Zirkularbrief


 

Quelle: Marx / Engels Werke; Band 19; Seite 150 - 166 und Band 34; Seite 394 - 408; Dietz Verlag Berlin, 1966

Marx / Engels

Zirkularbrief

Marx / Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Karl Bracke u.a. in Leipzig

Zirkularbrief (1) (Entwurf)

London, 17./18. September 1879

Lieber Bebel,

Die Beantwortung Ihres Briefs vom 20. August hat sich verzögert, einerseits durch die verlängerte Abwesenheit von Marx, dann durch einige Zwischenfälle; erst die Ankunft des Richterschen "Jahrbuchs", dann die von Hirsch selbst.

Ich muß schließen, daß Liebknecht Ihnen meinen letzten Brief an ihn nicht vorgelegt hat, obgleich ich ihm dies geradezu auftrug. Andernfalls würden Sie mir sicher nicht dieselben Gründe vorgeführt haben, die Liebknecht geltend gemacht und auf die ich in jenem Brief bereits geantwortet (2).

Gehn wir nun die einzelnen Punkte durch, auf die es hier ankommt.

I. Die Verhandlungen mit C. Hirsch

Liebknecht fragt bei Hirsch an, ob dieser die Redaktion des in Zürich neuzugründenden Parteiorgans (3) übernehmen will. Hirsch wünscht Auskunft über die Fundierung des Blattes; welche Fonds zur Verfügung stehn und wer sie liefert. Erstens, um zu wissen, ob das Blatt nicht schon nach ein paar Monaten erlöschen muß. Das andre, um sich zu vergewissern, wer den Knopf auf dem Beutel und damit die schließliche Herrschaft über die Haltung des Blatts behält. Liebknechts Antwort an Hirsch: "alles in Ordnung, wirst von Zürich das Weitere erfahren" (Liebknecht an Hirsch, 28. Juli) kommt nicht an. Von Zürich aber kommt ein Brief Bernsteins an Hirsch (24. Juli), worin Bernstein mitteilt, daß "man mit der Inszenierung und BEAUFSICHTIGUNG (des Blattes) UNS beauftragt hat". Es habe eine Besprechung "zwischen Viereck und UNS" stattgefunden, worin man fand, "daß ihre Stellung durch die Differenzen, welche Sie als 'Laternen'-Mann mit einzelnen Genossen gehabt, etwas erschwert werden würde, doch halte ich dies Bedenken für nicht sehr gewichtig". Über die Fundierung des Blattes kein Wort.

Hirsch antwortet umgehend 26. Juli mit der Frage nach der materiellen Situation des Blattes. Welche Genossen haben sich zur Deckung des Defizits verpflichtet? Bis zu welchem Betrag und für wie lange Zeit? - Die Gehaltsfrage des Redakteurs spielt hierbei absolut keine Rolle, Hirsch will lediglich wissen, ob "die Mittel gesichert sind, das Blatt mindestens ein Jahr lang zu sichern".

Bernstein antwortet 31. Juli: Ein etwaiges Defizit wird durch freiwillige Beiträge gedeckt, deren EINIGE (!) schon gezeichnet sind. Auf Hirschs Bedenken über die Haltung, die er dem Blatt zu geben denke, worüber unten, erfolgen mißbilligende Bemerkungen und VORSCHRIFTEN: "Darauf muß die AUFSICHTSKOMMISSION um so mehr bestehn, als sie selbst wiederum unter Kontrolle steht, d.h. verantwortlich ist. Über diesen Punkt müßten sie sich also mit der Aufsichtskommission verständigen." Umgehende, womöglich telegraphische Antwort erwünscht.

Also statt aller Antwort auf seine berechtigten Fragen erhält Hirsch die Nachricht, daß er unter einer in Zürich sitzenden AUFSICHTSKOMMISSION redigieren soll, deren Ansichten von den seinigen sehr wesentlich abweichen und deren Mitglieder ihm nicht einmal genannt werden!

Hirsch, mit vollem Recht entrüstet über diese Behandlung, zieht es vor, sich mit den Leipzigern zu verständigen. Sein Brief vom 2. August an Liebknecht muß Ihnen bekannt sein, da Hirsch AUSDRÜCKLICH Mitteilung an Sie und Viereck VERLANGTE. Hirsch will sogar sich einer Züricher Aufsichtskommission insoweit unterwerfen, als diese der Redaktion soll schriftliche Bemerkungen machen und die Entscheidung der Leipziger Kontrollkommission anrufen dürfen.

Liebknecht inzwischen schreibt 28. Juli an Hirsch: "Natürlich ist das Unternehmen fundiert, da die ganze Partei + (inklusive) Höchberg dahintersteht. Um die Details kümmre ich mich aber nicht."

Auch der nächste Brief Liebknechts enthält über die Fundierung wieder nichts, dagegen die Versicherung, daß die Züricher Kommission keine Redaktionskommission sei, sondern nur mit der VERWALTUNG und dem Finanziellen betraut. Noch am 14. August schreibt Liebknecht dasselbe an mich und verlangt, wir sollen Hirsch zureden, daß er annimmt. Sie selbst sind noch am 20. Aug. so wenig vom wahren Sachverhalt in Kenntnis gesetzt, daß Sie mir schreiben: "Er (Höchberg) hat bei der Redaktion des Blattes nicht mehr Stimme als JEDER ANDRE BEKANNTE PARTEIGENOSSE."

Endlich erhält Hirsch einen Brief von Viereck, 11. August, worin zugegeben wird, daß "die 3 in Zürich Domizilierten als REDAKTIONSKOMMISSION die Gründung des Blattes in Angriff nehmen und unter Zustimmung der 3 Leipziger einen Redakteur auswählen sollten ... SOVIEL MIR ERINNERLICH, war in den mitgeteilten Beschlüssen auch ausgesprochen, daß das zu 2 erwähnte (Züricher) Gründungskomitee SOWOHL DIE POLITISCHE wie die finanzielle Verantwortlichkeit der Partei gegenüber übernehmen sollten ... Aus diesem Sachverhalt scheint sich nun für mich zu ergeben, daß ... ohne Mitwirkung der 3 in Zürich Domizilierten und von der Partei mit der Begründung Beauftragten an eine Übernahme der Redaktion nicht gedacht werden kann."

Hier hatte nun Hirsch endlich wenigstens ETWAS Bestimmtes, wenn auch nur über die Stellung des Redakteurs zu den Zürichern. Sie sind eine REDAKTIONSkommission; sie haben auch die volle POLITISCHE Verantwortlichkeit; ohne ihre Mitwirkung kann keine Redaktion übernommen werden. Kurz, Hirsch wird einfach darauf hingewiesen, sich mit den 3 Leuten in Zürich zu verständigen, deren Namen ihm noch immer nicht angegeben sind.

Damit aber die Konfusion vollständig werde, schreibt Liebknecht eine Nachschrift unter den Brief Vierecks: "Soeben war Singer aus Berlin hier und berichtete: Die Aufsichtskommission in Zürich ist NICHT, wie Viereck meint, eine REDAKTIONSkommission, sondern wesentlich Verwaltungskommission, die der Partei, d.i. uns gegenüber für das Blatt finanziell verantwortlich ist; natürlich haben die Mitglieder auch das Recht und die Pflicht, sich mit Dir über die Redaktion zu besprechen (ein Recht und eine Pflicht, die beiläufig JEDER Parteigenosse hat); Dich UNTER KURATEL zu stellen, sind sie NICHT befugt."

Die drei Züricher und ein Leipziger Ausschußmitglied - das EINZIGE, das bei den Verhandlungen zugegen gewesen - bestehn darauf, daß Hirsch unter amtlicher Direktion der Züricher stehn soll, ein zweites Leipziger Mitglied leugnet dies geradezu. Und da soll Hirsch sich entscheiden, ehe die Herren unter sich einig sind? Daß Hirsch berechtigt war, Kenntnis zu nehmen von den gefaßten Beschlüssen, die die Bedingungen enthielten, denen zu unterwerfen ihm zugemutet wurde, daran wurde um so weniger gedacht, als es den Leipzigern nicht einmal einzufallen schien, SELBST von jenen Beschlüssen authentische Kenntnis zu nehmen. Wie war sonst obiger Widerspruch möglich?

Wenn die Leipziger nicht einig werden können über die den Zürichern übertragnen Befugnisse, so sind die Züricher darüber vollständig im klaren.

Schramm an Hirsch, 14. August: "Hätten sie nun nicht seinerzeit geschrieben, Sie würden im gleichen Falle" (wie der Kaysersche (4)) "wieder ebenso vorgehn und damit eine gleiche Schreibweise in Aussicht gestellt, dann würden wir kein Wort darüber verlieren. So aber müssen wir uns, dieser Ihrer Erklärung gegenüber, das Recht vorbehalten, über Aufnahme von Artikeln in das neue Blatt ein entscheidendes Votum abzugeben."

Der Brief an Bernstein, in dem Hirsch dies gesagt haben soll, ist vom 26. Juli, lange nach der Konferenz in Zürich, auf der die Vollmachten der 3 Züricher festgestellt worden waren. Man schwelgt aber in Zürich schon so sehr im Gefühl seiner bürokratischen Machtvollkommenheit, daß man auf diesen späteren Brief Hirschs bereits die neue Befugnis beanspruchte, über die Aufnahme der Artikel zu ENTSCHEIDEN. Die Redaktionskommission ist bereits eine ZENSURkommission.

Erst als Höchberg nach Paris kam, erfuhr Hirsch von ihm die NAMEN der Mitglieder der beiden Kommissionen.

Wenn also die Unterhandlungen mit Hirsch sich zerschlugen, woran lag es?

1. an der hartnäckigen Weigerung sowohl der Leipziger wie der Züricher, ihm irgend etwas Tatsächliches mitzuteilen über die finanziellen Grundlagen und damit über die Möglichkeit, das Blatt am Leben zu erhalten, wenn auch nur für ein Jahr. Die gezeichnete Summe hat er erst von mir hier (nach Ihrer Mitteilung an mich) erfahren. Es war also kaum möglich, aus den früher gemachten Mitteilungen (die Partei + Höchberg) einen andern Schluß zu ziehen als den, daß das Blatt entweder schon jetzt vorwiegend von Höchberg fundiert sei oder doch bald ganz von seinen Zuschüssen abhängen werde. Und diese letztere Möglichkeit ist auch jetzt lange nicht ausgeschlossen. Die Summe von - wenn ich recht lese - 800 Mark ist genau dieselbe (40 Pfd. Sterling), die der hiesige Verein (5) der "Freiheit" im ERSTEN HALBJAHR hat zusetzen müssen.

2. die wiederholte, seitdem als total unrichtig erwiesene Versicherung Liebknechts, die Züricher hätten die Redaktion gar nicht amtlich zu kontrollieren und die daraus erwachsene Komödie der Irrungen;

3. die endlich erlangte Gewißheit, daß die Züricher die Redaktion nicht nur zu kontrollieren, sondern selbst zu zensieren hätten, und daß ihm, Hirsch, dabei nur die Rolle des Strohmanns zufalle.

Daß er daraufhin ablehnte, darin können wir ihm nur recht geben. Die Leipziger Kommission, wie wir hören von Höchberg, ist noch durch 2 nicht am Ort wohnende Mitglieder verstärkt worden, kann also nur dann rasch einschreiten, wenn die 3 Leipziger einig sind. Dadurch wird der wirkliche Schwerpunkt vollends nach Zürich verlegt, und mit den dortigen würde Hirsch ebensowenig wie irgendein andrer wirklich revolutionär und proletarisch gesinnter Redakteur auf die Dauer haben arbeiten können. Darüber später.

II. Die beabsichtigte Haltung des Blattes

Gleich am 24. Juli benachrichtigt Bernstein den Hirsch, die Differenzen, die er als "Laternen"-Mann mit einzelnen Genossen gehabt, würden seine Stellung erschweren.

Hirsch antwortet, die Haltung des Blattes werde seines Erachtens im allgemeinen dieselbe sein müssen wie die der "Laterne", d.h. eine solche, die in der Schweiz Prozesse vermeidet und in Deutschland nicht unnötig erschreckt. Er fragt, wer jene Genossen seien und fährt fort: "Ich kenne nur einen, und ich verspreche Ihnen, daß ich diesen im gleichen Fall DISZIPLINWIDRIGEN BENEHMENS genau wieder so behandeln werde."

Darauf antwortet Bernstein im Gefühl seiner neuen amtlichen Zensorwürde: "Was nun die Haltung des Blattes betrifft, so ist die Ansicht der Aufsichtskommission allerdings die, daß die 'Laterne' nicht als Vorbild gelten soll, das Blatt soll unsrer Ansicht nach weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch gehalten sein. Fälle wie die Attacke gegen Kayser, die von allen Genossen ohne Ausnahme (!) gemißbilligt wurde, müssen unter allen Umständen vermieden werden."

Und so weiter, und so weiter. Liebknecht nennt den Angriff gegen Kayser "einen Bock", und Schramm hält ihn für so gefährlich, daß er daraufhin die Zensur über Hirsch verhängt.

Hirsch schreibt nochmals an Höchberg, ein Fall wie der Kaysersche "kann nicht vorkommen, wenn ein offizielles Parteiorgan existiert, dessen klare Darlegungen und wohlmeinende Winke ein Abgeordneter nicht so dreist in den Wind schlagen KANN".

Auch Viereck schreibt, in dem neuen Blatt sei "leidenschaftslose Haltung und tunlichstes Ignorieren aller vorgekommenen Differenzen ... vorgeschrieben", es solle keine "vergrößerte Laterne" sein, und Bernstein "könnte man höchstens vorwerfen, daß er zu gemäßigter Richtung ist, wenn das in einer Zeit, wo wir doch nicht mit voller Flagge segeln können, ein Vorwurf ist".

Was ist nun dieser Fall Kayser, dies unverzeihliche Verbrechen, das Hirsch begangen haben soll? Kayser spricht und stimmt im Reichstag, der einzige unter den sozialdemokratischen Abgeordneten, für Schutzzölle. Hirsch klagt ihn an, die Parteidisziplin verletzt zu haben, indem Kayser

1. für indirekte Steuern stimmt, deren Abschaffung das Parteiprogramm ausdrücklich verlangt;

2. dem Bismarck Geld bewilligt und damit die erste Grundregel aller unsrer Parteitaktik verletzt: Dieser Regierung keinen Heller.

In beiden Punkten hat Hirsch unleugbar recht. Und nachdem Kayser einerseits das Parteiprogramm, auf das ja die Abgeordneten durch Kongreßbeschluß sozusagen vereidigt worden, und andrerseits die unabweisbarste, allererste Grundregel der Parteitaktik mit Füßen getreten, Bismarck ZUM DANK FÜR DAS SOZIALISTENGESETZ (6) GELD votiert, hatte Hirsch ebenfalls, unsrer Ansicht nach, vollkommen recht, so derb auf ihn loszuschlagen, wie er tat.

Wir haben nie begreifen können, wieso man sich in Deutschland so gewaltig über diesen Angriff auf Kayser hat erbosen können. Jetzt erzählt mir Höchberg, die "Fraktion" habe Kayser die ERLAUBNIS zu seinem Auftreten erteilt, und durch diese Erlaubnis halte man Kayser für gedeckt.

Wenn sich das so verhält, so ist das doch etwas stark. Zunächst konnte Hirsch von diesem geheimen Beschluß ebensowenig etwas wissen wie die übrige Welt. Sodann wird die Blamage für die Partei, die früher auf Kayser allein abgewälzt werden konnte, durch diese Geschichte nur noch größer, und ebenso das Verdienst Hirschs, offen und vor aller Welt diese abgeschmackten Redensarten und noch abgeschmacktere Abstimmung Kaysers bloßgelegt und damit die Parteiehre gerettet zu haben. Oder ist die deutsche Sozialdemokratie in der Tat von der parlamentarischen Krankheit angesteckt und glaubt, mit der Volkswahl werde der heilige Geist über die Gewählten ausgegossen, die Fraktionssitzungen in unfehlbare Konzilien, Fraktionsbeschlüsse in unantastbare Dogmen verwandelt?

Ein Bock ist allerdings geschossen, nicht aber von Hirsch, sondern von den Abgeordneten, die den Kayser mit ihrem Beschluß deckten. Und wenn diejenigen, die vor allem auf Aufrechterhaltung der Parteidisziplin zu achten berufen sind, diese Parteidisziplin selbst durch einen solchen Beschluß so eklatant brechen, so das ist um so schlimmer. Noch schlimmer aber, wenn man sich bis zu dem Glauben versteigt, nicht Kayser durch seine Rede und Abstimmung, und die andern Abgeordneten durch ihren Beschluß hätten die Parteidisziplin verletzt, sondern Hirsch, indem er trotz dieses ihm noch dazu unbekannten Beschlusses den Kayser angriff.

Es ist übrigens sicher, daß die Partei in der Schutzzollfrage dieselbe unklare und unentschiedne Haltung eingenommen hat wie bisher in fast allen praktisch gewordenen ökonomischen Fragen, z.B. bei den Reichseisenbahnen (7). Das kommt daher, daß die Parteiorgane, namentlich das "Vorwärts", statt diese Fragen gründlich zu diskutieren, sich mit Vorliebe auf die Konstruktion der zukünftigen Gesellschaftsordnung gelegt haben. Als die Schutzzollfrage NACH dem Sozialistengesetz plötzlich praktisch wurde, gingen die Ansichten in den verschiedensten Schattierungen auseinander, und es war nicht ein einziger am Platz, der zur Bildung eines klaren und richtigen Urteils die Vorbedingung besaß: Kenntnis der Verhältnisse der deutschen Industrie und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Bei den Wählern konnten dann hie und da schutzzöllnerische Strömungen auch nicht ausbleiben, diese wollte man doch auch berücksichtigen. Der einzige Weg, aus dieser Verwirrung herauszukommen, indem man die Frage rein politisch auffaßte (wie in der "Laterne" geschah), wurde nicht entschieden eingeschlagen. So konnte es nicht fehlen, daß die Partei in dieser Debatte zum erstenmal zaudernd, unsicher und unklar auftrat und schließlich durch und mit Kayser sich gründlich blamierte.

Der Angriff auf Kayser wird nun zum Anlaß genommen, um Hirsch in allen Tonarten vorzupredigen, das neue Blatt solle die Exzesse der "Laterne" keineswegs nachahmen, solle weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch und leidenschaftslos gehalten werden. Und zwar von Viereck nicht weniger als von Bernstein, der jenem grade deshalb, weil er zu gemäßigt ist, als der rechte Mann erscheint, weil man doch jetzt nicht mit voller Flagge segeln kann.

Aber warum geht man denn überhaupt ins Ausland, als um mit voller Flagge zu segeln? Im Ausland steht dem nichts entgegen. In der Schweiz existieren die deutschen Preß-, Vereins- und Strafgesetze nicht. Man kann dort also nicht nur diejenigen Dinge sagen, die man zu Hause schon vor dem Sozialistengesetz wegen der gewöhnlichen deutschen Gesetze nicht sagen konnte, man ist auch VERPFLICHTET dazu. Denn hier steht man nicht bloß vor Deutschland, sondern vor Europa, und hat die Pflicht, soweit die SCHWEIZER Gesetze erlauben, Europa gegenüber die Wege und Ziele der deutschen Partei unverhohlen darzulegen. Wer sich in der Schweiz an DEUTSCHE Gesetze binden wollte, bewiese eben nur, daß er dieser deutschen Gesetze würdig ist und in der Tat nichts zu sagen hat, als was in Deutschland vor dem Ausnahmsgesetz zu sagen erlaubt war. Auch auf die Möglichkeit, der Redaktion die Rückkehr nach Deutschland temporär abzuschneiden, darf keine Rücksicht genommen werden. Wer nicht bereit ist, das zu riskieren, gehört nicht auf einen so exponierten Ehrenposten.

Noch mehr. Die deutsche Partei ist mit dem Ausnahmsgesetz in Bann und Acht getan worden, grade WEIL sie die einzige ernsthafte Oppostitionspartei in Deutschland war. Wenn sie in einem auswärtigen Organ Bismarck ihren Dank damit abstattet, daß sie diese Rolle der einzigen ernsthaften Oppositionspartei aufgibt, daß sie hübsch zahm auftritt, den Fußtritt mit leidenschaftsloser Haltung hinnimmt, so beweist sie nur, daß sie des Fußtritts wert war. Von allen deutschen Emigrationsblättern, die seit 1830 im Ausland erschienen, ist die "Laterne" sicher eins der gemäßigtsten. Wenn aber die "Laterne" schon zu frech war - dann kann das neue Organ die Partei vor den Gesinnungsgenossen der nichtdeutschen Länder nur kompromittieren.

III. Das Manifest der drei Züricher

Inzwischen ist uns das Höchbergsche "Jahrbuch" zugekommen und enthält einen Artikel: "Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland", der, wie Höchberg selbst mir gesagt, verfaßt ist grade von den drei Mitgliedern der Züricher Kommission. Hier haben wir ihre authentische Kritik der bisherigen Bewegung und damit ihr authentisches Programm für die Haltung des neuen Organs, soweit diese von ihnen abhängt.

Gleich von vornherein heißt es:

"Die Bewegung, welche Lassalle als eine eminent politische ansah, zu welcher er nicht nur die Arbeiter, sondern alle ehrlichen Demokraten aufrief, AN DEREN SPITZE die unabhängigen Vertreter der Wissenschaft und ALLE VON WAHRER MENSCHENLIEBE ERFÜLLTEN Männer marschieren sollten, verflachte sich unter dem Präsidium J.B.v. Schweitzers zu einem EINSEITIGEN INTERESSENKAMPF DER INDUSTRIEARBEITER."

Ich untersuche nicht, ob und wieweit dies geschichtlich sich so verhält. Der spezielle Vorwurf, der Schweitzer hier gemacht wird, besteht darin, daß Schweitzer den Lassalleanismus, der hier als eine bürgerlich demokratisch-philanthropische Bewegung aufgefaßt wird, zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter VERFLACHT habe, VERFLACHT, indem er (8) ihren Charakter als Klassenkampf der Industriearbeiter gegen die Bourgeoisie VERTIEFTE. Ferner wird ihm vorgeworfen seine "Zurückweisung der bürgerlichen Demokratie". Was hat denn die bürgerliche Demokratie in der sozialdemokratischen Partei zu schaffen? Wenn sie aus "ehrlichen Männern" besteht, kann sie gar nicht eintreten wollen und wenn sie dennoch eintreten will, dann doch nur, um zu stänkern.

Die Lassallesche Partei "zog vor, sich in EINSEITIGSTER Weise als ARBEITERPARTEI zu gerieren". Die Herren, die das schreiben, sind selbst Mitglieder einer Partei, die sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei geriert, sie bekleiden jetzt Amt und Würden in ihr. Es liegt hier eine absolute Unverträglichkeit vor. Meinen sie, was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens Amt und Würden niederlegen. Tun sie es nicht, so gestehn sie damit ein, daß sie ihre amtliche Stellung zu benutzen gedenken, um den proletarischen Charakter der Partei zu bekämpfen. Die Partei also verrät sich selbst, wenn sie sie in Amt und Würden läßt.

Die sozialdemokratische Partei soll also nach Ansicht dieser Herren KEINE einseitige Arbeiterpartei sein, sondern eine allseitige Partei "aller von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer". Vor allem soll sie dies beweisen, indem sie die rohen Proletarierleidenschaften ablegt und sich "zur Bildung eines guten Geschmacks" und "zur Erlernung des guten Tons" (S. 85) unter die Leitung von gebildeten philanthropischen Bourgeois stellt. Dann wird auch das "verlumpte Auftreten" mancher Führer einem wohlehrbaren "bürgerlichen Auftreten" weichen. (Als ob das äußerlich verlumpte Auftreten der hier Gemeinten nicht noch das Geringste wäre, das man ihnen vorwerfen kann!) Dann auch werden sich "ZAHLREICHE ANHÄNGER aus den Kreisen der GEBILDETEN und BESITZENDEN Klassen einfinden. DIESE aber müssen erst gewonnen werden, wenn die ... betriebne Agitation GREIFBARE ERFOLGE erreichen soll". Der deutsche Sozialismus hat "zuviel Wert auf die Gewinnung der MASSEN gelegt und dabei versäumt, in den sog. oberen Schichten der Gesellschaft energische (!) Propaganda zu machen". Denn "noch fehlt es der Partei an Männern, welche dieselbe im Reichstag zu vertreten geeignet sind". Es ist aber "wünschenswert und notwendig, die Mandate Männern anzuvertrauen, die Gelegenheit und Zeit genug gehabt haben, sich mit den einschlagenden Materien gründlich vertraut zu machen. Der einfache Arbeiter und Kleinmeister ... hat dazu nur in seltnen Ausnahmsfällen die nötige Muße." Wählt also Bourgeois!

Kurz: die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muß sie unter der Leitung "gebildeter und besitzender" Bourgeois treten, die allein "Gelegenheit und Zeit haben", sich mit dem vertraut zu machen, was den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda - zu GEWINNEN.

Wenn man aber die oberen Schichten der Gesellschaft oder nur ihre wohlmeinenden Elemente gewinnen will, so darf man sie beileibe nicht erschrecken. Und da glauben die drei Züricher, eine beruhigende Entdeckung gemacht zu haben:

"Die Partei zeigt gerade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, daß sie NICHT GEWILLT IST, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehn, sondern entschlossen ist ..., den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der REFORM zu beschreiten." Also wenn die 5 - 600.000 sozialdemokratischen Wähler, 1/10 bis 1/8 der gesamten Wählerschaft, dazu zerstreut über das ganze weite Land, so vernünftig sind, nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, und einer gegen zehn eine "blutig Revolution" zu versuchen, so beweist das, daß sie sich auch für alle Zukunft VERBIETEN, ein gewaltiges auswärtiges Ereignis, eine daduch hervorgerufne plötzliche revolutionäre Aufwallung, ja einen in daraus entstandner Kollision erfochtnen SIEG des Volks zu benutzen! Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen 18. März zu machen (9), so müssen die Sozialdemokraten, statt als "barrikadensüchtige Lumpe" (S. 88) am Kampf teilzunehmen, vielmehr den "Weg der Gesetzlichkeit beschreiten", abwiegeln, die Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen marschieren. Oder wenn die Herren behaupten, das hätten sie nicht so gemeint, was haben sie dann gemeint? Es kommt noch besser.

"Je ruhiger, sachlicher, überlegter sie" (die Partei) "also in ihrer Kritik der bestehenden Zustände und in ihren Vorschlägen zur Abänderung derselben auftritt, um so weniger kann der jetzt" (bei der Einführung des Sozialistengesetzes) "gelungene Schachzug wiederholt werden, mit dem die bewußte Reaktion das Bürgertum durch die Furcht vor dem roten Gespenst ins Bockshorn gejagt hat." (S. 88)

Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu benehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, daß das rote Gespenst wirklich nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs? Man schaffe den Klassenkampf ab, und die Bourgeoisie und "alle unabhängigen Menschen" werden "sich nicht scheuen, mit den Proletariern Hand in Hand zu gehn"! Und wer dann geprellt, wären eben die Proletarier.

Möge also die Partei durch de- und wehmütiges Auftreten beweisen, daß sie die "Ungehörigkeiten und Ausschreitungen" ein für allemal abgelegt hat, die den Anlaß zum Sozialistengesetz gaben. Wenn sie freiwillig verspricht, sich nur innerhalb der Schranken des Sozialistengesetzes bewegen zu wollen, werden Bismarck und die Bourgeois dies dann überflüssige Gesetz aufzuheben doch wohl die Güte haben!

"Man verstehe uns wohl", wir wollen nicht "ein Aufgeben unserer Partei und unsres Programms, wir meinen aber, daß wir auf Jahre hinaus genug zu tun haben, wenn wir unsre ganze Kraft, unsre ganze Energie auf Erreichung gewisser naheliegender Ziele richten, welche unter allen Umständen errungen sein müssen, bevor an eine Realisierung der weitergehenden Bestrebungen gedacht werden kann". Dann werden auch Bourgeois, Kleinbürger und Arbeiter sich massenweise an uns anschließen, die "jetzt durch die weitgehenden Forderungen ... abgeschreckt werden".

Das Programm soll nicht AUFGEGEBEN, sondern nur AUFGESCHOBEN werden - bis auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich selbst und für seine Lebzeiten, sondern posthum, als Erbstück für Kinder und Kindeskinder. Inzwischen wendet man seine "ganze Kraft und Energie" auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. Da lobe ich mir doch den Kommunisten Miquel, der seine unerschütterliche Überzeugung von dem in einigen hundert Jahren unvermeidlichen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft dadurch bewährt, daß er tüchtig drauflosschwindelt, sein redliches zum Krach von 1873 (10) beiträgt und damit für den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung WIRKLICH etwas tut.

Ein andres Vergehen gegen den guten Ton waren auch die "übertriebnen Angriffe auf die Gründer", die ja "nur Kinder der Zeit" waren; "das Schimpfen auf Strousberg und dgl. Leute ... wäre daher besser unterblieben". Leider sind alle Menschen "nur Kinder der Zeit", und wenn dies hinlänglicher Entschuldigungsgrund, so darf man niemand mehr angreifen, alle Polemik, aller Kampf unsrerseits hört auf; wir nehmen alle Fußtritte unsrer Gegner ruhig hin, weil wir, die Weisen, ja wissen, daß jene "nur Kinder der Zeit" sind und nicht anders handeln können, als sie tun. Statt ihnen ihre Fußtritte mit Zinsen zurückzuzahlen, sollten wir die Armen vielmehr bedauern.

Ebenso hatte die Parteinahme für die Kommune immerhin den Nachteil, "daß uns sonst zugeneigte Leute zurückgestoßen und überhaupt der HAß DER BOURGEOISIE gegen uns vergrößert wurde". Und ferner ist die Partei "nicht ganz ohne Schuld an dem Zustandekommen des Oktobergesetzes, denn sie hat den HAß DER BOURGEOISIE in unnötiger Weise vermehrt".

Da haben Sie das Programm der drei Zensoren von Zürich. Es läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Am allerwenigsten für uns, da wir diese sämtlichen Redensarten von 1848 her noch sehr gut kennen. Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge "zu weit gehn". Statt entschiedner politischer Opposition - allgemeine Vermittlung; statt des Kampfs gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Mißhandlungen von oben - demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Mißverständnisse und alle Diskussion beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig. Die Leute, die 1848 als bürgerliche Demokraten auftraten, können sich jetzt ebensogut Sozialdemokraten nennen. Wie jenen die demokratische Republik, so liegt diesen der Sturz der kapitalistischen Ordnung in unerreichbarer Ferne, hat also absolut keine Bedeutung für die politische Praxis der Gegenwart; man kann vermitteln, kompromisseln, philanthropisieren nach Herzenslust. Ebenso geht's mit dem Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Auf dem Papier erkennt man ihn an, weil man ihn doch nicht mehr wegleugnen kann, in der Praxis aber wird er vertuscht, verwaschen, abgeschwächt. Die sozialdemokratische Partei SOLL keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Haß der Bourgeoisie oder überhaupt jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unserer Generation unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche Katastrophe vielleicht in einen allmählichen, stückweisen und möglichst friedfertigen Auflösungsprozeß verwandeln könnten. Es sind dieselben Leute, die unter dem Schein rastloser Geschwätzigkeit nicht nur selbst nichts tun, sondern auch zu hindern suchen, daß überhaupt etwas geschieht als - schwatzen; dieselben Leute, deren Furcht vor jeder Tat 1848 und 49 die Bewegung bei jedem Schritt hemmte und endlich zu Fall brachte; dieselben Leute, die nie Reaktion sehn und dann ganz erstaunt sind, sich endlich in einer Sackgasse zu finden, wo weder Widerstand noch Flucht möglich ist; dieselben Leute, die die Geschichte in ihren engen Spießbürgerhorizont bannen wollen und über die die Geschichte jedesmal zur Tagesordnung übergeht.

Was ihren sozialistischen Gehalt angeht, so ist dieser bereits hinreichend kritisiert im "Manifest" (11), Kapitel: "Der deutsche oder wahre Sozialismus". Wo der Klassenkampf als unliebsame oder "rohe" Erscheinung auf die Seite geschoben wird, da bleibt als Basis des Sozialismus nichts als "wahre Menschenliebe" und leere Redensarten von "Gerechtigkeit".

Es ist eine im Gang der Entwicklung begründete, unvermeidliche Erscheinung, daß auch Leute aus der bisher herrschenden Klasse sich dem kämpfenden Proletariat anschließen und ihm Bildungselemente zuführen. Das haben wir schon im "Manifest" klar ausgesprochen. Es ist aber hierbei zweierlei zu bemerken:

ERSTENS müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen. Dies ist aber leider bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. Weder die "Zukunft" noch die "Neue Gesellschaft" (12) haben irgend etwas gebracht, wodurch die Bewegung um einen Schritt weitergekommen wäre. An wirklichem, tatsächlichem oder theoretischem Bildungsstoff ist da absoluter Mangel. Statt dessen Versuche, die sozialistischen, oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwoher mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andre, dank dem Verwesungsprozeß, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. Statt die neue Wissenschaft vorerst selbst gründlich zu studieren, stutzte sich jeder sie vielmehr nach dem mitgebrachten Standpunkt zurecht, machte sich kurzerhand eine eigne Privatwissenschaft und trat gleich mit der Prätension auf, sie lehren zu wollen. Daher gibt es unter diesen Herren ungefähr soviel Standpunkte wie Köpfe; statt in irgend etwas Klarheit zu bringen, haben sie nur eine arge Konfusion angerichtet - glücklicherweise fast nur unter sich selbst. Solche Bildungselemente, deren erstes Prinzip ist, zu lehren, was sie nicht gelernt haben, kann die Partei gut entbehren.

ZWEITENS. Wenn solche Leute aus andern Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen. Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutschland haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur AUßERHALB der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Wenn die Herren sich als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei konstituieren, so sind sie in ihrem vollen Recht; man könnte mit ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer Arbeiterpartei sind sie ein fälschendes Element. Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie NUR zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf die Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, wo wird die Partei einfach entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End.

Was uns betrifft, so steht uns nach unsrer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte, und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehn, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen. Wir haben bei der Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien und erst von oben herab befreit werden müssen durch philanthropische Groß- und Kleinbürger. Wird das neue Parteiorgan eine Haltung annehmen, die den Gesinnungen jener Herren entspricht, bürgerlich ist und nicht proletarisch, so bleibt uns nichts übrig, so leid es uns tun würde, als uns öffentlich dagegen zu erklären und die Solidarität zu lösen, mit der wir bisher die deutsche Partei dem Ausland gegenüber vertreten haben. Doch DAHIN kommt's hoffentlich nicht.

Dieser Brief ist bestimmt zur Mitteilung an alle 5 Mitglieder der Kommission in Deutschland (13) sowie an Bracke ...

Der Mitteilung an die Züricher steht ebenfalls unsrerseits nichts im Wege.

Fußnoten:

1 Der Brief an August Bebel war von Marx und Engels zugleich für die Führung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands bestimmt und trägt den Charakter eines internen Parteimaterials. Davon zeugen sein Inhalt sowie Äußerungen von Marx und Engels über diesen Brief (Brief an Adolph Sorge vom 19. Sept. 1879; MEW Band 34, Seite 413.).

Marx und Engels konzentrieren sich hier auf den Kampf gegen den Rechtsopportunismus, der damals die Hauptgefahr für die Partei darstellte. Dieser Brief diente jedoch nicht nur der richtigen Orientierung der Partei auf eine revolutionäre Politik gegenüber dem Sozialistengesetz, sondern er war und ist überhaupt als Beitrag zur Lehre von der Partei im 19. Jahrhundert von grundsätzlichem politischem und theoretischem Wert.

2 Siehe MEW Band 34, Seite 92.

3 Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands bereitete 1879 die Herausgabe einer illegalen Parteizeitung vor, nachdem das Zentralorgan der Partei, der "Vorwärts", auf Grund des Sozialistengesetzes sein Erscheinen am 27. Oktober 1878 einstellen mußte. Im Sommer 1879 versuchten Karl Höchberg, Eduard Bernstein, Carl August Schramm u.a. rechtsopportunistische Kräfte die Leitung der Zeitung an sich zu reißen. Aus diesem Grunde gab es vom Juli bis September 1879 einen umfangreichen Briefwechsel zwischen Leipzig (August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Louis Viereck), Paris (Carl Hirsch), Zürich (Bernstein, Höchberg, Schramm) und Marx und Engels.

4 Carl Hirsch hatte in der "Laterne" vom 25. Mai und 8. Juni 1879 die Artikel "Die Zolldebatte" und "Zur Kaiser'schen Rede und Abstimmung" veröffentlicht. Darin kritisierte er das Auftreten Max Kaysers während der Schutzzolldebatte im Reichstag.

Der sozialdemokratische Abgeordnete Max Kayser befürwortete am 17. Mai 1879 mit Erlaubnis seiner Fraktion die Schutzzolltarifvorlage der Bismarck-Regierung, die die Einführung hoher Schutzzölle auf Eisen, Holz, Getreide und Vieh vorsah. Diese Vorlage, die zum Gesetz erhoben wurde, entsprach den Interessen der reaktionärsten Teile der Großbourgeoisie und des Junkertums.

5 Gemeint ist der 1840 in London gegründete Arbeiterbildungsverein. Der öffentliche Verein entwickelte sich allmählich aus einer deutschen zu einer internationalen Verbindung. Zeitweise nannte er sich auch Londoner deutscher Arbeiter-Verein, Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter, Kommunistischer Arbeiterbildungsverein.

Kurz nach Erlaß des Sozialistengesetzes (Oktober 1878) bildete sich im Verein eine anarchistische Gruppe, die zeitweise Oberhand gewann. Unterstützt vom Verein gab ab Anfang 1879 Johann Most die "Freiheit" heraus. Die "Freiheit" verurteilte die Verbindung der legalen mit den illegalen Kampfmitteln, forderte den Verzicht auf jede parlamentarische Tätigkeit und trat für den individuellen Terror ein. Im März 1880 trennte sich ein bedeutender Teil des Vereins von den anarchistischen Elementen und konstituierte sich neu.

6 Das Ausnahmegesetz oder Sozialistengesetz (Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie) wurde am 19. Oktober 1878 im Reichstag angenommen und trat am 21. Oktober 1878 in Kraft. Durch das Ausnahmegesetz wurden alle Organisationen der Partei und alle Gewerkschaften, sofern sie sozialistische Ziele verfolgten, verboten. Sämtliche bedeutenden sozialistischen Presseorgane wurden unterdrückt, jede Versammlung sozialistischen Charakters wurde untersagt. Es war der Polizei möglich, willkürlich sozialdemokratische Arbeiter und Funktionäre auszuweisen. Das Sozialistengesetz sollte jegliche demokratische Bewegung in Deutschland ihrer Führung berauben und damit wirkungslos machen. Am 25. Januar 1890 lehnte der Reichstag unter dem Druck der Massen (zunehmende Wahlerfolge der Sozialdemokratie) eine Verlängerung des Sozialistengesetzes ab. Damit lief das Gesetz am 30. September 1890 aus.

7 Siehe Marx / Engels Werke, Band 34, Seite 328 / 329.

8 Die letzten fünf Zeilen stehen anstelle des folgenden, in der Handschrift gestrichenen Passus: Schweitzer war ein großer Lump, aber ein sehr talentvoller Kopf. Was er auch aus korrupten Motiven verschuldet hat und wie sehr er auch zur Erhaltung seiner Herrschaft an der Lassalleschen Panacee [lt. Duden: Wundermittel] von der Staatshülfe festhielt, so hat er doch das Verdienst, den ursprünglichen engen Lassalleanismus durchbrochen, den ökonomischen Gesichtskreis der Partei erweitert und damit ihr späteres Aufgehn in die deutsche Gesamtpartei vorbereitet zu haben. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, dieser Angelpunkt alles revolutionären Sozialismus, war schon von Lassalle gepredigt worden. Wenn Schweitzer diesen Punkt noch schärfer betonte, so war das in der Sache selbst jedenfalls ein Fortschritt, wie sehr er sich auch daraus einen Vorwand geschmiedet haben mag, seiner Diktatur gefährliche Personen zu verdächtigen. Ganz richtig ist, daß er den Lassalleanismus zu einem EINSEITIGEN Interessenkampf der INDUSTRIEarbeiter machte. Aber nur darum einseitig, weil er aus Gründen politischer Korruption von dem Interessenkampf der Landarbeiter gegen den großen Grundbesitz nichts wissen wollte. Nicht das ist es, was ihm hier vorgeworfen wird, die "Verflachung" besteht darin, daß er ...

9 Anspielung auf die Barrikadenkämpfe in Berlin am 18. März 1848

10 Entspechend dem Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871 mußte Frankreich in den Jahren 1871 bis 1873 fünf Milliarden Francs Kriegsentschädigung an Deutschland zahlen. Dieser "Milliardensegen" vor allem führte in Deutschland zu den "Gründerjahren", Jahren eines rapiden Aufschwungs der Industrie, verbunden mit großen kapitalistischen Spekulationen, Börsenmanipulationen und Gründungsschwindel [Hierauf bezieht sich Marx mit seiner Anmerkung über Miquel]. Die "Gründerjahre" endeten mit der ökonomischen Krise von 1873, bis bis 1877 fast unvermindert andauerte.

11 Marx / Engels Werke, Band 4, Seite 459; "Manifest der kommunistischen Partei"

12 sozialdemokratische Zeitschriften

13 August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Friedrich Wilhelm Fritzsche, Bruno Geiser und Wilhelm Hasenclever



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