niederlage zu erhellen.
Nicht ein neues, eigenes Wort über die Zukunft. Nichts als Schablone, Routine, Trug und vor allem Sorge um die eigene bürokratische Selbsterhaltung. Ein Dutzend Zeilen eines beliebigen Hilferding oder Otto Bauer genügen einem, um Verwesungsgeruch zu spüren.
Von den Theoretikern der Komintern ganz zu schweigen. Der verherrlichte Dimitrow ist unwissend und banal wie ein Krämer in der Kneipe. Das Denken dieser Leute ist zu faul, um dem Marxismus zu entsagen: sie prostituieren ihn. Nicht sie interessieren uns jetzt. Kehren wir zu den „Neuerern“ zurück.
Der ehemalige österreichische Kommunist Willy Schlamm widmete den Moskauer Prozessen eine Broschüre mit dem sprechenden Titel „Diktatur der Lüge“. Schlamm ist ein begabter Journalist, dessen Interessen hauptsächlich auf Tagesfragen gerichtet sind. Die Kritik der Moskauer Schwindelprozesse sowie die Aufdeckung der psychologischen Mechanik der „freiwilligen Geständnisse“ gelingen Schlamm vortrefflich. Doch nicht zufrieden damit, will er eine neue Theorie des Sozialismus aufstellen, die uns in Zukunft vor Niederlagen und Schwindel behüten soll.
Da aber Schlamm durchaus kein Theoretiker und sogar sichtlich mit der Entwicklungsgeschichte des Sozialismus wenig bekannt ist, so kehrt er unter dem Anschein einer neuen Offenbarung ganz zum vormarxistischen Sozialismus zurück, dazu in dessen deutscher, d.h. rückständigster, süßlichster und widerlichster Art
Schlamm verzichtet auf die Dialektik, auf den Klassenkampf, von der Diktatur des Proletariats gar nicht zu reden. Die Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft läuft für ihn auf die Verwirklichung einiger „weniger“ Moralweisheiten hinaus, mit denen er die Menschen bereits unter der kapitalistischen Ordnung zu füttern sich anschickt.
In Kerenskis Zeitung Neues Rußland (ein altes Provinzblatt, herausgegeben in Paris) wird Willy Schlamms Versuch, den Sozialismus mit einer Spritze sittlicher Lymphe zu fetten, nicht nur mit Freude, sondern auch mit Stolz aufgenommen: Dem ganz richtigen Kommentar der Redaktion zufolge kommt Schlamm zu den Prinzipien des echt-russischen Sozialismus, der schon längst dem trockenen und engherzigen Klassenkampf die heiligen Grundsätze des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe entgegenstellte.
Zwar stellte die Originaldoktrin der russischen „Sozialrevolutionäre“ in ihren Prämissen nur eine Rückkehr zum Sozialismus des vormärzlichen Deutschlands dar. Es wäre jedoch allzu ungerecht, von Kerenski eine nähere Bekanntschaft mit der Ideengeschichte zu fordern als von Schlamm. Viel wichtiger ist der Umstand, daß der mit Schlamm sich solidarisierende Kerenski als Regierungsoberhaupt der Urheber der Verfolgungen gegen die Bolschewiki als Agenten des deutschen Generalstabs war, d.h. den gleichen Schwindel organisierte, gegen den Schlamm heute mottenzerfressene metaphysische Absolute mobilisiert.
Der psychologische Mechanismus der gedanklichen Reaktion Schlamms und seinesgleichen ist sehr einfach. Eine gewisse Zeitlang nahmen diese Leute an einer politischen Bewegung teil, die auf den Klassenkampf schwor und in Worten an die materialistische Dialektik appellierte. In Österreich wie in Deutschland endete die Sache mit einer Katastrophe.
Schlamm zieht eine summarische Schlußfolgerung: Dahin haben uns Klassenkampf und Dialektik gebracht! Und da die Auswahl der Offenbarungen durch die geschichtlichen Erfahrungen und ... die persönlichen Kenntnisse beschränkt ist, stößt unser Reformator auf der Suche nach Neuem auf bereits längst beiseitegeworfenen Trödelkram, den er tapfer nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus entgegenstellt.
Auf den ersten Blick erscheint die von Schlamm vertretene Abart der ideologischen Reaktion allzu primitiv (von Marx ... zu Kerenski), als daß es sich lohnte, dabei zu verweilen. Allein, tatsächlich ist sie ungemein lehrreich: Gerade dank ihrer Primitivität bildet sie ein allgemeines Kennzeichen aller anderen Reaktionsformen, vor allem derjenigen, die sich in dem summarischen Verzicht auf den Bolschewismus äußert.
Im Bolschewismus fand der Marxismus seinen grandiosesten geschichtlichen Ausdruck. Unter dem Banner des Bolschewismus wurde der erste Sieg des Proletariats errungen und der erste Arbeiterstaat errichtet. Diese Tatsachen wird keine Kraft der Welt mehr aus der Geschichte streichen. Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium zum Triumph der Bürokratie geführt hat, mit ihrem System der Unterdrückung, Raubherrschaft und Fälschung – zur „Diktatur der Lüge“, wie Schlamm treffend sagte – so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der summarischen Schlußfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus bekämpfen, ohne auf den Bolschewismus zu verzichten.
Schlamm geht, wie wir bereits sagten, noch weiter: Der zum Stalinismus entartete Bolschewismus ist selbst aus dem Marxismus entstanden – man kann folglich nicht den Stalinismus bekämpfen und dabei auf den Grundlagen des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten, aber Zahlreicheren sagen hingegen: „Man muß vom Bolschewismus zum Marxismus zurückkehren.“ Auf welchem Wege? Zu welchem Marxismus?
Bevor der Marxismus in der Form des Bolschewismus „bankrott“ gemacht hat, erlitt er in der Form der Sozialdemokratie Schiffbruch. Die Losung „Zurück zum Marxismus“ bedeutet somit einen Sprung über die Epoche der II. und III. Internationale ... zur I. Internationale? Aber auch diese erlitt seinerzeit Schiffbruch. Es heißt also letzten Endes zurückkehren ... zu den gesammelten Schriften Marx’ und Engels’ ... Diesen heroischen Sprung kann man machen, ohne sein Arbeitszimmer zu verlassen oder auch nur die Pantoffeln auszuziehen.
Wie aber dann von unseren Klassikern (Marx starb 1883, Engels 1895) zu den Aufgaben der neuen Epoche gelangen und dabei einige Jahrzehnte theoretischen und politischen Kampfes umgehen, darunter den Bolschewismus und die Oktoberrevolution? Niemand von denen, die Verzicht auf den Bolschewismus als eine historisch „bankrotte“ Strömung vorschlagen, hat neue Wege gewiesen.
Die Sache läuft somit auf einen einfachen Ratschlag hinaus, das Kapital zu studieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber das Kapital haben auch die Bolschewiki studiert und dabei gar nicht schlecht. Das hat jedoch die Entartung des Sowjetstaates und die Inszenierung der Moskauer Prozesse nicht verhindert.
Ist es jedoch wahr, daß der Stalinismus ein gesetzmäßiges Produkt des Bolschewismus ist, wie es die gesamte Reaktion annimmt, wie es Stalin selbst behauptet und wie es die Menschewiki, Anarchisten und gewisse linke Doktrinäre, die sich für Marxisten halten, meinen?
„Wir haben ja immer gesagt“, sprechen sie, „seit dem Verbot der anderen sozialistischen Parteien, der Unterdrückung der Anarchisten, seit der Aufrichtung der Bolschewikidiktatur in den Sowjets konnte die Oktoberrevolution zu nichts anderem als zur Diktatur der Bürokratie führen. Der Stalinismus ist die Fortsetzung und zugleich der Bankrott des Leninismus.“
Der Fehler dieser Argumentation beginnt bei der stillschweigenden Gleichsetzung von Bolschewismus, Oktoberrevolution und Sowjetunion. Der historische Prozeß, der im Kampf feindlicher Kräfte besteht, wird hier durch eine Entwicklung des Bolschewismus im luftleeren Raum ersetzt.
Indes ist der Bolschewismus nur eine politische Strömung, die zwar eng mit der Arbeiterklasse verknüpft, aber nicht mit ihr identisch ist. Aber außer der Arbeiterklasse existieren in der UdSSR über hundert Millionen Bauern, verschiedenartigste Völkerschaften, ein Erbe von Unterdrückung, Armut und Unbildung.
Der von den Bolschewiki errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und Wollen der Bolschewiki wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes, die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, den Druck der barbarischen Vergangenheit und des nicht weniger barbarischen Weltimperialismus.
Den Entartungsprozeß des Sowjetstaats als eine Evolution des reinen Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale Wirklichkeit ignorieren namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr abgesonderten Elementes.
Es genügt eigentlich, diesen elementaren Fehler beim Namen zu nennen, damit von ihm keine Spur mehr übrigbleibt. Der Bolschewismus selbst jedenfalls identifizierte sich nie mit der Oktoberrevolution noch mit dem aus ihr hervorgegangenen Sowjetstaat
Der Bolschewismus betrachtet sich als einen Faktor der Geschichte, ihren „bewußten“ Faktor – einen sehr bedeutenden, aber nicht entscheidenden – „historischen Subjektivismus“ haben wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden Faktor auf dem gegebenen Fundament der Produktivkräfte sahen wir im Klassenkampf, dabei nicht bloß im nationalen, sondern im internationalen Maßstab.
Als die Bolschewiki an die Besitzertendenzen der Bauern Zugeständnisse machten, strenge Regeln für die Aufnahme in die Partei aufstellten, diese Partei von fremden Elementen säuberten, andere Parteien verboten, die NEP (Neue Ökonomische Politik) einführten, zu Übergabe von Betrieben in Konzessionen Zuflucht nahmen oder diplomatische Abkommen mit imperialistischen Regierungen trafen, zogen sie – die Bolschewiki – Teilschlüsse aus der Grundtatsache, die ihnen von Anfang an klar war, nämlich daß die Machteroberung, so wichtig sie an sich auch ist, die Partei durchaus nicht zum allmächtigen Herrn des historischen Prozesses machte.
Mit der Herrschaft über den Staat besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft einzuwirken, dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten Einwirkung von Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft.
Durch die direkten Schläge der feindlichen Kräfte kann sie von der Macht hinweggefegt werden. Bei langwierigen Entwicklungstempi kann sie, sich an der Macht haltend, innerlich entarten. Gerade diese Dialektik des historischen Prozesses verstehen die sektiererischen Räsonneure nicht, die in der Fäulnis der Stalinbürokratie ein vernichtendes Argument gegen den Bolschewismus finden wollen.
Im Grunde sagen diese Herren: Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie gegen ihre eigene Entartung enthält. Angesichts eines derartigen Kriteriums ist der Bolschewismus natürlich gerichtet: Einen Talisman hat er nicht. Doch dieses Kriterium ist eben falsch.
Das wissenschaftliche Denken verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum zersetzte sich die Partei? Niemand außer den Bolschewiki selbst hat bisher eine solche Analyse gegeben. Diese aber brauchten deswegen nicht mit dem Bolschewismus zu brechen.
Im Gegenteil, in ihrem Arsenal fanden sie alles Notwendige, um sein Schicksal zu erklären. Die Schlußfolgerung, zu der sie gelangten, lautete: Natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus „erwachsen“, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung. Das ist durchaus nicht ein und dasselbe.
Allein, die Bolschewiki mußten nicht erst die Moskauer Prozesse abwarten, um nachträglich die Ursachen für die Zersetzung der herrschenden Partei der UdSSR zu erklären. Sie sahen lange vorher die theoretische Möglichkeit einer solchen Entwicklungsvariante und sprachen beizeiten davon.
Erinnern wir uns an die Prognose, die die Bolschewiki nicht nur am Vorabend der Oktoberrevolution, sondern schon einige Jahre vorher aufstellten. Die besondere Kräftegruppierung im nationalen und internationalen Maßstab führt dazu, daß das Proletariat in einem so rückständigen Land wie Rußland zuerst an die Macht gelangen kann.
Doch eben diese Kräftegruppierung läßt auch im voraus erkennen, daß ohne einen mehr oder weniger baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern ein Arbeiterstaat in Rußland nicht standhalten wird. Das auf sich angewiesene Sowjetregime wird zerfallen oder entarten, genauer: zuerst entarten, und dann zerfallen.
Ich persönlich habe mehr als einmal darüber geschrieben, bereits seit 1905. In meiner Geschichte der russischen Revolution (siehe den Anhang zum zweiten Band: „Sozialismus in einem Lande?“) sind diesbezügliche Aussagen der Führer des Bolschewismus von 1917 bis 1923 gesammelt.
Alle laufen auf eines hinaus: Ohne Revolution im Westen wird der Bolschewismus liquidiert werden, entweder von der inneren Konterrevolution oder durch Intervention von außen, oder durch beides zusammen.
Lenin insbesondere hat oft darauf hingewiesen, daß die Bürokratisierung des Sowjetregimes keine technische oder organisatorische Frage ist, sondern der mögliche Beginn einer sozialen Entartung des Arbeiterstaates.
Auf dem XI. Parteikongreß vom März 1922 sprach Lenin über die „Unterstützung“, welche gewisse bürgerliche Politiker im besonderen der liberale Professor Ustraljew, seit der Zeit der NEP Sowjetrußland angedeihen zu lassen beschlossen. „Ich bin für die Unterstützung der Sowjetmacht in Rußland“, sagt Ustraljew, „weil sie den Weg betreten hat, der sie zu einer gewöhnlichen bürgerlichen Macht hinführen wird.“
Die zynische Stimme des Feindes zieht Lenin dem „süßlichen kommunistischen Geschwätz“ vor. Mit strenger Nüchternheit warnt er die Partei vor der Gefahr: Alle Dinge, von denen Ustraljew spricht, sind möglich. Das muß man klar sagen. Die Geschichte kennt Wendungen aller Arten: Sich auf Überzeugung, Ergebenheit und andere vorzügliche Seeleneigenschaften zu verlassen, ist in der Politik durchaus keine ernste Sache.
Die vorzüglichen Eigenschaften haben eine kleine Anzahl von Leuten, aber das historische Endergebnis bestimmen die gigantischen Massen, die, wenn die geringe Anzahl Leute ihnen nicht entgegenkommt, zuweilen mit dieser geringen Anzahl Leute nicht allzu höflich verfahren. Mit einem Wort: Die Partei ist nicht der einzige Entwicklungsfaktor und, in großen geschichtlichen Maßstäben, nicht der entscheidende.
„Es kommt vor, daß ein Volk ein anderes Volk besiegt“, fuhr Lenin auf demselben Kongreß fort – dem letzten, der mit seiner Teilnahme stattfand –, „...das ist sehr einfach und allen verständlich. Aber was geschieht mit der Kultur der Völker? Das ist nicht so einfach. Ist das Siegervolk dem besiegten Volk kulturell überlegen, so zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, so pflegt der Besiegte dem Sieger seine Kultur aufzuzwingen.
Ist nicht etwas ähnliches in der Hauptstadt der RSFSR geschehen! Und ergab es sich nicht dort, daß 4.700 Kommunisten (fast eine ganze Division, und die allerbesten von allen) der fremden Kultur unterlagen?“
Das wurde Anfang 1922 gesagt, und zwar nicht zum ersten Mal. Die Geschichte wird nicht von wenigen, wenn auch „allerbesten“ Menschen gemacht; noch weniger: diese „besten“ können im Geiste der „fremden“, d.h. der bürgerlichen Kultur entarten. Nicht nur kann der Sowjetstaat vom sozialistischen Wege abgehen, sondern auch die bolschewistische Partei unter ungünstigen historischen Bedingungen ihren Bolschewismus einbüßen.
Aus dem deutlichen Verständnis dieser Gefahr entstand die Linke Opposition, die sich endgültig im Jahre 1923 bildete. Tagaus, tagein die Entartungssymptome registrierend, trachtete sie, dem heranrückenden Thermidor den bewußten Willen der proletarischen Avantgarde gegenüberzustellen. Allein, dieser subjektive Faktor erwies sich als unzureichend.
Die „gigantischen Massen“, die nach Lenin den Ausgang des Kampfes entscheiden, wurden der inneren Entbehrungen und des zu langen Wartens auf die Weltrevolution müde. Die Massen verloren den Mut. Die Bürokratie bekam die Oberhand. Sie schüchterte die proletarische Avantgarde ein, trat den Marxismus mit Füßen, prostituierte die bolschewistische Partei. Der Stalinismus siegte. In Gestalt der Linken Opposition brach der Bolschewismus mit der Sowjetbürokratie und ihrer Komintern. Das ist der wirkliche Gang der Entwicklung.
Freilich, im formellen Sinne ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus hervorgegangen. Die Moskauer Bürokratie fährt auch heute noch fort, sich Bolschewistische Partei zu nennen. Sie benutzt einfach die alte Banderole, um besser die Massen zu betrügen. Um so kläglicher sind die Theoretiker, die die Schale für den Kern und den Schein für das Wesen nehmen. Indem sie Stalinismus und Bolschewismus gleichsetzen, leisten sie den Thermidorianern den besten Dienst und spielen somit eine klare reaktionäre Rolle.
Bei der Entfernung aller anderen Parteien vom politischen Schauplatz müssen die entgegengesetzten Interessen und Tendenzen der verschiedenen Bevölkerungsschichten in dem einen oder anderen Grade in der herrschenden Partei zum Ausdruck kommen. In dem Maße, wie der politische Schwerpunkt sich von der proletarischen Avantgarde zur Bürokratie verschob, wandelte sich die Partei sowohl der sozialen Zusammensetzung wie auch der Ideologie nach.
Infolge des ungestümen Verlaufs der Entwicklung erlitt sie in den letzten fünfzehn Jahren eine sehr viel radikalere Entartung, als die Sozialdemokratie während eines halben Jahrhunderts. Die heutige „Säuberung“ zieht zwischen Bolschewismus und Stalinismus nicht nur einen blutigen Strich, sondern einen ganzen Strom von Blut.
Die Ausrottung der gesamten alten Generation der Bolschewiki, eines erheblichen Teils der mittleren Generation, die am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und jenes Teils der Jugend, der die bolschewistischen Traditionen am ernstesten aufnahm, beweist nicht nur die politische, sondern durch und durch physische Unvereinbarkeit des Stalinismus und des Bolschewismus. Wie kann man das nicht sehen?
Die Anarchisten ihrerseits wollen im Stalinismus ein organisches Produkt nicht nur des Bolschewismus und des Marxismus, sondern des „Staatssozialismus“ überhaupt sehen. Sie sind einverstanden, die patriarchalische, bakuninsche „Föderation der freien Gemeinden“ durch eine zeitgemäßere „Föderation der freien Räte“ zu ersetzen. Aber sie sind nach wie vor gegen den zentralisierten Staat.
In der Tat: der eine Zweig des „staatlichen“ Marxismus, die Sozialdemokratie, wurde, als sie an die Macht kam, eine offene Agentur des Kapitals. Der andere erzeugte eine neue privilegierte Kaste. Es ist klar: Die Quelle des Übels liegt im Staate.
Unter einem breiten historischen Gesichtswinkel kann man in dieser Überlegung ein Korn Wahrheit finden. Der Staat als Zwangsapparat ist zweifellos eine Quelle politischer und moralischer Verseuchung. Das gilt, wie die Erfahrung zeigt, auch für den Arbeiterstaat.
Man kann folglich sagen, der Stalinismus ist das Produkt eines Zustandes der Gesellschaft, wo diese es noch nicht vermochte, die Zwangsjacke des Staates abzustreifen. Doch diese These, die zur Beurteilung des Bolschewismus oder des Marxismus nichts liefert, kennzeichnet nur den allgemeinen Kulturstand der Menschheit und vor allem das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie.
Nachdem wir uns mit den Anarchisten darüber geeinigt haben, daß der Staat, sogar der Arbeiterstaat, ein Erzeugnis der Klassenbarbarei ist, und daß die wahre menschliche Geschichte mit der Abschaffung des Staates beginnen wird, erhebt sich vor uns in all ihrer Macht die Frage: Welche Wege und Methoden sind imstande, letzten Endes zur Abschaffung .des Staates zu führen? Die jüngste Erfahrung bezeugt, daß es jedenfalls nicht die Methoden des Anarchismus sind.
Die Führer des spanischen Arbeiterbundes (CNT), der einzigen bedeutenden anarchistischen Organisation auf der Erde, wurden in der kritischen Stunde bürgerliche Minister. Ihren offenen Verrat an der Theorie des Anarchismus erklärten sie mit dem Druck „außerordentlicher Umstände“.
Aber hatten nicht seinerzeit die Führer der deutschen Sozialdemokratie dasselbe Argument angeführt? Natürlich, der Bürgerkrieg ist kein friedlicher, kein gewöhnlicher, sondern ein „außerordentlicher Umstand“. Doch gerade auf diese „außerordentlichen Umstände“ bereitet sich jede ernsthafte revolutionäre Organisation vor.
Die Erfahrung Spaniens bewies nochmals, daß man in unter „normalen Umständen“ herausgegebenen Büchern den Staat „verneinen“ kann, daß aber die Bedingungen der Revolution keinen Raum für die „Verneinung“ des Staates lassen, sondern im Gegenteil die Eroberung des Staates verlangen.
Wir gedenken den spanischen Anarchisten durchaus nicht vorzuwerfen, nicht mit einem Federstrich den Staat liquidiert zu haben. Die revolutionäre Partei ist, selbst wenn sie die Macht erobert hat (wozu die spanischen Anarchistenführer trotz des Heldentums der anarchistischen Arbeiter nicht imstande waren) durchaus noch nicht der allmächtige Herr der Gesellschaft.
Doch um so unerbittlicher klagen wir die anarchistische Theorie an, die für friedliche Zeiten ganz tauglich schien, aber auf die man verzichten muß, sobald die „außerordentlichen Umstände“ ... der Revolution eintreten. In der alten Zeit begegnete man Generälen – wahrscheinlich begegnet man ihnen heute auch noch – die meinten, am schädlichsten für die Armee sei der Krieg. Kaum besser sind die „Revolutionäre“, die da klagen, die Revolution zerstöre ihre Doktrin.
Die Marxisten sind sich mit den Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen einig. Der Marxismus bleibt „staatlich“ nur, soweit die Liquidierung des Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden kann.
Die Erfahrung des Stalinismus widerlegt nicht die Lehre des Marxismus, sondern bestätigt sie auf umgekehrte Weise. Die revolutionäre Doktrin, die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage richtig zu orientieren und sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich keine automatische Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser Doktrin möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt vorstellen.
Es gilt, die Frage in der Perspektive einer großen Epoche zu fassen. Der erste Arbeiterstaat auf niedriger wirtschaftlicher Grundlage und vom Imperialismus umzingelt – verwandelt sich in die Gendarmerie des Stalinismus. Doch der wirkliche Bolschewismus erklärte dieser Gendarmerie den Kampf auf Leben und Tod.
Um sich zu halten, ist der Stalinismus gezwungen, heute geradezu einen Bürgerkrieg gegen den Bolschewismus unter dem Namen des „Trotzkismus“ zu führen, nicht nur in der UdSSR, sondern auch in Spanien. Die alte Bolschewistische Partei ist tot, aber der Bolschewismus erhebt überall seinen Kopf.
Den Stalinismus aus dem Bolschewismus oder aus dem Marxismus abzuleiten, ist ganz dasselbe, wie, im breiteren Sinne, die Konterrevolution aus der Revolution abzuleiten. Nach dieser Schablone bewegte sich stets das liberalkonservative und später das reformistische Denken. Die Revolution hat, kraft der Klassenstruktur der Gesellschaft, stets die Konterrevolution erzeugt.
Beweist das nicht, fragt der Pharisäer, daß die revolutionäre Methode irgend einen inneren Fehler hat? Weder die liberalen noch die Reformisten haben jedoch bisher „ökonomischere“ Methoden zu entdecken verstanden.
Aber wenn es auch nicht leicht ist, Die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so ist es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch zu deuten, logisch den Stalinismus aus dem „Staatssozialismus“, den Faschismus aus dem Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem Wort, die Antithese aus der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, ist das anarchistische Denken der Gefangene des liberalen Rationalismus. Das echte revolutionäre Denken ist unmöglich ohne Dialektik.
Die Argumentation der Rationalisten nimmt zuweilen, wenigstens äußerlich, konkreteren Charakter an. Den Stalinismus leiten sie nicht aus dem Bolschewismus in seiner Gesamtheit, sondern aus seinen politischen Sünden ab. (Einer der deutlichsten Vertreter dieses Typus des Denkens ist der französische Autor eines Buches über Stalin, B. Souvarine.) Von den Tatsachen und Dokumenten her stellen Souvarines Arbeiten eine lange, gewissenhafte Forschung dar.
Jedoch die Geschichtsphilosophie des Verfassers überrascht durch ihre Vulgarität. Zwecks Erläuterung allen folgenden historischen Unheils sucht er nach dem Bolschewismus innewohnenden Fehlern. Der Einfluß der realen Bedingungen des geschichtlichen Prozesses auf den Bolschewismus existiert für ihn nicht. (Selbst H. Taine mit seiner Theorie des „Milieu“ stand Marx näher als Souvarine.) Die Bolschewiki – sagen uns Gorter, Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“ usw. – vertauschen die Diktatur des Proletariats gegen die Diktatur der Partei, Stalin vertauschte die Diktatur der Partei gegen die Diktatur der Bürokratie. Die Bolschewiki vernichteten alle Parteien außer ihrer eigenen, Stalin erstickte die bolschewistische Partei im Interesse der bonapartistischen Clique.
Die Bolschewiki anerkannten die Notwendigkeit, an den alten Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament teilzunehmen. Stalin befreundete sich mit der Gewerkschaftsbürokratie und mit der bürgerlichen Demokratie. Derlei Gegenüberstellungen kann man nun anführen, so viel man will. Trotz ihrer äußerlichen Schlagkraft sind sie vollkommen leer.
Das Proletariat kann nicht anders an die Macht gelangen, als in der Person seiner Avantgarde. Schon die Notwendigkeit einer Staatsmacht entspringt dem ungenügenden Kulturniveau der Massen und ihrer Verschiedenartigkeit. In der zur Partei organisierten revolutionären Avantgarde kristallisiert sich das Freiheitsstreben der Massen. Ohne Vertrauen der Klasse zur Avantgarde, ohne Unterstützung der Avantgarde durch die Klasse kann von Machteroberung keine Rede sein. In diesem Sinne sind die proletarische Revolution und die Diktatur Sache der gesamten Klasse, aber nicht anders als unter der Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei. Das ist durch die positive Erfahrung der Oktoberrevolution und durch die negative Erfahrung anderer Länder (Deutschland, Österreich, schließlich Spanien) bewiesen.
Niemand hat praktisch gezeigt oder auch nur versucht, auf dem Papier zu erklären, wie das Proletariat ohne politische Führung durch die Partei, die weiß, was sie will, die Macht erobern könne. Wenn diese Partei die Sowjets politisch ihrer Führung unterwirft, so ändert diese Tatsache an sich ebensowenig am Sowjetsystem wie die Herrschaft der konservativen Mehrheit am System des britischen Parlamentarismus.
Was das Verbot der anderen Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht der Theorie des Bolschewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutz der Diktatur in einem rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von Feinden umgebenen Land. Den Bolschewiki war von Anfang an klar, daß diese Maßnahme, die später durch das Verbot von Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei selbst ergänzt wurde, eine gewaltige Gefahr ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der Doktrin oder Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in der Schwierigkeit der inneren und der Weltlage. Hätte die Revolution auch nur in Deutschland gesiegt, das Erfordernis, die anderen Sowjetparteien zu verbieten, wäre sofort hinfällig geworden. Daß die Herrschaft einer einzigen Partei juristisch zum Ausgangspunkt für das stalinistische totalitäre System diente, ist ganz unbestreitbar. Aber die Ursache dieser Entwicklung liegt nicht im Verbot der anderen Parteien als einer zeitweiligen Kriegsmaßnahme, sondern in der Niederlagenreihe des Proletariats in Europa und Asien.
Dasselbe gilt für den Kampf gegen den Anarchismus. In der heroischen Epoche der Revolution marschierten die Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm. Der Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatslosigkeit die Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkriegs, der Blockade und des Hungers ließen keinen Raum für derartige Pläne.
Der Kronstädter Aufstand? Aber die revolutionäre Regierung konnte selbstverständlich nicht den aufständischen Matrosen eine die Hauptstadt beschirmende Festung „schenken“, nur weil der reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei sich einige fragwürdige Anarchisten angeschlossen hatten. Die konkrete historische Analyse der Ereignisse läßt keinen heilen Fleck an den Legenden, die Unwissenheit und Sentimentalität um Kronstadt, Machno und andere Episoden der Revolution geflochten haben.
Es bleibt nur die Tatsache, daß die Bolschewiki von Anfang an nicht nur Überzeugung, sondern auch Zwang anwandten, häufig von der schärfsten Art. Unbestreitbar ist auch, daß die aus der Revolution erwachsene Bürokratie darin ein Zwangssystem in ihren Händen monopolisierte. Jede Entwicklungsetappe, selbst wenn es sich um so katastrophenartige Etappen handelte wie Revolution und Konterrevolution, ergibt sich aus der vorhergehenden Etappe. wurzelt in ihr und trägt davon gewisse Züge.
Die Liberalen, einschließlich des Paares Webb, behaupten stets, die bolschewistische Diktatur steIle nur eine Neuausgabe des Zarismus dar. Sie verschlossen dabei die Augen vor solchen Kleinigkeiten wie der Abschaffung der Monarchie und der Stände, der Übergabe des Bodens an die Bauern, der Enteignung des Kapitals, der Einführung der Planwirtschaft, der atheistischen Erziehung usw.
Ganz ebenso verschließt das liberal-anarchistische Denken die Augen davor, daß die bolschewistische Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnamen eine Umwälzung der sozialen Verhältnisse im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer privilegierten Minderheit geschieht. Es ist klar, daß in den Gleichsetzungen des Stalinismus mit dem Bolschewismus nicht die Spur eines sozialistischen Kriteriums enthalten ist.
Einer der wichtigsten Züge des Bolschewismus ist sein strenges und anspruchsvolles, ja kämpferisches Verhalten zu Fragen der Doktrin. Lenins 26 Bände werden auf immerdar ein Muster höchster theoretischer Gewissenhaftigkeit bleiben. Ohne diese seine Grundeigenschaft würde der Bolschewismus nie seine historische Rolle erfüllt haben.
Das direkte Gegenteil davon ist auch in dieser Beziehung der grobe und ungebildete, durch und durch empirische Stalinismus. Bereits vor mehr als zehn Jahren erklärte die Opposition in ihrer Plattform: „Seit Lenins Tod wurde eine ganze Reihe neuer Theorien geschaffen, deren einziger Sinn ist, theoretisch das Abgleiten der Stalingruppe vom Wege der internationalen proletarischen Revolution zu rechtfertigen.“
Vor einigen Tagen erst schrieb der amerikanische Sozialist Liston M. Oak, der an der spanischen Revolution teilgenommen hat: „In Wirklichkeit sind die Stalinisten jetzt die äußersten Revisionisten Marx und Lenins – Bernstein hat auch nicht halb so weit zu gehen gewagt wie Stalin in der Revision von Marx.“
Das ist ganz richtig. Man muß nur hinzufügen, daß Bernstein wirklich theoretische Bedürfnisse hatte: Er versuchte redlich, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit ihrem Programm in Einklang zu bringen. Die Stalinbürokratie aber hat nicht nur nichts mit dem Marxismus gemein, sondern ihr ist überhaupt jegliche Doktrin oder jegliches System fremd.
Ihre „Ideologie“ ist ganz und gar von einem Polizeisubjektivismus durchdrungen, ihre Praxis vom Empirismus der nackten Gewalt. Dem eigentlichen Wesen ihrer Interessen gemäß ist die Usurpatorenkaste ein Feind der Theorie. Sie kann weder vor sich noch anderen ihre soziale Rolle verantworten. Stalin revidiert Marx und Lenin nicht mit der Feder der Theoretiker, sondern mit den Stiefeln der GPU.
Über die „Amoral“ des Bolschewismus beschweren sich gewöhnlich besonders die hochnäsigen Nullitäten, denen der Bolschewismus die billigen Masken abgerissen hat. Kleinbürger, Intellektuelle, demokratische, „sozialistische“, literarische, parlamentarische und andere Kreise haben ihre konventionelle Werte oder ihre konventionelle Sprache zwecks Verbergung des Fehlens jeglicher Werte.
Diese breite und buntscheckige Gesellschaft für gegenseitiges Inschutznehmen – „leben und leben lassen!“ – verträgt ganz und gar nicht die Berührung der marxistischen Lanzette auf ihrer empfindlichen Haut. Die zwischen den verschiedenen Lagern hin- und herpendelnden Theoretiker, Schriftsteller und Moralisten waren und sind der Meinung, daß die Bolschewiki absichtlich die Meinungsverschiedenheiten übertreiben, zu loyaler Zusammenarbeit außerstande sind und durch ihre Intrigen die Einheit der Arbeiterbewegung stören.
Dem empfindlichen und übelnehmenden Zentristen schien es vor allem immer, daß die Bolschewiki ihn „verleumden“ – nur weil sie seine eigenen halben Gedanken bis zu Ende führten: Er selbst ist dazu ganz unfähig. Indessen ist nur diese kostbare Eigenschaft, nämlich Unduldsamkeit gegen jede Halbheit und jedes Ausweichen imstande, die revolutionäre Partei zu erziehen, die sich von keinen „außerordentlichen“ Umständen überrumpeln läßt.
Die Moral einer jeden Partei entspringt letzten Endes aus den historischen Interessen, die sie vertritt. Die Moral des Bolschewismus, die Selbstverleugnung, Uneigennutz, Mut, Verachtung für allen Flitter und Trug – die besten Eigenschaften der menschlichen Natur! – enthält, entspringt aus der revolutionären Unversöhnlichkeit im Dienste der Unterdrückten. Die Stalinbürokratie imitiert auch auf diesem Gebiet die Worte und Gesten des Bolschewismus.
Wo aber „Unversöhnlichkeit“ und „Unbeugsamkeit“ mit dem Polizeiapparat verwirklicht werden, der im Dienste einer privilegierten Minderheit steht, dort werden sie zu einer Quelle der Demoralisierung und des Gangsterismus. Nicht anders als mit Verachtung kann man die Herren behandeln, die den revolutionären Heroismus der Bolschewiki mit dem bürokratischen Zynismus der Thermidorianer gleichsetzen.
Und auch heute noch zieht es, trotz der dramatischen Tatsachen der letzten Periode, der Durchschnittsspießer vor zu meinen, im Kampfe zwischen dem Bolschewismus („Trotzkismus“) und dem Stalinismus handle es sich um Zusammenstöße persönlicher Ambitionen oder bestenfalls um den Kampf zweier „Schattierungen“ des Bolschewismus.
Den gröbsten Ausdruck verlieh dieser Ansicht Norman Thomas, der Führer der amerikanischen sozialistischen Partei. „Es gibt wenig Grund, zu glauben“, schreibt er (Socialist Review, Sept. 1937, S.6), „daß wenn Trotzki statt Stalin gewonnen (!) hätte, es mit den Intrigen, Verschwörungen und dem Schreckensregime in Rußland zu Ende wäre.“ Und dieser Mensch hält sich für einen Marxisten.
Mit demselben Recht könnte man sagen: „Es gibt wenig Grund, zu glauben, daß, wenn statt Pius, der XI., Norman der I., auf den römischen Stuhl erhoben worden wäre, die katholische Kirche sich in ein Bollwerk des Sozialismus verwandelt haben würde.“ Thomas begreift nicht, daß es sich nicht um ein Match zwischen Stalin und Trotzki, sondern um den Antagonismus zwischen Bürokratie und Proletariat handelt.
Allerdings ist in der UdSSR die herrschende Schicht auch heute noch gezwungen, sich dem nicht vollkommen liquidierten Erbe der Revolution anzupassen, dabei gleichzeitig durch direkten Bürgerkrieg (blutige Säuberungen, Massenausrottungen der Unzufriedenen) einen Wechsel des sozialen Regimes vorbereitend. Aber in Spanien tritt die Stalinclique bereits heute offen als Schutzwehr der bürgerlichen Ordnung gegen den Sozialismus auf. Der Kampf gegen die bonapartistische Bürokratie verwandelt sich vor unseren Augen in Klassenkampf: zwei Welten, zwei Programme, zweierlei Moral.
Wenn Thomas glaubt, der Sieg des sozialistischen Proletariats über die niederträchtige Vergewaltigerkaste werde das Sowjetregime nicht politisch und moralisch regenerieren, so zeigt er damit nur, daß er trotz all seinen Vorbehalten, Schweifwedeleien und frommen Seufzern der Stalinbürokratie viel näher steht als den Arbeitern. Wie alle anderen, die den Bolschewismus der „Amoral“ zeihen, hat sich Thomas einfach nicht bis zur revolutionären Moral erhoben.
Für die „Linken“, die den Versuch machten, zum Marxismus unter Umgehung des Bolschewismus „zurückzukehren“, lief die Sache gewöhnlich auf einzelne Allheilmittel hinaus: Boykott der alten Gewerkschaften, Boykott des Parlaments, Schaffung „echter“ Sowjets. All das konnte im Fieber der ersten Tage nach dem Krieg außerordentlich tief erscheinen. Aber heute, im Lichte der gemachten Erfahrung, haben diese Kinderkrankheiten sogar als Kuriose ihr Interesse verloren.
Die Holländer Gorter und Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“, die italienischen Bordigisten erklärten sich unabhängig vorn Bolschewismus nur, weil sie einen seiner Züge künstlich übertrieben seinen anderen Zügen gegenüberstellten. Von diesen „linken“ Tendenzen blieb nichts übrig, weder praktisch noch theoretisch: ein indirekter, aber wichtiger Beweis dafür, daß der Bolschewismus für unsere Epoche die einzige Form des Marxismus ist.
Die bolschewistische Partei bewies in der Tat eine Paarung höchster revolutionärer Kühnheit mit politischem Realismus. Sie stellte zum erstenmal das Verhältnis zwischen Avantgarde und Klasse her, das allein den Sieg zu sichern vermag. Sie zeigte in der Erfahrung, daß das Bündnis des Proletariats mit den unterdrückten Massen des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums nur möglich ist durch den politischen Sturz der traditionellen Parteien des Kleinbürgertums. Die bolschewistische Partei zeigte der gesamten Welt, wie man einen bewaffneten Aufstand durchführt und die Macht ergreift.
Die da der Parteidiktatur eine Abstraktion von Sowjets gegenüberstellen, sollten begreifen, daß die Sowjets nur dank der Führung der Bolschewiki sich aus dem reformistischen Sumpf auf das Niveau einer Staatsform des Proletariats erhoben. Die bolschewistische Partei verwirklichte eine richtige Paarung der Kriegskunst mit marxistischer Politik im Bürgerkrieg.
Selbst wenn es der Stalinbürokratie gelänge, die wirtschaftlichen Grundlagen der neuen Gesellschaft zu zerstören, die unter Führung der bolschewistischen Partei gemachte Planwirtschaftserfahrung wird für immer in die Geschichte eingehen als eine der größten Schulen für die gesamte Menschheit. All das können nur Sektierer nicht sehen, die, gekränkt über die erhaltenen blauen Flecke, dem historischen Prozeß den Rücken kehren.
Doch das ist nicht alles. Die bolschewistische Partei konnte ein so grandioses „praktisches“ Werk nur deshalb leisten, weil sie jeden ihrer Schritte mit der Theorie beleuchtete. Der Bolschewismus hat diese nicht geschaffen. Der Marxismus gab sie. Aber der Marxismus ist eine Theorie der Bewegung, nicht des Stillstands. Nur Aktionen grandiosen geschichtlichen Ausmaßes konnten die Theorie selbst bereichern.
Der Bolschewismus lieferte einen wertvollen Beitrag zum Marxismus durch seine Analyse der imperialistischen Epoche als einer Epoche von Kriegen und Revolutionen; der bürgerlichen Demokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus; des Verhältnisses zwischen Generalstreik und Aufstand; der Rolle der Partei, der Sowjets und der Gewerkschaften in der Epoche der proletarischen Revolution; durch seine Theorie des Sowjetstaates, der Übergangswirtschaft, des Faschismus und Bonapartismus in der Epoche des kapitalistischen Verfalls; schließlich durch die Analyse der Bedingungen für die Entartung der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates selber.
Möge man eine andere Stimme nennen, die den Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen des Bolschewismus etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte. Vandervelde, de Brouckere, Hilferding, Otto Bauer, Leon Blum, Zyromski, von Major Attlee und Norman Thomas gar nicht zu reden, leben theoretisch von den abgestandenen Resten der Vergangenheit. Die Entartung der Komintern kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß sie theoretisch auf das Niveau der II. Internationale herabgerutscht ist. Alle Arien von Zwischengruppen (die Unabhängige Arbeiterpartei Großbritanniens, die POUM und dergleichen) passen jede Woche neue zufällige Auszüge von Marx und Lenin ihren jeweiligen Bedürfnissen an. Von diesen Leuten Können die Arbeiter nichts lernen.
Ernstes Verhalten zur Theorie, zusammen mit der gesamten Tradition Marx’ und Lenins, haben sich nur die Erbauer der Vierten Internationale zu eigen gemacht. Mögen die Spießer darüber lächeln, daß zwei Jahrzehnte nach dem Oktobersieg die Revolutionäre wieder auf die Position bescheidener propagandistischer Vorbereitung zurückgeworfen sind.
Das Großkapital ist in dieser Frage wie in anderen viel scharfsichtiger als die kleinbürgerlichen Spießer, die sich für Sozialisten oder Kommunisten ausgeben: Nicht von ungefähr verschwindet das Thema der Vierten Internationale nicht aus den Spalten der Weltpresse. Das brennende historische Bedürfnis nach einer revolutionären Führung verspricht der IV. Internationale ein außergewöhnlich schnelles Wachstumstempo. Die wichtigste Garantie ihrer künftigen Erfolge ist der Umstand, daß sie nicht abseits vom großen historischen Weg entstand, sondern organisch aus dem Bolschewismus erwuchs.
Zuletzt aktualisiert am 6.9.2001