Zum Seitentext springen | Zur Navigation springen | zur Suche springen | zum Online-Abo-Login
17.06.2006 / Wochenendbeilage / Seite 3 (Beilage)

Der schwarze Kanal: Ein Sommermärchen

Jürgen Elsässer

Endlich spricht mal wieder jemand von der GEW. Oder gehört die jetzt auch zu ver.di? Egal. Jedenfalls hat die Lehrergewerkschaft kurz vor den Sommerferien ihre Bataillone zum Kampf gegen den Nationalismus gerufen. Durch das Absingen der deutschen Hymne bei der WM, so GEW-Chef Ulrich Thöne, werde die »Stimmung des Nationalsozialismus und der deutschen Leitkultur« transportiert. Das Deutschlandlied sei ein »furchtbares Loblied auf die deutsche Nation«, dagegen sollten an »allen Schulen« Argumentationshilfen verteilt werden. DFB-Chef Theo Zwanziger was not amused: Die GEW solle sich um den Schulsport kümmern, im übrigen sei ihre Kritik »in keinster Weise« nachzuvollziehen – gutes Deutsch ist selten die Stärke der fleißigen Hymnensinger. Auch die Bild-Zeitung nutzte die Chance, gegen die »miesepetrigen« Gewerkschafter zu polemisieren, die »die WM-Laune verderben«.

Zähneknirschend muß man der Springer-Presse Recht geben. Die GEW hat wirklich alles getan, um die Vorurteile über Linke zu bestätigen: Wenn andere Party machen, grübeln sie lustfeindlich herum; besserwisserisch sind sie, daß es knallt; bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit holen sie den Nazi-Teufel aus der Kiste und erschrecken die Kinderchen.

Macht die junge Welt jetzt auch auf schwarz-rot-gold? Schreibt hier ein zweiter Matthias Matussek, der zur Promotion seines Buches »Wir Deutschen« und dem doppeldeutigen Untertitel »Warum die anderen uns gernhaben können« derzeit durch alle Talkshows gereicht wird? Kehrt der »Schwarze Kanal« zu seinen Ursprüngen zurück – zu jenem, naja, Patriotismus, den Karl-Eduard von Schnitzler immer gegen den NATO-Separatismus der Bonner Republik hochgehalten hat? Und hat Elsässer nicht genau das an Ede immer kritisiert?

Hat er. Aber die Zeiten haben sich geändert, und nur gestreßte Oberstudienräte oder KONKRET-Mitarbeiter haben das nicht mitbekommen. Wer gleich nach der Wiedervereinigung mit deutschen Fahnen aufmarschierte, war meist schon auf dem Sprung zum Ausländeranzünden. Nach den Spielen der Beckenbauer-Truppe bei der WM 1990 war man als Dunkelhäutiger (nicht nur) in Vorpommern und Schwäbisch-Sibirsk seines Lebens nicht sicher. Das ist heute vollkommen anders: Die WM 2006 ist bisher eine einzige Party, und obwohl die deutschen Städte so intensiv geflaggt sind wie zuletzt 1943, zeigen sich die Landsleute von ihrer freundlichsten Seite. Schwarz-rot-gold gibt es nämlich mittlerweile, anders als schwarz-weiß-rot und den Nazi-Lumpen, nicht nur an Fahnenmasten und Hauswänden, sondern auch als Miniröcke, Hawaiigirlanden, Irokesenschnitt und Bratwurst-Serviette. Das Dollste aber: Die eifrigsten Dreifarbenjubler sind die hiesigen Türken. Da ihr eigenes Team die WM-Qualifikation nicht geschafft hat, stehen sie nun voll hinter ihrer Wahlheimat. Berlin-Kreuzberg ist ein Meer von deutschen Fahnen, und im berüchtigten Neukölln ist der Kampf der Kulturen stillgelegt zugunsten eines fußballerischen Miteinander. Jürgen Klinsmann und Michael Ballack sorgen mehr für die Multikulti-Integration als Claudia Roth und Daniel Cohn-Bendit.

Deutschland – ein Sommermärchen? Tatsächlich hat sich unter dem Druck der Einwanderung die Zusammensetzung und das Selbstverständnis der Deutschen seit 1990 beträchtlich verändert. De jure gibt es noch Unterschiede zur Staatsbürgernation Frankreich, de facto muß man sie mit der Lupe suchen. Das bedeutet nicht, daß man mittels Nationalismus nicht noch eine Menge dummes Zeug rechtfertigen kann. Doch die durchaus blutigen Kriege der letzten zehn,15 Jahre wurden nicht zum Ruhme der Nation geführt, sondern – pervers, aber wahr – mit der supranationalen Durchsetzung der Menschenrechte begründet. Vor diesem Hintergrund sollte der Hype der Nationalsymbole die Rechten nicht zufriedenstimmen und die Linken nicht ängstlich: Das alles ist genausowenig ernst gemeint wie der Fankult um den Papst oder die neue Anbetung des Familienglücks. Die wirklichen Gefahren, aber auch die wirklichen Chancen liegen woanders.

Leserbriefe zu diesem Artikel

Navigation



Zum Online-Abo

Login für Online-Abonnenten der jungen Welt


Aktuelle Titelseite als PDF-Datei zum Herunterladen

Aktuelle Titelseite der Tageszeitung junge Welt

Eine gute, eine schlechte Nachricht|

zur Fußball-WM|
Alle Artikel werden nach dem Turnier als Buch veröffentlicht. Bis dahin: nur für Online-Abonnenten!

Beilage am Mittwoch|

literatur|
Wichtige Neuerscheinungen aus Sachbuch und Belletristik

Mitmachen!|

|
Verschenken Sie einen Gutschein für drei Wochen junge Welt.

Blende 2006|

junge-Welt-Fotowettbewerb|
Einsendeschluß: 20. Oktober 2006

Hinein in die LPG!!|

|
Werden Sie Herausgeber der jungen Welt.

Online-Shop|

Schmidt-Eenboom, Erich
|
24,80 EUR

Terminkalender der jungen Welt

Zur Zeit kein Termin im PLZ-Bereich 8.
PLZ-Bereich:

Newsletter

Newsletter Abonnieren



Werbung

junge Welt am Kiosk |
Online-Abo der jungen Welt|